Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Henky Hentschel war von Anfang an dabei. Bei den Sit-ins und Demonstrationen, bei den Polit-Palavern und in der Drogen-Szene. Auf einmal hat er die Nase voll – von den fruchtlosen Endlos-Debatten, vom Psycho-Terror in Wohngemeinschaften, von der Unmöglichkeit, wirklich etwas zu verändern. Er wirft den Krempel hin und zieht nach Elba, um alternative Landwirtschaft zu betreiben. Aber im vermeintlichen Garten Eden erwarten ihn neue Konflikte – mit den italienischen Bauern der Umgebung ebenso wie mit den anderen Landkommunarden, grüne Freunde springen beim ersten Schweiß, den ersten Schwielen und Schwierigkeiten ab. Auch hier geht er bald auf dem Zahnfleisch, besitzt jedoch genügend Selbstironie und Sprachwitz, um seinen dornigen Weg so anschaulich und amüsant zu schildern, dass eine Generation sich darin wiedererkennen kann. (*Anfang der Achtziger Jahre)
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
---
Henky Hentschel
Auf dem Zahnfleisch durch Eden
Wohin einer kommt, wenn er geht
Originalausgabe war:
HEYNE-BUCH Nr. 18/5
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Umschlagfoto: Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München
Umschlaggestaltung : Atelier Ingrid Schütz
E-Book Ausgabe
Copyright © 2019 by Naomi Hentschel
Hrsg. von Ulli Hentschel und Susanne Plath
---
1
Als wir ankamen, regnete es. Der Regen war gewalttätig und ließ uns spüren, dass wir auf einer Insel waren. Der Regen versperrte die Sicht und zerstörte die Straße. Der Regen war nicht wie der Regen, den wir kannten. Er schlug das Land und duldete keinen Widerstand. Er spülte uns durch die verlassenen Straßen des Dorfes und hinunter zum Haus Eric Brögls. Es war Ende Oktober, und Ende Oktober fängt auf der Insel der Winter an. Es war uns egal. Wir nisteten uns in Erics Touristenbungalow ein, der für sommerliches Ferienglück gebaut war, und das Häuschen war unheizbar und die Betten klamm, und nachts verging uns alles, sogar das Wichtigste, obwohl wir uns noch gar nicht so lange kannten. Es war uns egal. Uns war so ziemlich alles egal, was uns hätte stören können, die Kälte, die Nässe, der Sturm, der mitten in der Nacht Türen und Fenster aufdrückte, die Schreie unbekannter Nachtvögel, die uns erschreckten, die Schimmelpilze, die nach und nach die Küche überzogen – was war das schon gegen die graue Rechtwinkligkeit, aus der wir kamen, gegen den ganzen festgefahrenen Kram dieser ordentlichen Republik, die wir verlassen hatten, gegen die beklemmenden Diskussionen übers Geschirrspülen und Kinderhüten in unserer beispielhaft abgefuckten Psychokommune, gegen die Eintönigkeit des ewig durchschnittlichen Wetters, gegen das öde Geschwätz über die Revolution und den Rentenanspruch, über Dope und beschissene Filme und unseren seelischen Knacks und die Gesellschaft, die dran schuld ist, und über den, der gerade nicht da war, und den, der gerade im Knast war. So nass und kalt konnte es gar nicht werden, so klamm konnten die Betten gar nicht sein, dass wir darauf verzichtet hätten, die Insel um Paradies auf Erden zu ernennen. Wir packten also unsere paar Klamotten aus und machten es uns bequem in unserer nassen Touristenhöhle, und alle paar Tage kratzten wir den Schimmel aus der Küche, und wenn die Sonne schien, hängten wir die Betten über die Pinien und die Mimosen und hofften, am Abend wären sie ein bisschen trockener und wir kämen zu unserem Fick. Aber die Betten trockneten nicht, und wir fanden uns damit ab und waren trotzdem high, wenn wir dem Wind zusahen, wie er die Eukalyptusbäume fledderte, oder dem Meer, das die Küsten peitschte, oder einem dieser superkitschigen Sonnenuntergänge mit all dem Rot und Orange und Violett und Blau hinter der schwarzen Silhouette des Dorfes auf seinem Hügel.
In den ersten Tagen liefen wir im Regen durch die Macchia oder am Meer entlang und kamen tropfnass wieder zurück, bunte Steine in den Händen oder ein paar Muscheln oder seltsam geformte Holzstücke oder ein paar Blumen, die den Herbst mit dem Frühling verwechselt hatten. Wir berauschten uns an den Gerüchen und an der Salzluft und am Wein, der so trocken war, dass wir immer einen zweiten Schluck brauchten, um den ersten hinunterzuspülen, und so billig, dass es uns nicht darauf ankam.
Nach einer Woche oder so hatten wir genug vom Touristenleben. Der Regen hatte aufgehört, und wir halfen Eric im Garten oder hockten in der Sonne und verarbeiteten unser mitgebrachtes Leder zu Jacken und Hosen. Es ging so elend langsam, dass wir glaubten, nie damit fertig zu werden. Wir waren gewohnt, mit der Maschine zu arbeiten, und jetzt quälten wir uns mit der Nadel in der Hand Stich für Stich durch das zähe Leder und zerstachen uns die Fingerkuppen, und wenn das Leder vierfach lag, mussten wir die Nadel mit der Zange durchziehen. Aber es war die einzige Möglichkeit, zu Geld zu kommen, und wir wollten eine Weile hierbleiben und dann weiterziehen, nach Afrika, nach Amerika, zum Mond, zum Mars... Der Inselrausch und der feste Wille, nicht zu kapitulieren, hielten uns hoch, und manchmal arbeiteten wir die halbe Nacht im Schein einer viel zu dunklen Lampe und saßen auf Kissen am Steinboden, eng an den lauwarmen elektrischen Heizkörper gedrückt, der uns die Illusion von Trockenheit und Wärme verlieh.
