Asta Nielsen - Barbara Beuys - E-Book

Asta Nielsen E-Book

Barbara Beuys

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Beschreibung

Sie gilt als eine der größten Filmschauspielerinnen aller Zeiten: Asta Nielsen (1881-1972) war Weltstar der Stummfilm-Ära und etablierte den Film als eine neue Kunst. Sie verkörperte die neue moderne Frau, begeisterte durch eine geniale Mischung aus Komik und Erotik, feierte triumphale Erfolge auf der Leinwand und auf den deutschen Theaterbühnen. Umworben von den Nazis, lässt sie sich doch nicht vereinnahmen und kehrt 1939 Deutschland schließlich den Rücken.

Barbara Beuys hat zahlreiche unveröffentlichte Briefe und Dokumente der Künstlerin ans Licht gebracht – und leuchtet das breite Panorama eines faszinierenden und dramatischen Lebens aus, das in einem ärmlichen Arbeiterviertel Kopenhagens begann und in die schillernde und glamouröse Filmwelt der Goldenen Zwanziger führte.

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Seitenzahl: 596

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Barbara Beuys

Asta Nielsen

Filmgenie und neue Frau

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1. Kapitel

LOTTE ODER DER DUFT NACH SÜSSEM PARFÜM

Geburt in Kopenhagen: Hoffnungslose Armut – Kindheit in Malmö: Glückliche Jahre – Drama im Dachgeschoss

2. Kapitel

DIE MUTMACHERIN

:

SCHWESTER JOHANNE

Zurück in Nørrebro – Die Beste in der Schule – Asta singt im Opernchor – Nervenkrise: Der Vater stirbt

3. Kapitel

DER THEATERTRAUM WIRD WAHR

Schauspielunterricht: Von vielen gefördert – Die zornige Mutter hat andere Pläne – Debüt in Det Kongelige Teater

4. Kapitel

EIN KIND OHNE VATER

Heimliche Schwangerschaft – Heimliche Geburt in der Königlichen Geburtshilfestiftung – Tochter Jesta: Vom Heim zurück zu Oma und Tante

5. Kapitel

ALS KOMIKERIN ENTDECKT

Kleine Rollen im Dagmar Teatret – Tournee durch Skandinavien – 14 Tage Paris –

Frauenpolitik

: Hauptrolle in Det Ny Teater

6. Kapitel

DER WENDEPUNKT

:

AFGRUNDEN

Am Anfang stand

Die weiße Sklavin

Afgrunden

: Asta Nielsen und Urban Gad machen Filmgeschichte – Atemberaubend: Der »Gaucho-Tanz«

7. Kapitel

FRANKFURT AM MAIN

:

A STAR IS BORN

Premiere in Düsseldorf – Kein Interesse in Kopenhagen – Ein Angebot aus Berlin – Sturheit siegt: Ein Millionenvertrag

8. Kapitel

EIN DREHORT IM AUSLAND PRO JAHR

Zensur: Der Star mischt sich ein – Ein neuer Atelierkomplex: Der Anfang von Babelsberg – Barcelona: Sehnsucht nach Jesta

9. Kapitel

IHR MARKENZEICHEN

:

DER MODERNE FRAUENTYP

Tod der Mutter – Heirat mit dem Regisseur – Umzug nach Berlin – Glückliche Tage mit Johanne – Der Erfolg ist kein Strohfeuer

10. Kapitel

EINE NEUE KUNST ENTSTEHT

Revolution der Filmtechnik – Aufbruch der Frauen – Ein ideales Arbeitsteam nutzt die Gunst der historischen Stunde

11. Kapitel

DAS GESPALTENE VATERLAND

Typisch dänisch ist sie nicht – Das Besondere erregt Misstrauen

12. Kapitel

PANTOMIME STATT FILM

Umjubelte Auftritte in Wien, Budapest und Lemberg – Familienurlaub bei den Schwiegereltern – Die positive Suffragette – Weihnachten mit Jesta in Italien

13. Kapitel

EINE GENIALE MISCHUNG AUS KOMIK

UND EROTIK

Ehrengast auf dem Luxusliner »Vaterland« – Freund Georg Brandes, Kämpfer für ein modernes Dänemark – Letzter Dreh mit Urban Gad in Sachsen

14. Kapitel

DER WELTSTAR WIRD NERVÖS

Bei Kriegsausbruch mit Jesta, Johanne und Urban Gad in Berlin – Von deutschen Patrioten bedrängt – Die Flucht in die Schweiz misslingt – Schwierige Rückkehr nach Dänemark

15. Kapitel

BRUCKSTÜCKE EINER TRENNUNG

Der Ehemann zeigt Gefühle – Zwei verwirrende Postkarten

16. Kapitel

DER GÖTTLICH SCHÖNE SCHWEDE

Mit Freddy Wingaardh nach Südamerika – Mitten im Krieg: Drehort Berlin – Zu zweit in Kopenhagen – Festliche Gelage in der »Gulasch-Zeit«

17. Kapitel

DEINE AUGEN SIND MONDE

,

DEINE HAARE WÄLDER

Trost der Soldaten – Muse der Poeten

18. Kapitel

DIE STIMME IST ROMEO

,

DIE GESTALT IST JULIA

Mit Freddy Wingaardh in den

USA

– Die erste Biografie – Georg Brandes' Liebeserklärung – Endlich geschieden – Der Krieg ist aus, zu Neuem bereit

19. Kapitel

DIE ASTA ZURÜCK IN BERLIN

Regisseur Lubitsch: Die Diva gibt nach – Ein dänischer Star als Stütze der Weimarer Republik – Zweite Heirat – Ein flämischer Bewunderer

20. Kapitel

DIESE FRAU IST DER FILM

Erfolgreich wie in alten Zeiten – Eine eigene Firma – Umjubelt in den Niederlanden – Offene Kritik am Regisseur – Sind die Asta-Tränen echt?

21. Kapitel

KASSENSCHLAGER

HAMLET

Asta Nielsens Hamlet ist Mann und Frau – Eine Meisterin der Werbung – Ihr Gesicht: Maske und schöpferisches Zentrum

22. Kapitel

EINE RUSSISCHE LIEBE

Mit Herzflimmern im Krankenhaus – Gregori Chmara: Begegnung beim Tee – Ringelnatz-Kabarett: Beginn einer Freundschaft – Asta-Nielsen-Kino in Den Haag – Trennung vom Marineoffizier – Jesta kommt nach Berlin

23. Kapitel

SENKT DIE FAHNEN VOR IHR

Ende ihrer Firma – Der Neue: Lebens- und Filmpartner – Die Filmkritiker sind begeistert – Eine Konkurrentin: Henny Porten – Zweite Scheidung

24. Kapitel

NEUE FAMILIE OHNE TRAUSCHEIN

Prachtwohnung in der Kaiserallee – Vier Filme auf einen Streich – Skandal in Leipzig – Boykott der Verleiher – Ein Klassiker mit Greta Garbo:

Die freudlose Gasse

– Eine Abfindung bringt die Befreiung

25. Kapitel

AUFBRUCH ZU NEUER KARRIERE

Triumph-Tournee an deutschen Theatern – Weitere Filme – Der Kraftakt fordert seinen Preis – Hedwig Courths-Mahler: »Sie haben ein Herz« – Der Tod des Regisseurs zerstört neue Filmpläne

26. Kapitel

VIERHUNDERTMAL DIE

KAMELIENDAME

Die Comedian Harmonists dürfen bei ihr proben – Viel krank trotz Hühnersuppe – Ein Jahr ohne Film – Freundschaften sind wichtig

27. Kapitel

EIGENTUM AUF HIDDENSEE

Nirgendwo war sie glücklicher – Erste Gäste im »Karusel«: Ringelnatz und Muschelkalk – Jeden Sommer kommt Johanne mit Isi – Einladung von Gerhart Hauptmann

28. Kapitel

DREI JAHRE OHNE FILMARBEIT

Trotz Wirtschaftskrise: Ein Leben im Luxus – Wo ist ihre Heimat: In Dänemark oder Deutschland? – Der Aufstieg der Hitler-Partei – Zorn auf die verblödete Filmwelt – Umzug in die Fasanenstraße – Freundschaft mit Siegfried Kracauer – Eine launische Freundin – Premiere im Tonfilm

29. Kapitel

ZUM TEE BEI HITLER UND GOEBBELS

Sind die Nazis doch anständig? – Nicht flüchten, sondern bleiben – Aufs Theater konzentriert – Auch eine Diva macht Konzessionen – Gregori: eine neue Liebe in Paris

30. Kapitel

EIN NEUER BEGLEITER

:

RUDOLF

,

DER GEIGER

Stimmungstief in Dänemark – Erfolgreiche Gastspiele in Berlin – Öffentlicher Appell für den verfemten Dichterfreund – Ein Taschentuch auf den Ringelnatz-Sarg

31. Kapitel

IN GEDANKEN SCHON IN DÄNEMARK

Der Theater-Erfolg hält an – Keine politischen Kompromisse – Lob für eine »Führer«-Rede – Von der Mehrheit beeinflusst – Kehrtwende im Dezember

32. Kapitel

DAS RÄTSEL

»

RUDOLF

«

IST GELÖST

Mit Rudolf in Kopenhagen – Bei Dr. Mendler in Ulm – Der lange schwere Abschied – Wanderung mit Rudolf im Chiemgau – Die neue Wohnung: Weihnachten in Kopenhagen

33. Kapitel

DIE UNFASSBARE STILLE DES TODES

Sommer mit Johanne, Isi und Rudolf auf Hiddensee –Johanne stirbt – Trost in Berlin – Wanderung mit Rudolf durch Tirol – Über Berlin nach Kopenhagen – Der Zweite Weltkrieg bricht aus – Im Oktober auf einer dänischen Bühne

34. Kapitel

DER WELTSTAR ZIEHT SICH ZURÜCK

Dänemark unter deutscher Besatzung – Film-Freunde aus Berlin bei den Besatzern – Blieb ihre Türe verschlossen? – Keine Nachrichten von Rudolf – Die dänische Filmindustrie auf Kollaborationskurs – Arbeit an der Autobiografie – Interview einer dänischen Patriotin

35. Kapitel

EINE REDE AUF DÄNEMARK UND DIE FRAUEN

Dänemark ist frei – Erfolgreiche Memoiren – Zwei Jahre krank – Gastspiel-Angebot aus Berlin – Öffentlicher Streit um die Kinolizenz – Erinnerung als Rückzugsort?

