Auf der Suche nach dem Sinn – Mensch und Christ, Band 1 - Klaus Fütterer - E-Book

Auf der Suche nach dem Sinn – Mensch und Christ, Band 1 E-Book

Klaus Fütterer

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Beschreibung

Viele Menschen heute sind Sinnsucher. In einer pluralistischen Welt gibt es allerlei mögliche Lebensgestaltungen und Weltanschauungen. Umso schwieriger ist es seinen eigenen Weg zu finden. Die Bibel, das heilige Buch der Christen, gibt dazu hilfreiche Wegweisungen. Doch sind sie oft in einer mythisch bildhaften Sprache verschlüsselt, die wir kaum noch verstehen. Es sei denn, dass wir uns selbst in der Situation der biblischen Menschen begegnen. In Band 1 werden die biblischen Wegweiser dort aufgestellt, wo wir uns entscheiden müssen zwischen Vertrauen und Misstrauen, Glaube und Zweifel, lebensförderlich oder lebensbehindernd, Vergeltung oder Vergebung, Selbstbezogenheit oder Verantwortung für Familie, Beruf sowie das große Ganze, und es versucht, ihre Bedeutung für unsere Situation zu klären. Insofern dient die Bibel als Reiseführer durch das Leben von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus.

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Seitenzahl: 752

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Mensch und Christ | Band 1

Klaus Fütterer

Auf der Suchenach dem Sinn

Die Bibel als Reiseführer durch das Leben

Vorwort

Das Christentum ist nach wie vor die zahlenmäßig größte Weltreligion. Heute beschleicht manche, die sich mehr oder weniger noch dazu zählen, das dunkle Gefühl, zu einer schwindenden Minderheit zu gehören. Man fühlt sich weder der Auseinandersetzung mit dem selbstbewussten und manchmal auch aggressiven Islam, noch mit einer agnostischen oder esoterischen Einstellung gewachsen. Umso wichtiger erscheint die Selbstvergewisserung: die Frage nach unserer Identität als Mensch unter Menschen und als Christ unter Nichtchristen und Christen anderer Konfessionen. Dazu sollen die beiden Bände von »Mensch und Christ« beitragen.

Sie wenden sich an interessierte Laien. Sie sind in einem längeren Arbeits- und Gesprächsprozess entstanden. Ich danke besonders dem »Ökumenischen theologischen Gesprächskreis Balingen« für die geduldige und anregend kritische Begleitung durch viele Jahre. Auch wenn der Seitenblick immer wieder auf die anderen Konfessionen und Religionen fällt, so lässt sich doch nicht verbergen, dass die Bücher aus der Erfahrung eines evangelischen Theologen geschrieben wurden.

Ausgangspunkte des ersten Bandes sind die Existenzfragen auf dem Weg unseres Lebens von der Kindheit bis zum Alter. Reiseführer auf dem Weg ist die Bibel, die Heilige Schrift der Christen, in ihrer Gesamtheit des Alten und Neuen Testaments. So kommt es, dass ein Teil der Bücher aus Bibeltexten bestehen, die so gut wie möglich in heutige Sprache übersetzt, in den Text eingeflochten und erklärt sind. Auf diese Weise erhalten die Leserinnen und Leser eine Einsicht in fast alle wichtigen biblischen Bücher. Selbstverständlich waren auch viele Nichtanwesende an den Gesprächen beteiligt: Theologen, Psychologen, Philosophen und andere, Leute der Geschichte und Zeitgenossen. Auf sie wird im Text verwiesen.

Das Eingangskapitel des ersten Bandes will den Zugang zum Verständnis der Bibel öffnen. Kapitel 2 bis 9 beleuchten die menschliche Identitätsentwicklung im Lebenslauf aus biblischer Sicht. Dabei steht das Alte Testament im Vordergrund. Band zwei mit den Kapiteln 10 bis 17 beschäftigt sich mit unserer christlichen Identität. Dafür bietet das Neue Testament die Grundlage.

»Gott, dein Wort ist meines Fußes Leuchte« (Psalm 119,105)

Balingen, im November 2018

Kapitel 1: Zugang zur Bibel

Auf der Suche nach dem Sinn

Sobald wir auf eigenen Füßen stehen, erhebt sich die Frage: wohin? Wo ist unser Weg? Es gibt viele Möglichkeiten. Immer wieder sind Entscheidungen zu fällen: Was ist möglich? Was tun oder was lassen? Was ist richtig, was ist falsch? Was schadet oder was nützt? – Nicht alle Wege sind selbstbestimmt. Wir werden geführt – durch die Ereignisse oder durch andere Menschen. Nicht alle Wege führen zum gewünschten Ziel. Es gibt auch Umwege, Irrwege und Sackgassen des Scheiterns. Jedoch ist es – wenn alles gut geht – ein Weg über mehrere Lebensstufen: von der Geburt über Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter bis zum Tod – und darüber hinaus?

Mit dem äußeren Weg verbunden, aber keineswegs automatisch, suchen wir unseren inneren Weg, unsere geistig-seelische Entwicklung. Wir suchen immer wieder erneut in jeder Lebensstufe, in jedem Lebenszyklus, nach Glück und Erfüllung, nach Orientierung, nach unserer Identität, nach dem Sinn unseres eigenen Lebens und des Lebens überhaupt, nach dem, was sich hinter der Oberfläche verbirgt. Wir suchen, finden oder verlieren uns, und manche geben die Suche auch auf. Gemeint ist die religiöse Suche, die Suche nach Gott. Auch hier erhebt sich die Frage: Wohin? Wenn es gut geht, nähern wir uns, trotz mancher Rückschläge, immer wieder und immer mehr unserem zugedachten Teil, dem, wozu wir geschaffen und auf der Welt sind. Wenn es schlecht geht, plagt uns eine zunehmende Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit.

Der Weg ist auch eines der Grundsymbole der Bibel: der Weg Israels im Alten Testament, der Weg Jesu mit seiner Jüngerschaft und der Weg der Apostel in die Welt im Neuen Testament. Auch die Menschen der Bibel sind nicht nur einen äußeren Weg gegangen; wichtiger für uns ist ihr innerer Weg. Selten war dieser geradlinig, manchmal verlief er im Kreis oder auf Abwegen, aber immer wieder fanden einige doch das Land ihrer Bestimmung, das »gelobte Land« – nicht weil sie klüger waren als andere, sondern, weil sie von guten Mächten dahin geführt wurden. Die Bibel zeigt den Weg, den unsere Mütter und Väter des Glaubens von Stufe zu Stufe gegangen sind, die Stationen ihrer Offenbarungen, Intuitionen und Erkenntnisse. So verschränken sich in diesem Buch drei Wege: der äußere Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod mit dem inneren Weg der Seele und mit dem Weg unserer jüdisch-christlichen Religion.

Was die äußeren Lebensumstände anbelangt, so hat sich das Gesicht der Welt verändert. Doch die Stufen von der Geburt bis zum Tod sind geblieben. Was den inneren Weg angeht, so hat sich zwar unser Selbst- und Weltverständnis durch die Wissenschaft erweitert, aber unsere seelischen Grundkonflikte sind noch dieselben. So spiegeln sich in den biblischen Texten unsere eigenen inneren Schwierigkeiten und Reifungsprozesse: Es beginnt mit dem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen. Er steht im Mittelpunkt der Urvätergeschichten von Abraham und Jakob (Kap.2). Mose und die Offenbarung am Sinai spiegeln den Konflikt zwischen richtig und falsch, gut und böse, zeugen von der Entwicklung der Moral und des Gewissens (Kap. 3). Dazu tritt das Problem von Sünde, Schuld und Vergebung (Kap. 4). Die Identität des Erwachsenen entsteht in der Spannung zwischen Selbstbezogenheit und Verantwortung in Familie (Kap. 5) und Beruf (Kap. 6). Das erhellen in besonderer Weise die Ursprungsmythen am Anfang der Bibel. Die religiöse, gesellschaftliche und politische Verantwortung des Erwachsenen für die Schicksalsgemeinschaft, in die man hinein geboren ist, finden wir beispielhaft bei den Propheten: die Auseinandersetzung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Moral und Macht, zwischen Angst und Hoffnung auf Erlösung (Kap. 7). Mit dem Alter meldet sich verstärkt die Frage nach dem Ende des persönlichen Lebens (Kap. 8) und der Geschichte (Kap. 9) – der Konflikt zwischen Lebensbejahung und Sinnlosigkeit bis hin zur Weltflucht. Besonders die Leidensgeschichte des Hiob und die Apokalypsen des Daniel und Johannes zeigen hier Wege und Irrwege.

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson verglich in seinem psychosozialen Entwicklungsmodell (Identität und Lebenszyklus) den Weg des Menschen durch diese grundlegenden Konflikte der Seele mit einer Spirale. Ist der erste Zyklus durchlaufen, so steht auf der nächsten Stufe nicht nur der neue Konflikt an, sondern auch die alten müssen neu gelöst werden. In jeder Lebensstufe muss man die dann angemessene Identität finden. In der Kindheit geht es vor allem darum, Vertrauen zu gewinnen; in der Jugend Moral und Gewissen. Als Erwachsene müssen wir uns mit der gar nicht wunschgemäßen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, und zwar ohne Vertrauen, Moral und Gewissen zu verlieren. Schließlich gilt es das Leben zu bejahen angesichts der Fragen nach dem Ende. Nicht, dass sich die inneren Konflikte einfach in Wohlgefallen auflösen ließen. Die Dynamik unseres kreatürlichen Lebens entsteht gerade aus den zwei Seelen in unserer Brust. So ist Vertrauen für uns nicht rein zu haben; es ist gemischt mit Misstrauen wie der Glaube mit Zweifel. Aber das Vertrauen kann das Misstrauen überwiegen, und wenn das gelingt, kann das Gute das Böse in uns übertreffen, und wenn das gelingt, kann das Gewissen der Wirklichkeit der Welt und ihren Machtstrukturen widerstehen, und wenn das gelingt, kann schließlich der Sinn die Sinnlosigkeit überwinden.