Als Ausgleichssport zertrümmerte ich mit dem schweren Hammer riesige Felsbrocken. Die Splitter flogen mir um den Kopf und ins Gesicht, und nach wenigen Tagen platzten die Blutblasen an meinen zarten Städterhänden, aber ich kümmerte mich nicht darum, und die Wunden wuchsen wieder zu. Eric ließ die Brocken lastwagenweise kommen. Auf dem Nachbargrundstück hatte eine Familie aus dem Dorf begonnen, sich einen Sommersitz zu errichten. Eine Wellblechbaracke entstand in der Mitte eines verlassenen Ackers, und Eric baute jetzt eine lange Mauer zum Schutz gegen den sommerlichen Lärm und das Geplärr der Kofferradios. Ich hatte das Gefühl, seit langer Zeit endlich mal wieder etwas Vernünftiges zu tun.
Meine kaputten Hände kümmerten mich einen feuchten Dreck, und Eric war mein großer Meister, den ich nur aus der Wurmperspektive betrachtete. Ich lieferte ihm Trumm für Trumm und war glücklich damit.
Abends saßen wir um den Kamin, und die Rebstöcke und die Erikawurzeln leuchteten dunkelrot. Der Rauch duftete, und Natascha schaute frech über ihren keimenden Brüstchen, und hätte ich nicht gewusst, dass sie elf war und Erics Tochter, ich hätte sie für sechzehn und die Tochter eines anderen gehalten, und es wäre noch schlimmer gewesen. Man sprach von Astrologie und Meditation und Makrobiotik und Zen und vom I Ging und darüber, wie man leben sollte, und die ganze Zeit duftete das glühende Holz im Kamin.
Ein paar Mal rastete dabei mein Spaniensyndrom ein. Ich fühlte mich wie zwölf Jahre vorher, als ich einen Januar in Sitges erlebte, der schon damals jeder Beschreibung spottete und es heute immer noch tut. Ich lebte einen ganzen Monat lang im Rausch. Das Meer und der Wind und die Gerüche und die Camparis und die Centraminas und die verrückten Mädchen, die zum Wochenende aus Barcelona herüberkamen, zerfransten mein Gehirn. Schließlich fuhr ich ab, immer noch zwischen Traum und Rausch, und erst als ein Landsmann mir beim Trampen Geld und Gepäck klaute, wachte ich auf.
Damals in Spanien fingen mich die Kamine. Ich konnte stundenlang in einen Kamin starren und dem Olivenholz beim Brennen zusehen, und ich sah Geister und Tiere und Monster und hatte keine Wünsche. Ähnlich war es in diesen Anfangstagen bei Eric. Ehe ich mich versah, hatte mich die Insel in Ketten aus Rosmarinduft und Erdfarben gelegt. Alles erschien mir leicht. Ich wusste, dass ich nicht zurück musste, keine Ferien machte, die irgendwann wieder zu Ende sind. Ich wusste, dies sind die ersten Tage von etwas Neuem, das ins lchweißnichtwo führen wird, dorthin, wo alles möglich ist. Und Karen ging es genauso wie mir.
Eric war Schriftsteller mit Talent zum Malen, und in seinem großen Arbeitsraum herrschte ein geordnetes Durcheinander von Manuskripten, Bildern und Musikinstrumenten. Manchmal verbrachten wir halbe Nächte darin und trommelten auf Schlagzeugen, Bongos und Kongas, und Karen geriet so in Ekstase, dass ihre Hände am anderen Morgen blau und dick verschwollen waren. Hätte es Orgien gegeben im Hause Brögl, wir hätten uns hemmungslos daran beteiligt, ebenso an Tischtennisturnieren oder der Weltmeisterschaft im Kuchenessen – wir fühlten uns lebendig wie nie zuvor in unserem Leben.
Und doch hing etwas Düsteres über der ganzen Szenerie, etwas Unausgesprochenes, Undurchschaubares, das manchmal die Gespräche verstummen und uns hilflos schweigen ließ.
Colette, Erics Frau und Nataschas Mutter, wirkte oft wie eine, die auf der Flucht ist – auf der Flucht vor etwas, das wir nicht kannten. Wie verschüchtert drückte sie sich in dem großen Haus herum, knüpfte ihre Makrameegürtel, wo es keiner sah, und schleppte ihre Migräne in ihr Kämmerlein, das sie tagelang nicht zu verlassen schien, bis wir merkten, dass sie heimlich weite Spaziergänge machte. Im Ginstergestrüpp fand sie Ruhe. Auf den ersten Blick wirkte sie kräftig und stark. Aber ihr Gesicht zeigte die Linien der Unrast und der Angst. Erics Arbeitsraum betrat sie selten, und meist schwieg sie, wenn wir zusammensaßen. Manchmal glättete sich ihr Gesicht und sie sprudelte Sätze hervor und Satzfetzen und Fragen, auf die sie keinerlei Antwort erwartete. Dann wurde sie weggefegt von ihrem Redeschwall, als müsse sie alles auf einmal loswerden, was sie über Wochen in sich angestaut hatte. Sie war bewandert in Astrologie. In ihrem höhlenartigen Zimmer bewahrte sie die Ephemeriden auf. Mystisches und Okkultes ließen sie die Ohren spitzen, und hätte sie gekonnt, sie hätte schwarze Messen besucht und Zaubertränke gebraut. Aber ihr Dasein als Hausfrau und Mutter setzte ihrem Lebenshunger Grenzen, die sie nicht überwand. Colette zählte wenig im Bröglschen Garten Eden. Eric drückte allem so machtvoll seinen Stempel auf, dass anderen kaum die Luft zum Atmen blieb. Er war ein Wikinger des Südens, groß, schwer und kantig, und sein grauender Vollbart rahmte ein knochiges Gesicht, das mit rindiger Haut bespannt war. Groß, schwer und kantig war auch, was er dachte, und mehr noch, wie er es sagte. Wenn Eric sich einmal zu etwas geäußert hatte, dann war das Urteil gefällt, ein für allemal, bis ans Ende der Tage.
»Abspülen ist eine meditative Übung«, sagte Eric, und damit war die lästige Geschirrspülerei zu einer meditativen Übung geworden; wer das nicht einsah, war ein Ignorant oder ein Faulpelz.
»Und wenn ich keine Lust dazu habe?«, fragte Colette, als sie einmal sehr mutig oder sehr verzweifelt war.