36. Kapitel

MAN WILL MICH UNBEDINGT IN BERLIN HABEN

Ein neues Ziel: Autorin – Über Paris nach Tirol – Weihnachten in Rom – Zurück in den Alpen – Unfall in Innsbruck – Neue Filmangebote – Theater-Tournee in Deutschland geplant

37. Kapitel

REISEN ALS MEDIZIN

Zusammenbruch – Gejammert wird nicht – Ferien in Oberbayern – Wieder ein Aufbruch: Stoffmalerei – Mit Clara Pontoppidan in Gastein – Erfolg im Radio und in Zeitungen – Eine Katastrophe: Jesta hat Diabetes – Ein Familiengeheimnis

38. Kapitel

MEINE GANZE WELT LIEGT IN TRÜMMERN

Tausend Telegramme zum 80. Geburtstag – Ehrenmedaille aus Berlin – Lebensbilanz in der Zeitung – Erfolgreiche Stoffmalerei – Tod des Schwiegersohns – Jestas Abschiedsbrief – Eine beglückende Begegnung auf der Insel Møn

39. Kapitel

EIN ALPTRAUM

:

WEIHNACHTEN OHNE JESTA

Zweiter Besuch bei Christian Theede auf Møn – Sensationell: Die Diva stimmt einem Film über ihr Leben zu – Die Erinnerungen in einem Band: »Für meine Tochter« – Das Filmteam dreht in ihrer Wohnung – Der Star hat das letzte Wort: Vernichten!

40. Kapitel

WECHSELBÄDER DER GEFÜHLE

Ein lebhafter Briefwechsel beginnt – Mal energisch, mal alt und krank – Ein neuer junger Freundeskreis – Vorurteile gegenüber Studenten – Ihr Film: Alles selbst gemacht – Der alte dänische Neid – Großes Glück, große Enttäuschung

41. Kapitel

ICH FREUE MICH SOOO AUF DIE ZEIT MIT DIR

Dokumente für den Professor aus Lund – Dieses Leben war kein Märchen – Sommer auf Møn zu zweit – Die Briefe gehen mit ins Bett – Ein Debütant in der Liebe – Das erste gemeinsame Weihnachten – Zukunftspläne

42. Kapitel

MEINE EINZIGE GROSSE UND ERFÜLLTE LIEBE

Die dritte Heirat geht um die Welt – Hochzeitsreise auf die Kanaren – Keine Ehe auf Abstand – Leiden unter dem Alter – Ferien in Norwegen – 90. Geburtstag

43. Kapitel

WENN SIE NUR BALD FRIEDEN FINDEN KÖNNTE

1972

BILDTEIL

QUELLEN UND LITERATURHINWEISE, DANK

ABBILDUNGSNACHWEISE

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1. Kapitel

LOTTE ODER DER DUFT NACH SÜSSEM PARFÜM

Geburt in Kopenhagen: Hoffnungslose Armut – Kindheit in Malmö: Glückliche Jahre – Drama im Dachgeschoss

1881-1890

Der erste Geburtstag, an den sie sich erinnern konnte, war ihr dritter. Die Mutter weckte sie mit einem Kuss, und der Vater überraschte sie mit einer großen Stoffpuppe, die er selbst genäht hatte. Die Nachbarin kam mit einem Pflaumenkuchen, auf dem ein Brief mit einem handgeschriebenen Geburtstagsgedicht lag. Danach wurden ihr Kaffee und Kuchen ans Bett serviert, die Mutter setzte sich auf ihren Wunsch zu ihr und sang Astas Lieblingslied.

Das war am 11. September 1884. Asta Nielsen, die 1881 in Kopenhagen geboren wurde, lebte mit ihren Eltern und der viereinhalb Jahre älteren Schwester Johanne im schwedischen Malmö. Weil der arbeitslose Vater durch seinen Schwager dort Arbeit in einer Dampffabrik gefunden hatte, war die dänische Familie am 10. November 1883 mit dem Schiff von Kopenhagen über den Öresund nach Schweden in ein neues Leben gefahren. (Seit dem Jahr 2000 können Autos und Eisenbahnen dank einer Brücke den Weg übers Meer nehmen.)

Über die Situation der Familie zum Zeitpunkt ihrer Geburt schreibt Asta Nielsen in ihren Erinnerungen Den tiende muse – Die zehnte Muse – gut sechzig Jahre später: »In einer total hoffnungslosen Zeit voller Armut und Krankheit kam ich auf die Welt. Mein Vater war so krank und entkräftet, dass er sich nur fortbewegen konnte, wenn er sich an den Wänden abstützte. Er hatte nicht einmal die Kraft, das Neugeborene in seine Arme zu nehmen.« Die Mutter, bei der Geburt siebenunddreißig Jahre alt, hatte bis zuletzt in der Waschküche gearbeitet, um wenigstens die Hebamme bezahlen zu können. Alles, was man entbehren konnte, war ins Pfandhaus gewandert. Die Speisekammer war leer, es gab kein Brennholz für den Kachelofen.

Mit der Überfahrt nach Malmö zwei Jahre später wendete sich das Blatt zum Besseren. Die feste Arbeitsstelle brachte regelmäßig Geld ins Haus, auch wenn es anfangs eine bescheidene Summe war. Und im ersten Stock eines Hinterhauses in zwei kleinen Zimmern zu wohnen, war für eine Arbeiterfamilie nichts Besonderes. Asta, die Jüngste, kannte die harte Zeit ihrer ersten beiden Lebensjahre nur vom Hörensagen. Das Familienleben, das ihre Erinnerung an die Kindheit prägte, an die sieben Jahre in Malmö, war nicht von Entbehrungen geprägt, im Gegenteil. Sie glaube, wird sie in ihrer Autobiografie schreiben, »in Malmö verbrachten meine Eltern ihre glücklichste Zeit«.

Die Eltern: Der Vater, Jens Christian Nielsen, 1847 im nördlichen Jütland geboren, hatte kaum Erinnerungen an die eigenen, früh verstorbenen Eltern. Er besuchte keine Schule, arbeitete auf einem Bauernhof, bis er 1868 zum Militär eingezogen wurde. Er machte in der Armee als Offizier Karriere, wohl nicht zuletzt, weil er sich das Schreiben und Lesen selbst beibrachte, und wurde nach Kopenhagen versetzt.

Dort traf er bei einem Offiziersball die vier Jahre ältere Ida Frederikke Petersen, die mit Eltern und neun Geschwistern in der Hauptstadt lebte. Deren Vater war stolz auf den exotischen Titel eines »Wasseraufspürers«: Wenn ein Brand in den Städten ausbrach, war er es, der mit Erfahrung und Geschick die Stelle ausfindig machte, wo die Feuerwehr schnellstens an die größtmögliche Menge Wasser kam.

1872 wurde Jens Nielsen aus der Armee entlassen. Doch die Rückkehr in die jütländische Heimat, wo sein Bruder ihm eine Arbeit in einer Brauerei verschaffte, währte nur kurz. Am 3. Januar 1875 heirateten im lutherischen Dom zu Kopenhagen – der Frue Kirke, Frauen-Kirche – Ida Petersen und Jens Nielsen.

Ihr erstes Kind mussten die Eltern 1876 gleich nach der Geburt zu Grabe tragen. Am 13. Juni 1877 kam ihre Tochter Laura Johanne Marie auf die Welt, vier Jahre später die jüngste, ebenfalls im fünften Stock unterm Dach im Gammel Kongevej 9. Sie wurde vierzehn Tage nach der Geburt am 25. September 1881 in der Sankt Mathaeus Kirke auf den Namen Asta Sofie Amalie getauft; das neuneckige Taufbecken aus weißem Marmor steht dort heute noch rechts vom Altar.

Die ein Jahr zuvor eingeweihte neoromanische Backsteinkirche lag wie die Wohnung der Familie Nielsen im Arbeiterdistrikt Vesterbro. Heute geht man nur wenige Minuten vom Geburtshaus zur zentralen S-Bahn-Station Vesterbro. Die Erinnerungsplakette über der Eingangstür vom Gammel Kongevej 9, die an »ASTA NIELSEN, DÄNEMARKS ERSTEN STUMMFILMSTAR« erinnert, ist allerdings mit den Jahren verblichen und verdunkelt und hängt so hoch, dass sie niemandem auffallen kann, der vorübergeht.

Auf einem Foto von 1886 schauen die Eltern und ihre zwei Töchter Asta und Johanne uns selbstbewusst entgegen: Der Vater steht schräg nach links geneigt, schlank, dunkle Haare, große dunkle Augen in einem schmalen, weichen Gesicht, wo der auffällig breite Schnurrbart einen gewissen Gegenakzent setzt; die Mutter eher füllig, helles Haar, kantige Backenknochen, schmale Augen, aufrecht sitzend, ganz und gar nicht anlehnungsbedürftig; die deutlich kleinere Asta hält ihre Hand und steht ebenso kerzengerade wie die ältere Johanne.

Während die Handwerkerbrüder der Mutter vom Bauboom dieser Zeit, Kopenhagens Gründerjahren, profitierten, gelang es Astas Vater nicht, eine feste Arbeit zu bekommen. In der Familie dominierte ein trauriges Ereignis, wenn die Eltern ihren Töchtern von den ersten Ehejahren in Kopenhagen erzählten. Als Jens Nielsen das Bauprojekt eines Schwagers besichtigte, kam das Gerüst aus dem Lot. Er stürzte in die Tiefe, konnte aber durch ein gewagtes Manöver einen Lehrling, der mit ihm auf dem Gerüst gestanden hatte, retten. Seine Gesundheit allerdings war durch diese Kraftanstrengung so zerrüttet, dass er sein ganzes weiteres Leben lange und schwere Krankheitszeiten durchleiden musste. Es war seine Frau, die durch Putzen, Waschen und andere Hausarbeiten für die Nachbarschaft die Familie über Wasser hielt.

