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Die Zeit des familiären Nachspürens war vorerst abgeschlossen. Mit ihrem Ehemann Gerd begab sich die Autorin wieder auf Reisen. Dieses Mal motorisiert und doch nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Welches sind die drei Stadien einer Oldtimerausfahrt? Die Antwort lautet: gar nicht erst losfahren, unterwegs liegenbleiben oder am Ziel ankommen! Diese Reise begann mit einem Flop! Statt mit Zweiradoldtimern startete das Autorenpaar ihre Ostseeumrundung mit einem 18 Jahre alten Motorroller plus Seitenwagen der Marke Honda-Helix. Die Ostseeanrainerländer beeindruckten die Reisenden mit altehrwürdigen Hansestädten, sowie quirligen Haupt- und Hafenstädten. Die fantastischen Naturimpressionen wie die riesigen Wanderdünen, die Baltische See, mal wild, mal zahm, die Küsten und die weiten Wälder hinterließen unauslöschliche Eindrücke. Ein Abstecher zum Nordkap unterbrach den Ostseerundkurs. Die inspirierende Einöde von Tundra und Taiga im hohen Norden faszinierte nachhaltig. Abgerundet wird der Reisebericht durch launige Erlebnisse der beiden Rollerfahrer. Rund zwei Monate und 8.000 Kilometer später blickte das Ehepaar zurück auf eine bemerkenswerte Fahrt. Einige Einblicke in die Befindlichkeiten der Völker im Norden Europas wurden ihnen offenbar.
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Impressum
Reingard Stein, »AUF DREI RÄDERN – RUNDKURS OSTSEE«
www.autorin-reingard-stein.com
© 2017 edition winterwork
Alle Rechte vorbehalten.
Satz: edition winterwork
Druck und E-Book: winterwork Borsdorf
AUF DREI RÄDERN
RUNDKURS OSTSEE
Reingard Stein
Autoren-Porträt
Reingard Stein
Die Autorin, Jahrgang 1950, wurde in Lubmin an der vorpommerschen Ostseeküste geboren. Die aufregende Republikflucht aus der DDR im Jahr 1955 prägte ihren Werdegang.
Leseratte ist sie, seit sie das Lesen erlernte. In der Familie nannte man sie »Bücherwurm«, denn für nichts und niemanden hatte sie Zeit, außer fürs Bücherlesen selbstverständlich und zum Geschichtenerzählen.
Nach der Ausbildung zur Bankkauffrau folgte das
Studium mit dem Abschluss zur Diplom-Betriebswirtin.
Zusammen mit ihrem Ehemann Gerd pflegt sie die kleinen Verrücktheiten, Marotten und die Passion fürs Reisen entgegen dem Mainstream. Die Reiseerlebnisse verarbeitet sie zu Tagebüchern, zu Reiseberichten und so verbindet sie zwei Leidenschaften miteinander, Unterwegssein und Schreiben. Außerdem versteht sie sich als ›Bewahrerin‹ der alten Familiengeschichte.
Übersichtskarte mit der grünen Markierung der Reiseroute rund um die Ostsee. Vom Norden des Bottnischen Meerbusens aus unter nahmen wir einen Abstecher in die arktische Region bis hoch hinauf zum Nordkap.
Oldtimer sind wie Wundertüten, voller Überraschungen! Und, im Gegensatz zur besagten Tüte – nicht alle sind positiv! Schließlich weiß keiner, was drin ist! Je nachdem können die Empfindungen nach dem Erwerb eines Klassik-Fahrzeugs von total niedergeschlagen bis euphorisch ausfallen. Unsere Einstiegsdroge in die Oldtimerwelt hieß Quickly, genauer gesagt, NSU Quickly. In dieser Hinsicht sind mein Ehemann Gerd und ich, Reingard, im Auf und Ab des Gefühlskarussells beachtlich geübt. Routinierte Quickly-Fahrer eben! Wir mussten so manche fette Kröte schlucken, landeten öfter unsanft auf dem harten Boden der Realität, aber manchmal taten sich uns Chancen auf, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Die Quickly ist das legendäre, meistverkaufte Moped der 1950er Jahre. In hohen Stückzahlen wurden die Zweiräder gebaut und erfolgreich von der Firma NSU Werke Aktiengesellschaft, Neckarsulm vermarktet. Die Fahrzeuge mit der Modellbezeichnung »Quickly N« sind 1,4 PS stark, verfügen über ein Zweigang-Getriebe und einen Hubraum von 49 ccm. Die 26 Zoll Räder und der 3,1 Liter fassende Tank sind typische Merkmale des Fabrikats. Die Reichweite pro Tankfüllung beträgt 150 Kilometer. Gerds Moped baute man 1956, meines 1955. Die Objekte waren mithin nur ein paar Jährchen jünger als ihre Fahrer.
Das Unternehmen NSU Motorenwerke Aktiengesellschaft existiert heute nicht mehr, es verlor im Jahr 1969 seine Eigenständigkeit. Wurde von der Firma Audi übernommen und damit Bestandteil vom VW-Konzern. Die Zweiradproduktpalette war schließlich nicht mehr zeitgemäß und das Kraftfahrzeugmodell K70 setzte sich am Markt nicht durch. Darüber hinaus hatte ein weiteres Fabrikat des Unternehmens, das Automodell Ro 80 massive technische Probleme mit dem Wankelmotor, die auch großzügige Abhilfemaßnahmen nicht beheben konnten. Eine großartige Firmengeschichte in Neckarsulm ging endgültig zu Ende.