»Das gibt es nicht«, war die lakonische Antwort. Das Thema war damit erledigt, und die Tischrunde bemühte sich, über Ungefährlicheres zu sprechen. Manchmal versuchten wir es mit dem Wetter.
»Heute ist Scirocco«, konnte Eric dann sagen. Scirocco ist der Inselföhn, ein warmer, nasser Südwind, der schwere Wolken vor sich hertreibt, aus denen nie ein Tropfen Wasser fällt. Bei Scirocco geht nichts, die Menschen sind lustlos und mürrisch, Verabredungen platzen, es kommt keine Post, weil der Briefträger keine Lust hat, die alten Leute sterben, der Bäcker bäckt kein Brot, der Bus hat Verspätung, der Schreiner nimmt keine Aufträge an und die Stadtwächter verteilen Strafzettel an Stellen, wo sonst alles erlaubt ist. Scirocco ist eine unübersehbare Naturgewalt. Wir merkten nichts von Scirocco, aber Eric sagte: »Heute ist Scirocco!«, und damit war Scirocco, und zwar den ganzen Tag, selbst wenn uns der Ostwind mitten ins Gesicht blies.
Im Grund war Eric ein mittelalterlicher Typ, dem die Welt keine Rätsel aufgab und keine Fragen stellte. Oben war oben und unten war unten. Richtig war richtig und falsch war falsch.
Seine Besucher hingen ihm am Mund. Von ihm sollte Antwort auf ihr säuerliches Dasein kommen. Eric fragte:
»Was würdest du tun, wenn du in drei Tagen sterben müsstest?«
Sie sagten irgend was, und im nächsten Zug waren sie schachmatt :
»Und warum tust du das nicht schon jetzt?«
Das Haus, in dem Eric mit Colette und Natascha wohnte, hatte er in Sturm, Regen und sengender Hitze selbst gebaut. Es ist ein Haus, das seinesgleichen sucht auf dieser Insel, die voller schöner Häuser ist. Als ich das erst Mal hinkam, hatte ich das Gefühl, eine Kultstätte zu betreten. Der Eichenwald wie ein Park mit Palmen, Mimosen, Orangen, Zitronen, japanischen Mispeln, Rosmarin, Thymian, marokkanischer Minze, Salbei, Rosen, leuchtenden Blumenkissen – Supersüden. Das Haus selbst mit Treppen, Arkaden, Mauern aus behauenen Steinen, Fensterbögen, Terrassen – Superarchitektur. Und wie in seiner Umgebung jeder Quadratzentimter seine Handschrift trug, so unverkennbar war Eric auch in seinen Kurzgeschichten und in seinen Gedichten, die er im Allerheiligsten dieser Kultstätte, seinem Arbeitszimmer, schrieb. Las er aus seinem Gedichtzyklus ‚Die Erschaffung Gottes in sieben Tagen‘ vor, dann weckte er in den Zuhörern Bilder von rembrandtscher Leuchtkraft, Bilder von ineinander verschlungenen Echsen, Vögeln, Fischen, die Landschaften bildeten und Höhlen, von Verwerfungen und sprachlichen Räumen, in denen es keinen Anfang gab und kein Ende, kein vorn und kein hinten. All das schrieb er unter der Knute einer eisernen Selbstdisziplin. Jeden Mittag stieg er hinauf in sein Arbeitszimmer und war dann für vier, fünf Stunden verschwunden. Niemand wagte, ihn da oben zu stören. Kein Verleger trieb ihn zum Schreiben; er musste nicht einmal davon leben. Die Regelmäßigkeit forderte er sich selbst ab, mit einer charakterlichen Härte, die ihn jeden Exzess, jede Übertreibung und jedes Ergeben in den Rausch verachten ließ.
Colette zog ab und zu mal einen durch, wenn es sich so ergab. Karen und ich ebenfalls. Für Eric war das eine Tat an der Grenze zur Selbstaufgabe.
»Ich werde high, wenn ich meinen Weinberg hacke«, sagte Eric.
»Aber das ist doch etwas ganz anderes!«
»Hol dir doch ne Hacke!«
Ich holte mir eine, und ich blieb dabei, dass es etwas anderes war, aber mit Eric war nicht zu reden. Wir wagten nicht einmal, ihm einen Zug anzubieten, und das Rauchen erschien uns wie ein Verstoß gegen die Zehn Gebote, auf den unser Wikinger-Gott mit Auspeitschung reagieren würde.
Einkaufen, Kochen, Nähen, Steine zertrümmern, Italienisch lernen, die Strände absuchen nach Schönem oder Nützlichem, trommeln, die Insel erforschen – wir hatten genug zu tun. High waren wir sowieso. Wir gerieten in einen jener lang anhaltenden Glückszustände, die Energien freisetzen, von deren Existenz du dir vorher nicht einmal hast träumen lassen.
Ins Dorf kamen wir selten. Wir kannten niemanden außer dem Gemüsehändler, dem Bäcker und den Verkäuferinnen in der Proletaria, der Ladenkette der Gewerkschaft. Zwei-, dreimal in der Woche fuhren wir hoch, um unsere Einkäufe zu machen. Auf der Piazza oder hinter den beschlagenen Scheiben der drei Bars standen die Männer und betrachteten uns mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr – zumindest erschien es uns so. Nie sahen wir einen lächeln oder gar lachen. Wir fühlten uns fremd und verloren und fuhren schnell wieder zurück. Das Dorf hatte für uns etwas Beklemmendes, und wir konnten nicht orten, was es war. Frauen waren kaum zu sehen, und die Männer schienen nichts zu tun zu haben. Offenbar warteten sie, aber wir wussten nicht, worauf. Viele hatten tiefzerfurchte Gesichter, wie wir sie nur von alten Fotografien kannten. Wie sie aussahen, mussten sie viel erlebt haben, mussten sie gehungert und gelitten haben. Ich erinnerte mich an die glatten Larven der deutschen Großstadtbewohner, deren Leben schnurgerade vom Kindergarten zum Rentenempfang führte. Sie sahen sich so ähnlich wie ein Chinese dem anderen. Die hier waren anders, sie hatten ihre eigenen, selbst gemachten Gesichter, die mir gefielen und mich gleichzeitig beunruhigten. Nach einiger Zeit grüßte ich die, die ich schon öfter gesehen hatte. Wenige grüßten zurück, die meisten schauten weg. Ein Fremder, der zu grüßen anfängt, war ihnen verdächtig.