Vor diesem dunklen Hintergrund empfand Asta die Gegenwart in Malmö umso heller. Was die Kindheit Asta Nielsens vom November 1883 bis zum Juli 1890 prägte, war nicht nur der ausreichende materielle Besitz der Familie. Sie erlebte verschiedene Welten, offene Horizonte ebenso wie rigorose familieninterne Strukturen. Sie wuchs in zwei Sprachen auf und lernte, sich in allem, so verschieden und widersprüchlich es war, zurechtzufinden.

Die erste Malmöer Wohnung, in einem Hinterhaus in der Mårtansgatan, blieb mit einem Erlebnis verbunden, das sich vom Vergnügen blitzartig in einen Alptraum verwandelte. Eines Tages kletterte die kleine Asta mühsam die steile Treppe vom ersten Stock hinunter in den Hof. Mühsam, weil sie in einer Hand eine große Brotschnitte mit braunem Zucker hielt, die ihr die Mutter geschmiert hatte. Asta machte es sich unten gemütlich, ohne zu bedenken, dass auf dem Innenhof ein Hahn mit seinen Hühnern sein Revier hatte. Kaum hatte sie in das köstliche Brot gebissen, »kommt der Hahn mit den gelben Augen, hebt den Kamm senkrecht, gackert mit der Hühnerschar, rauscht auf mich zu wie der Führer eines Regimentes von Soldaten. Der ganze Hühnerharem stürzte sich auf mich. Er stolzierte siegesgewiss zwischen den gierigen Frauenzimmern.«

Asta ist wie gelähmt, unfähig, die Angreifer abzuwehren oder zu fliehen: »Erst als auch der letzte Krümel und die Hühner wieder weg waren, bekam ich Kraft und Mut zu heulen. Und damit hörte ich nicht auf, bis die Mutter die Treppe herunterrauschte, mich aufhob – für eine Tracht Prügel, deren Intensität nichts zu wünschen übrig ließ.« So trostbedürftig das kleine Mädchen war, die Reaktion der Mutter kam nicht überraschend.

Wie ihre Schwester Johanne hatte Asta oft genug erfahren, dass ihre Mutter nicht nur die »losen Hände« der Großmutter als Erziehungsmethode übernommen hatte, sondern ihre Töchter außer mit Ohrfeigen gnadenlos mit einer Reitpeitsche traktierte. Für Vergehen, die vor allem die äußerliche Ordnung betrafen: Wenn Asta sich mit der feinen Kleidung, die die Mädchen an Sonntagen und im Alltag tragen mussten, »im Rinnstein wälzte«, und Johanne, mit der Aufsicht betraut, die jüngere Schwester nicht schnell genug davon abhalten konnte.

Das Drama im Hinterhof hatte die Mutter verärgert, weil es sie bei der Arbeit störte. Wie so oft saß sie im Flur vor der Wohnung und flickte Mehlsäcke, um die monatlichen Einkünfte zu vergrößern. Die Vermietung eines Zimmers der kleinen Wohnung brachte weiteres Geld in die Haushaltskasse. Ob sie die Säcke flickte oder sich um die Wäsche des Untermieters kümmerte, immer hatte die Mutter ein schwungvolles Lied auf den Lippen, ihr Repertoire war unerschöpflich. Meist war sie gut gelaunt, in trauriger Stimmung tröstete sie sich mit wehmütigem Gesang. An dämmrigen Winternachmittagen, bevor der Vater von der Arbeit nach Hause kam, wenn das Feuer im Ofen knisterte, verzauberte sie Johanne und Asta mit Gedichten und tragischen Liebesliedern. Sie sang, wenn sie am frühen Sonntagmorgen die Küche wienerte und schrubbte, dass es nur so glänzte, und sie mit frisch gestärkter Schürze stolz ihre Familie zum Frühstück empfing.

Das war die Mutter, die Asta liebte. Vor der anderen, brutal und ohne Mitgefühl, fürchtete sie sich. Und doch war es dieselbe Frau, die diese Widersprüche in ihrem Inneren trug.

Im Herbst 1885 zog Familie Nielsen in die Ostindiefararegatan 40, erneut ein Hinterhaus. Es wurde eine Zwischenstation, nicht nur, weil die Kakerlaken unerträglich waren. Der Vater war zum Lagerverwalter befördert worden. Das Lager befand sich in der Innenstadt, und die Familie konnte sich dort ein Jahr später endlich eine bessere Wohnung leisten. Sie wohnte zuerst in der Nummer 16 der Store Humlegatan (heute nur noch Humlegatan), wenig später zog man auf die gegenüberliegende Seite in die Nummer 11. Das war ein kleines gemütliches gelbes Haus mit drei Zimmern, eins davon zur Straßenseite – ein nie gekannter Luxus, den die Eltern sich und den Kindern gönnten.

Kein Zimmer wurde untervermietet, die Mutter musste nicht mehr Säcke flicken oder putzen gehen, und trotzdem war genug Geld da, um eine neue Wohnzimmereinrichtung anzuschaffen. Es dominierten »weinrote Ripsbezüge« und der neue Spiegel, der das Wohnzimmer vom Boden bis zur Decke zierte, hatte eine Ablage, auf der sich allerlei Nippes versammelte: »Mutter strahlte vor Stolz und Glück über ihr schickes Heim …« In der Humlegatan öffnete sich für Asta eine neue faszinierende Welt, denn dort machte sie Bekanntschaft mit einem »Fräulein Charlotte Carlson, die mir sehr viel bedeuten sollte«.

Es begann damit, dass die beiden Schwestern für »Lotte«, so wollte sie genannt werden, die früher im gelben Haus gewohnt hatte und nun dank eines »Onkels« in einer größeren Wohnung in derselben Straße lebte, kleine Botengänge besorgten. Bald zierten Johannes Häkeldeckchen Lottes elegante Stube, und diese ließ sich mit der Bezahlung nicht lumpen. Ihr Liebling aber war Asta, die beim Umzug in die Humlegatan fünf Jahre alt war und Lotte nur zu gern besuchte: »Mich überkam ein wahres Wohlgefühl in ihren Zimmern, die nach süßem Parfüm, Punsch und Tabak dufteten. Die Möbel waren mit schwerem Plüsch bezogen und hatten schwere Fransen. … Und in allen diesen Herrlichkeiten lag sie in einem breiten, niedrigen Bett, strahlend schön … ich fand sie göttlich …« Die Zigarette ging Lotte nie aus, und immer stand auf dem türkischen Tischchen eine silberne, mit kleinen Makronen gefüllte Schale.

Als Asta eines Tages wieder einmal Häkeldeckchen ihrer Schwester bei Lotte abliefern wollte, hörte sie schon außerhalb des Schlafzimmers Gesang und Gitarrenmusik. Wie üblich lag Lotte mit Zigarette im Bett, »und sie hörte einer älteren schmuddeligen Frau zu, die auf dem Sofa saß und aus vollem Hals zur eigenen Gitarrenbegleitung sang«. Es war Mathilda, Lottes Freundin, die, kaum war ihr musikalischer Auftritt beendet, sich eine Prise Schnupftabak genehmigte. Als Asta sich höflich mit Knicks entfernen wollte, rief Mathilda: »Nein, nein, mein Kind, geh nicht, nun machen wir es uns gemütlich. Nicht wahr, Lotte?«

Die Haushaltshilfe setzte Kaffee auf, Asta wurde beauftragt, Kuchen zu holen, und bald saßen alle vergnügt um einen runden Tisch, auf dem auch noch Punsch und andere Alkoholika standen, während Lotte die Szene – und den Kuchen – vom Bett aus genoss: »Mathilda erlaubte mir, von dem süßen Punsch zu kosten … Plötzlich sank ich vom Stuhl, still und selig … Lotte sprang aus dem Bett, legte mich hinein, kühlte mein Gesicht mit kaltem Wasser und wie durch einen Nebel hörte ich ihr Flehen, meiner Mutter nichts davon zu sagen.« Mathilda, die Asta zurück nach Hause brachte, gelang es, dass dort keinerlei Argwohn aufkam.

In Asta Nielsens Erinnerungen wird Lottes Idyll aus der Sicht des Kindes beschrieben. Ein langes Leben später hat sie in ihrer Erzählung Eine Rose ist eine Rose ist – nicht immer – eine Rose auf ihre Kindheit zurückgeblickt (Asta Nielsen, Ein Tag im Paradies). Da durfte »Lotte« nicht fehlen, »die ich heiß liebte … Ob man sie in der üblichen Lesart eine Dame nennen kann, ist ziemlich zweifelhaft, viele würden sicher das Wort in Anführungszeichen setzen.« Astas Eltern wussten sicherlich über die schillernde Existenz von Lotte und Mathilda Bescheid.