Was ist eine Christin? Was ist ein Christ? Mit dem Christentum entstand ein neues Sinngebäude (Kap. 10), dokumentiert zuerst im Neuen Testament (Kap. 11), personifiziert im Gottes- und Menschensohn Jesus Christus (Kap. 12). Sein Wirken in Wort (Kap. 13) und Tat (Kap. 14), sein Sterben als Solidaritätsopfer (Kap. 15) und seine Auferweckung öffnen uns den Weg in die Freiheit (Kap. 16) und damit den Weg der Nachfolge als Christin und Christ in der Gemeinschaft der Reichgottes-Bewegung (Kap. 17). Alle Wege münden schließlich in das Loben Gottes.

Biblische Wegweiser

Die meisten Menschen in unserem Land sind zwar in eine wie immer geartete christlich-religiöse Tradition hineingeboren, aber längst nicht alle kennen die Bibel und finden darin ihre geistige Heimat. Für viele ist die Bibel ein dickes, zusammenhangloses, schwer verständliches, in manchen Passagen abstoßendes, altes Buch, mit dem man nicht viel anfangen kann, auch wenn man sich immer wieder bemüht hat. Andere haben sich zwar schon lange angefreundet mit der Bibel, aber wie bei einer guten Freundin ist man nie fertig mit dem Verstehen. Der vernunftgläubige Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing sprach schon im 18. Jahrhundert bezüglich der Bibel vom »garstigen breiten Graben« (Über den Beweis des Geistes und der Kraft). Er meinte damit den Graben zwischen dem Glauben – z. B. an die Auferstehung – und der historischen Beweisbarkeit. Aber eigentlich ist es der Graben zwischen einem Bewusstsein, das wir das »mythische« nennen, und unserem angeblich »rationalen«. Gibt es zwischen beiden Brücken?

Unsere christliche Tradition reicht mindestens dreitausend Jahre zurück, weil wir auch das sog. »Alte Testament« dazu zählen (besser: Erstes Testament). Abraham, Mose und die Propheten sind auch unsere religiösen Vorfahren. Das Christentum gibt es nicht ohne Israel und das Judentum. Tausend Jahre sind wir denselben Weg gegangen, dann erst haben sich unsere Wege getrennt. Man kann deshalb das Neue Testament ohne das Alte Testament kaum verstehen. Die christlichen Mütter und Väter taten gut daran, beide zur Bibel zusammenzufügen.

Man darf allerdings nicht erwarten, dass Texte, die über zweitausend Jahre alt sind, ihren Sinn auf den ersten Blick freigeben. Man braucht so etwas wie die leidenschaftliche Neugier des Schatzgräbers, um ihn zu entdecken. Wie bei der Ausgrabung einer antiken Stadt, findet man auch bei der Bibel unter der Oberfläche Schicht um Schicht, und man weiß vorher nicht, wo der Schatz liegt und welche Bedeutung er hat. Nicht alle Grabungsergebnisse gleichen Juwelen; es gibt auch Tand und Kriegsgerät.

Was wir finden, und was wir die »Auslegung« der Texte nennen, ist auch abhängig vom Werkzeug, mit dem man gräbt. Der religionsgeschichtliche Spaten fördert etwas anderes zu Tage als der theologische oder der tiefenpsychologische. Auf jeden Fall kann man auf die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung nicht verzichten. Andererseits ist das, was man findet, abhängig von dem, der sucht – von seiner Lebenssituation und Lebenserfahrung. Denn die wichtigste Brücke über den »garstigen breiten Graben der Geschichte« ist die eigene existentielle Betroffenheit. Wer im Vertrauensbruch von Adam und Eva, im unerschütterlichen Vertrauen Abrahams, in den Hoffnungsvisionen der Propheten, im Hilfeschrei der Menschen, die Jesus geheilt hat, im ehrfürchtig gläubigen Staunen der Maria Magdalena am Ostermorgen oder in anderen biblischen Situationen sich selbst erkennt, zu dem sprechen die Texte unmittelbar. Dann haben die biblischen Offenbarungen nichts von ihrer Dasein erhellenden Aktualität verloren. Sie sind dann wie Quellen aus einem unerschöpflichen Grund. Aus ihnen strömen die Bäche und Flüsse der Überlieferung, die schon das Leben vieler Generationen bewässert und fruchtbar gemacht haben und die letztlich alle ins große Meer der Sinngebung münden.Denn wahre Religion ist immer Sinngebung für Leben und Sterben, für die Einzelnen und die Gemeinschaft.

Freilich hat man die Wahrheit nie im Besitz. Auch was das Verstehen angeht, bleibt man immer auf dem Weg. Jede Erkenntnis ist vorläufig. Außerdem gibt es keine menschliche Erkenntnis ohne die Möglichkeit des Irrtums. Wahrheit und Irrtum sind wie zwei feindliche Geschwister. Sie mögen sich hassen; trotzdem hängen sie aneinander. Das gilt auch für die Bibel. Dabei ist nicht nur die Brücke, über die wir in das mythische Land der Bibel hineingehen, mit Irrtum behaftet, sondern auch die Rückkehr: die Wirkungsgeschichte der

Texte. Denn nicht alle Erkenntnis der biblischen Menschen geriet in der Folgezeit zum Heil. Manches hat verheerend gewirkt, weil es als Machtinstrument missbraucht wurde, statt von der Liebe getragen zu sein. Das beginnt manchmal schon damit, wie die religiösen Offenbarungen in der Bibel selbst theologisch gedeutet wurden. Nicht nur die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind hinsichtlich ihrer Wirkung ambivalent – wie wir z. B. an der Atomphysik sehen – auch die biblischen Erkenntnisse können zum Heil oder zum Unheil angewendet werden.

Wenn wir also im Folgenden bei der biblischen Schatzsuche unser Interesse vor allem auf die Ereignisse richten, in denen sich Gott nach dem Zeugnis der Bibel unmittelbar geäußert hat, so nicht deswegen, weil diese sog. »Offenbarungen« zwangsläufig zeitlos endgültige Wahrheiten vermitteln. Auch die biblischen Offenbarungen sind in menschliche Verpackungen gehüllt.Auch Offenbarungen sind fragwürdig im doppelten Sinn des Wortes. Sie führen uns zwar zu den Quellen der Gottsucherinnen und Gottsucher in alter Zeit, aber wir müssen letztlich selbst entscheiden, was davon lebensfördernd und was eher schädlich ist. Kein Gemeindeleiter, keine Bischöfin und kein Papst kann uns das abnehmen. Letztlich geht es bei der religiösen Suche nicht um eine allgemeine Theorie, sondern um unsere Daseinserhellung, um unseren je eigenen Weg, um den Sinn unseres Lebens.

Biblische Offenbarungen

Judentum, Christentum und Islam gehören zu den sog. »Offenbarungsreligionen«, weil sie sich darauf berufen, dass ihre religiöse Erkenntnis nicht von Menschen stammt, sondern bestimmten Menschen direkt von Gott als Offenbarung eingegeben wurde. Doch gerade dieser »übernatürliche« Ursprung ist vielen Menschen heute suspekt. Andererseits beklagen manche Christen, dass es keine Offenbarungen mehr gäbe; dass sich Gott heute in Schweigen hülle. Stimmt das?

Offenbarungen sind zunächst etwas allgemein Menschliches und damit nichts, was außerhalb unserer Natur läge. Wir haben alle schon erlebt, dass uns plötzlich »ein Licht aufging«, eine Erkenntnis »überkam« – anders gesagt: es wurde uns etwas »offenbar«. Offenbaren heißt seinem Wortsinn nach »enthüllen, offenlegen, kundtun«. Solche Offenbarungen sind die wichtigen Einschnitte und Weichenstellungen im persönlichen und kollektiven Lernprozess: Ereignisse von großer emotionaler Wirkung. Das Aha der Entdeckung kann ebenso Freude wie Schrecken auslösen. Offenbarungen sind also nicht auf das Gebiet der Religion beschränkt. Es gibt sie ebenso in der Wissenschaft, in der Kunst und in der Erhellung des eigenen Lebensweges. So reicht die Spannweite der Offenbarungen vom Sinai-Erlebnis des Mose über die Entdeckung des heliozentrischen Systems durch Kopernikus, über die genialen musikalischen Einfälle Mozarts bis zu unseren eigenen lebensprägenden Erkenntnissen. Nicht, dass wir damit die Offenbarungen der Bibel klein machen wollen. Doch um uns ihnen zu nähern, müssen wir sie vom unzugänglichen Podest herab holen. Es waren (und sind auch heute) Menschen, die Offenbarungen empfangen. Doch Menschen können sich auch irren.

Kann also jeder in gleicher Weise Offenbarungen empfangen? So sehr wir das allgemein Menschliche betonen, muss man doch einschränkend sagen: es gibt Unterschiede. Nicht jeder forschende Physiker wird ein Einstein; nicht jeder religiöse Sucher ein Mose, Jesaja, Paulus oder Jesus. Es gibt Unterschiede in der Begabung. Hinsichtlich der religiösen Offenbarungen heißt das: Man muss nicht so weit gehen wie Max Weber und Jürgen Habermas, die von den »religiös Unmusikalischen« sprachen. Aber man kann vielleicht doch unterscheiden zwischen uns »Normalreligiösen« und jenen religiösen Pionieren, deren Namen uns in der Bibel begegnen – allen voran Jesus Christus. Unsere religiösen Erleuchtungen sind meistens Offenbarungen aus zweiter Hand. Wir verstehen, was andere schon vor uns erkannt haben. Von diesen Zeugen profitieren wir – auch dadurch, dass wir dann die Stimme Gottes in unserem eigenen Erleben besser erkennen.