An warmen Sonnentagen saßen alte Frauen vor den Häusern und strickten oder spannen. Sie brachten in die winkligen Gassen zwischen den aneinandergelehnten Häusern, von denen der Anstrich abblätterte, ein Stück Idylle. Die Welt war heil, selbst die Ruinen gewannen etwas Romantisches, die streunenden Katzen und die abgemagerten Hunde wurden Dorfkolorit.
Bei schlechtem Wetter verschwanden die alten Frauen, und mit ihnen verschwand die Idylle, und was vorher romantisch aussah, war jetzt arm und hässlich. Die Ruinen der zusammengestürzten Häuser standen zum Verkauf, weil ihre Besitzer das Geld nicht hatten, sie wiederaufzubauen. Der Anstrich blätterte von den alten Fassaden, weil es zu teuer war, ihn zu erneuern. Die engen Gassen lagen düster und menschenleer, und Hund und Katz lieferten sich einen Kampf auf Leben und Tod um zerfetzte Plastiktüten voller Müll. In den Bars drängten sich die Männer und starrten hinaus auf die Piazza, auf der nichts zu sehen war.
Im Haus Brögl dagegen war es lebendig. Eric baute seine Mauer und schrieb seine Gedichte. Colette färbte ihre Schnüre und knüpfte ihre Gürtel. Karen und ich nähten und nähten und nähten, und wir steckten uns gegenseitig an mit unserer winterlichen Arbeitslust. Nur die Sonntage waren anders, wenn Natascha nicht in die Schule ging und Eric nicht schrieb. Dann machten wir Ausflüge quer über die Insel und kehrten verzaubert heim von den wilden Tälern, den verlassenen Palazzi, verborgenen Kirchen, vielfarbigen Felsen, den rosmarinüberzogenen Hängen und malachitbesäten Stränden, zurück an die Arbeit.
Ab und zu kamen Besucher, ausgeflippte Typen, die man behandeln musste wie rohe Eier, um ihre ausgeprägten Eitelkeiten nicht zu verletzen. Gartenzwerghafte Kunstmaler aus Wasserburg wechselten ab mit bayerischen Mönchen aus einem japanischen Zen-Kloster auf Jahresurlaub. Den Mönchen folgte Achmed, der Tunesier, der im Dorf wohnte und malte, dann kam ein norwegischer Seemann um die Fünfzig, der zwei Jahre lang mit Stieren und sonst niemandem auf einer Schäre gelebt hatte und anschließend mit seinem Zweimaster mutterseelenallein nach Amerika gesegelt war, dort den Südkontinent durchquert und schließlich in brasilianischen Schlachthäusern malocht hatte. Jetzt transportierte er sommers Schweizer Tauchschüler zu entfernten Inseln, wo er sie mit einem Seufzer der Erleichterung eine Stunde ins Wasser ließ, immer mit dem Hintergedanken, sie dazulassen und Kurs auf die Azoren zu nehmen. Er war Spezialist für deutsche und englische Geschichte von 1933 bis Ende des Zweiten Weltkriegs, und wenn er nicht von lebensgefährlichen Stürmen oder norwegischen Stieren erzählte, begründete er seinen Hass auf die Engländer und seine klammheimliche Liebe zu Adolf dem Letzten.
Er und alle anderen prallten mit ihren Reden an der sarkastischen Unerschütterlichkeit des Hausherrn ab, der ihnen mit ironischen Zwischenbemerkungen den Wind aus den Segeln nahm, bis sie still wurden und nur noch den Worten des Meisters lauschten. Karen und ich aber waren tief beeindruckt, für uns waren das Menschen von nie gekannter Außerordentlichkeit, Menschen außerhalb jeden Schemas, Menschen, die keine Kompromisse machten und taten, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten, Menschen, die wir spontan und kritiklos bewunderten.
Schließlich tauchte Rut auf. Der Sturm draußen zerbrach junge Eukalyptusbäume und warf die Boote auf den Strand, aber im Vergleich zu Rut war er eine leichte Brise. Sie war eine füllige Dame in den Fünfzigern mit glatten grauen Haaren. Ihre Züge zeigten die Spuren kosmopolitischen Wahnsinns. Die russische Jüdin aus der Schweiz mit polnischen Vorfahren war aus Paris auf die Insel gekommen. Sie sprach sieben Sprachen, Schwyzerdütsch eingerechnet. Sie sprach sie fließend, gern und laut, und nichts machte ihr mehr Spaß, als mitten im Satz zweimal umzusteigen. Ihr Vater war einst mit Lenin im famosen Plombenzug zur heimatlichen Revolution durchs Deutsche Reich gefahren, und diese Tatsache machte einen wesentlichen Teil von Ruts Selbstverständnis aus, egal, was schließlich aus der Revolution geworden war. Ihre wahre Leidenschaft jedoch waren ‚le cose belle‘, die schönen Dinge. »Wie schön!« rief sie ein ums andere Mal aus, seit sie das Bröglsche Haus betreten hatte. In ihrem Gefolge war ein schüchternes junges Psychologenehepaar aus Paris erschienen, ästhetisierende französische Intellektuelle, die Giscard wählten, keinen Alkohol vertrugen und sich nach dem fünften, sechsten Glas Wein fast verprügelt hätten. Auch sie fanden alles schön, was es in Erics guter Stube zu sehen gab, aber Rut ließ ihnen nicht die Zeit, den schweren Eichentisch oder den Kamin oder den Blasebalg oder die Natursteinmauer in der Eßnische genauer zu betrachten. Wie ein geübter Fremdenführer, der zu schnell redet und zu schnell weitergeht, fegte sie mit ihnen durchs Haus; und betrachteten die Psychologen gerade Colettes Makrameegürtel, so kam Rut mit einer von Erics flüchtig hingeworfenen Tuschezeichnungen, nahm ihnen den Gürtel weg und drückte ihnen das Bild in die Hand.