Viele Jahrzehnte nach der Verschmelzung mit dem VW-Konzern war es trotzdem möglich, dass das hervorragende Image des Unternehmens NSU massiv in Verruf geriet! Wie konnte das passieren? Fatalerweise ist das Firmenkürzel ›NSU‹ seit ein paar Jahren äußerst negativ besetzt. Genauer gesagt, seitdem eine verbrecherische Vereinigung mit dem Namen »Nationalsozialistischer Untergrund« in der Öffentlichkeit, in der Presse mit »NSU« abgekürzt wird. Die jüngeren oder die weniger technikaffinen Zeitgenossen nehmen diese Abkürzung nicht mehr als den Hersteller von Motorerzeugnissen wahr, sondern nur noch als die der kriminellen Gruppierung. Das ist eine ganz bittere Entwicklung für Oldtimerfreunde. Hätte diese Kurzbezeichnung nicht von den Rechtsnachfolgern durch Einwirkung auf die Presse zur rechten Zeit verhindert werden können? Jetzt hat sich das Kürzel leider für eine falsche Sache etabliert.
Gerd und ich unternahmen mit den Quickly-Oldtimern ausgedehnte Touren rund um unseren Wohnort herum. Mehr noch, 2006 führte uns der Weg nach Rom und 2011 nach Oslo. Im Buch »Abenteuer Quickly« veröffentlichte ich, mit welchen Widrigkeiten wir während der Restaurierungsphase zu kämpfen hatten. Die beiden Reisetagebücher von Rom und Oslo fasste ich zu einem Gesamtbericht zusammen. Diese Herzschlagereignisse beherrschen bis heute die Erinnerungen, inzwischen im außerordentlich milden Licht der Rückschau. Der Wunsch danach, noch weiter entfernte Reiseziele mit leistungsstärkeren Fahrzeugen zu erreichen entstand damals auf der Norwegentour. Der Gedanke, rund um die Ostsee herum zu fahren, der spukte seit geraumer Zeit in unseren Köpfen. Der Weg ist das Ziel diesmal ausschließlich.
Mit einen normalen Pkw zu reisen, das war uns zu langweilig, mit dem Fahrrad zu anstrengend. Es ist in der Tat reizvoll, 8.000 Kilometer zu radeln, allerdings steckte mir noch mein Unfall vom Elbe-Radwanderweg in den Knochen. Zusammen mit Gerd fuhr ich im Juni 2013 auf dem Fernradweg von Hamburg nach Dresden. Fatalerweise fegte mich kurz hinter Magdeburg eine Windböe samt überladenem Drahtesel vom Deich. Die Radwege und Straßen am Deichfuß waren bei Schönebeck wegen des Elbe-Hochwassers noch mit Sandsäcken versperrt. Wir hatten keine andere Wahl, mussten auf der äußerst schmalen Deichkrone fahren, dabei stürzte ich. Die Unfallfolgen verhinderten die Weiterfahrt, außerdem hatte ich vom Radfahren zunächst die Nase gestrichen voll. Die Folgen des Fahrradunfalls erlangten für uns und die Reisepläne noch einiges an Bedeutung, dazu später mehr. Wie wäre es denn mit einer Wanderung um die Ostsee herum, ist das für uns eine Option? Schließlich wissen wir, dass wir sehr gut zu Fuß sind. Für einen Fußmarsch müsste allerdings ein sehr viel umfangreicherer Zeitrahmen eingeplant werden, als er uns seinerzeit zur Verfügung stand.
Wir hatten uns für eine Rundreise mit Motorroller-Oldtimern entschieden! Nur dieses Mal sollte die Umsetzung der Reisepläne nicht so einfach werden. Hauptsächlich darum, weil die stärker motorisierten Fahrzeuge noch gar nicht vorhanden waren. Mit Zweirad-Oldtimern hatten wir hinreichend Erfahrungen gesammelt. Insofern war die Wahl des Verkehrsmittels gar nicht so schwer, oder? Die Produktpalette der Firma NSU überzeugte uns, deshalb fiel die Entscheidung zugunsten des Modells Lambretta aus, einem Motorroller mit 125 ccm Hubraum. Ein 125er Kraftrad darf ich mit meinem Autoführerschein fahren. Gerd besitzt die Motorradfahrerlaubnis, für ihn gelten keinerlei Beschränkungen. Es war doch klar, dass wir beide mit ähnlichem Kraftpotenzial unterwegs sein wollten. Deshalb sollten zwei gleichartige Maschinen gekauft werden.
Die Lambretta-Roller baute die Firma NSU in Lizenz des Unternehmens Innocenti aus Mailand. Auch dieser Fahrzeugtyp wurde zum Verkaufsschlager des Neckarsulmer Werks. Die Symbiose zwischen italienischem Design und deutscher Verarbeitung und Innovation hatte es uns angetan. Fahrzeugtechnisch passte der Hersteller NSU die Produktion den einheimischen Marktbedürfnissen an.
Die Lambretta ist ein äußerst robustes Gefährt. Um Einiges breiter durch den Beinschild und schwerer im Vergleich zur fast zierlich wirkenden Quickly. Sie ist ebenfalls ein Zweitakter, jedoch mit einer Dreigangschaltung. Keine Frage, hier hatte man sehr viel mehr »Kraft« in der Hand und unter dem Gesäß. Besonders bei der Geschwindigkeit macht es sich bemerkbar. Statt mit 35 km/h konnte mit 65 km/h durch die Lande gebraust werden. Bei solch außerordentlich hohen Stundenkilometern gerät man doch in einen Geschwindigkeitsrausch. Na ja, fast!