Dass sich in Malmös Store Humlegatan die meisten Prostituierten niedergelassen hatten, war ein offenes Geheimnis in der Stadt. Die Husaren der nahen Kaserne gehörten zu den beständigen Besuchern und auch sonst waren es bessere Herren, die hier einkehrten. Im Buch über das Verschwundene Malmö heißt es: »Die Mädchen waren freundlich … auf der Straße viele Champagnerkorken …« Die Polizei hatte 1874 ein »Verzeichnis über sich prostituierende Frauen« eingerichtet, Lotte und Mathilda sind dort ebenfalls eingetragen: »Augusta Charlotta Carlsson, geboren 1864, unverheiratet, als Näherin ausgebildet, 1,61 groß, blonde kurzgeschnittene Haare, blaue Augen; Mathilda Carolina Stenström, geboren 1839, verheiratet, hochgewachsen, schwarze Haare, blaue Augen.«

Es ist bemerkenswert, dass Jens und Ida Nielsen die enge Freundschaft ihrer Töchter, vor allem Astas, mit Lotte wohlwollend begleiteten. Und sosehr die Mutter auf eine wohlanständige Außendarstellung bedacht war, die sich in feiner und sauberer Kleidung der Kinder manifestierte, war auch Mathilda nach dem ersten Kennenlernen willkommen: »Ein Geburtstag ohne Mathilda war in Zukunft undenkbar.« Es offenbart eine offene, tolerante Weltsicht, wenn die Eltern keine Angst vor möglichem Getuschel der Nachbarn hatten, denen die engen Kontakte der Nielsen-Töchter mit den beiden Edel-Prostituierten nicht verborgen bleiben konnten. Offensichtlich sahen die Eltern keinen moralischen Grund, der kleinen Asta die Freude an der geliebten Lotte und ihrem parfümierten Schlafzimmer-Leben zu nehmen.

Kein Vergnügen aber war für die beiden Schwestern vergleichbar mit einem Besuch bei den Verwandten der Mutter, genauer: bei den zwei ungefähr gleichaltrigen Kusinen in Kopenhagen. Es begann schon mit der Schifffahrt über den Öresund: »Wir vier liebten uns mit einer Inbrunst, die man Kindern nicht zutrauen sollte. Sie hießen Anna und Olga. Und wenn wir auf dem Weg zu ihnen an Deck des Schiffes standen, kniffen meine Schwester und ich uns gegenseitig in die Arme, um auch ganz sicher zu sein, dass unser Glück nicht ein flüchtiger Traum war.«

Ein paar Tage lang bestand das Leben der vier Unzertrennlichen aus Versteckenspielen, Pfefferminzbonbons, Zuckerkringeln und stundenlangem Erzählen, was ihr Leben bewegte. Viel zu schnell war das Glück vorbei, ging es zurück nach Malmö: »Wir weinten laut, wenn wir über den Landungssteg aufs Schiff kletterten und die Kusinen zurücklassen mussten, die unten am Kai in ihre Taschentücher heulten. Sie winkten und schickten Handküsse, als ginge es um eine Reise nach Amerika …« Asta fiel auf, dass die Mutter, die sonst den Ton angab, auf dem Schiff auffallend still war – sie konzentrierte sich darauf, nicht seekrank zu werden.

Im Herbst 1887 wurde Asta eingeschult. Sie war ehrgeizig. Die schwedische Sprache machte ihr keine Schwierigkeiten. Bald hatte sie ihren festen Platz in der ersten Reihe, wo die Besten saßen. Zu Hause achtete die Mutter strikt darauf, dass nur Dänisch gesprochen wurde. Kaum waren die beiden Töchter unter sich, sprachen sie Schwedisch; ein Protest gegen das rigorose Regiment der Mutter, der ihre geschwisterliche Gemeinschaft noch weiter stärkte.

Ende November kam der Brief eines Rechtsanwaltes, der die Familie in Aufregung versetzte. Der ältere Bruder des Vaters war im Alter von sechsundvierzig Jahren gestorben. Er hatte in der jütländischen Bierbrauerei C. ‌F. Børsch nach dem Tod des Besitzers mit dessen Witwe die Geschäfte geführt. Während Astas Vater sich auf den Weg nach Jütland machte, um als einziger Erbe den Nachlass zu übernehmen, kannte die Fantasie seiner Frau und seiner Töchter keine Grenzen. Zwar hatten sie den Schwager und Onkel niemals gesehen, aber wer so hoch gestiegen war, musste ein riesiges Vermögen erworben haben. Ein neues Leben war nur noch eine Reiselänge entfernt.

Das Gesicht des Vaters bei seiner Rückkehr sagte alles. Wie Seifenblasen zerplatzten die hochtrabenden Hoffnungen. Die Haushälterin des Verstorbenen hatte offenbar klug vorgesorgt. An Geld war nichts mehr vorhanden. Um nicht mit leeren Händen zurückzukommen, packte der Alleinerbe wahllos etliche Bücher in ein übrig gebliebenes Stehpult aus Mahagoniholz und adressierte es nach Malmö. Obwohl es für das kleine Zimmer im gelben Haus an der Humlegatan viel zu groß war, bekam es dort einen Platz, ein Teil der Bücher landete auf dem Dachboden.

Das Auswendiglernen für die Schule fiel Asta schwer. Aber sie wollte den Platz in der ersten Reihe nicht verlieren und memorierte den geforderten Stoff immer wieder mit lauter Stimme zu Hause, bis er im Gedächtnis blieb. Doch es gab viele Tage, an denen Johanne, die seit der Geburt eine schwächliche Konstitution hatte, krank war und Ruhe brauchte.

Die Mutter war einverstanden, als Asta die Idee hatte, ihre Schularbeiten auf dem Dachboden zu machen, lautes Auswendiglernen inbegriffen. Es blieb nicht dabei, »der Plunder um mich herum, begann mich zu interessieren«. Zuerst kamen die bunten Lappen in einem Wäschepuff an die Reihe, mit denen Asta sich schmückte und vor einem kleinen Spiegel Grimassen machte. Dann begann sie, in den Büchern des Onkels zu blättern: »Jetzt öffnete sich mir eine ganz neue Welt. Eine große, reich illustrierte Ausgabe von ›1001 Nacht‹ fiel mir als Erstes in die Hände.« Nach dem Vorbild der Illustrationen schmückte sich die Sechsjährige, verrenkte Arme und Beine oder »saß stundenlang vor dem Spiegel … ganz versunken in den Anblick meiner eigenen Schönheit«. Ihre Neugier auf die Schätze des Onkels war geweckt.

Als sie ein ungebundenes Buch durchblätterte, auf dem »Henrik Ibsen« stand und darunter »Brand«, war sie enttäuscht, nichts über Feuersbrünste zu entdecken. Doch dann las Asta von einer gewissen Agnes, die verzweifelt vor einer Kommode kniete, in der Kleider ihres toten Kindes lagen: »Irgendetwas daran muss mich ergriffen haben, denn ich las weiter und blieb hinterher noch eine Weile sitzen.« Sie legte das Buch nicht zu den übrigen, sondern an einen besonderen Platz. Viel später erst wird sie erfahren, dass sie das Drama Brand des umstrittenen norwegischen Theaterschriftstellers in der Hand hatte.

Als Asta wenige Tage später wieder auf den Dachboden ging, las sie die Szene noch einmal und erinnerte sich plötzlich an eine Nacht, als sie der Vater an Johannes Krankenbett holte, wo schon ihre weinende Mutter stand: »Da musste ich selber weinen, wahrscheinlich am meisten über meine Schwester, die im Zimmer unter mir krank lag. Ich bat Gott inständig, sie nicht vor mir sterben zu lassen, legte das Buch zurück und vergaß es für eine Weile«. Es war nicht nur Johanne, die während der Zeit in Malmö auf den Tod erkrankte.

Dass die ältere, schwächliche Schwester immer wieder ärztliche Hilfe brauchte, war Asta gewohnt, auch wenn es ihre Gefühle stets aufs Neue aufwühlte. Völlig unerwartet kam die schwere Krankheit der ständig aktiven Mutter, die immer ausgesehen hatte wie das pralle Leben. Jetzt lag sie schwer atmend mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt sprach von Lungenentzündung und gab ihr keine Überlebenschance. Die glückliche Zeit in Malmö schien ein jähes Ende zu nehmen. Der Vater war verzweifelt, Asta und Johanne gingen sechs Wochen nur auf Zehenspitzen durch das Haus. Doch dann hatte die Kranke es überstanden. Erst während dieser Krankheit wurde Asta bewusst, wie »unendlich tief« sie ihre Mutter liebte.

Dass beides, Strenge und Mitgefühl, zu deren Persönlichkeit gehörten, erlebte Asta verstärkt, als die Familie sich 1889 vergrößerte und ein Pflegekind aufgenommen wurde. Hugo war noch kein Jahr alt, als seine Mutter, eine Gouvernante, sich von ihm trennen musste; der Vater war unbekannt. Alle liebten Hugo, besonders Asta. »Ich hielt ihn für das schönste Kind auf der Welt«, schrieb die Sechsundachtzigjährige im April 1967 ihrer Freundin, der Malerin Kirsten Kjær: »Und wenn Mutter mit ihm auf dem Arm umherging, küsste ich ihn immer auf den süßen kleinen Po.« Hugo blieb nicht lange, es fanden sich Adoptiveltern, die gut für ihn sorgten.

Asta und Johanne besuchten die »Sonntagsschule«, die Schwedens lutherische Kirche am Sonntag für Kinder anbot. Von Kirchgängen der Eltern ist in Astas Erinnerungen keine Rede, aber selbstverständlich wurden die Kinder konfirmiert. Die ältere Johanne war im April 1890 an der Reihe. Sie war sehr religiös und erzählte der jüngeren Schwester mit großem Ernst von der Vorbereitung durch den Priester, von Gott und den Wegen Christi. Asta konnte das gut nachempfinden: »Jedes Jahr durchlebte ich – ganz heimlich – in der Zeit vor Ostern wie in einer religiösen Ekstase in Gedanken die Leiden Christi. … Wir nickten uns verständnisvoll zu, und ein glückliches Zusammengehörigkeitsgefühl erfüllte unsere Kinderherzen.«

Zur Konfirmation an einem gewöhnlichen Werktag begleitete Asta ihre Schwester in die Kirche zu den übrigen Konfirmandinnen, »für mich war sie die schönste von allen«. Mit der Straßenbahn fuhren sie zurück in die Humlegatan, und Johanne bekam vom Vater eine kleine goldene Uhr mit eingelegten roten Emaille-Mohnblüten auf der Rückseite. Dazu ein paar Kronen, von denen sie Zuckerkringel kauften und die Nachbarkinder an dem süßen Vergnügen teilnehmen ließen.