»Seht nur die Eleganz der Strichführung!« rief sie und war schon wieder weg, um nach wenigen Sekunden mit einem handbemalten Teller zurückzukehren.
»Kennt ihr die? Sie sind wunderschön, man findet sie auf dem Festland in der Nähe von Siena, ich habe welche in meinem Laden, es ist ein uralter Mann, der sie macht, und sie sind kaum mehr zu bekommen, ich habe ihm seine ganze Jahresproduktion abgekauft – sind sie nicht herrlich?«
Während dieser Rede fischte sie bereits nach einem geschnitzten javanischen Gleichgewichtskünstler, den man hinstellen konnte, wie man wollte, und der nie von seinem Podest herunterfiel. Der Teller wurde den Händen der Betrachter entwunden und ihre volle und ungeteilte Aufmerksamkeit nunmehr auf den Javaner und die in ihm verborgene Philosophie gelenkt. Rut war umwerfend, einmalig, gebildet, charmant, intelligent, temperamentvoll und nicht zu stoppen. Ihre Vitalität machte einfach vor nichts halt. Wenn sie nicht las oder schlief, lebte sie doppelt so schnell wie die anderen. Tauchte sie auf, so waren ihre Freunde zerrissen von widerstreitenden Gefühlen: das Haus abschließen und sich tot stellen oder die Tür öffnen und sie in die Arme nehmen? Immer öffneten sie schließlich Tür und Arme und wurden mit seltsamen Geschichten aus Ruts schnellem Leben dafür belohnt.
Am Tag, als sie das Brögl-Haus betrat, hatten wir unser letztes Leder vernäht. Rut suchte ein Auto nach Florenz und Rom, um cose belle für ihren Laden zu finden, und wir wollten unsere Jacken und Hosen verkaufen und eine Lederquelle suchen. Rut sprach Italienisch, wir nicht. Wir hatten ein Auto, Rut nicht. Wir wurden uns einig, und drei Tage später fuhren wir los.
2
Die Frühfähre pflügte in die aufgehende Sonne, die Insel hinter uns schrumpfte, vorn wuchs das Festland, Rut stand breitbeinig und kopftuchumwickelt an der Bar: »Bitte iss jetzt ein Brötchen, du musst ein Brötchen essen, du bist schließlich der Fahrer, ich habe dir mein Leben anvertraut!«
Ich aß ein Brötchen. Mir dämmerte, was uns erwartete. Ich stellte mich an die Reling, kaute auf dem Brötchen herum und starrte in die Wellen. Die Luft war bissig und roch nach Salz und Jod. Die Bugwellen des Schiffes zerbröselten in schaumige Wellchen und Miniwellchen, die dem Auge keinen Halt mehr boten. Alles wurde leicht, flüchtig und undefiniert. Abenteuer lagen in der Luft. Wir hatten ein Reiseziel, aber wo stand geschrieben, dass wir es je erreichen würden? Und wo stand geschrieben, dass wir jemals auf die Insel zurückkehren würden? Sicher, es war unsere Absicht, aber was hatte das schon zu sagen? Ich war offen für alles, was kommen würde. Ich fühlte mich frei und zufrieden.
Auf Schleichwegen pirschten wir durch die Toscana. Der Tag war klar und sonnig, und die Landschaft bestand aus Werken alter Meister. Hätte uns Mona Lisa auf einem Eselskarren überholt, ich wäre nicht überrascht gewesen. Freilich war der Genuss nicht ungetrübt. Rut lenkte unsere Augen mit begeisterten Ausrufen vom Toscanischrot eines Herrenhauses auf die längste Zypressenallee Italiens, von den Alabasterwerkstätten Volterras auf das Schwarzgrau und Ocker des frisch gepflügten Bodens, und sie ruhte und rastete nicht, ehe ihr bestätigt wurde, dass das alles wirklich schön war. Leicht erschöpft erreichten wir San Gimignano, vertrauten uns auch dort unserer sachkundigen Führerin an, besichtigten das Städtchen und die Türme der verfeindeten Brüder, gassauf, gassab, turmauf, turmab, und mir knurrte der Magen, und ich knurrte mit, aber das Knurren half nichts, denn Rut hatte in einem Vorgarten einen Zwerg-Orangenbaum entdeckt. Sie fand auch den Besitzer und verwickelte ihn in ein Gespräch, von dem wir nichts verstanden, und nach zehn Minuten des Wartens sahen wir den Zwerg-Orangenbaum in Ruts Händen und brachten ihn zum Auto. Sie hatte ihn sich schenken lassen.
Schließlich kehrten wir ein.
»Das ist eine Trattoria alten Stils, und ich kenne sie«, sagte Rut. »Ich habe vor drei Jahren hier gegessen. Der Wirt ist ein fantastischer Mensch. Er malt, und seine Frau ist eine hervorragende Köchin. Ich muss euch erzählen, wie ich das erste Mal hergekommen bin!«Wir gingen hinein, und es stimmte alles. Der Wirt war ein fantastischer Mensch, er malte, und seine Frau war eine hervorragende Köchin. Die beiden erinnerten sich sofort an Rut, obwohl sie nur einmal hiergewesen war. Ich konnte sie verstehen.
Auf ähnliche Weise legten wir den Rest der ersten Etappe zurück. Als es dunkel wurde, hörten die Besichtigungen auf, und Rut versank in tiefes Schweigen. Sie war erschöpft. Sie hatte sich den ganzen Tag über verausgabt – für uns. Sie hatte uns zu einer schönen Reise verhelfen wollen. Todmüde sanken wir ins Bett. Diesmal war es nicht klamm, aber dafür teuer.