»Mit welchem Klammerbeutel hatte man uns eigentlich gepudert?«, indem wir auf die Idee verfielen, mit Zweirad-Oldtimern eine so lange Strecke zu planen. Auf dem technischen Sektor bin ich von einer grandiosen Ahnungslosigkeit beseelt, allenfalls zu Assistententätigkeiten bei Reparaturen zu gebrauchen. Selbst dabei wurde ich gelegentlich von meinem Reparateur angeblafft, wenn ich Schrauben, Muttern oder sonst was nicht fest genug hielt. Eine Ehefrau hat es nicht leicht. Gerd, ja, der kennt sich aus! So ein Quickly-Moped baue er im Schlaf auseinander und wieder zusammen, so seine Selbsteinschätzung. Notwendige Reparaturen unterwegs, die traue er sich auf jeden Fall zu. Keine Frage! Außerdem, wir werden mit unseren Oldie-Schätzchen längere Strecken durchs frühere ›sozialistische‹ Ausland fahren, dort war man seinerzeit mit Mangelsituationen vertraut und hatte stets kreative Lösungen parat. Auf die eigenen Fähigkeiten sowie auf die Hilfsbereitschaft der anderen bauten wir außerdem. Und Skandinavien hat eine große freundschaftliche Oldtimer-Szene, diese Erfahrung durften wir auf unserer Oslo-Tour im Jahr 2011 machen. Mit Fachwissen und entsprechenden Werkzeugen half man uns solchermaßen weiter, dass wir die pannenbedingt unterbrochene Reise fortsetzen konnten.
Weshalb sollte das Reiseziel jetzt die Ostsee sein, oder besser gesagt, warum musste es unbedingt drumherum gehen? Halten wir fest, der Rundkurs um das Binnenmeer war von uns schon vor längerer Zeit angepeilt worden. Ein Anhaltspunkt für den Beschluss könnte sich aus meinem Geburtsort ergeben haben, denn meine Wiege stand an der Küste des Baltischen Meeres. Im Seebad Lubmin am Greifswalder Bodden wurde ich geboren. Am Strand zu buddeln und mit Papa mit dem Paddelboot zum Angeln rauszufahren, war ich von klein auf gewöhnt. Die Ostseeküste war in meiner Familie stets präsent, ein Sehnsuchtsziel. Insbesondere seit meine Familie gezwungen war, der damaligen DDR den Rücken zu kehren.
Ein anderer Beweggrund könnte die geografische Lage sein. So eine Umrundung ist eben eine runde Sache, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Rundkurs bietet sich hier buchstäblich an. Die Ostsee ist ein eiszeitlich gestaltetes Binnenmeer, welches im Westen durch eine Meerenge von der Nordsee getrennt ist. Diese geologische Besonderheit wirkt sich auf den Salzgehalt der Baltischen See aus, der in den äußeren Meeresbusen auffällig niedrig ist. Übrigens, die exakte Definition des Gewässereinzugsbereiches der Ostsee ist schwierig. Je nach Sichtweise der Experten zählt das Kattegat, ein Seegebiet nördlich der dänischen Inseln zwischen Jütland und Schweden mit dazu oder auch nicht. Die Inselwelt sitzt wie ein Pfropf inmitten Ost- und Nordsee. Für uns ist die begriffliche Abgrenzung der Fachleute ohne jede Bedeutung, denn wir werden eine Route festlegen, die auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten ist.
So gäbe es da noch den geschichtlichen und den touristischen Blickwinkel. Eine beachtliche Anzahl der alten Hansestädte sind Ostseeanrainer. Das ist ein attraktiver Anreiz, sich näher mit der Hanse zu beschäftigen. In Lübeck wurde just im Mai 2015 ein neues Museum eröffnet, welches sich mit der Historie des Kaufmannsbundes beschäftigt. Den geschichtlichen und geografischen Hintergrund der einzelnen Städte kann ich hier nur ganz kurz anreißen, denn zu weit ist das Feld. Wir sind ausgesprochen neugierig darauf, uns unbekannte Hansestädte kennenzulernen. Die Ostsee hat viele internationale Anliegerstaaten, die da sind Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark. Die Hauptstädte Riga, Tallinn, Helsinki, Stockholm und Kopenhagen sind Ostseeküstenstädte. In vergangenen wie in jüngeren Zeiten trug man Konflikte um Territorien und Machtpositionen mit Waffengewalt aus. Krieg, das war der trennende Aspekt, der verbindende, das sind Handel und Tourismus.
Hauptsächlich könnte Entdeckungslust als Grund für unsere Streckenplanung herhalten. Gewiss doch, im ersten Stadium war die Planung noch hinlänglich schwammig. An einem genauen Aufhänger lässt sich die Entscheidung für die Ostsee-Route folglich nicht festmachen. Kaum dass unsere Reisepläne bekannt wurden, bekam ich einen Reiseführer geschenkt. Das Werk deckte aber nur teilweise die geplante Strecke ab. Beim intensiveren Kartenstudium stellten wir fest, dass es vom nördlichsten Punkt des Bottnischen Meerbusens aus bis hinauf zum Nordkap keine 1.000 Entfernungskilometer mehr sind. Wir waren sehr beeindruckt, die günstige Gelegenheit das europäische Eismeer mit in die Reise einzubeziehen, wollten wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Aus diesem Grund planten wir einfach einen »Ausflug« ein.
So, die Eckdaten standen fest und selbst für die Himmelsrichtung, in die es gehen sollte, hatten wir uns inzwischen festgelegt. Von Seevetal aus wollen wir nach Wismar reisen und dann immer weiter ostwärts fahren. Entlang der Ostseeküste sollte es durch Polen und die russische Oblast Kaliningrad ins Baltikum gehen. Als Oblast wird in der russischen Sprache ein Verwaltungsgebiet benannt. Wir hatten die Absicht, die Oblast Kaliningrad zu durchqueren, wie Königsberg heute genannt wird.