Offenbarungen, Erleuchtungen, Eingebungen – oder wie immer wir es nennen – treffen Menschen zwar plötzlich, aber selten völlig unvorbereitet. Es muss schon die Frage gestellt sein, um die Antwort zu hören. Der Entdeckung der Quelle geht die Suche nach dem Wasser voraus. Der Durst, die Sehnsucht nach Wahrheit und Klarheit, treibt einen, wenn auch vielleicht manchmal unbewusst. »Suchet, so werdet ihr finden«, sagt Jesus (Mt 7,7). Ob, wann, wo und wie die Quellen der religiösen Erleuchtung sprudeln, lässt sich freilich nicht vorausbestimmen. »Der Geist weht, wo er will« (Joh 3,8). Allenfalls lässt sich das Suchen gestalten. In der magischen Phase der Religion geschah und geschieht das durch mantische Praktiken, wie z. B. das Zeichenlesen in den Sternen oder aus der Hand, oder auch durch irrationale Zustände wie Trance und Rausch. Die Bibel hat sich von dieser Art der Wahrsagerei distanziert. So tritt das Suchen der Zeichen und der Stimme Gottes durch Gebet in den Vordergrund. Es sind flehende Gebete, entsprungen einer allgemeinen Not oder einer persönlichen Lebenskrise. In solchen Gebeten ringt man mit Gott und der Welt und sich selbst. Auch hier gilt das Wort Jesu: »Bittet, so wird euch gegeben; klopfet an, so wird euch aufgetan« (Mt 7,7).

Woher kommen Offenbarungen? Aus der Fülle der Möglichkeiten. Platon, der Philosoph, hatte die Vorstellung, dass alle »Ideen« schon da sind und wir sie nur zu entdecken brauchen. C. G. Jung, der Tiefenpsychologe, meinte, dass uns die religiösen Offenbarungen aus dem »kollektiven Unbewussten« zufließen. Für die Menschen der Bibel kommen die Offenbarungen von Gott, dem Ursprung, der hinter allem Leben steht. Deshalb sind die biblischen Offenbarungen häufig mit einer Gotteserscheinung, einer Theophanie, oder wenigstens mit der Erscheinung eines Gottesboten, eines Engels, verknüpft. Im Neuen Testament geht die Offenbarung von der Erscheinung des auferweckten Christus aus oder sie gilt als Frucht des heiligen Geistes.

Was geschieht durch biblische Offenbarungen? Es geschieht Daseinserhellung für den Einzelnen, für das Gottesvolk im Besonderen und für die Menschheit. »Mensch, wo bist du?« fragt Gott in der Paradiesgeschichte Adam und Eva, die sich aus Scham versteckt hatten (Gen 3,9). Die Frage gilt uns allen. Wo bist du hingeraten auf deinem Lebensweg? So fragen auch die Propheten im Namen Gottes das Volk Israel und halten ihm den Spiegel vor. Die Frage erschreckt und will zur Umkehr auf den richtigen Weg bewegen. Deshalb lässt uns die biblische Offenbarung nicht ohne Wegweisung in die Zukunft. Jedoch nicht in der Weise eines unausweichlichen Schicksals, wie in der Astrologie; nicht als Gesetz der Geschichte, wie im Marxismus, nicht als wahrscheinlicher Trend, wie in der Zukunftsforschung, sondern als ein Wegweiser, der die Möglichkeiten einer guten Zukunft öffnet, uns aber in die Verantwortung nimmt und Entscheidung fordert.

Es gibt allerdings nach biblischer Meinung und unserer eigenen Erfahrung nicht nur gute und richtige Wegweisungen, weil es auch Einflüsterungen gibt, die in die Irre führen. Die Bibel erzählt von den Einflüsterungen des Satans in Gestalt der Schlange, die Adam und Eva verführen (Gen 3). Sie erzählt von der Versuchung Jesu, als der Teufel ihm drei Irrwege zur Auswahl stellt (Mt 4). Wie alle menschliche Erkenntnis, so gilt es deshalb auch die religiöse Erkenntnis zu prüfen. »Prüfet die Geister, ob sie von Gott sind«, rät der 1. Johannesbrief (4,1), und der Apostel Paulus empfiehlt: »prüft alles; das Gute behaltet« (1. Thess 5,21).

Wie in der Wissenschaft eine neue Erkenntnis überprüft wird und sich bestätigen muss, bevor sie als richtig anerkannt wird, so bedarf auch die religiöse Eingebung der Prüfung, nämlich: ob sie das Leben – und zwar nicht nur das eigene – fördert oder beschädigt.

Offenbarungen, Erleuchtungen, Inspirationen empfinden wir als seelisch-geistige Ereignisse im Innern. Nicht so der antike Mensch, der sich erst allmählich des inneren Menschen bewusst wird. Er hat sie im Horizont des mythischen Bewusstseins wie von außen kommende Ereignisse wahrgenommen. Sie verbanden sich mit personifizierten Mächten und Kräften: mit Gott und den Engeln. Sie wirkten wie übermächtige Personen auf ihn ein. Das trennt uns vom antiken Menschen. Aber die Kluft ist nicht unüberwindlich. Denn ob äußeres oder inneres Ereignis, entscheidend ist bei den religiösen Offenbarungen die subjektiv empfundene emotionale Wahrheit und Kraft bei den Empfängern. Sie hat geradezu etwas Zwanghaftes. Die Empfänger – Mose, die Propheten, Jesus und die Apostel – sind zutiefst betroffen und von der neuen Erkenntnis so überzeugt, dass sie davon reden und danach handeln müssen, oft gegen eigene Skrupel und äußere Anfeindungen. Der Prophet Amos beschreibt das so:»Der Löwe brüllt, wer fürchtet sich nicht? Gott spricht, wer wird nicht Prophet?« (Am 3,8). So werden Offenbarungen zugleich zu Berufungen. Manchmal wird dabei das bisherige Sinngebäude eines Menschen geradezu auf den Kopf gestellt, wie das Beispiel des Apostels Paulus zeigt (Apg 9), sodass wir von einer Bekehrung sprechen können.

Annäherung an das mythische Bewusstsein

Die Bibel ist kein Sachbuch, noch weniger ein Roman. Weder bietet das Alte Testament eine Geschichte Israels, noch das Neue Testament eine Biografie Jesu. Vielmehr begegnen uns Zeugnisse von Menschen über ihre Erfahrungen mit Gott bzw. Jesus Christus, die so wichtig erschienen, dass sie aufgeschrieben, über Jahrhunderte überliefert und von vielen Generationen benützt wurden – zum Trost und Halt, zur Orientierung und Wegweisung. Das Verstehensproblem für uns liegt weniger darin, dass die alten Sprachen Hebräisch und Griechisch übersetzt werden müssen. Das Verstehensproblem liegt vor allem in der anderen Wahrnehmung des biblischen Menschen. Äußere und innere Erlebnisse lagen auf einer Ebene. Visionen (Gesichte) und Auditionen (Worteingebungen) waren ebenso real wie Blitz und Donner. Beides geht einen unbedingt an als Ausdruck des Göttlichen, in der sich eine Offenbarung enthüllt. Was wir als unsichtbare Kräfte und Mächte in unserer Seele spüren, begegnet im mythischen Bewusstsein sichtbar und personifiziert als Engel oder Dämon, als Gott oder Teufel.

Wenn wir also heute von einem persönlichen Gott reden, von unserem »Vater im Himmel«, so bewegen wir uns im Horizont des mythischen Bewusstseins.Aber ist damit die Vorstellung eines persönlichen Gottes überholt? Das hieße, das mythische Bewusstsein zu diskreditieren und das rationale absolut zu setzen. Gerade das würde aber den Zugang zur Bibel und zu unserer eigenen Seele verstellen. Wer nur die sog. Fakten für wahr hält, das, was man mit den fünf Sinnen wahrnehmen oder mit der Wissenschaft beweisen und in einen logischen Zusammenhang bringen kann, für den wird es eine Enttäuschung sein, wenn er erfährt, dass die biblischen Offenbarungen hauptsächlich in der Gestalt von Traumerzählungen, von Berichten über Visionen und Auditionen, Wundererzählungen und Mythen überliefert sind.

»Träume sind Schäume«, sagt der Volksmund. Erscheinungen zu haben und Stimmen zu hören wird eher dem krankhaft Psychotischen zugerechnet. Wunder gibt es nicht, und Mythos gilt ja nachgerade in der Umgangssprache als gezieltes Täuschungsmanöver, das durch den kritischen Verstand als Lüge entlarvt werden muss. Eine ganze Generation von Theologen hat im Gefolge von Rudolf Bultmann deshalb versucht, die mythischen Aussagen der Bibel zu abstrahieren und durch eine »existentiale Analyse« dahinter liegende Wahrheiten aufzudecken. Andere versuchen die Wahrheit der Bibel dadurch zu retten, dass sie ihren mythischen Charakter leugnen. Sie wollen nachweisen, dass es sich in jedem Fall um historische Ereignisse und Fakten handelt. Damit trägt man freilich den untauglichen Maßstab unseres modernen rationalen Denkens in die Bibel hinein und gerät in Widersprüche gegenüber dem neuzeitlichen Weltbild. Wenn alles Fakten sind, dann müssen sich freilich die Evolutionstheorie und die biblischen Schöpfungsberichte ausschließen. Dann heißt es: entweder – oder. Nur eine Wahrheit kann gelten. Manche sagen dann: Die eine kann man verstehen, die andere muss man »glauben«, d. h. für-wahr-halten. Glauben und Verstehen treten dann auseinander. Damit wird die eigene Identität in eine religiöse und eine normale Person gespalten.