Nur einen Monat später, im April 1890, organisierte der Vater einen Pferdewagen und ein paar Helfer für den nächsten Umzug. Alles war so penibel gepackt, dass schon am Abend des Tages die Dinge in der neuen Wohnung an ihrem vorgesehenen Platz standen und die Mutter das Essen pünktlich auf den Tisch brachte. Die neue Wohnung in der Södra Förstadtsgatan lag in einem Vorort von Malmö. Das geliebte gelbe Haus hatte die Familie aufgeben müssen, weil Schwamm und Feuchtigkeit überhandnahmen. Wieder musste Asta die Schule wechseln.

Die Sehnsucht nach der Humlegatan war nicht zuletzt die Sehnsucht nach Lotte und Mathilda. Asta war inzwischen acht Jahre alt und tat, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte: Statt in der Schule erschien sie eines Tages vor Mathildas Wohnung. Mathilda war erschrocken, aber lebenspraktisch und Menschenkennerin. Sie ahnte, dass Lotte das eigentliche Ziel war, und wenig später stand sie mit Asta vor deren Tür.

Erstmals war Lotte, die wie immer im Bett lag, nicht allein, und Asta sah den vielgerühmten »Onkel«, der in langen weißen Unterhosen vor der Waschkommode stand. Sein düsterer Blick traf die beiden Hereintretenden, und Mathilda, die wusste, was hier gespielt wurde, flötete: »Wir gehen gleich wieder. Asta wollte der lieben Lotte nur guten Tag sagen.« Die reichte Asta einen kleinen Plüschaffen, und Mathilda verschwand schnell mit ihrem Zögling rückwärts aus der Wohnung.

Zurück nach Hause? Nein, eine so frühe Rückkehr würde Astas Mutter misstrauisch machen, und wieder fand Mathilda eine Lösung. Sie kannte eine Familie, die sich in diesen Stunden um ihren verstorbenen Jungen versammelte, der zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt war. Dieser Brauch führte in Malmö die Trauernden mit Freunden und jedem, der eintreten wollte, zu einem ausgiebigen Leichenschmaus zusammen.

Die Szene an sich war Asta wohlbekannt. Sobald sich in der Schule herumsprach, dass in der Nähe eine Leiche aufgebahrt war, machten sich Kindergruppen lauthals auf den Weg, gingen dann auf Zehenspitzen in das Trauerhaus und stellten sich stumm vor den offenen Sarg. Auf Asta hatten diese makabren Besuche bisher nicht den geringsten Eindruck gemacht: »Ich betrachtete die Toten so kalt und gefühllos, als wären es herausgeputzte Wachsfiguren.« Doch diesmal reagierte sie anders.

Der kleine tote Junge lag in einem schwarzen Sarg, auf dessen vier Ecken versilberte Engelsköpfe mit Flügeln wachten. Auf zwei großen silbernen Kandelabern brannten Kerzen zwischen hohen grünen Pflanzen. Kaffeeduft zog durch die Räume, die Schalen waren mit Kuchen und Pralinen gefüllt. Die Mutter des toten Kindes schenkte selbst den Kaffee ein. Astas Stimmung schwankte zwischen Weinen und Wohlbefinden. Diese Leiche rührte ihr Herz. Es war erst wenige Monate her, dass Asta sich mit dem kleinen Hugo amüsiert hatte. Nur mit allergrößter Mühe gelang es ihr, der Mutter niemals von diesem Besuch zu erzählen. Denn ihre Gedanken kreisten immerzu um dieses Ereignis, und das Gesicht des kleinen Toten verfolgte sie eine lange Zeit.

In der neuen Wohnung konnte Asta sich nicht auf einen Dachboden zurückziehen. Aber die Bücher des verstorbenen Onkels, darunter auch Ibsens Brand, hatten einen Platz in der Wohnstube gefunden. Im Zusammenhang mit ihren bedrückenden Gedanken empfand sie die Erinnerung an dieses Buch wie eine Befreiung. Sie griff nach dem Band, las die vertraute Szene, wo Agnes auf die Kleider ihres toten Sohnes schaut, und fühlte sich der verzweifelten Mutter verbunden: »Jetzt wusste ich, in welch eisige Einsamkeit der Kleine entrückt war, als er sterbend die Mutter verließ. Jetzt ahnte ich die hoffnungslose Trauer von Agnes beim Verlust ihres kleinen Schatzes.«

War sie allein oder fühlte sich unbeobachtet, kniete die neunjährige Asta sich vor Mutters Kommode und brach in Gedanken an die familiären Erinnerungsstücke, die dort verwahrt wurden, in Tränen aus. Für ihre Trauer griff sie nicht auf die Worte des Dichters zurück. Es war ein diffuses Weinen und Klagen, von ihren Gefühlen ausgelöst. So hat es die erwachsene Asta Nielsen in ihren Erinnerungen beschrieben.

Im Juni 1890 kam der Vater mit einer Nachricht nach Hause, die alles veränderte: Seiner Arbeit würde buchstäblich der Boden entzogen werden. Der Staat wollte den Grund, auf dem die Dampfmühle stand, aufkaufen. Allen, die in der Dampfmühle Arbeit hatten, wurde gekündigt. Für den Dänen Jens Nielsen, der im schwedischen Malmö Gastarbeiter war, gab es keine neue Arbeit.

Schnell war gepackt. Schon Anfang Juli befand sich Asta mit Johanne und den Eltern auf dem Schiff, das über den Öresund in Richtung Kopenhagen fuhr. Den beiden Schwestern schien es ein wunderbarer Tausch: Hatten sie doch die märchenhaften Kopenhagen-Tage mit den Kusinen Anna und Olga tief im Gedächtnis und waren überzeugt, diese festliche, stets viel zu kurze Zeit würde nun in einen dauerhaften Zustand übergehen. Selige Aussichten.

2. Kapitel

DIE MUTMACHERIN: SCHWESTER JOHANNE

Zurück in Nørrebro – Die Beste in der Schule – Asta singt im Opernchor – Nervenkrise: Der Vater stirbt

1890-1895

Es war, als wären sie nie fort gewesen. Der Vater fand keine Arbeit. Die Mutter ging wieder putzen, nahm Wäsche und Flickarbeiten an. Bald war das Gesparte aufgebraucht, und alles, was man nur eben entbehren konnte, wanderte ins Pfandhaus. Für die Eltern und die ältere Johanne muss die Konfrontation mit überwunden geglaubten Lebensumständen schmerzhaft gewesen sein; für die neunjährige Asta jedoch war die Rückkehr ein Schock. Soweit sie sich erinnern konnte, gab es nur die glücklichen Zeiten von Malmö.

Vielleicht war der Schock so groß, dass sie als Erwachsene einen Mythos dagegensetzte: »Armut, Entbehrungen, Hunger, so reifte ich heran … Die Jahre vergingen matt und eintönig, wie das Leben eines Proletarierkindes. Vormittags: Schule; mittags: Hunger; nachmittags: körperliche Arbeit.« Das schrieb Asta Nielsen 1928, als sie ein gefeierter Filmstar war, für den Band Wir vom Film. Im ersten Band ihrer Erinnerungen, 1945 erschienen, heißt es über die Rückkehr nach Kopenhagen, »wir stürzten zurück in das gleiche Elend wie vor unserer Übersiedlung nach Malmö«.

Erst 1952 hat sie in ihrer Erzählung Die Rose freimütig ein anderes Bild dieser Zeit gezeichnet: »Ich war damals erst neun Jahre alt und daher nur geeignet, unsere Wohnung sauber zu halten, meine Schule zu besuchen und meine Schularbeiten zu machen … Selbstredend gab es zum Mittag keinen Hammelbraten; ich kann mich aber gut erinnern, niemals hungrig zu Bett gegangen zu sein.« Aber da hatte Asta Nielsen den scharfen Kontrast zwischen dem erbärmlichen Proletarierleben im Hinterhaus und dem Weltstar, der wie ein Phönix aus der Asche stieg, schon längst zur Grundlage jenes Märchens gemacht, das Teil ihrer öffentlichen Biografie wurde.

Sich an den dänischen Schulbetrieb und die dänische Sprache im Unterricht zu gewöhnen, war gar nicht so leicht. Aber Asta wollte unbedingt auch in Kopenhagen ihren Platz in der ersten Reihe haben, und sie schaffte es in kurzer Zeit.

Sammelte sich etwas Geld an, wurden die Gegenstände im Pfandhaus wieder eingelöst. Erspartes für neue Kleidung auszugeben, konnte die Familie sich nicht erlauben. Doch in Malmö gab es einen Menschen, »der unser Leben mit Wehmut und einem offenen Herzen verfolgte«. Asta Nielsen hat in Die Rose beschrieben, wie eines Tages ein großes Paket in ihr ärmliches Dasein platzte – von Lotte aus Malmö. Es war gefüllt mit abgelegten Kleidern, die aber waren noch so gut wie neu und an Eleganz nicht zu überbieten. Das erste Paket einer langen Reihe, Lotte vergaß ihre Freundinnen nicht. Die Mutter änderte die Sachen, sodass sie den Töchtern passten, »und wir Kinder verwandelten uns durch Lottes Kleider aus Spatzen in Kraniche«.

Asta hatte keine Hemmungen, in diesem Aufputz in die Schule zu gehen, obwohl sie damit viele Freundinnen deklassierte: »Denn ein Teil von ihnen trug eine Art blaugestreifter Baumwollkleider, die die Armenfürsorge den Kindern wie einen Stempel aufdrückte …« Familie Nielsen hatte sich in Kopenhagens Arbeiterviertel Nørrebro niedergelassen.

Für Johanne endete 1891, als sie vierzehn Jahre alt wurde, die Schulzeit; nun war sie erwachsen und musste Geld verdienen. Sie fand einen Arbeitsplatz in Holger Petersens Textilfabrik im Tagensvej 83-85. Hier, am nördlichen Rand von Nørrebro, hatte der erfolgreiche Unternehmer neue Fabrikhallen bauen lassen, dazu Wohnungen für Arbeiter mit gemeinschaftlichen Speiseräumen und Bibliotheken. Neben Textilien wurden Bänder, Knöpfe und Garn gefertigt. Wie damals üblich arbeitete Johanne elf Stunden am Tag und sechs Tage die Woche.