Mit Baltikum sind die drei Ostseeanrainerstaaten Litauen, Lettland und Estland bezeichnet. Um den Finnischen Meerbusen herum bis nach St. Petersburg und dann weiter an der finnischen Küste des Bottnischen Meerbusens wird der Weg nach Norden führen. Die beiden lang gestreckten Meeresbuchten, Finnischer- und Bottnischer Meerbusen sind Randgewässer der Ostsee. Mit Fennoskandinavien ist ein geologisches Gebiet betitelt, das sich aus der Halbinsel Norwegens und Schwedens, sowie Finnland, der russischen Halbinsel Kola und der finnisch-russischen Landschaft Karelien zusammensetzt.
Wobei, den nördlichsten Bereich Fennoskandinaviens bezeichnet man darüber hinaus mit ›Nordkalotte‹, das sind die Verwaltungsbezirke der vier fennoskandinavischen Staaten beim und nordwärts vom Polarkreis, dem Arctic Circle. Die nachfolgend aufgezählten europäischen Länder in dieser Betrachtung haben Verwaltungseinheiten innerhalb des Polarkreises: Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. Es handelt sich hierbei um die althergebrachten Siedlungsgebiete der samischen Urbevölkerungen. Unsere Ostseeumrundung würden wir bei der finnischen Stadt Kemi im Norden des Bottnischen Meerbusens unterbrechen und auf einer noch zu definierenden Route zum norwegischen Nordkap hinauffahren. Die Rückfahrt nach Hause soll uns entlang der Küsten Schwedens und Dänemarks führen. Das war nur eine grobe Beschreibung der Reiseroute, die Feinjustierung sollte unterwegs nach Lust und Laune erfolgen.
Vom Wissensdurst geplagt, machte ich mich im Netz schlau, wie das Angebot an Ostseerundreisen bei den großen Reiseveranstaltern aussieht. Hier bieten hauptsächlich die Kreuzfahrtreedereien den entspannten Urlaub auf See an. Es fällt auf, dass für den Pauschalreisesektor die gedachte Linie Oslo, Stockholm, Helsinki und St. Petersburg die nördliche Begrenzung darstellt. Der Bottnische Meerbusen, der Meeresarm, der Finnland und Schweden voneinander trennt, ist touristisch gesehen Niemandsland. Aber auf uns üben Reiseziele, die nicht allgemein üblich sind, einen herausstechenden Reiz aus.
Beim weiteren Stöbern stieß ich auf die Website der Abenteuer-Rallye Baltic-Sea-Circle. Seit ein paar Jahren wird der Wettkampf der zwei- und vierrädrigen Teams ausgetragen. Bedingung dafür ist, mit einem Fahrzeug, mindestens im Youngtimeralter, an den Start zu gehen. Die Fahrstrecke der Motorsportveranstaltung ist ähnlich gewählt, wie die von uns angedachte. In unserer Streckenplanung war Russland nur für die Bereiche Kaliningrad/ Königsberg und St. Petersburg vorgesehen. Wir wollten nicht, wie die Rallye-Teilnehmer, die Ostsee in einem dermaßen weiten Radius umrunden. Der größte Unterschied zum Wettkampf lag dann wohl doch in der Dauer des Unternehmens. Die Wettkampfteilnehmer fuhren innerhalb von 14 Tagen um das Binnenmeer herum. Gerd und ich veranschlagten dafür einen Zeitraum von zwei bis zweieinhalb Monaten. Mich interessierte die Motorsportveranstaltung und deshalb rief ich mir öfter die Internet-Dokumentationen der Baltic-Sea-Teams auf, um zu sehen, wie es so läuft. Ob ich Lust hätte, mal an einem Unternehmen dieser Art mitzumachen? Ich weiß nicht, Gerd und ich agieren lieber völlig unabhängig, da wir es gewohnt sind, auf uns alleine gestellt zu sein.
Zunächst hatten sich andere Pläne von uns konkretisiert, um die sich vorrangig zu kümmern war. Seit vielen Jahren schon hatten wir das Pilgerziel Santiago de Compostela auf dem Schirm. Von Hamburg aus sollte die Wanderung gestartet werden. Für die 3.000 Kilometer lange Strecke liefen die Vorbereitungen und 2012 marschierten wir dann los. In dem Buch »Alles freiwillig« habe ich die Erlebnisse der sechsmonatigen Pilgertour zu Papier gebracht. »Hat uns niemand zu gezwungen, ist alles freiwillig«, das war die Devise, unsere Motivation, wenn es schwierig wurde. Beharrlichkeit, Geduld, Durchhaltevermögen und Leidensfähigkeit, das sind Eigenschaften, die Oldtimerfahrer wie Wanderer gemeinsam haben müssen.
Im Anschluss an die Pilgerwanderung musste es einfach mit der konsequenten Restaurierung der Oldtimer weiter gehen. Es empfahl sich, die Planungen für die Ostseeumrundung endlich in Angriff zu nehmen. Das Jahr 2014 stand für die Reise im Fokus, ein realistischer Zeitrahmen, sollte man meinen.
Gerds Lambretta und Reingards Quickly, in der für NSU typischen weißgrünen Lackierung.
Reingards Motorroller in Luxusausführung und mit Elektrostarter komplettiert den Fuhrpark.