Florenz entpuppte sich als Nistplatz Rutscher Freunde. Der erste, mit dem sie uns bekannt machte, war Foffo, der Trödler. Mitten in der Stadt hatte er sich einen Hof gemietet, ein paar Schuppen hineingebaut, und dort kaufte und verkaufte er jetzt Möbel, Standuhren, Gipsengel mit goldenen Flügeln, Schrauben, Taschenlampen, Opauhren, Juwelen, gräfliches Tafelgeschirr, alte Telefone, Louis-Seize-Stühle, Briefmarken, Postkarten, Hufeisen, Nippesfiguren, Segelschiffe in Flaschen und was die Fantasie des Lesers sonst noch zulässt. Foffo war eine Fundgrube, und seine Preise leisteten einen wesentlichen Beitrag zur galoppierenden Inflation. Rut liebte Foffo, und Foffo liebte Rut, aber handelseinig wurden die beiden nicht: Was Rut gefiel, war bei Foffo zu teuer, und was bei Foffo billig war, wie Winkeleisen, rostige Nägel und Vorhängeschlösser, erschien auch Rut unverkäuflich.
Rut kannte die verstecktesten Einmannklitschen, und wir klapperten sie alle ab. Sie kaufte hier drei Teller und dort einen Korb, und der alte Peugeot füllte sich mit cose belle. Noch nie hatte ich in so kurzer Zeit so viele und so verschiedene Menschen kennengelernt. Der Bogen reichte vom Taxifahrer über brotlose Künstler bis zu ebenso brotlosen Fürsten und Grafen auf zerfallenen Schlössern, und alle, alle kannten und liebten Rut. Auf verschlungenen Umwegen fanden wir schließlich auch einen Fabrikanten für Lederjacken, der uns seine Abfälle verkaufte. Unser Lederproblem war gelöst, das Auto voll, und in Florenz blieb nichts mehr zu tun. Wir fuhren nach Rom. Die Hauptstadt brodelte. Demonstrationszüge wälzten sich durch die Straßen, umgekippte Autos brannten, es schoß. Von der Peripherie zum Stadtkern brauchten wir dreieinhalb Stunden. Da war es dann Mitternacht und Rut am Ende ihrer Kräfte. Ihre slawische Seele, ihr großes jüdisches Herz und ihr anarchistischer Geist waren den Anstrengungen nicht mehr gewachsen. »Diese Idioten!« murrte sie mit kreidebleichem Gesicht, vergaß die revolutionäre Tradition ihrer Familie und wollte nur noch Kaffee. Ich bog in eine Seitenstraße ein und suchte eine Bar, aber die Barbesitzer hatten längst den eisernen Vorhang heruntergelassen, und wo einer seinen Laden offenhielt, war beim besten Willen kein Parkplatz auszumachen. Nach der fünften Seitenstraße hatten wir uns hoffnungslos verirrt, und nur das Knallen der Schüsse und die Sprechchöre gaben uns eine ungefähre Vorstellung, wo die Hauptstraße zu finden war. Immerhin fanden wir ein offene Bar und eine Parkmöglichkeit. Ein vollgeladenes Auto kann man in der Ewigen Stadt nicht alleine lassen, und so hielten wir abwechselnd beim Auto Wache.
Ruts Telefonate zu ihren Freunden, bei denen wir nächtigen sollten, verliefen erfolglos: Die Demonstranten hatten das Telefonnetz lahmgelegt.
»Fahren wir hin!« sagte ich.
»Ich steige nicht mehr in dieses Auto, ich will ins Bett, und zwar sofort!«
Sie zitterte vor Wut. Sie stampfte mit dem Fuß auf, und ihr Gesicht nahm eine bedrohliche Färbung an.
»Suchen wir ein Hotel!« sagte ich.
»Ich will kein Hotel, meine Freunde warten auf mich, fahr mich sofort zu ihnen!«
Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe. Es gelang ihr noch, mitten in der Demonstration einen geöffneten Zeitungsladen zu finden und einen Stadtplan zu kaufen. Schließlich landeten wir in einem Stundenhotel – »das erste Mal in meinem Leben«, wie Rut am anderen Morgen versicherte. Was Wunder, dass das Bett diesmal teuer und feucht war. Immerhin, wir waren angekommen.
Die nächsten zwei Tage verliefen harmonisch. Ruts Freunde boten uns Unterkunft und bekochten uns, während Karen und ich die Boutiquen abklapperten. In den meisten brauchten wir das Köfferchen mit unserer Kollektion gar nicht erst zu öffnen. Wir sahen nicht gerade aus, wie man sich Modemacher vorstellt. In meinen Gummistiefeln sammelten sich Schweißpfützen, die bei jeder Demütigung höher stiegen. Schließlich erhielten wir einen Tipp: Um die Ecke lag eine Boutique, in der nur steinreiche Römerinnen kauften, verrückte, ausgeflippte Millionärsgattinnen, und die Patrona war auch nicht ganz bei Trost. Dort, so hörten wir, hätten wir eine Chance.
Die Patrona lag breitbeinig hingegossen auf einer altertümlichen Couch. Mit einem Blick ihrer riesigen Augen gebot sie uns Halt: Sie war eine Zweizentnerschönheit um die Sechzig, ein Fall für Fellini. Der Laden hing voller Sachen, die man nur anzog, wenn man sich auch einen Psychotherapeuten leisten konnte. Damen unterschiedlichen Alters schwirrten umher, und es wollte uns nicht gelingen, Verkäuferinnen und Kundinnen zu unterscheiden. Alle zogen sich mit der gleichen Ungeniertheit und Behändigkeit an und aus und wieder an und wieder aus. Sie drehten sich vor Spiegeln, nahmen Kaffee, knabberten an Biskuits, posierten in Unterröcken und Nachthemden, die möglicherweise Partykleider waren, hängten sich grün und lila gefärbte Füchse um den Hals, lachten und küssten sich. Ab und zu packte eine der Damen etwas ein, reichte es einer anderen, und die verschwand damit. Niemand bezahlte. Es wurde nicht einmal aufgeschrieben, aber alles fand Eingang in die riesigen Augen der Patrona, und auf deren Grund musste die Buchführung untergebracht sein. Nach einer Stunde ergriffenen Schauens hatte ich heraus, wer Verkäuferin und wer Kundin war: Verkäuferinnen waren die, welche blieben. Wir packten unser bestes Stück aus, einen Poncho aus Lederflicken. Wir wollten achtzigtausend Lire dafür, aber wir wären auch mit fünfzig zufrieden gewesen. Die Patrona winkte eine halb nackte Kundin herbei:
»Ist das nicht wunderschön?«
»Gekauft«, sagte die Kundin und gab der Patrona einen Kuss.