Der Vater, obwohl inzwischen sehr krank geworden, hatte endlich auch Arbeit gefunden, als Reservefahrer bei der Straßenbahn. Er konnte sie nur mit eisernem Willen ausführen, weil seine Frau morgens um vier Uhr begann, ihren von Krämpfen geschüttelten Mann zu waschen und anzukleiden. Es war eine schreckliche Quälerei, die den Töchtern nicht verborgen blieb.

Eines Tages kam Asta aus der Schule nach Hause und hatte einen Brief für die Mutter. Dreiundzwanzig Jahre später empfing Asta Nielsen in ihrer Kopenhagener Wohnung an der noblen Vestergade den spanischen Journalisten Pablo Diaz, der 1920 die erste umfassende Biografie über die berühmte Filmschauspielerin publizierte. Es wurde ein langes Gespräch, in dessen Verlauf Asta Nielsen eine Brieftasche aus feinem roten Leder öffnet und einen vergilbten Brief hervorzieht: »›Dieser Brief entschied über mein Schicksal.‹« Er stammte von ihrem ersten Gesangslehrer: »›Ich ging damals zur Volksschule und war ein junges Ding, zwölf Jahre alt, lang aufgeschossen, etwas bizarr und hatte eine schöne Altstimme, das machte unsern Gesangslehrer auf mich aufmerksam.‹«

Der Lehrer war überzeugt, dass Asta Talent habe, im Chor von Det Kongelige Teater, wo Kopenhagens Opernaufführungen stattfanden, mitzusingen, und bat die Mutter mit diesem Brief, ihre Erlaubnis zu geben. Die bekam Asta. Sie ging zum Probesingen, wurde angenommen und hatte ihre Premiere im Engelschor von Arrigo Boitos Oper Mefistofele, 1868 in Mailand uraufgeführt. Wenn der Chor Pause hatte, durften die kindlichen Chormitglieder der Vorstellung aus einer Loge unter dem Dach folgen. In Asta Nielsens Erinnerung war sie die Einzige, die daran Interesse hatte. Die anderen Kinder drängten sich im Hintergrund zusammen, schwätzten oder lutschten Bonbons.

Asta war selig, der Traumwelt des Theaters nahe gekommen zu sein, auch wenn der Engelschor nur unsichtbar im Hintergrund der Bühne agierte. Bald bat der Chorleiter Asta um eine weitere Gesangsprobe, weil er glaubte, sie könne mit ihrer tiefen Stimme in Carmen im Chor der Straßenjungen mitsingen – auf der Bühne. Johan Severin Svendsen, der norwegische Komponist und Hofkapellmeister des Königlichen Orchesters in Kopenhagen, war zur Beurteilung mitgekommen und hielt beruhigend Astas Hand. Ein berühmter Kammersänger hörte zufällig den Gesangsvortrag und erklärte sich bereit, ihre Ausbildung zu übernehmen. Sie habe zwar gar keine Alt-, aber eine ungewöhnliche Tenorstimme. Asta solle sich bei ihm oder Svendsen melden, sobald sie sechzehn Jahre alt sei.

Damit war die Sehnsucht nach dem Theater endgültig befeuert, auch wenn Astas wirbelnde Gedanken sich nicht konkret vorstellen konnten, was ihr Platz dort sein könnte. Dem Wegweiser, der nach diesem Treffen in Richtung »Oper« zeigte, wollte sie aber nicht folgen. In ihr Gefühlsleben hatten sich die Momente vor Mutters Kommode zu tief eingegraben, wenn sie sich der grenzenlosen Trauer von Ibsens Agnes überließ, die am Tod ihres Kindes verzweifelte. Die Schauspielbühne sollte ihre Welt sein.

Nach etlichen Wohnungswechseln, alle innerhalb des Arbeiterviertels Nørrebro, wurde die Familie in der Nummer 206 an der Nørrebrogade sesshaft, die das Viertel von Ost nach West als Hauptstraße durchzieht. Danach kam ein letzter Umzug etwas mehr stadteinwärts in die winzige Querstraße Frederik VII's Gade, gegenüber vom Assistens Kirkegård, dem Friedhof, wo seit 1875 der Märchendichter Hans Christian Andersen begraben lag. In der Husumergade, nur Minuten entfernt, war Astas Schule.

Wenn sie nicht die Straßenbahn nahm, sondern den Weg in Det Kongelige Teater zu Fuß zurücklegte, wanderte sie die Nørrebrogade in Richtung Osten und Innenstadt. Nach der Dronning Louises Bro, Königin-Louise-Brücke, ging es die Gothersgade entlang, vorbei an Schloss Rosenborg mit seinem weiten königlichen Garten, und ohne Umwege landete sie am Kongens Nytorv. Det Kongelige Teater mit seiner breiten Kuppel – 1874 wurde der Grundstein für den imposanten Bau gelegt – dominiert den zentralen Platz in der Innenstadt von Kopenhagen bis heute.

Mit dem 21. Jahrhundert ist aus dem ehemaligen Arbeiterviertel ein buntes, lebendiges Viertel geworden, wo junge Menschen und viele mit Migrantenwurzeln das Straßenbild prägen. Die kompakten Häuserblocks von Nørrebro, zum Großteil roter Backstein, aber auch in hellem Weiß gestrichene neoklassische Fassaden mit steinernen Verzierungen, entstanden meist in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und machen einen soliden Eindruck. Es ist kaum mehr vorstellbar, dass vor über hundert Jahren viel zu viele Familien in den Wohnungen unterkommen mussten und sich in den dunklen Kellern drängten, deren Türen auf die Straße führen. Die Abfälle in den Rinnsteinen der Viertel jenseits der ehemaligen Wallanlagen zum Schutz der Innenstadt häuften sich; Krankheiten verbreiteten sich schnell. Seit rund 1880 suchten immer mehr Menschen vom Land ihr Glück in der Hauptstadt. Auch Dänemark hatte seine wenn auch kleine Industrialisierung. Kopenhagen wurde Großstadt; die Bevölkerung wuchs von 312 ‌859 Einwohnern 1890 auf 360 ‌787 im Jahr 1901.

Jetzt gibt es nirgendwo in Kopenhagen so viele vegane Bistro-Cafés, so viele Ökoläden wie am Anfang der Nørrebrogade und ihren Nebenstraßen, wenn sie gleich nach der Dronning Louises Bro beginnt. Wer die breite Straße weiter Richtung Westen geht, vorbei an internationalen Küchen – libanesisch, türkisch, arabisch –, die sich mit »Espressohäusern« wie Perlen aneinanderreihen, ist im Umkreis von Nummer 206 im Herzen des heutigen Nørrebro angekommen, buchstäblich.

Die Rückseite des hohen vierstöckigen Altbaus aus roten Backsteinen, wo einst Familie Nielsen wohnte, grenzt an das Gelände der Markthallen. Wer schräg gegenüber im Freien an den Tischen vom »Café Castro« sitzt, blickt auf eine breite steinerne Stele, die ein rotes Plastikherz krönt. Die Botschaft dieser Skulptur, 2010 aufgestellt, ist in vielen Sprachen, vor allem der Länder am südlichen und östlichen Rand des Mittelmeers, in alle vier Seiten eingegraben: »Wir wollen miteinander leben.« Von einer hohen Häuserwand gegenüber an der Nørrebrogade kündet ein Graffito in riesigen Buchstaben: »Wir lieben Nørrebro.«

Für alles, was Asta bewegte, hatte sie in Johanne eine Vertraute, die zuhörte, ihr Mut machte und von der Theaterbegeisterung der kleinen Schwester angesteckt wurde. Wenn die Schwestern sich außerhalb der Familie bewegten, sprachen sie weiterhin Schwedisch miteinander. Johanne war siebzehn, als die Eltern ihr 1894 erlaubten, sich von dem Teil des hart verdienten Geldes, das sie nicht in die Haushaltskasse abführte, ein Abonnement im Dagmar Teatret zu gönnen. Das Theater bestand seit 1883 und hatte sich zu einem ernsthaften Konkurrenten von Det Kongelige Teater entwickelt. Alle vierzehn Tage, wenn Johanne von einer Aufführung zurückkam, gab es kein anderes Gesprächsthema für die beiden Schwestern.

Eines Tages, als für Johanne ein Stück von Henrik Ibsen zum dritten Mal auf dem Abonnementsplan stand, schenkte sie Asta die Karte. Wie im Traum verfolgte die Dreizehnjährige das Geschehen auf der Bühne und blieb benommen auf ihrem Platz im zweiten Rang sitzen, als der Schlussvorhang gefallen war: »Ich wollte Schauspielerin werden. Jetzt wusste ich, dass es für mich nur einen Weg im Leben gab: das Theater!« Der Schwester, die auf der Straße auf sie wartete, konnte sie diese Gewissheit anvertrauen: »Sie war sogleich damit einverstanden und meinte, ohne sagen zu können warum, dass in mir besondere Eigenschaften dafür schlummerten. Jetzt begann eine Zeit, in der wir beide ganz im Geheimen Pläne für die Zukunft schmiedeten. Ibsens ›Brand‹ wurde wieder zum Mittelpunkt meiner einsamen Stunden.«

Dem spanischen Journalisten Pablo Diaz hat Asta Nielsen gut zwanzig Jahre später eindringlich geschildert: »›Brand‹ bedeutet für mich das entscheidende Erlebnis. … Und ich verdanke ihm die erste große Erschütterung meines Lebens, die von künstlerischen Dingen ausging.« Während sie sich an der Kommode im Wohnzimmer in das Leid der Agnes um ihr totes Kind versetzte, habe sie plötzlich gespürt, dass sie diese Rolle wirklich spielte: »Ich stand auf der Bühne, im Rampenlicht, das zu mir heraufglänzte, und unten, Kopf an Kopf, atemlos ein schwarzes, aufhorchendes Publikum.« Die Theaterstimmung hatte Asta dank ihrer Schwester als Kind erstmals erleben können. Aber entsprach alles, was die Erwachsene dem kindlichen Gemüt unterlegte, der Realität?