Kurze Rückblende, die Motorroller mussten zunächst einmal erworben werden. Wir hatten uns für einen Fahrzeugtyp entschieden, jetzt galt es, die passenden Lambrettas zu finden. Im Jahr 2007 bot eine Dame im Internet den Roller ihres Vaters an, der ihn altersbedingt keinesfalls mehr selber fahren sollte. Die Lambretta des Baujahres 1952 passte genau für unsere Zwecke, deshalb wurde sie gekauft. Sie war mit einem Kickstarter ausgerüstet, den ich kräftemäßig nicht gut bedienen konnte. Es gelang mir nur sehr schwer, die Maschine mit diesem Anlasser zum Laufen zu bringen. Das war kein Motorroller für mich! So ging das Fahrzeug in Gerds Besitz über.
Die Neulackierung wurde vorgenommen und einiges an Instandsetzungsarbeiten gemacht. Ganz besonders wichtig war es für Gerd, dass der Motorroller an die heutige Verkehrssicherheit angepasst wurde. Was bedeutete, Blink- und Bremslichter mussten nachgerüstet werden. Er entschied sich für sogenannte ›Ochsenaugen‹ an den Enden der Lenkergriffe. Die gelben knuffigen Blinklichter waren zwar nur eine Notlösung, aber besser als gar nichts. In den Fünfzigerjahren waren Fahrtrichtungsanzeiger für die Motorroller nicht vorgeschrieben, wir wollten uns aber im Verkehr von heute mit ihnen auf risikoarmem Terrain bewegen. Einige Oldtimer-Freunde betrachten in solchem Vorgehen einen Frevel am Gerät. Für uns aber bedeutete Sicherheit höchste Priorität, zumal wir zu den schwachen Verkehrsteilnehmern zählen. Die ganze Elektrik im Inneren der Maschine war rott und ein einzigartiges Durcheinander an bunten Strippen, das musste ohnehin alles erneuert werden. Gerd ergänzte im Zuge dieser Arbeiten gleich den Kabelbaum mit den technischen Voraussetzungen für die benötigten zusätzlichen Funktionen.
Der Wiederanmeldung und TÜV-Untersuchung stand nichts mehr im Wege und erste Probefahrten konnten stattfinden. Die Maschine verlor etwas Öl. Das sei nicht akzeptabel, befand Gerd, darum müsse der Motor überholt und abgedichtet werden. Das ist eine sehr teure Angelegenheit und wurde deshalb zeitlich zurückgestellt.
Ich wollte unbedingt meinen eigenen Roller lenken, obwohl die Lambretta ein typischer Zweisitzer ist. Ich verspürte keinerlei Lust, mich mit dem untätigen Herumsitzen auf dem hinteren Sattel abzufinden. Abgesehen davon, wo bleibt man mit dem Gepäck? Außerdem ist es auf Dauer sehr unbequem, längere Zeit auf dem zweiten Sitz mitzufahren, die Füße können nur auf einem schmalen Trittbrett abgestellt werden.
In der Nähe unseres Wohnortes wurde 2008 ein weiteres Fahrzeug angeboten, es besaß sogar einen Elektrostarter. Ab dem Baujahr 1954 verwendete das Unternehmen NSU diese Technik. Hier passte einfach alles! Wir schritten zur Tat. Auch hier war der Verkäufer ein älterer Herr. Aus gesundheitlichen Gründen und mit Rücksicht auf seine Ehefrau verzichtete er darauf, weiterhin mit dem Motorroller zu fahren. Von Anfang an, seit dem Baujahr 1955 war die Lambretta in Familienbesitz. Viele gemeinsame Erinnerungen verband das Verkäuferpaar mit dieser Maschine und entsprechend melancholisch fiel der Abschied aus.
Gerd und ich hatten jetzt einen Fernsehstar in der Garage stehen. Für die Bühnenausstattung brauchte der Norddeutsche Rundfunk 1996 einen Motorroller. Der Vorbesitzer berichtete uns davon, wie der NDR an ihn herantrat, um den Roller für die Show auszuleihen. Die Musiker der High Life Music Group intonierten in der Fernsehshow »Die aktuelle Schaubude« ihren schmissigen Song »Lambretta«. Das Video der Darbietung kann man selbst heute noch auf YouTube sehen. Der schwungvolle Refrain lautet:
»Ich fahr´ mit der Lambretta raus zu meinem Vetter, wo die blauen Kornblumen blüh´n.
Ich leg´mich in die Sonne und strecke mich vor Wonne und lass den Tag an mir vorüber zieh´n.«
Im Liedtext kann der »Karren« mit 26 Sachen heizen. In der Realität geht es dann doch etwas schneller. 65 Stundenkilometer sind auf jeden Fall drin.
Die Restaurierungsphase begann. Gerds ersterworbenes Fahrzeug hatte bereits eine neue Lackierung erhalten. Er wählte dafür das typische Weißgrün der Quickly. Mein Vehikel war eine Luxusausführung und sollte deshalb eine zweifarbige Gestaltung bekommen, cremeweiß und ein sattes rubinrot.
Der erste Schock! Gerd baute die zu lackierenden Teilstücke von meiner Maschine ab, dabei entdeckte er, dass der Rahmen gebrochen war. Nur noch vom Motor wurde das Rahmenrohr zusammengehalten. Gerd hatte Schweißperlen auf der Stirn, so etwas kann böse enden. Wenn das Fahrgestell während der Fahrt einfach auseinanderbricht, nicht auszudenken, was dabei passieren könnte. Beim Lösen der letzten Motorhalteschraube klappte ihm das Rahmenrohr glatt nach unten weg.
Eine Katastrophe! An so einem Zweirad gibt es kein wesentlicheres Element als das Fahrgestell. Entsprechend reserviert bis abweisend, ja geradezu pampig reagierten die Firmen, die Gerd mit den Schweißarbeiten beauftragen wollte. Nein, hier wird nicht einfach was »zusammengebraten«, so die einhellige Aussage der angefragten Werkstätten. Diese Verantwortung mochte niemand übernehmen und jetzt war mein Ehemann total ratlos.