Wir versuchen in diesem Buch, die biblischen Texte vor rationalistischem Missverstehen dadurch zu bewahren, dass wir sie in ihrer mythischen Bewusstseinsebene ernst nehmen, indem wir uns dieser – so gut wir können – anzunähern versuchen, indem wir die Symbolsprache des mythischen Bewusstseins entschlüsseln und uns mit seinen Ausdrucksformen anfreunden: dem Traum, der Vision und Audition, dem Wunder und dem Mythos.

Der Kulturphilosoph Jean Gebser hat in »Ursprung und Gegenwart« herausgearbeitet, dass das rationale Bewusstsein nicht die einzig wirkliche und auch nicht die höchste, sondern nur eine neben anderen Bewusstseinsstrukturen ist, die alle ihre besonderen Fähigkeiten der Wirklichkeitserkenntnis und –beeinflussung haben. Die rationale ist zwar die letzte, aber sie hat die vorhergehenden nicht ausgelöscht. Alle früheren Bewusstseinsstrukturen und die in ihnen enthaltenen Lebenskräfte sind noch in uns lebendig, Tag für Tag und Nacht für Nacht: die archaische, die magische und die mythische. Leider war auch die Theologie nicht gefeit vor Überheblichkeit gegenüber dem nichtrationalen Bewusstsein. Darauf hat der Tiefenpsychologe C. G. Jung hingewiesen. Er schrieb: »Christen fragen oft, warum Gott nicht zu ihnen spreche, wie er es in früheren Zeiten getan haben soll. Dazu sagte ein Rabbi: Heutzutage gibt es niemand mehr, der sich tief genug bücken kann! Diese Antwort trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sind in unserem subjektiven (rationalen) Bewusstsein so gefangen, dass wir die jahrhundertealte Erfahrung vergessen haben, dass Gott hauptsächlich in Träumen und Visionen spricht. Ich bezweifle, dass es eine protestantische Lehre gibt, die sich so weit herablässt, die Möglichkeit zuzugeben, man könne die vox dei (Stimme Gottes) im Traum wahrnehmen. Wenn aber ein Theologe wirklich an Gott glaubt, wie kann er annehmen, Gott sei nicht imstande durch Träume zu sprechen?« (Zugang zum Unbewussten). Zwischenzeitlich hat sich da manches geändert. Man ist dem Nicht-Rationalen gegenüber wieder offener geworden.

Weissagungen, Träume und Visionen gelten der Bibel als vorzügliches Medium der Gottesoffenbarung und Wegweisung für den Menschen. In der Apostelgeschichte erklärt Petrus den Jubel und die mitreißende Begeisterung der Pfingstgemeinde damit, dass sich nun erfüllt habe, was Gott durch den Propheten Joel angekündigt hatte: »Ich will meinen Geist ausgießen über alle Menschen, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten Träume haben und eure Jungen Visionen« (Apg 2,17 nach Joel 3,1). Hier ist die Rede von der aufklärerischen Kraft des mythischen Bewusstseins für die Sinngebung des Lebens.

Doch wo begegnen uns die vorrationalen Bewusstseinsstrukturen heute? Die Kulturanthropologie spricht von vier aufeinander folgenden Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins: dem archaischen, dem magischen, dem mythischen und dem rationalen Bewusstsein. Jean Gebser nennt noch eine fünfte Stufe: die integrale, in der alle vorherigen zusammengeführt und als Lebenskräfte nutzbar gemacht werden. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass jede dieser Ebenen entarten kann, wenn sie sich in extremistischer Weise in den Vordergrund drängt. Wir verlieren dann als Einzelne und als Menschheit die harmonische Balance der uns geschenkten Schöpfungskräfte. So stehen wir heute nicht nur in der Gefahr, dass die Vernunft ins Rationalistische abgleitet und wir dem Glauben an die Autonomie des Menschen samt Wissenschafts- und Technikgläubigkeit verfallen. Vielmehr schaffen die vorrationalen Kräfte, indem wir sie verdrängen, gerade jenes irrationale Chaos in der Welt und in unserem Leben, das uns Angst macht. Die magischen Kräfte, die eigentlich der Lebenserhaltung und Heilung dienen, entarten zum zerstörerischen Machtmissbrauch gegenüber der Natur und den Mitmenschen. Die mythischen Kräfte, die eigentlich der Sinngebung dienen, entarten durch die Bilder- und Informationsflut zur orientierungslosen Zerstreutheit. Die archaischen Kräfte, die eigentlich dem Streben nach Einheit und Zusammenhalt dienen, führen zurück in längst überwunden geglaubte nationalistische oder religiöse Clan-Egoismen.

Die Entwicklungspsychologie hat nun entdeckt, dass jeder Mensch in seiner seelisch-geistigen Entwicklung die gleichen vier bzw. fünf Stufen durchläuft: die archaische Phase in der anfänglichen Symbiose mit der Mutter; die magische, wenn das Kind beginnt etwas zu machen und zu bewirken; die mythische, wenn sich die Welt mit allerlei Gestalten füllt – mit Hexen, Feen, Engeln und Teufeln – oder wenn man sich selbst mühelos in einen Löwen verwandeln kann; und schließlich die rationale Stufe, wenn der Verstand und das logische Denken in den Vordergrund treten und nach Beweisbarkeit verlangen. Schließlich ist es ein Zeichen der Persönlichkeitsreife, wenn es uns gelingt diese unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit in uns zu vereinen, um die in ihnen enthaltenen Schöpfungskräfte dem Leben dienstbar zu machen. Denn es ist ein Irrtum, anzunehmen, mit dem Erreichen der nächsten Stufe, sei die vorherige ausgelöscht. Alle zusammen bilden das Bewusstsein und die Wirkkräfte der Person und des Kollektivs.

Magie und Macht haben dieselbe Wortwurzel »ma«. Das magische Bewusstsein äußert sich in der Machbarkeit und im Willen zu Macht und Einfluss, also nicht zuletzt in Technik und Machtpolitik. Die sind ja wahrhaftig nicht zu Ende und zeigen immer wieder, wie wenig rational sie sind. Die mythische Ebene gebiert Sinn durch Symbole, Träume und Kunst; sie lässt sich aber auch von Bildern beeindrucken. Wenn wir unsere Phantasie in einem Roman auf die Reise schicken oder in einen Film eintauchen, wenn wir uns durch Werbebilder beeinflussen lassen oder wenn wir uns statt auf Wissen auf unsere Intuition berufen, dann bewegen wir uns in der mythischen Bewusstseinssphäre. Gemeint ist mit Intuition ein ganzheitliches Erkennen und Erfahren, das von einem Gefühl der Evidenz begleitet ist. »Das leuchtet doch ein«, sagen wir und stützen uns dabei auf eine unmittelbare Anschauung, die keines logischen Beweises bedarf. Eben diese Evidenz charakterisiert auch die biblischen Offenbarungen. In der rationalen Schicht geht es um das Messbare und die immer feinere Zerlegung des Ganzen in Teile. Hier gelten Gesetze, Kausalität und Logik, die sich in Wissenschaftlichkeit niederschlagen. Hier gibt es viele Teilwahrheiten, aber wir merken immer wieder, wie blutleer die pure Rationalität daher kommt und wie wenig das wissenschaftliche Analysierender Welt unser Bedürfnis nach Sinn gebenden Zusammenhängen befriedigen kann. Selbst die ursprünglich archaische Schicht ist noch lebendig, nämlich in der mystischen Sehnsucht nach »Einung« (Martin Buber) der Existenz, nach Überwindung unserer inneren Zerrissenheit und einer Symbiose mit dem Wahren, Guten und Schönen; jenes mystische Einssein mit dem Göttlichen – gleichsam wie im Paradies vor dem Sündenfall. In mancher Meditationspraxis wird dieses Einswerden angestrebt; vielleicht wird es im Tod verwirklicht?

Unser seelisch-geistiges Leben ist vielschichtig. Alle Bewusstseinsschichten sind in uns lebendig, mehr als uns oberflächlich klar ist und mehr als uns manchmal lieb ist. Beim antiken Menschen beginnt das rationale Bewusstsein erst zu erwachen, so vor allem in der Hochblüte der griechischen Philosophie.

Beim biblischen Menschen ist die Welterfassung vor allem eine mythische. Doch wie es aussieht, ist gerade dieses mythische Bewusstsein in der Lage, ohne die Grenzen von Zeit und Raum, weiter hinaus zu greifen in eine größere Welt und ihrer ansichtig zu werden. Gerade das geschieht, wenn das mythische Bewusstsein durch die Offenbarungen der Bibel erleuchtet wird. Was könnte wichtiger sein für die Theologie, als dem nachzuspüren, was hier ans Tageslicht tritt und Religion, also Sinnfindung, zur Sprache bringt?