Erinnerungen sind wie Wollknäuel, verknotet, verwickelt, Wahrheit und Fantasie, Realität und Wunschdenken oft nicht mehr säuberlich zu trennen. Trotz aller Verwicklungen aber führen sie weit zurück in eine Vergangenheit, die Halt zu geben scheint, wenn die Gegenwart unsicher wird. Hier finden sich Erklärungen, die nicht hinterfragt werden müssen, wenn wir uns selbst ein Rätsel sind. Bei Berühmtheiten wie Asta Nielsen sind »Erinnerungen« – mündlich weitergegeben oder publiziert – eine ideale Möglichkeit, der eigenen Biografie eine bestimmte Richtung zu geben, rückblickend aus gewöhnlichen Ereignissen Mythen zu kreieren, die vom verzauberten Publikum gierig aufgegriffen werden. Dabei verbinden sich oft Raffinesse und persönliches Wunschdenken, bei Asta Nielsen ist es nicht anders. Der Wahrheitskern, der sich in vielem verbirgt, kann seltsame Ausformungen annehmen.

Zweifellos beschäftigte die Welt des Theaters Asta Nielsen noch bevor ihre Schulzeit vorbei war. In Kopenhagen trafen sich Asta und Johanne wieder mit den geliebten Kusinen Anna und Olga. Die kamen am Samstag aus der Innenstadt nach Nørrebro und blieben über Nacht. Am Samstagabend war Theaterspielen angesagt, und die Wohnung wurde auf den Kopf gestellt; die sonst so strenge Mutter machte keine Einwände. Die vier Mädchen, teils schon junge Frauen, schminkten sich mit allem, was farbig war; Anna und Asta entwarfen eigene Theaterstücke.

Für den Vater war die Unruhe dieser Wochenenden eine Qual. Er hatte seine Stelle bei der Straßenbahn wieder verloren, weil seine Krankheit zu offensichtlich war. Er wurde immer schwächer, kam ins Krankenhaus, aber Besserung fand er dort nicht. Man überwies ihn in eine Krankenanstalt am Stadtrand, wo er die meiste Zeit draußen in der frischen Luft sein sollte, um wieder zu Kräften zu kommen. Im Frühjahr 1895 besuchte ihn Asta an den Tagen, wenn die Schule früh genug endete. Meist saß er zusammen mit seiner Frau auf einer Bank im Garten.

Es war Astas letztes Schuljahr, und der Unterricht für die Konfirmation im Herbst hatte begonnen. Eines Tages, als Asta die Eltern wieder auf der Bank antraf, überreichte ihr der Vater ein Päckchen, darin lag eine silberne Uhr. Eigentlich hätte Asta zur Konfirmation eine goldene bekommen sollen wie Johanne, aber das Geld reiche nicht, erklärte ihr der Vater und fügte hinzu, er wolle sie ihr jetzt schon geben und nicht mehr warten. »Er weinte leise, und ich bemerkte, dass auch Mutter mit den Tränen kämpfte. Ich begriff, dass sie beide nicht glaubten, dass er meine Konfirmation – in ein paar Monaten – noch erleben werde«, schreibt Asta Nielsen in ihren Erinnerungen. Keine Frage, dass eine solche Szene mit ihren Erschütterungen sich in das Kinderherz eingegraben hat.

Als die Ärzte im Lauf des Sommers sich keinerlei Rat mehr wussten, schickten sie Jens Nielsen nach Hause, gaben schmerzstillende Mittel mit auf den Weg und der Mutter die Diagnose, Hoffnung bestünde keine. Jens Nielsen starb am 15. August 1895, siebenundvierzig Jahre alt, und wurde drei Tage später begraben. Am 11. September war Astas vierzehnter Geburtstag. Am 29. September sollte in der Sankt Stefans Kirke ihre Konfirmation sein. Die kleine, etwas zurückliegende Backsteinkirche an der Nørrebrogade 101, im neoromanischen Stil 1874 fertig geworden, wurde ein Ort, wo Asta ihrer verzweifelten Trauer um den Tod des Vaters Raum geben konnte: »Stundenlang saß ich dort und starrte auf das Altarbild, wo Christus mit Maria und Magdalena abgebildet war. Ich fand Ähnlichkeiten zwischen Christus und meinem Vater … und Maria nahm die Gesichtszüge meiner Mutter an. … So konnte ich plötzlich weinen, und der Priester kam und sprach mir beruhigend zu.« (Dass auf dem Altarbild Christus zu Besuch bei den Schwestern Martha und Maria dargestellt ist, ist wohl eher etwas für Bibelexperten.)

In ihren Erinnerungen schreibt Asta Nielsen, die Mutter habe ihren Wunsch, wie alle anderen in einem weißen Kleid konfirmiert zu werden, rigoros abgelehnt und auf einem langen schwarzen bestanden, das sei viel praktischer. Als sie in ihrem schwarzen Kleid nach der Konfirmation aus der Kirche kam, habe eine Frau gesagt: »Großer Gott, sie sieht mehr wie eine Witwe aus als wie eine Konfirmandin.«

Das übliche Foto, am Tag der Konfirmation gemacht, zeigt Asta Nielsen in einem festlichen weißen Kleid mit Puffärmeln. Ist es das Gedächtnis, das ihr einen Streich spielte, oder führte der Wunsch die Feder, ihren Schmerz auf Kosten einer hartherzigen Mutter noch zu überhöhen?

Allerdings verschweigt Asta Nielsen nicht, dass die Mutter am Abend eine mitfühlende Überraschung für ihre jüngere Tochter bereithielt. Sie hatte ein paar junge Leute aus dem Bekanntenkreis eingeladen, damit an diesem festlichen Tag bei aller Trauer ein wenig gefeiert werden konnte: »Und so half sie mir leichter über einen Tag hinweg, wo sich Vaters Verlust doppelt stark anfühlte.«

»Nervenkrise« nennt Asta Nielsen, was sie nach des Vaters Tod durchlebte. Sie war so krank, dass sie für den Rest des Schuljahres zu Hause bleiben musste und im Krankenhaus behandelt wurde. Doch eine Kommode, mit der sie kurz zuvor für ihren Fleiß ausgezeichnet worden war, wurde in die Frederik VII's Gade geliefert. Damit hatte die Schulzeit der Vierzehnjährigen einen sichtbaren Abschluss gefunden: »Ich gehörte nun zu den Erwachsenen.«

3. Kapitel

DER THEATERTRAUM WIRD WAHR

Schauspielunterricht: Von vielen gefördert – Die zornige Mutter hat andere Pläne – Debüt in Det Kongelige Teater

1896-1900

Peter Jerndorff war eine stattliche Erscheinung. »Ein älterer Herr mit elastischem Schritt, das grauweiße Haupt keck in der Luft«, so hat ihn Asta Nielsen beschrieben, als sie ihm erstmals vor seinem Proberaum in Det Kongelige Teater gegenüberstand, »zitternd vor Nervosität«. Es war im Herbst 1899. Seit dem Ende der Schulzeit 1895 hatte die Mutter sie gedrängt, allen Anzeigen nachzugehen, mit denen Kopenhagener Geschäfte Lehrlinge suchten. Ein Leben als Putzfrau wollte die Witwe der jüngeren Tochter ersparen. Aber sie selbst war über fünfzig Jahre alt; die Vierzehnjährige musste nun ihren Beitrag zur Haushaltskasse leisten.

Doch Astas Gebete wurden erhört. Jedes Mal, wenn sie sich auf den Weg machte und wegen einer Lehrstelle anfragte, war die schon vergeben. Was die Zukunft betraf, kreisten alle Gedanken nur um ein Ziel: das Theater. Schwester Johanne unterstützte die Jüngere in vielen heimlichen Gesprächen. In den Erinnerungen von Asta Nielsen klafft eine Lücke zwischen 1895 und 1899. Sie suggeriert, dass die Tochter ihre sonst so unerbittliche Mutter mit der erfolglosen Suche nach einer Lehrstelle – oder anderer praktischer Arbeit – hinhalten konnte. Kaum zu glauben, aber es gibt keine anderen Quellen über diese drei Jahre. Ihre autobiografische Erzählung geht erst im Herbst 1899 weiter, als sie sich heimlich in Det Kongelige Teater aufmacht und all ihren Mut zusammennimmt, um hier eine »Lehrstelle« zu finden – ganz anders, als die Mutter es sich vorstellte.

Der Pförtner am Theater gibt ihr den richtigen Hinweis, und Asta Nielsen wird weiter »nach oben« zu Peter Jerndorff verwiesen. Wieder ein rätselhafter Bruch in ihren Erinnerungen: Sie kann sich nicht erinnern, »jemals Jerndorffs Namen gehört, geschweige denn ein Bild von ihm gesehen zu haben«. Naivität oder Verdrängung? Kein Schauspieler an Det Kongelige Teater hat am Ende des 19. Jahrhunderts eine so lange und erfolgreiche Karriere hinter sich wie Peter Jerndorff. Dabei wollte er eigentlich Arzt werden, machte 1870 sein medizinisches Staatsexamen. Doch im selben Jahr noch wechselte er zur Schauspielerei und hatte im Februar 1871 sein Debüt in einem Stück an Det Kongelige Teater. Dank seiner schönen Stimme trat er auch in Operetten und Opern auf. Als 1879 in Kopenhagen die Uraufführung von Ibsens Nora oder ein Puppenheim stattfand, spielte Jerndorff die männliche Hauptrolle. 1886 wurde er Lehrer an der Schauspielschule, er war der Einzige an Det Kongelige Teater, der sich »königlicher Schauspieler« nennen durfte.