Bei der Probefahrt vorm Kauf hatte Gerd keinerlei Beeinträchtigung bemerkt, absolut nicht. Der Verkäufer erinnerte sich an keinen Unfall, der solch einen Bruch verursacht haben könnte. Im Gespräch mit dem Ersatzteile-Lieferanten zeichnete sich eine Problemlösung ab. Gerd sollte das Rahmenstück mit der Rahmennummer herausschneiden und ihm zuschicken. Das neue Bauteil würde die alte Nummer eingestanzt bekommen und wäre damit wieder Bestandteil des Motorrollers. Diese Lösung war brillant und so machten wir es dann.
Das Rahmenproblem war nur der Anfang einer Reihe von Fehlschlägen. Beispielsweise ging in der Lackierwerkstatt der Auspuff verloren, der neu beschafft werden musste. Außerdem merkte Gerd sehr schnell, dass er mit seinen technischen Möglichkeiten an Grenzen stieß. Mit den bestellten Dichtungssätzen für die Maschinen konnte er nichts anfangen, denn für die Zerlegung waren Spezialwerkzeuge nötig. Die teure Instandsetzung musste von der Fachfirma gemacht werden. So dümpelten die Restaurierungsarbeiten monatelang ereignislos vor sich hin! Wir schrieben bereits das Jahr 2012! Der Umsetzung der Reisepläne für die Ostseetour waren wir immer noch nicht näher gekommen. Jetzt musste mal ein bisschen Gas gegeben werden.
Zum Zwecke der Motorabdichtung ging die Maschine an den Ersatzteile-Fachhändler. Der ist Monopolist auf dem Markt. Dieser Betrieb führt außerdem Reparaturarbeiten durch. Die Firma bekam von uns klare Angaben, was zu tun sei und selbst der finanzielle Rahmen dafür war klar definiert. Wir hielten es für selbstverständlich, dass man uns informieren würde, sollten Mehrarbeiten notwendig sein oder die monetären Vorgaben nicht reichen. Viele Monate passierte zunächst partout nichts. Auf Rückfragen reagierte man immer wieder vertröstend und die Zeit begann uns davonzulaufen. Endlich fingen die Arbeiten an, dabei überzog die Firma bedenkenlos aufs Heftigste den vorgegebenen Etat. Der Auftraggeber zahlt es schon, oder wie sollen wir diese Missachtung verstehen. Zum Glück waren die notwendigen Abdichtungen an meiner Maschine fertig, andere Reparaturen standen gegebenenfalls noch an. Wir wehrten uns gegen die schwindelerregende Rechnungshöhe. Die Befindlichkeiten auf beiden Seiten heizten sich dermaßen auf, dass wir am Ende nicht einmal mehr mit dem Firmenchef redeten. Der von uns eingeschaltete Anwalt handelte eine Lösung aus, mit der wir leben konnten. Die unfertige Maschine wurde an uns herausgegeben. Unsere Ostseeträume rückten in unerreichbare Ferne. Zunächst herrschte Ratlosigkeit, denn bei Gerds Lambretta musste unbedingt der Motor gleichfalls abgedichtet werden. Wie soll das gehen? Es gibt auf dem Markt nur wenige Werkstätten mit den nötigen Kenntnissen für die alte Technik.
Gerd und ich machten neue Pläne, in Planungen machen sind wir nämlich unschlagbar. Es ergab keinen Sinn, endlos Geld in Projekte zu versenken, die nicht funktionieren. Vielleicht lag die Lösung darin, uns andere Fahrzeuge zu kaufen, so suchten wir die Motorradhändler in Hamburg und Umgebung auf. Die Aktion verlangte uns einiges an Flexibilität ab, denn von der Oldtimerschiene mussten wir uns nun verabschieden. Das tat weh.
Die 2013 neu auf den Markt gekommene Honda SH 125 interessierte uns. Ein Viertakter mit Automatikgetriebe und ABS, dem Antiblockiersystem für die Bremsen. Diese Motorroller überzeugten uns von der Technik und vom Fahrkomfort her. Bis zu 110 km/h kann der Roller erreichen, so schnell wollen wir gar nicht fahren. So machten wir mit den funkelnagelneuen Zweirädern eine Fahrt ins niedersächsische Oldenburg zu meinen Eltern. Die sind immer sehr daran interessiert, was so auf dem Zweiradsektor bei uns läuft. Die längere Probefahrt wurde benötigt, um ein Fahrgefühl für den Motorroller zu kriegen. Denn wir wollten im Sommer 2014 endlich starten. Die Entscheidung für den neuen Honda-Roller war eine reine Vernunftssache, keine Herzensangelegenheit, absolut!
Es gab wieder Hoffnung! Zeitgleich mit der Honda-Aktion hatten sich für uns abermals Möglichkeiten aufgetan, doch noch die Oldtimer zu reparieren. Wie es zu dieser neuen Perspektive kommen konnte, muss ich hier kurz erklären. Die steht nämlich im Zusammenhang mit meinem Fahrradunfall. Ich war ja auf dem Elbe-Radweg gestürzt, ich erwähnte es eingangs. Die Schultersehne wurde dabei erheblich verletzt und konnte nur per Operation kuriert werden.