Doch in welcher Sprache äußert sich das mythische Bewusstsein? Nicht in einer begrifflichen, sondern in einer symbolischen. Deswegen taugt es wenig, wenn man die Bibel wie einen sachlichen Bericht liest. Was ist ein Symbol? Der Wortbedeutung nach ein »Sinnbild«, also ein Bild, das Sinn vermittelt, ein Wort mit einer tieferen Bedeutung, oft mehrdeutig in verschiedenen Farben schillernd und oft nicht restlos zu entschlüsseln. Nehmen wir als Beispiel die Taube. Wir kennen sie als Symbol des Friedens. Wenn die Friedenstaube in den Ostermärschen auf Fahnen voran getragen wird, so vereinigt sie die Sehnsucht vieler Menschen nach einer friedlicheren Welt. Die Bedeutung des Symbols »Taube« wird noch klarer, wenn wir ihm das Symbol »Falke« gegenüber stellen. Auf der einen Seite der Raubvogel Falke, auf der andern Seite die Taube, die eher Opfer als Täter ist; auf der einen Seite die Falken als Kriegspartei, auf der anderen die Tauben als Friedenspartei. Auch in der griechischen Mythologie taucht die Taube als Symbol auf. Sie erscheint zusammen mit der Göttin Aphrodite, der Göttin der Liebe und Schönheit. Die Taube ist hier also das Symbol beglückender Liebe. Im Mythos von der Sintflut wird der Vogel, den Noah als Späher ausschickt, meistens mit einer Taube identifiziert. Die Taube ist hier (Gen 8) das Symbol für die über alle Untiefen hinweg reichende Verbindung zum Rettenden, ein Symbol für das Fliegen der Seele. Schließlich erscheint die Taube im Neuen Testament als Symbol des Heiligen Geistes. Bei der Taufe Jesu, so heißt es (Mt 3,16 f), öffnete sich der Himmel und der Heilige Geist setzte sich auf Jesus in Gestalt einer Taube: Ein Symbol der göttlichen Offenbarung und Wirkkraft, die ihm zuteil wird; zugleich sein Geist des Friedens und der barmherzigen Liebe, der über alle Untiefen hinweg mit dem Rettenden verbindet. Das Symbol Taube schillert in verschiedenen Farben, die aber zusammen ein Ganzes bilden. Symbole sind etwas anderes als Begriffe, die etwas benennen, definieren und einsortieren. Symbole als Ausdruck des mythischen Bewusstseins tragen Gefühle und haben eine Wirkmächtigkeit in unserer Seele.

In dieser Weise ist auch das Wort »Gott« in der Bibel kein Begriff, den man definieren kann, sondern ein umfassendes und vielschichtiges Symbol.

Die Symbolsprache der Bibel steht der bildenden Kunst und der Poesie näher als dem begrifflichen Denken und Reden. Das hat seine Konsequenz für die Interpretation. Das Instrument der histo-risch-kritischen Bibelwissenschaft ist für Offenbarungen nur insofern geeignet, als es (vielleicht) die historischen Umstände des Ereignisses aufzuhellen vermag. Das ist nicht unwichtig. Der eigentliche Inhalt, die Botschaft, muss jedoch im Betrachten der Sache selber gefunden werden. Niemand wird ernsthaft auf die Idee kommen, ein Werk der Malerei als fotografische Dokumentation zu verstehen oder ein lyrisches Gedicht als Bericht. Man wird vielmehr im Betrachten oder Hören das Kunstwerk in der eigenen Seele spiegeln, es wird Assoziationen auslösen, man wird es vergleichend betrachten und dann vielleicht versuchen, es in seiner eigenen Sprache auszudrücken. So wandert man auch bei den Mythen der Bibel wie durch eine Landschaft, sieht Berge und vergleicht sie mit anderen Bergen, die man schon gesehen hat. Man sieht den Himmel und vergleicht ihn mit anderen Himmeln, hört das Tosen eines Wasserfalls und assoziiert dagegen einen stillen See usw. Man nimmt dabei die Landschaft in sich auf und macht sie sich zu eigen, ohne sie rational zu verstehen. Denn was sollte das auch heißen, eine Landschaft zu verstehen? Das gleiche gilt für die seelischen Landschaften, welche sich in Träumen oder Mythen abbilden. Man muss sie nacherleben, damit sie etwas bewirken.

Ausdrucksformen des mythischen Bewusstseins in der Bibel

Traum, Vision, Audition und mythische Intuition sind Ausdrucksformen, in denen sich die biblischen Offenbarungen äußern. Sie begegnen uns allerdings nicht direkt. Die Erlebnisse sind schon Sprache geworden und damit auch in gewisser Weise bereits gedeutet, da man etwas Neues nur beschreiben kann, indem man es in Analogie zu Bekanntem setzt. Das zeigt sich beispielsweise, wenn eine Gotteserscheinung mit der Bemerkung eingeleitet wird: »Ich sah etwas, das aussah wie…« (Ez 1,13 u. ö., Dan 8,15). Sobald man etwas Noch-nie-Dagewesenes benennt, wird es in eine bekannte Vorstellung gepresst und die trägt immer auch das Gewand der jeweiligen Zeit und Kultur. Wenn also ein biblischer Visionsbericht Gott wie einen König auf seinem Thron beschreibt, so ist das eine Analogie, die nur vergleichsweise etwas vom Eindruck der Erscheinung wiedergibt. Das entwertet die Offenbarung nicht. Denn das, was als wahrhaft königlich erlebt wurde, überdauert die Zeit. C.G.Jung hat eine ganze Reihe solcher Grundsymbole der mythischen Ausdrucksweise identifiziert. Er nannte sie »Archetypen«. Sie schlummern in unserem mythischen Bewusstsein, mögen sie auch ein zeitgenössisches Gewand tragen.

So sehr wir uns als vernünftige Realisten verstehen, so wenig fremd sind uns die Ausdrucksformen unseres mythischen Bewusstseins: Wir träumen. Wir haben innere Bilder, die im Halbschlaf oder am Tag in uns aufsteigen, wenn wir »abwesend« sind. Wir erleben Wunder und wir finden Halt und Sinn in Mythen.

Träume als Antwort

Träume sind nicht nur Schäume. Selbst die Träume, an die wir uns am Morgen nicht mehr erinnern, haben eine wichtige Funktion für die emotionale »Verdauung« des Erlebten und für unser seelisches Gleichgewicht. In der Regel wachen wir am Morgen klarer auf und mancher Seelendruck ist wie weggeblasen. Darüber hinaus ist uns vielleicht einiges »eingefallen«, worauf unser Wachbewusstsein keine Antwort wusste. Nicht umsonst heißt es: »Den Seinen schenkt es Gott im Schlaf« (Ps 127,2). Wir kennen allerdings auch andere Träume. Solche, aus denen wir mehr oder weniger verwirrt, vielleicht sogar erschrocken erwachen und an die wir uns am Morgen noch gut erinnern. Es sind stark gefühlsbesetzte Träume, seelische Schlüsselerlebnisse. Sie haben eine wichtige Bedeutung in schwierigen Lebenssituationen, in Krisen und Übergängen von einem Lebensabschnitt in den andern. »Gewöhnlich wird uns der unbewusste Aspekt eines vital bedeutsamen Geschehens in Träumen enthüllt, und zwar nicht als rationaler Gedanke, sondern in einem symbolischen Bild«, schrieb der bedeutende Traumanalytiker C. G. Jung (Zugang zum Unbewussten).

Die Träume in der Bibel sind häufig solche Schlüsselträume in schwierigen Übergangssituationen des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Spätestens seit Sigmund Freud gelten Träume als Königsweg, um Licht in das Dunkel der frühen Kindheit zu bringen. Für die biblischen Menschen, ja für die ganze Antike, waren Träume vor allem ein Königsweg, um Licht in das Dunkel der Zukunft zu bringen. Ein Beispiel ist der sog. »Inkubationstraum« – was wörtlich »Ausbrütungstraum« bedeutet. Man ging an eine heilige Stätte, legte Gott die offene Frage bezüglich der Zukunft vor, opferte und legte sich schlafen, um im Traum von Gott Wegweisung zu bekommen. Wer in einer solchen Situation nicht träumte, der hatte keine Zukunft, der empfand sich als von Gott verlassen (vgl. 1. Sam 28,6 ff).

Die Alten wussten von der wegweisenden Bedeutung der Träume; freilich auch von der Besonderheit der Traumsprache. Die Traumdeuter hatten eine wichtige Rolle in der Traumkultur an den Königshöfen von Ägypten und Babylonien, wie wir aus den Josefsgeschichten (Gen 40 f) und dem Buch Daniel wissen. Worin liegen die Schwierigkeiten der Traumdeutung? Das Kaleidoskop der Traumwelt ist offensichtlich völlig anders als unser Erleben im Wachbewusstsein. Im Traum verlieren die Grenzen von Zeit und Raum ihre Gültigkeit. Mühelos kann man in einem Moment von einem Ort zu andern gelangen. Es gibt kein zeitliches Kontinuum. Reste vom heutigen Tag, längst Vergessenes und Zukünftiges reihen sich aneinander. Sogar die Identität der im Traum erscheinenden Personen ist nicht beständig. Am Ende wissen wir oft nicht, wer nun mit uns im Traum gesprochen hat. S. Freud meinte, alle Personen im Traum seien wir selbst, Anteile unserer eigenen Seele (vgl. Christoph Türcke, Philosophie des Traums). Ihm verdanken wir auch die Einsicht, dass Träume, die uns etwas aufdecken, was uns unangenehm ist und was wir deshalb verdrängt haben, z. B. traumatische Erlebnisse, unerlaubte Wünsche oder die Wahrheit über uns selbst, sich einer besonderen Verhüllung bedienen. Freud sprach von der »Traumfassade« und von ihren »Baumeistern«: der »Verschiebung« und der »Umkehrung«. Das heißt: Was der Traum uns eigentlich sagen will, erscheint in einer nicht zugehörigen Szenerie oder sogar auf den Kopf gestellt. Hinter einem Angsttraum kann sich also auch ein Wunsch verbergen.

Alle diese Merkwürdigkeiten und die Schwierigkeit, dass jeder seine persönliche Traumsprache hat, sodass Deutungsbücher wenig helfen, bringen es mit sich, dass wir viele unserer Träume eher als absurdes Theater erleben und sie am Morgen kopfschüttelnd auf die Seite legen. Wir vergeben damit freilich die Möglichkeit hinter unsere eigene Fassade zu blicken. Wichtige Schlüsselträume kehren zwar wieder. Wenn sie jedoch keine Beachtung finden, werden sie uns nicht mehr heimsuchen. Die Tür zu den Geheimnissen unserer Seele schließt sich.