Asta Nielsen hätte keinen besseren Türöffner zu ihrer Traumwelt finden können. Das Gespräch mit dem Siebenundfünfzigjährigen ist kurz und freundlich: »Er forderte mich auf, in seiner Wohnung eine Probe abzulegen. Aber nur nach gründlicher Vorbereitung, das sei seine einzige Bedingung.« Nur Johanne erfuhr von diesem Erfolg. Sie war im siebten Himmel und lieh der Schwester für diesen entscheidenden Auftritt ihr langes hellgrünes Empirekleid. Fünf Tage später steht Asta Nielsen gemäß der Abmachung vor Jerndorffs Wohnung. Was sie vorspielen wollte, darüber hatte sie keine Sekunde nachdenken müssen: die Agnes aus Ibsens Brand.

Umso gewaltiger die Enttäuschung, als Jerndorffs Dienstmädchen öffnet und ihr sagt, der Hausherr sei nicht daheim, sie solle ihm schreiben. Aufgeben kommt nicht in Frage. Asta schreibt ihm, und zwei Tage später erhält sie eine Antwort, mit Datum und Uhrzeit zum Vorsprechen. Diesmal führte das Dienstmädchen sie ins Wohnzimmer. Als Jerndorff eintrat, begrüßte er sie »in der halb verlegenen, halb väterlichen Art, die typisch für ihn war«. Natürlich hat er Brand in seinem Bücherschrank, holt das Buch, macht es sich in einem Sessel bequem und liest ihr zur Einstimmung den ersten Satz vor. Asta Nielsen erstarrt, kein Wort kommt aus ihrem Mund: »›Haben Sie vergessen, was Sie sagen müssen?‹, fragte er mich freundlich. … Nein, das hatte ich nicht. Ich wollte ihm die Szene nur nach meinen Gefühlen vorspielen, also stumm. Ich meinte, der Text sei nicht nötig.« Natürlich war Jerndorff anderer Meinung, blieb aber erstaunlich ruhig. Sie solle andere Texte gründlich einstudieren, nur so könne er ihr Talent als Schauspielerin beurteilen.

Asta Nielsen ging mit zweien seiner Bücher nach Hause, um den großen Monolog der Johanna von Orleans aus Schillers gleichnamigem Drama zu lernen und eine Szene aus einem modernen dänischen Stück. Als sie mit beiden Aufgaben wieder bei ihm vorsprach, meinte Jerndorff, »er könne mir zum Theater und zu einer Ausbildung raten«. Das Glücksgefühl dauerte nur Sekunden, denn es folgte die Frage, ob Asta sich das leisten könne. Mit diesem Hindernis hatte sie in ihren Träumen nicht gerechnet.

Es würde mehr als hart werden, sich den Lebensunterhalt zu verdienen und parallel dazu für die Theaterausbildung zu zahlen. Denn auf die Mutter konnte sie nicht rechnen, keine Krone würde sie in solche Pläne ihrer Jüngsten stecken. Asta musste gestehen, dass sie die Ausbildung nicht würde zahlen können. Jerndorff ging nicht weiter darauf ein, erklärte, er selber sei mit vielen Schülern ausgelastet, und versprach, einen anderen Lehrer am Theater für sie zu finden. Mit welchen Gefühlen sie von diesem Zusammentreffen zurück nach Nørrebro ging, ist in Asta Nielsens Erinnerungen nicht überliefert. Aber Johanne wird sie getröstet haben. Umso größer die Überraschung, als Jerndorff wenige Tage später schrieb, er wolle einigen seiner Schüler absagen, sodass er doch Zeit habe, sie zu unterrichten – unentgeltlich. Das bedeutete: Er würde sie für die Aufnahmeprüfung in die Schauspielschule vorbereiten.

Wieder ein grenzenloses Glücksgefühl, das gewaltig mit der Realität zusammenstieß – und die hieß Ida Nielsen. Was für eine wahnwitzige Idee, Schauspielerin zu werden. Johanne bekam noch mehr vom Zorn der Mutter ab, weil sie die jüngere Schwester in ihrem Wahn unterstützte. Aber die Schwestern gaben nicht klein bei; Asta versprach, sich eine Heimarbeit zu suchen, Johanne würde in Zukunft ihren gesamten Lohn zu Hause abliefern. Am Ende stimmte die Mutter Astas Schauspielunterricht zu, doch der Groll darüber nahm kein Ende.

Der Unterricht bei Peter Jerndorff begann und füllte viele Stunden in der Woche. Dank seines Engagements waren verschiedene Lehrerinnen am Theater bereit, Astas Lücken in der dänischen Sprache, in den dänischen Klassikern, der altnordischen Mythologie und im Ausdruck in Einzelstunden zu beseitigen – ebenfalls unentgeltlich. Asta dämmerte, dass man große Hoffnung in ihr Talent setzte – »und ich war fleißig, bis mir schwindelig wurde«. Fieberhaft war sie auf der Suche nach bezahlter Arbeit neben ihrem ausgefüllten Programm. In Nørrebro sprach sie mit einem blinden Zigarrenmacher, der Mitarbeit in Aussicht stellte. Der Chor der Sankt Stefans Kirke, wo sie konfirmiert worden war, bot ihr eine Stelle an.

Bei nächster Gelegenheit, als Jerndorff »auf sehr taktvolle Weise versuchte, Klarheit über meine finanziellen Verhältnisse zu erlangen, berichtete ich freudig von meinen Verdienstaussichten«. Ihr Lehrer war weniger erfreut, sagte nicht viel. Tatsächlich sprach er anschließend mit seiner Frau darüber, die zur nächsten Unterrichtsstunde erschien und Asta Nielsen einen Vorschlag machte. Zigarren herzustellen und im Chor zu singen, beides sei schädlich für ihre Ausbildung als Schauspielerin. Stattdessen bot ihr Frau Jerndorff eine kleine monatliche Summe an, damit sie sich ausschließlich auf ihren Unterricht konzentrieren könne. Ob Asta Nielsen wusste, dass ihre Förderin aus einem reichen Elternhaus kam und ihr Vater ein erfolgreicher Börsenmakler war? Nichts davon in den Erinnerungen, aber auch kein Hinweis auf Hemmungen, dieses Geschenk anzunehmen, im Gegenteil: »Damit war eine schreckliche Last von den Schultern genommen.«

Astas Mutter jedoch war nicht zufrieden; als Verkäuferin hätte ihre Tochter das Doppelte verdient. Asta selbst durchlebte eine Achterbahn der Gefühle. Statt gutes Geld zu verdienen, um ihre Mutter zu entlasten, musste die mit fast sechzig Jahren weiterhin für andere schmutzige Arbeit verrichten. Andererseits versuchte Asta bis zur Erschöpfung, ihrem differenzierten Unterricht zur Schauspielerin gerecht zu werden, der lange Wege quer durch die Stadt verlangte und jede Menge Rollenstudium. Sie putzte zu Hause die Wohnung, kümmerte sich um die Kleidung der Schwester und ihre eigene: »Meine ganze Jugend ging dahin, ohne dass ich mich jung und vergnügt fühlte wie andere junge Leute. Meine einzige Freude war die Hoffnung auf eine Zukunft am Theater …« Entspannung fand sie beim Bummel durch die Geschäftsstraßen Kopenhagens mit Johanne im Frühjahr und im Sommer ab sieben Uhr abends; um neun Uhr mussten sie wieder zu Hause sein.

Zu Astas Überraschung erklärte ihr Peter Jerndorff nach einem halben Jahr Unterricht, er wolle ihre gesamte Ausbildung zur Schauspielerin übernehmen. Sie würde nicht auf die Schauspielschule gehen, sondern er würde sie direkt bei Det Kongelige Teater zur Prüfung vorschlagen. Nach bestandener Prüfung wäre sie automatisch Mitglied am Theater und dort für ihr Schauspieldebüt angenommen. An Unterrichtsstoff herrschte kein Mangel: das klassische dänische Schauspiel und moderne Stücke, Komödien und ausländische Klassiker, mal Einzelunterricht, mal Theaterszenen mit anderen Schülern. Im Rückblick nannte Asta Nielsen Jerndorff »einen idealen Pädagogen, jedenfalls für mich. Auf freundliche, kaum merkbare Weise, verstand er es, mich auf meine Mängel und Fehler aufmerksam zu machen und sie zu berichtigen, ohne mich zu entmutigen.« Dank Jerndorffs Beziehungen bekam sie einmal in der Woche einen Freiplatz im Theater, praktischer Anschauungsunterricht.

Die Theaterferien galten für alle. Ursprünglich hatten Jerndorffs Asta in ihre Strandvilla in Hellebaek eingeladen. Ein weiteres Privileg, das andeutet: Asta Nielsen zählte zu den Lieblingsschülerinnen des berühmten Schauspielers. Den anderen am Theater wird es nicht verborgen geblieben sein. Doch es kam nur zu einem einmaligen Besuch auf einem stattlichen Bauernhof, weil Frau Jerndorff für das Meer und längere Gästeaufenthalte zu schwach war. Asta Nielsen machte es ihrer Mutter nach und warf sich in Schale: Ein leichtes Sommerkleid wäre angemessen gewesen, stattdessen trug sie ein langes, fantasievolles Wollkleid, von ihr selber genäht, und einen riesigen Strohhut. »Wissen Sie, dass Sie mit diesem Hut der Duse ähnlich sehen?«, sagte Frau Jerndorff zur Begrüßung. Asta Nielsen nahm als Kompliment, was vielleicht feine Ironie war.

Als Peter Jerndorff seine Schülerin reif für die echten Bühnenbretter hielt, meldete er Asta Nielsen zur Aufnahmeprüfung in Det Kongelige Teater an. Einem Jerndorff wurde dieses Privileg nicht verwehrt, die Prüfer erwarteten etwas Besonderes. Das wusste Asta Nielsen, als sie auf der großen, leeren Bühne stand, »vor sich den dunklen Zuschauerraum wie ein großes gähnendes Loch, wo man seine Richter hinter Schirmleuchten im Parkett ahnte«. Sie durchlebte »ein Fegefeuer«, das sich in ihrer Aufregung zur »Hölle« steigerte.