»Es kostet deinen Mann hundertsechzigtausend«, sagte die Patrona.
»Nur?« fragte die Kundin und gab der Patrona einen weiteren Kuss.
»Du bist ein Engel, immer findest du das Passende für mich, und billig obendrein!«
Wir verkauften alles, was wir mitgebracht hatten. Die Patrona bestellte zwanzig neue Stücke, zu fertigen in kürzester Zeit. Wir hatten Geld für drei Monate verdient. Wir hatten Leder gefunden. Wir waren in Rom. Wir genehmigten uns ein fürstliches Essen und blieben noch zwei Tage, einfach so. Dann fuhren wir zur Insel zurück. Rut blieb in Rom, für eine Woche, wie sie sagte. Als wir sie fünf Monate später wiedertrafen, war sie gerade zurückgekommen.
Auf die Insel zurückzukehren, war Heimkommen. Obwohl wir sie erst ein paar Wochen bewohnten, fühlten wir uns bereits als Insulaner, und als die Fähre durch die Winternacht auf die Lichter der Hauptstadt zustampfte, veränderte sich unsere innere Geschwindigkeit. Wir streiften die Hektik des Festlands von uns ab und wurden wieder langsam wie die Leute auf der Insel, die nicht »wie geht's?« rufen oder »guten Morgen!«, wenn sie an einem vorbeikommen, der arbeitet, sondern »mach langsam!«
Himmel, Erde und Meer ergriffen wieder Besitz von uns. Ein Himmel, der mit Sternen überzogen war, eine Erde, auf der Pflanzen wuchsen und die roch, ein Meer, das tausend Gesichter hatte und nicht aufhörte, immerfort die Insel zu umarmen.
Ich spürte die Gummistiefel an meinen Füßen. Es waren die einzigen Winterschuhe, die ich besaß, und es waren einfache, billige Stiefel aus grünem Material, die billigsten, die es gegeben hatte. In Florenz und in den römischen Boutiquen hatten die Leute mich hochmütig gemustert in meinem Schuhwerk, aber je näher die Insel kam, desto selbstverständlicher saß es wieder an meinen Füßen, und ich war nicht mehr der einzige, der billige grüne Gummistiefel trug, und ich war nicht der einzige, der im kalten Wind über der Reling lehnte und gedankenverloren zur Insel schaute, und ich war nicht der einzige, der heimkam von einer Reise in eine andere Welt.
»Vielleicht sollten wir hierbleiben?« sagte ich zu Karen.
»Ich habe auch schon daran gedacht«, antwortete sie und drückte sich an mich. Der Meerwind spielte in ihrem blonden Haar, und ab und zu fand der Mond ein Loch in den Wolken und beleuchtete ihr Gesicht. Sie war warm und griffig, und ihre Augen schossen kleine hellblaue Blitze. Als wir an Land kamen, beeilten wir uns, vollends heimzukommen. Das Dorf lag trotzig auf seinem Hügel, und das weiße Licht, das die alten Gaslaternen verdrängt hatte, ließ es kalt und abweisend aussehen. Der Wind sauste durch die Straßen und trieb Zeitungen und Plastiktüten vor sich her. Die Katzen leerten die Müllbeutel, und durch die Ritzen der Fensterläden schimmerte das blaue Licht der Fernseher. Kein Mensch war auf der Straße. Wieder wirkte alles auf eine feindliche Art ausgestorben.
Unser Häuschen war warm. Eric hatte einen zweiten Heizkörper installiert. Selbst das Bett war trocken.
3
Die Tür öffnete sich unmittelbar nach dem schüchternen Klopfzeichen. Draußen trommelte der Regen, und jetzt stand Colette im Zimmer, triefnass, mit tropfendem, strähnigem Haar und einem wilden, gehetzten Blick in den Augen.
»Ich muss mit jemandem reden, ich halte es einfach nicht mehr aus.«
Sie sank auf den nächsten Stuhl und atmete tief. Ich legte das Leder weg und machte mich bereit zum Zuhören. Karen war ins Dorf gefahren und kaufte ein. Natascha war in der Schule. Eric schrieb. Wir waren allein.
»Er hat mich wieder so schlecht behandelt, er beleidigt mich, er verbietet mir, Leute zu treffen, alles verbietet er mir, entschuldige, aber ich muss darüber reden, es ist die Hölle!« Colettes Lippen zitterten. Es war schwer zu sehen, ob die Nässe in ihrem Gesicht vom Regen oder aus ihren Augen stammte. Ich schaute sie an und wunderte mich. Es hatte alles so perfekt ausgesehen im Brögl-Paradies. Und jetzt das.
Aber Differenzen zwischen Eheleuten gehörten wohl einfach zum Leben wie Coca-Cola zum Amerikaner.
»Du sprichst von Eric?« vergewisserte ich mich.
Eine lange Weile sagte sie nichts. Dann hob sie den Kopf und schaute mir voll ins Gesicht.
»Nein, ich spreche von Nick.«
»Von Nick Berger?«
»Ja, von Nick Berger.«
Ich kannte Nick Berger. Er war ein alter Freund von Eric, und ich wusste, dass er seit einigen Jahren ganz in der Nähe wohnte. Er war Saxofonist gewesen, und viele Male hatte ich ihm in unserem vergammelten Studentenjazzklub zugehört oder in einem Keller im Quartier Latin, wo es nach Dope roch und die Fixe nicht weit war. Er war groß, schlank und drahtig gewesen, ein Typ, auf den die Frauen standen, und er hatte mit Don Cherry gespielt und mit Elvin Jones und Gato Barbieri und wie sie alle hießen. Sie waren die Helden meiner jungen Jahre gewesen, bunte Gestalten, heute hier, morgen dort und immer von tollen Weibern umgeben, lockere, nervige Burschen, die mir das Kiffen beibrachten und das Zuhören und das Lachen und das Tanzen und das Leiden. Nick war einer von ihnen gewesen, und er war ein Klasse-Saxofonist, und er brachte es zu einer eigenen Band in Paris. Eines Abends im ,Le chat qui peche‘ in der Rue de la Huchette packte er sein Saxofon ein wie jeden Abend, lungerte ein bisschen an der Bar rum wie jeden Abend und ging dann wie jeden Abend. Doch diesmal kam er nicht wieder. Er ging nach Indien und lebte da in Felshöhlen bei Heiligen, Halbheiligen und Unheiligen. Paris jazzte von nun an ohne Nick.