Sicherlich hatten die Menschen in der mythischen Bewusstseinsstufe einen direkteren Zugang zur Traumwelt. Die meisten Träume in der Bibel waren für die Träumer vom Gefühl der unmittelbaren Evidenz begleitet: Ja, so ist es! Das ist die Antwort auf meine brennenden Fragen! Das ist die Wegweisung! So begegnen uns in den Traumberichten (aber auch in Berichten über Visionen und Auditionen) selten noch Rätsel. Die Deutung ist im Bericht bereits klar.

Visionen als Erleuchtung

Träume kennt jeder; von Visionen wissen wenige zu berichten. Das bringt die Visionärinnen und Visionäre, die »Seher«, wie sie in der Bibel heißen, in den Geruch besonderer Heiligkeit oder Scheinheiligkeit. Doch gilt wohl das Gleiche wie bei den Träumen. Wenn man sie nicht ernst nimmt, können sie nicht erscheinen. Vieles, was über den Traum gesagt wurde, gilt auch für die Vision, denn Traum und Vision sind Geschwister. Der Traum gehört zum Schlaf. Die Vision ereignet sich im Wachzustand, führt aber zu einer Abwesenheit. Die Bibel zieht die Grenze gar nicht scharf, denn sie spricht auch von »Nachtgesichten«. Ähnlich den Schlüsselträumen geht auch den meisten Visionen die Suche voraus, das sehnsuchtsvolle Wünschen. Deshalb ereignen sich Marienerscheinungen da, wo die Mariensehnsucht besonders groß ist: im Bereich der katholischen Kirche. Auch die Christuserscheinungen an Ostern betrafen Menschen, deren ganzes Fühlen, Wünschen und Denken im Bann des Todes Jesu am Kreuz stand und die dadurch in eine verzweifelte Sinnkrise geraten waren: Herr, Gott! Warum? Was hat das für einen Sinn? Gib uns ein Zeichen! Das ist kein Grund, an der Echtheit der Erscheinungen zu zweifeln. Man kann Visionen nicht machen. Sie ereignen sich, wie sich auch der Traum ereignet. Wohl aber brachte die Vision, welche die Osterzeugen unwillkürlich überkam, die Antwort auf ihre Sinnkrise: Es ist nicht aus mit dem Tod. Christus lebt! Gott hat ihn vom Tod auferweckt! Die Evidenz dieser Offenbarung war so zwingend, dass sie zum Schlüsselerlebnis wird, das ihr Leben von Grund auf verändert und das sie öffentlich bezeugen müssen. Denn man kann die Gotteserscheinungen, die Christus- oder Marienerscheinungen nicht trennen von der Botschaft, die aus ihnen spricht. Sie sind immer Auftrag und Wegweisung in die Zukunft.

Auditionen als Botschaft

Wie wir im Traum Worte hören und Gespräche führen können, so auch in der Vision. Die Worte tragen manchmal auch zum Verständnis des Geschauten bei. So lesen wir in einem Visionsbericht des Propheten Amos: »Gott ließ mich schauen, und siehe, da stand ein Korb mit reifem Obst. Da sprach Gott zu mir: Was siehst du, Amos? Ich antwortete: Einen Korb mit reifem Obst. Da sprach Gott zu mir: Ja, reif für’s Ende ist mein Volk. Ich will über keine seiner Untaten mehr hinweg sehen« (Am 8,1 f). Der Korb mit reifem Obst wird zum Symbol des drohenden Unheils und zur Antwort auf die Frage des Propheten, was geschehen wird. Ob es ein inneres oder ein äußeres Bild war, wissen wir nicht. Jedenfalls bringt die innere Stimme Klarheit. Solche Worteingebungen gibt es in der Bibel auch als bildlose, reine Wortinspiration, als »Audition«. Sie dominieren sogar in der Bibel. Das innere Hören scheint ausgeprägter als das innere Sehen. Die Propheten Israels sagen vor allem, was sie gehört haben. Sie sind gewissermaßen das Sprachrohr Gottes und leiten ihre Rede mit der typischen Formel ein: »So spricht Gott«. Damit übernehmen sie die Rolle eines bevollmächtigten Botschafters Gottes in Analogie zu den Botschaftern der Könige. In ähnlicher Weise verstehen sich die Apostel und urchristlichen Propheten als bevollmächtigte Botschafter Jesu Christi. Sie sind sein Sprachrohr und geben nicht nur weiter, was sie vom irdischen Jesus gehört haben, sondern, was ihnen der erhöhte Christus eingibt. Deshalb gehört die Gabe der Prophetie auch zu den großen Geistesgaben in der frühchristlichen Gemeinde (vgl. 1. Kor 14,3), und sie gehört noch immer zur Kirche, sofern es uns von Bedeutung ist, was Gott uns heute für Wegweisung gibt.

Tagträume als Realutopie

Das Wort »Vision« wird heute auch im Zusammenhang mit Wunschvorstellungen für die persönliche oder die gesellschaftlich-politische Zukunft verwendet. Solche Visionen sind wichtig für die Erschließung von Zukunft. Es handelt sich gewissermaßen um Tagträume. Die Fähigkeit in die Zukunft zu träumen, zu phantasieren, gehört zum Menschsein und ist unmittelbarer Ausdruck unserer Ängste und Hoffnungen. Der Philosoph Ernst Bloch sagte im Blick darauf: der Mensch sei nicht ganz »dicht«. Er sah besonders in den kollektiven Tagträumen den »Vor-schein« einer »möglichen Wirklichkeit«, so wie in der Morgenröte das Kommen der Sonne vor-scheint (Prinzip Hoffnung). Manche beurteilen solche Tagträume als überflüssige Phantasterei, die nur falsche Hoffnungen weckt. Aber ohne Wunschbilder vermag man keine Zukunft zu gestalten.

Das gilt sogar für die Luftschlösser, die sich junge Menschen bauen. Es sind Wunschträume wie z. B., ein Held, ein Star zu werden oder sehr reich – Wunschträume, geboren aus der Sehnsucht nach Anerkennung und Glück. Sie werden gerne als Realitätsflucht abgetan und wecken Spott oder sogar Aggressionen. So spotten schon die Brüder des Josef, Sohn des Urvaters Jakob: »Seht, da kommt der Träumer« (Gen 37,19). Er hatte ihnen nämlich von einem Traum erzählt, in dem er, der Kleine, sich sah, wie er über die Brüder herrschte. Sie verkaufen ihn als Sklaven, damit er, aus seinem Luftschloss fallend, nur recht hart in der Realität des Lebens aufschlagen möge. Doch sein Lebenstraum erfüllt sich tatsächlich.

Gerade für junge Menschen sind Tagträume wichtig, sofern sie nicht zum Größenwahn führen, sondern jene Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufrechterhalten, die Zukunft öffnet. Mehr als Worte haben solche inneren Bilder eine motivierende Wirkung, auch das zu werden, was man sich erträumt. Ähnliches gilt für die Tagträume einer Gemeinschaft. Realutopien einer besseren Zukunft können aus dem Gefängnis der scheinbar alternativlosen Sachzwänge herausführen und Wirkkraft entfalten. Je tiefer solche Wunschbilder in der Seele eines Kollektivs eingeprägt sind, desto mehr Kraft zur Veränderung und zum Ertragen von Schwierigkeiten entfalten sie. So ist z. B. M. L. Kings berühmter Traum von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verinnerlicht und durchgekämpft worden: »Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können«

Auch in der Bibel finden wir solche Zukunft öffnenden Visionen: Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet, Wölfe werden bei den Lämmern wohnen (wobei damit Menschen gemeint sind), Blinde können sehen und Lahme wieder gehen und die Hütte Gottes steht bei den Menschen. Alles Bilder voller Symbolkraft, Wunschträume von einer besseren Welt ohne Krieg, von einer wirtlichen Welt für alle, von der Heilung der Heilsuchenden.

Solche Bilder erblühen gerade dann, wenn die Situation unerträglich wird. Je mehr man dabei die eigene Ohnmacht spürt, desto mehr richten sich die Hoffnungen auf einen Erlöser und Heiland, der die Zeitenwende bringen soll, auf das archetypische Symbol des heldenhaften und siegreichen Helfers. Das war in Israel so, als in Zeiten des staatlichen Zerfalls die Lichtgestalt des »Messias« herbeigesehnt wurde: ein idealisierter König David oder eine mythische Himmelsgestalt. Aber das Erstaunlichste war, dass dann dieser Messias in jenem gewaltlosen und gar nicht siegreichen Antihelden Jesus von Nazareth erkannt wurde, auch wenn man ihn dann in der Zeit der Verfolgung wieder als allmächtigen Weltenrichter herbeisehnte.

Wenn solche Zukunftsvisionen durch Bilder von verheerenden Kriegen, Naturkatastrophen und massenhaftem Tod geprägt sind, zerren sie – ähnlich wie Alpträume – verdrängte Ängste und Rachegefühle ans Licht. Trotzdem ersehnen auch die apokalyptischen Zukunftsvisionen der Bibel letztlich nur eines: das Ende aller Gräuel durch den Untergang der politischen Gewaltherrschaft. Durch die Schreckensbilder hindurch zielen sie auf eine heile Welt: »Siehe da! die Hütte Gottes bei den Menschen. Er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Weder gewaltsamer Tod, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein. Denn das Frühere ist vergangen und der auf dem Thron saß sprach: Siehe, ich mache alles neu!« (Apk 21,3 ff).