Was könnte an einem Krankenhausaufenthalt spannend sein? Man ist doch dankbar dafür, wenn die Eintönigkeit des Kliniktages von Besuchern unterbrochen wird. Gerd und ich unterhielten uns mit meiner Bettnachbarin und deren Mann. In dem Gespräch stellte sich heraus, dass der Ehemann eine eigene Motorrad-Werkstatt betrieb. Im schleswig-holsteinischen Rellingen, in der unmittelbaren Nähe von Hamburg befindet sich sein Werkstattladen. In früheren Zeiten sei er sogar Vertragspartner der Firma NSU gewesen, Herr Buchholz kannte demnach die spezifische Produktpalette und die technischen Finessen. So erzählte er uns, dass er für seine eigenen Zwecke gerade einen Oldtimer, einen NSU-Prinz restauriere. Außerdem besäße er noch die Spezialwerkzeuge, die für die Arbeiten unabdingbar seien. Gerd war wie elektrisiert, als Herr Buchholz ihm erklärte, dass er sich die Fortführung der Reparaturen zutraue. Fazit der Unterredung, wir tauschten die Adressen aus und wollten uns zwecks der Fehlerbehebungen an den Lambrettas mit ihm in Verbindung setzen.
Die halb fertigen und teilweise zerlegten Fahrzeuge in Garage und Keller störten uns gewaltig. Wir hatten bisher so viel Geld in die Hand genommen und noch immer war nichts Ordentliches aus den Instandsetzungen geworden. Wenigstens fahren können sollten die Teile. Mit dem Restaurator wurde verabredet, dass nach der geplanten Ostseerundreise mit den modernen Honda-Rollern die Rellinger Werkstatt die Arbeiten an den Lambrettas wieder aufnimmt.
Seit einiger Zeit liefen etliche Aktivitäten parallel. Die neuen Motorroller besaßen wir längst und waren nach wie vor dazu entschlossen, die Ostseereise mit diesen Fahrzeugen zu unternehmen. Kurz vor dem Abreisetermin stand die 1.000 Kilometer-Inspektion für die Honda-Roller an. Dafür mussten die 80 Kilometer zwischen unserem Wohnort und dem Händler im niedersächsischen Zeven zurückgelegt werden. Oldtimer-Fahrer werden unterwegs von anderen Zweiradfahrern immer freundlich gegrüßt. Von gewöhnlichen Motorrollerfahrern nimmt niemand Notiz. Auf der Honda fahrend grüßte uns kein Schwein. Na logisch, das ist bitter, nee doof. Nicht nur deshalb war das Fahren mit modernen Rollern wenig aufregend. Es lief im Grunde genommen immer alles glatt. Oder? Jedenfalls, wenn man die Stürze nicht mitrechnet.
Es war total unspektakulär. Auf dem Rückweg, kurz hinter der Werkstatt bog ich in eine T-Kreuzung ein und musste den Gegenverkehr noch durchlassen. Ich hielt an, nahm die Füße vom Trittbrett, wollte mit beiden Beinen die Maschine während der Haltephase stützen. Jedoch was passierte? Ich fand keinen Halt auf der Fahrbahn. Der Motorroller kippte im Zeitlupentempo zur Seite. So habe ich es jedenfalls empfunden. Das war wie im Kino. Ich war unfähig, mich dagegen zu wehren, stürzte aufs Straßenpflaster, der Roller lag auf mir. Wie konnte das passieren? Gerd und ich untersuchten später die Stelle. Die Straße ist dort uneben und fällt zum Rand hin ab. Da der Motorroller für meine Körpergröße einiges zu hoch ist, kam ich unten nicht mit der vollen Fußsohle auf. Nur mit den Zehenspitzen abgestützt ist die schwere Maschine nicht zu halten, darum kippte ich damit zur Seite.
Das Problem mit der Fahrzeughöhe musste unbedingt gelöst werden, zu dem Zweck könne man die Sitzbank etwas abflachen. Was sehr aufwendig und teuer ist, außerdem hatten wir die Zeit nicht mehr, eine Firma damit zu beauftragen. Ein anderer Vorschlag des Motorradhändlers lautete: »Kaufen Sie sich Damen-Motorradschuhe, die innen einen Höhenausgleich von vier Zentimetern haben.« So hab ich es gemacht. Es ist ein großer Unterschied zu normalen Schuhen. Ich kam mit der vollen Fußsohle auf der Straße zum Stehen, konnte den Roller gut halten.
Der Unfall selber war noch glimpflich verlaufen. Ich hatte mir die Rippen geprellt, was an sich schon schmerzhaft genug ist. Hauptsache meine kürzlich operierte Schulter war nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich war mit Motorradbekleidung ausgerüstet, wie Jacke und Hose mit Protektoren, die viel Potenzial des Sturzes abgefangen hat. Man ist immer der schwächere Verkehrsteilnehmer, und nicht nur der Helm ist beim Zweiradfahren wichtig, wie man sieht.
Gegenüber der Familie habe ich den Unfall zunächst nicht erwähnt und den Werkstattaufenthalt meiner Maschine mit zu bestellenden Ersatzteilen erklärt. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Die kannte zu dem Zeitpunkt nur Gerd und das Ereignis nagte sehr an ihm. Das ganze Unternehmen erschien ihm zu riskant und zwei Tage vor Reisebeginn tickte sein Blutdruck aus. Das war vielleicht als eine Art Reißleine zu verstehen. Mein Mann begab sich in ärztliche Behandlung und ihm wurde signalisiert, dass die mindestens vier bis sechs Wochen dauern könne. Für diesen Sommer konnten wir die Ostseeumfahrung knicken!
Via soziales Netzwerk informierte ich die Freunde vom
Abbruch der Reisevorbereitungen:
20. Mai 2014 – Wir müssen unseren Plan, die Ostsee zu umrunden zunächst auf Eis legen. Schade, schade, denn ich hatte mich so sehr aufs Baltikum und Skandinavien gefreut. Bis zum Nordkap wollten wir mit unseren Motorrollern fahren und jetzt das! Trotzdem, Gesundheit geht vor. Ich kuriere derzeit meine Prellungen von dem Sturz und Gerd pflegt in Zukunft seinen Körper besser. Dieses Jahr werden wir wohl nicht mehr unsere Ziele schaffen und müssen uns dann anderweitig umtun. Da sollte sich das eine oder andere Reiseziel finden lassen. Viele Grüße Reingard.