Als ich ihm auf der Insel begegnete; erkannte ich ihn nicht wieder. Er war von buddhaähnlichem Leibesumfang, sein bärtiges Gesicht aufgedunsen, sein Gang schwerfällig, und was er sagte, war von Ironie, Zynismus und Sarkasmus getränkt. Er war magenkrank und trank literweise Milch; er war regelrecht süchtig nach dieser Milch, die in weißen, stanniolverkleideten Papiertüten verkauft wurde und schmeckte, als sei sie schon dreimal getrunken worden. Wenn man sie stehen ließ, wurde sie nicht sauer, sie verfaulte einfach. Wegen des Magens konnte er kein Gemüse essen, wegen der Bandscheiben konnte er nichts arbeiten. Musik machte er fast nur noch alleine im stillen Kämmerchen mit exotischen Instrumenten aus Asien und Afrika, die er der Reihe nach auf Band spielte und schließlich seinem Saxofon untermischte. Früher hatte er Blondinen gehalten, jetzt hielt er Ziegen und einen Esel, Hühner, Enten und Katzen. Nach seinem Indien-Trip war er bei Eric aufgetaucht und hatte sich mit seiner Freundin Irene ein paar Meter vom bröglschen Anwesen entfernt Land gekauft und ein Haus gebaut. Paris war vergessen und die Musik nun Privatsache. Nick war durch und durch ein anderer Mensch geworden. Ich konnte keine Gemeinsamkeit finden mit dem Nick, den ich gekannt hatte. Das einzige, was geblieben war, war das Pfeifchen, das er ab und zu anzündete. Mir schien, er war im tiefsten Innern verwundet und vollauf damit beschäftigt, seine Wunden zu lecken.
Colette schaute mir immer noch ins Gesicht. Draußen knallte der Regen gegen die Fenster, aber die Stille im Raum übertönte ihn. Ich spürte, dass ich vor etwas stand, das sich jenseits meiner Denkgesetze bewegte.
»Warum gehst du denn dann überhaupt hin?« fragte ich mit meiner simplen Ein-mal-eins-ist-eins-Logik.
»Ich mag ihn doch gerne«, sagte sie schlicht.
»Aber wenn er dich schlecht behandelt und beleidigt... «
»Das verstehst du nicht.«
Sie hatte recht. Ich verstand es nicht. Außerdem fühlte ich, dass sie nur einen Zuhörer suchte und keinen Ratgeber. Ich stellte ihr ein Glas Wein hin und wir sprachen über andere Dinge. Als sie sich beruhigt hatte, ging sie wieder hinaus in den Regen. Beim Weiternähen stach ich mir zweimal in die Hand.
4
Nick suchte unsere Gesellschaft. Er bespielte Kassetten für uns, die wir in unseren langen Nähnächten hörten, er bat uns, ihn zu besuchen, und er bestärkte uns in dem Gedanken, noch eine Weile auf der Insel zu bleiben. Er kämpfte gegen Eric, und er suchte Verbündete. Ab und zu kam er in unser Häuschen, aber nur, wenn keine Gefahr bestand, dass er Eric über den Weg lief. Er parkte dann seinen Wagen an einer versteckten Stelle außerhalb des Grundstücks und schlich herein und hinaus wie ein Dieb. Einmal sprach ich mit Eric darüber.
»Der soll Musik machen, dann geht's ihm besser«, war Erics knappe Auskunft, und das Thema war begraben.
Dann lernten wir Mauro kennen, der sich aus unbekannten Gründen Ben nannte. Wir hingen im Schlepptau von Nick, als wir ihn trafen.
»Ciao Ben!«, sagte Nick.
»Salaam aleikum!« antwortete Ben und faltete die Hände vor der Brust. Er trug zwei dicke Wintermäntel übereinander, deren Schulter und Kragen unvermittelt in einen Wald von Haaren überging, dazu schwere Bauernstiefel und Handschuhe. Außer den wenigen haarlosen Teilen seines Gesichts war nichts von ihm zu sehen. Ein Clochard in Ferien, dachte ich, er will einfach mal was anderes sehen als immer nur die Seinebrücken von unten.
»Ich wusste, dass wir ihn treffen«, sagte Nick. »Er hat die weiße Fahne aufgezogen, das ist sein Zeichen, dass er da ist.« Ich schaute mich um. Nirgends war eine weiße Fahne. Wir standen auf der Piazza. Ein paar Männer lungerten um den Fischstand herum, und die Frauen machten Einkäufe. Der Dorfpolizist regelte ab und zu ein bisschen den Verkehr.
Nein, nirgends war eine weiße Fahne.
Wir gingen in die Bar und bestellten Kaffee. Die Dörfler rückten von uns ab und warfen sich vielsagende Blicke zu. Der hinter der Theke vermied es, uns anzuschauen, und putzte eindringlich den Tresen. Die Gespräche um uns erstarben, die Zeit blieb stehen.
Ben und Nick schienen von alledem nichts zu bemerken.
Sie unterhielten sich und benahmen sich, als seien sie hier zu Hause.
Der Kaffee war dick, schwarz und bitter, und ich schlürfte ihn mit geschlossenen Augen, und ich hatte Bens Ausdünstung in der Nase, und plötzlich war ich wieder in Paris in diesem kleinen Hotel, wo zum ersten Mal in meinem Leben der Kaffee dick, schwarz und bitter gewesen war, und an der Seine, wo die Beatniks Gitarre spielten und Rotwein tranken, auf meinen endlosen Märschen von einem Ende der Stadt zum anderen, ein Brot unter dem Arm und Blasen an den Füßen...
»Er hat eine Wohnung für euch«, sagte Nick.