Wunder als Heilszeichen

Auch die zahlreichen Wundergeschichten der Bibel sind Ausdruck des mythischen Bewusstseins. Sie wurzeln allerdings noch tiefer: in der magischen Bewusstseinsschicht. Von dort kommen die Heilungskräfte. Die Menschen, die in der mythischen Weltanschauung leben, fühlen sich im Blick auf Unglück und Krankheit eingebunden in den Kampf der Geister, der Engel und Dämonen. Ohne Hilfe wäre man den bösen Geistern ausgeliefert. Die Wunder der Bibel werden als heilvolles Eingreifen Gottes erlebt. Dem Wunder voraus geht also die Ohnmachtserfahrung: Jetzt kann nichts mehr helfen außer einem Wunder. Das hat sich freilich bis heute nicht geändert; auch nicht, dass man sich in einer solchen Situation an Menschen wendet, denen man zutraut, solche wundersamen Heilkräfte herbeirufen zu können.

Manchmal kommt die Notwende dann ganz unerwartet, und man steht mit Staunen und Ver-wunder-ung davor. Das geschieht im Persönlichen und im Politischen, in Form einer wundersamen Spontanheilung oder indem sich plötzlich die Mauer in Berlin öffnet. Wir können zwar versuchen, alles Mögliche zur Erklärung heranzuziehen. Aber die rationale Frage, warum es geschah und warum gerade zu diesem Zeitpunkt, bleibt letztlich unbeantwortet, sofern wir das Eingreifen Gottes leugnen. Wunder sind ein erlebtes Zeichen für das Eingreifen Gottes.

Im Horizont des mythischen Bewusstseins offenbart sich im Wunder Gott mit seinem Heilswillen. Im rationalen Bewusstsein sind es nur glückliche Zufälle oder noch nicht aufklärbare Vorgänge. Als größtes Wunder Gottes gilt im Alten Testament die Herausführung aus der Sklaverei in Ägypten und die Rettung am Schilfmeer und im Neuen Testament die Auferweckung Jesu Christi vom Tod. Sie sind die grundlegenden Offenbarungen von Gottes Heilswillen und damit die Kristallisationspunkte der jüdischen und der christlichen Religion.

Menschen dienen in der Bibel als Werkzeuge der Wundertaten Gottes: Mose, die Propheten Elia und Elisa, Jesus und die Apostel. Bei Jesus sind die Heilungswunder zugleich Zeichen der Gegenwart des Gottesreiches und seiner Bevollmächtigung als Erlöser. Als die Jünger Johannes des Täufers fragen: »Bist du der Messias oder sollen wir auf einen andern warten?«, antwortet Jesus: »Geht hin und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden lebendig und den Geringen wird frohe Kunde gebracht« (Mt 11,3 ff). Allerdings rührte sich auch schon damals der Widerstand der Skeptiker. So vermuten die Pharisäer: »Er treibt die bösen Geister durch Beelzebub aus« (Mt 12,24). Gegenüber der Skepsis sind Wunder als Heilszeichen machtlos. In der Tat können Wunder nicht als Gottesbeweis dienen. Es können auch ganz andere Kräfte sein, die da am Werk sind. Das wussten auch die biblischen Menschen: «Es werden auch falsche Erlöser und Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, um die Leute zu verführen«, warnt das Mt-Ev (24,24).

Mit dem Siegeszug des Rationalismus seit der Aufklärung wurde der Wunderglaube generell als Aberglaube diskreditiert. Im rationalen Weltbild ist kein Platz für ein Eingreifen Gottes, denn es funktioniert nach festen Gesetzen »etsi deus non daretur«, als ob es Gott nicht gäbe. Bei kritischem Hinsehen entpuppt sich das freilich als eine Ideologie nach dem Motto, dass es nicht geben kann, was es nicht geben darf. Damit soll das Wahrheits- und Erklärungsmonopol des rationalem Denkens verteidigt werden. Allerdings hat diese Skepsis gegenüber dem direkten Eingreifen Gottes in heutige Ereignisse auch in weite Teile der Kirche Einzug gehalten. Doch was hat dann ein Bittgebet noch für einen Sinn? Was wäre das für ein Gott, der nichts mehr tun kann? Er gleicht allenfalls noch dem deistischen Gespenst eines anfänglichen Weltkonstrukteurs, der sich zur Ruhe gesetzt hat, nachdem die Weltmaschine zum Laufen gekommen ist. Wir brauchen uns nicht zu schämen, Wunder, die wir erlebt haben, auch Wunder zu nennen, denn entscheidend ist, wie bei allen Offenbarungen, unser subjektiver Eindruck: das Staunen, das Überwältigtsein, das Sich-wundern und Be-wundern des Heilswillens Gottes. Die biblischen Wunder sind – ebenso wie unsere selbst erlebten – nicht zu objektivieren, aber deshalb doch Teil der Erfahrung.

In den vergangenen Jahrzehnten hat uns vor allem die Psychotherapie geholfen, die ganzheitliche Bedeutung und symbolische Sprache der Heilungsgeschichten wieder zu verstehen. Der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann hat hier mit »Tiefenpsychologie und Exegese« entscheidende Wege gewiesen. Hinter den Heilungswundern stehen wirkliche Erfahrungen: wie einem die Augen geöffnet wurden, als man die eigene Realität nicht mehr sehen konnte; wie man wieder gehen lernte, als man starr war vor Entsetzen; wie man wieder lebendig wurde, als man sich tot fühlte. Es sind ganzheitliche Erfahrungen, bei denen Menschen aus dem Gefängnis ihrer Angst befreit wurden und wieder Vertrauen fassten.

Der Mythos als Sinngebäude

Träume, Visionen, Auditionen, Tagträume und Wundererlebnisse begegnen uns in der Bibel als Erzählungen in mythisch-symbolischer Sprache. Sie sindwie einzelne Räume, die vom großen Mythos überwölbt werden – ein Sinngebäude mit vielen verschieden eingerichteten Zimmern, in dem Gott als der große Baumeister, als Schöpfer und Heiland sich offenbart.

Wenige Worte sind heute so mit Missverständnis behaftet. Mythen gelten als höchst zweifelhaft. »Mythos« oder Mythus wird heute umgangssprachlich fast gleichbedeutend mit »irreführende Erfindung« verwendet. Doch Mythen werden nicht frei erfunden; man findet sie höchstens, und zwar als Erhellung des Daseins. Der Religionsphilosoph Martin Buber formulierte: »Der Mythos ist nichts, was sich der Mensch einbildet, sondern, was sich dem Menschen einbildet« (Mythos und Mystik). Auch heute noch entstehen Mythen intuitiv als »Sinngebäude«, die dem Leben ganzer Völker, Kulturen oder Religionsgemeinschaften Kontur und Richtung geben. So zeigt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler wie der Mythos vom »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« die US-Amerikaner ebenso zusammenhält, wie der Mythos vom »Wirtschaftswunder« die Westdeutschen nach dem Krieg wieder aufgerichtet hat (Die Deutschen und ihre Mythen).

Freilich ist die Haltbarkeit solcher Mythen verschieden. Manche verlieren im Lauf der Zeit ihre Gültigkeit, zuerst für einzelne, dann für immer mehr. Das Sinngebäude bröckelt; man kann nicht mehr darin wohnen. Nach einer Phase der Unsicherheit entstehen vielleicht neue Mythen oder die alten können umgebaut werden. Im Gegensatz zu vielen neuen haben die alten biblischen Mythen eine erstaunliche Haltbarkeit bewiesen. Sie geben immer noch vielen Menschen Sinn und Halt, sind ihnen Heimat und Hoffnung. Die biblischen Mythen geben Antworten auf die uralten Fragen nach Identität und Lebenssinn: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wozu sind wir da? Wohin gehen wir? Mögen die Mythen auch von einem Einzelnen irgendwann aufgeschrieben worden sein, so ging dem doch ein langer Weg kollektiven Suchens voraus. Intuitiv wuchsen, und wachsen noch heute, Erfahrung und Erkenntnis zusammen zu einem neuen Ganzen. Das geschieht eher assoziativ und bildhaft im mythischen Bewusstsein als rational. Deswegen sind Mythen auch nicht frei von Widersprüchen, so wenig wie unsere Erfahrungen. Vom Entstehungsprozess zeugt auch die Wortgeschichte von »Mythos«. Jean Gebser hat darauf hingewiesen, dass aus der Wurzel »my« des griechischen Wortes gleichermaßen die Worte »Mysterium« (Geheimnis) und »Mystik« (innere Versenkung) entstanden sind (Ursprung und Gegenwart). Mythos heißt wörtlich »Bericht, Erzählung, Rede«. Aber das ist die Endstufe eines mythischen Bewusstseinsprozesses. Bevor etwas als Mythos seinen Ausdruck findet, ist die Seele in mystischer Versenkung des Mysteriums ansichtig geworden.

Die Berichte über Wunder, Träume, Visionen usw. sind die Bausteine eines Sinngebäudes, das die Identität einer Gruppe, eines Volkes oder einer Religionsgemeinschaft ausmacht. Gleichzeitig geben sie ihm Farbe und Anschaulichkeit. Der Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird hundertfach durch Geschichten über den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär ausgemalt und bestätigt. Der Mythos vom Wirtschaftswunder konkretisiert sich z.B. in der Erfolgsgeschichte von Volkswagen. Der Mythos von Israel als dem »von Gott erwählten Volk« wird aus den Geschichten über die Urväter, die Befreiung aus der ägyptischen Zwangsherrschaft, die Rettung am Schilfmeer, die Sinaioffenbarung, die Inbesitznahme des Landes und das strahlende Königtum von David und Salomo errichtet. Der Mythos von der »in Christus erschienen Liebe Gottes«, der das Christentum konstituiert, wird in vielen Erzählungen über Jesu Leben, seine Wunder und Reden, sein Sterben und sein Erscheinen nach dem Tod ausgebreitet.

Mythen allgemein und auch die biblischen Mythen haben ihren historischen Kern in wirklichen Erfahrungen. Aber ihre Wahrheit ist nicht bloß historisch, sondern eine, die Sinn gibt und trägt. Sie sind wie ein geistiges Haus, das uns Heimat gibt – wenn wir denn einziehen wollen und können.