Zeitweilig standen nun vier Motorroller in der Garage, die beiden Oldtimer und zwei Hondas, zusätzlich zu den beiden Quicklys. Mit den neuen Rollern mochten wir die Reise nicht mehr machen, das war Gerd zu risikobehaftet. So wurden sie verkauft. Mit Verlust versteht sich! Ich will die Summen, die in den Sand gesetzt wurden, lieber nicht addieren. Das war das Ende unseres HONDA-Intermezzos, glaubten wir jedenfalls damals. Wir waren grandios gescheitert, wollten trotzdem nicht von der eingeschlagenen Richtung abweichen. Und so ging es mit unserem Schlingerkurs weiter.
Es begann eine neue Zeitrechnung, denn mit Herrn Buchholz fanden wir einen neuen Restaurator. Er ist der Ehemann meiner Krankenhaus Bettnachbarin. Hoffnungsvoll wurde die Neuauflage des Lambretta-Projekts gestartet. Jetzt sollte zuerst Gerds Maschine überholt werden, davon berichtete ich meinen Facebook-Freunden:
1. Juni 2014 – Gerd on the road.
Er ist gerade unterwegs, vom niedersächsischen Seevetal nach Rellingen in Schleswig-Holstein. Seine Lambretta hält diese Tortur hoffentlich aus. Ansonsten, er hat sein Handy und die ADAC-Mitgliedskarte dabei. Und für den Notfall auch ein wenig Werkzeug. Da unsere Ostseeumrundung gescheitert ist, wollen wir es im nächsten Jahr mit diesen Fahrzeugen versuchen, wenn wir sie zum Laufen bringen! Viele liebe Sonntagsgrüße, Reingard.
Gerd gab die Reparatur der Kupplung, des Lichtmaschinenreglers und die Abdichtung des Motors in Auftrag. Während der Reparaturarbeiten machte ich bei uns auf einsamen Straßen die ersten Probefahrten mit meinem eigenen Fahrzeug. Man stelle sich vor, schon so viele Jahre war ich stolze Besitzerin einer Lambretta und nie zuvor war ich damit gefahren. Ich gebe zu, es fehlte ein wenig an Mut. Es wurde jetzt allerhöchste Zeit dafür. Und es war eine knifflige Sache. Mit der Quickly konnte ich locker hantieren. Das war jedoch nicht immer so, anfangs bereitete mir die Handschaltung sehr große Probleme. Die Lambretta hat eine Dreigangschaltung, die ist noch schwerer zu greifen und sehr fest eingestellt. Ins allgemeine Verkehrsgetümmel wollte ich mich nicht stürzen, dazu fühlte ich mich zu unsicher.
Eine verlassene Gegend im Moor wäre für meine Zwecke genau richtig. Die vermeintlich einsamen Straßen wiederum sind so unbelebt nicht, wie es für mich wünschenswert gewesen wäre. Erstens nutzen viele Leute die Moorstraßen als Schleichwege und zweitens fahren dort häufig landwirtschaftliche Fahrzeuge. Die Fahrbahnen sind holperig und notdürftig ausgeflickt, sowie links und rechts von Wassergräben flankiert. Dort möchte man nicht von der Straße abkommen. Überholte mich auf dieser Piste so ein Trecker mit Anhänger, dann flatterten mir die Nerven. Gerd fuhr auf meiner Quickly hinter mir her, damit er gegebenenfalls eingreifen konnte. Wie es zu befürchten stand, würgte ich das Lambretta-Teil häufig ab und bekam es absolut nicht wieder zum Laufen. Das Gefühl für die Kupplung war durchweg noch nicht vorhanden.
Diese Probefahrerei hat mich einerseits schwer genervt, andererseits machte es wiederum Spaß, wenn das Ding und ich super funktionierten. Die gründliche Einfahrerei ist unabdingbar, besonders für den Fall, dass lange Strecken zurückzulegen sind. Und genau das hatten wir ja vor. Ich weiß noch, als die Quicklys eingefahren wurden, mussten dafür etwa 1.000 Kilometer aufgewendet werden, bis die Mopeds rund liefen. Weiter im Moor herumzukurven war mir wegen der Buckelpiste zu haarig. Ich fasste Mut und ging auf die Straßen, die mehr befahren sind. Auf einer ebenen Fahrbahn zu fahren, das war ein Hochgenuss und leider nur von kurzer Dauer, denn die Maschine machte heftige Zicken. Die Macken waren offensichtlich keineswegs harmlos und mussten in der Werkstatt ›behandelt‹ werden.
Ich ahnte nichts Böses, als ich den Social-Media-Freunden diese Message zusammen mit einem Foto schickte:
4. Juli 2014 – Hier ist es, mein Schätzchen! Fast fertig, es fehlen noch ein paar kleine Reparaturen. An der Elektrik beispielsweise, denn die Batterie entlädt sich während der Fahrt. Gerd macht das schon, da bin ich sehr zuversichtlich und dann, dann können wir damit losfahren!
Uns allen wünsche ich einen »tiefenentspannten« Fußballabend, selbstverständlich mit dem dazugehörigen Erfolg. Na ja, das mit der Entspannung überlassen wir dem Jogi Löw. Logisch, wir wollen für die Mannschaft zittern. In diesem Sinne, viele Grüße Reingard.