So sagt z. B. der biblische Schöpfungsmythos, dass Gott hinter allem Leben steht, und vermittelt dabei ein Gefühl der Geborgenheit. Diese Wahrheit wird durch die Evolutionstheorie nicht außer Kraft gesetzt, sondern ergänzt. Aber der Mythos allein gibt eine Antwort auf die Sinnfrage, indem er unser Leben und Sterben in Beziehung setzt zu Gott. Der Mythos gibt Heimat und Geborgenheit in der Welt. Die Wissenschaft kann die Sinnfrage nicht beantworten. Sie lässt uns unbehaust. Das rein rationale Denken endet beim Zufall.

Beim Bau des großen Mythos der Religionen werden manchmal auch Bausteine aus anderen Kulturen verwendet. So begegnen wir auch in den biblischen Mythen Elementen, die wir auch aus anderen Religionen und Kulturen kennen. Doch so, wie sie in der Bibel verwendet werden, entsteht doch etwas Eigenes: das geistige Haus der biblischen Menschen, das von ihnen gebaut, bezogen, manchmal auch wieder umgebaut und ausgebaut wurde. Der größte Um- und Ausbau war der vom Alten zum Neuen Testament. Aus den Steinen des »Hauses Israel« und aus den neuen Erfahrungen mit Jesus und den Offenbarungen nach seinem Tod wurde das neue Sinngebäude des Christentums errichtet: Die in Christus erschienene Liebe Gottes ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält und das, worauf wir unser Vertrauen gründen können. Auch an diesem Sinngebäude wurde und wird in nachbiblischer Zeit weitergebaut und umgebaut. Manches Stockwerk hat sich auch als untauglich erwiesen und musste wieder abgebaut werden, damit wir noch darin wohnen können. Aber das biblische Fundament bleibt samt seiner symbolhaften Sprache. Würden wir versuchen, die Bibel in rationalen Gedanken wiederzugeben, dann gingen der Wahrheit die Bilder und ihre emotionale Kraft verloren. Der lebendige Schatz unseres Glaubens wäre nur noch wie ein Haufen toter Knochen.

Gerade heute, in einer Zeit, in der das Leben der Menschheit mehr denn je von unserem Selbstverständnis als Geschöpf unter Geschöpfen, vom alle Grenzen überwindenden Zusammengehörigkeitsgefühl aller Menschen als Kinder Gottes und von unserer Fähigkeit zu solidarischer Hilfe abhängt, hat das Sinngebäude des Neuen Testaments, der christliche Mythos von der Rettung durch die Kraft der Solidarität Gottes, seine tragende Bedeutung – sofern er seinen Weg in unser Herz findet.

Kapitel 2: Zwischen Vertrauen und Misstrauen

Anfänge

Unser Trieb zu leben beginnt mit dem Bedürfnis nach Nahrung, nach wärmender Liebe und Geborgenheit. Bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse sind wir ganz und gar abhängig, vor allem von der Mutter. So ist wahrscheinlich auch die Religion im Ursprung eine mütterliche, entsprungen dem Bedürfnis nach nährender Natur, nach wärmender Gemeinschaft und dem Gefühl der Abhängigkeit von einer »tieferen« mütterlichen Lebensquelle. Lange vor dem Entstehen der »Hochreligionen« symbolisiert dies vermutlich schon die über 40.000 Jahre alte sog. »Venus vom Hohle Fels«, die Figur einer Muttergottheit von der Schwäbischen Alb. Wird das Grundbedürfnis erfüllt, so kann sich Vertrauen ins Leben entwickeln, Vertrauen zu Menschen und Gottvertrauen. Wenn nicht, entstehen Misstrauen und Zweifel. Wie also unsere gesunde seelische Entwicklung davon abhängt, dass im Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen das Vertrauen die Oberhand gewinnt, so ruht auch unser Glaube darauf, dass das Gottvertrauen größer ist als Angst und Zweifel. Wie das Vertrauen des Kindes in die Mutter und das Leben immer wieder vom Misstrauen angenagt wird, so das Gottvertrauen vom Zweifel. Das bleibt ein ständiger Kampf. So sehr das Vertrauen uns hilft, mutig voranzuschreiten, so sehr lassen Misstrauen und Zweifel unsern Schritt zögern.

Trotz aller mütterlichen Geborgenheit lässt sich die frühe Erfahrung unserer Verletzlichkeit durch physische und psychische Gefahren nicht vermeiden. Die daraus erwachsende Angst weckt unser Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz. Dem entspricht der menschliche Vater und in höherem Sinn der väterliche Schutzgott. Ihm begegnen wir wahrscheinlich in der ähnlich alten Kultfigur von der Schwäbischen Alb, dem sog. »Löwenmenschen«, einem Symbol für die überlegene Stärke der göttlichen Schutzmacht, der man sich anvertraute. Sowohl das Bedürfnis nach Schutz als auch das Bedürfnis nach Nahrung, Liebe und Geborgenheit addieren sich zum weit verbreiteten Wunsch nach göttlichem Segen. Er brachte die uralte, magisch religiöse Praxis des Opfers hervor zur Erlangung göttlichen Wohlwollens. Sie ist Teil aller Religionen, auch elementarer Ausdruck des israelitischen Gottesdienstes.

Die sog. »Vätergeschichten« von Abraham, Isaak und Jakob stellen den Gründungsmythos des Volkes Israel und sowohl seiner als auch unserer Religion dar. Ihre Antwort auf die Frage, woher wir kommen, lautet: Mit Abraham fing alles an. Bei Abraham liegt der Ursprung. Da wurde der Grundstein unserer religiösen Identität gelegt. Wir sind Abrahams Kinder. Historisch liegt dieser Anfang ziemlich im Dunkeln. Gemessen an den alten Kulturvölkern am Nil und im Zweistromland, betritt Israel erst spät die historische Bühne. Die Anfänge reichen vielleicht bis 1.800 v. Chr. zurück; die Staatsgründung erfolgte erst um 1.000 v. Chr. In diese Zeit datieren wahrscheinlich auch die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen. Vielleicht verbirgt sich in einem gottesdienstlichen Bekenntnis eine der ältesten Erinnerungen. Beim Opfer der Feldfrüchte sollten die Israeliten sagen: »Mein Vater war ein umherirrender Aramäer, dem Umkommen nahe. Er zog hinab nach Ägypten und lebte dort als Fremdling mit einer kleinen Sippe. Aber sie wurden dort zu einem großen und starken Volk. Die Ägypter misshandelten und bedrückten uns und legten uns harte Sklavenarbeit auf. Da schrieen wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe erhörte uns. Er sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrängnis. Und Jahwe führte uns aus Ägypten heraus mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großen Schrecknissen, Zeichen und Wundern. Er brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, wo Milch und Honig fließen« (Dt 26,4 – 9).

Man spürt, wie in diesem Bekenntnis der »Mythos Israel« beschworen wird, wie die Einzelnen und die Gemeinschaft daraus Selbstbewusstsein gewinnen, dass sie sich der Herkunft und Heilsgeschichte erinnern: Wir sind die, denen der Gott Jahwe in mächtiger und wunderbarer Weise geholfen hat. Doch ist der Mythos ja nicht ohne historischen Kern. Mindestens ein Teil des Volkes kam aus Ägypten. Dort waren sie zugezogene Fremdlinge, die wie Sklaven behandelt wurden. Von dem, was davor war, erzählt der erste Satz: »Mein Vater war ein umherirrender Aramäer«. Verbindet man ihn mit der biblischen Überlieferung über den Wanderweg des Stammvaters Abraham – ausgehend von Ur in Chaldäa (am Unterlauf des Euphrat), nach Haran (in der südöstlichen Türkei), nach Palästina und bis in den Machtbereich der Ägypter – so bestätigt sich der Eindruck des Umherirrens. Die Urahnen waren wohl semitische Nomaden aus der Gegend von Ur. Die Bezeichnung »Aramäer«, die weit verbreitet war, darf wohl nicht ethnisch eingeengt werden, sondern kennzeichnete eher ursprünglich die Kulturform jener Kleinvieh-Nomaden. Die große Wanderung, welche die Bibel beschreibt, hat aber nichts mit einem normalen Weidewechsel zu tun; sie gleicht eher einer Völkerwanderung. Aus irgendwelchen Gründen haben sie ihre Heimat verlassen (müssen?). Diese Aramäer irren nach neuem Lebensraum suchend weit umher. Abraham, Isaak und Jakob repräsentieren das Schicksal dieser Kleinvieh-Nomaden, deren Wanderungsbewegungen sich wohl über mehrere Jahrhunderte erstreckten. Am Ende steht die allmähliche Sesshaftwerdung auf den noch unbesiedelten Flächen des Landes Kanaan. An die Stelle des Nomadentums traten die lokale Weidewirtschaft und der Ackerbau. Was sich später Israel nannte, war zunächst ein Verteidigungsbündnis verwandter Stämme, aus dem sich dann ein Königreich bildete. Für die Identität als Israel und »Gottesvolk« war aber letztlich ihre Religion entscheidend.

Die Herkunft als landlose Nomaden am Rand der Hochkulturen – zwar in einem gewissen wirtschaftlichen Austausch, aber doch noch in einer ganz anderen Kulturstufe verwurzelt – erklärt vielleicht das fast krampfhafte Bemühen um eine eigene, unverwechselbare Identität, ja um Exklusivität. Mögen sie als Nomaden stolz auf ihre Freiheit, Naturverbundenheit und den Zusammenhalt in der Sippe gewesen sein, so spürten sie wahrscheinlich doch auch ein gewisses Unterlegenheitsgefühl gegenüber den etablierten Stadtkulturen am Euphrat und Nil: ökonomisch, militärisch und kulturell. Ähnliches erleben wir heute an manchen Stellen bei der Begegnung des Islam mit dem Westen.