Aurélien Massons PARIS NOIR - Marc Villard - E-Book

Aurélien Massons PARIS NOIR E-Book

Marc Villard

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Beschreibung

»Eine dermaßen hochkarätige Krimi-Anthologie, dass man beim Lesen schier den Mund aufsperrt und mit den Ohren schlackert! Feinster Stoff …« Hammett-Krimibuchhandlung Literarisches Städte-Porträt - 12 exklusive Geschichten der besten französischen Noir-Autoren. 12 Kurzgeschichten, 12 Blickwinkel, 12 Stadtviertel – und 12 faszinierende Teile eines größeren Puzzles. Ein spannendes Städteporträt und eine Entdeckungsreise durch die Kriminalliteratur Frankreichs. »Paris Noir« führt den Leser mit 12 exklusiven Storys durch die Banlieues und das mittelalterliche Zentrum der Stadt mit seinen gewundenen Gassen, seinen Geistern und den tief in der Geschichte vergrabenen Geheimnissen. Mitten hinein in Kriminalität, Schießereien, verwickelte Affären und zerstörte Träume – denn Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe … Stimmen »Zwölf französische Autoren liefern in „Paris Noir“ eine schwarze menschliche Komödie … Die Gespenster der Vergangenheit begegnen den Schrecken der Moderne, das Urwüchsige mischt sich mit dem Intellektuellen.« Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung »Grandios Sammlung … Literarisch eine Klasse für sich, könnte die Bandbreite nicht größer sein: Waghalsige oder verrückte Ich-Erzähler, gnadenlose Chronisten oder poetische Dichter.« Joachim Schneider, Badische Zeitung. »Eine dermaßen hochkarätige Krimi-Anthologie mit tatsächlich aktuellen Paris- und tatsächlich Noir-Geschichten, dass man beim Lesen schier den Mund aufsperrt und mit den Ohren schlackert! Hier wurde alles richtig gemacht: immer heutig, keine ollen Kamellen, alles Erstveröffentlichungen, kein Durchhänger. Feinster Stoff … Hier ahnt man Paris. Die Wucht, die Dimensionen dieser Stadt, dieser Weltstadt, dieses historischen europäischen Zentrums.« Robert Schekulin, Hammett »In den Storys prallen Geschichte und Kultur, die bis ins Mittelalter zurückreichen, mit der heute allgegenwärtigen Gentrifizierung, dem brutalen Klassenkampf und der Migration in den Vierteln und Vororten zusammen … Das Konzept funktioniert definitiv und dürfte uns 2018 noch viel Freude bereiten. Immerhin sind bereits die Anthologien „Berlin Noir“ und „USA Noir“ in Vorbereitung.« Christian Endres, Doppelpunkt »Die dutzend Erzählungen sind wandlungsreich, düster und bieten schaurige, stimmungsvolle und gute Unterhaltung.« Hauke Harder, Leseschatz »Die dämmrigen und verschwitzten Schauplätze der Verbrechen in ›Paris Noir‹ erinnern eindringlich daran, dass die Franzosen den ›Noir‹ erfunden haben.« The New York Times

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EPUB

Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Originalausgabe: © 2008 by Akashic Books

Originally published in French and licensed from

Akashic Books, New York (www.akashicbooks.com)

Übersetzung: Zoë Beck, Karen Gerwig, Jan Karsten, Martin Spieß

Korrektorat: Dörte Karsten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: Oktober 2017

ISBN 978-3-95988-024-4

Über das Buch

12 Kurzgeschichten, 12 Blickwinkel, 12 Stadtviertel – und 12 faszinierende Teile eines größeren Puzzles. »Paris Noir« ist ein spannendes literarisches Städteporträt und eine interessante Entdeckungsreise durch die Kriminalliteratur Frankreichs.

»Paris Noir« führt den Leser mit 12 exklusiven Storys durch die Banlieues und das mittelalterliche Zentrum der Stadt mit seinen gewundenen Gassen, seinen Geistern und den tief in der Geschichte vergrabenen Geheimnissen. Mitten hinein in Kriminalität, Schießereien, verwickelte Affären und zerstörte Träume – denn Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe …

»Die dämmrigen und verschwitzten Schauplätze der Verbrechen in ›Paris Noir‹ erinnern eindringlich daran, dass die Franzosen den ›Noir‹ erfunden haben.« New York Times

»Man bewohnt seine Stadt nicht, man erträumt sie. Ich möchte Sie einladen, mir in diesem Traum zu folgen.« Aurélien Masson

Über den Herausgeber und die Reihe

Aurélien Masson wurde 1975 geboren und war ab 2002 Lektor und von 2005 bis 2017 Herausgeber der legendären Série Noire der Édition Gallimard, einem von Frankreichs führenden Verlagshäusern.

»Paris Noir« ist der Start einer Reihe von internationalen Noir-Anthologien. Jedes Buch besteht aus exklusiven Storys namhafter Autorinnen und Autoren und talentierter Newcomer, und Jede Geschichte spielt in einem anderen Viertel einer Stadt. So entstehen packende literarische und geografische Porträts mit ungewöhnlichen, breit gefächerten Einblicken. Als nächstes erscheint:

Aurélien Massons

Paris Noir

Storys

Übersetzt von Zoë Beck, Karen Gerwig,

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers
Teil 1 Stadt des Lichts – Stadt der Dunkelheit
Der Chauffeur - Von Marc Villard - Les Halles
Der Chinese - Von Chantal Pelletier - Ménilmontant
Großer Bruder - Von Salim Bachi - Quartier Latin
Berthet geht - Von Jérôme Leroy - Gare du Nord
Teil 2 Die Verlorene Befreiung
Wie eine Tragödie - Von Laurent Martin - Place de la Nation
Weihnachten - Christophe Mercier - Pigalle
Die Rache der Kellner - Von Jean-Bernard Pouy - Le Marais
La Vie en rose - Dominique Mainard - Belleville
Teil 3 Die Gesellschaft als Schauspiel
Rue des Degrés - Von Didier Daeninckx - Porte Saint-Denis
Tote Erinnerung - Von Patrick Pécherot - Les Batignolles
бесценный (Kostbar) - Von DOA - Bastille
No Comprendo L'Étranger - Hervé Prudon - Rue de la Santé
Autorinnen und Autoren
Auftakt zu unserer Noir-Reihe

Vorwort des Herausgebers

Hinein in den Traum

»Wie schön, endlich von Ihnen zu hören, aber vergessen Sie bitte nicht, mir noch das Vorwort zu schicken.«

Diese E-Mail des Verlags blinkt seit zwei Tagen auf meinem Bildschirm. Aber als ich mich entschied, in der Buchbranche als Lektor zu arbeiten, tat ich das bewusst, um zu vermeiden, selbst etwas schreiben zu müssen. Ich will im Hintergrund bleiben, so wie ein Bassist in der Dunkelheit steht und lächelt, während er dabei zusieht, wie der Gitarrist ein wildes Solo hinlegt.

Ratlos drehte ich mich immer wieder im Kreis wie eine Maus in ihrem Laufrad, bis ich schließlich beschloss, Momo aufzusuchen, den alten Kerl, der in meiner Gegend gebrauchte Bücher verkauft. Wenn Paris immer noch die »Noir«-Stadt ist und es immer sein wird, dann liegt es zum Teil auch an Momo und seinen unermüdlichen Kollegen, dem Dutzend kleiner, unabhängiger Buchhändler, die alte Pulp Fiction aus den Fünfzigern bis zu den Siebzigern verkaufen. Liebhaber treffen sich jedes Wochenende, um ihre Funde gegen neue Schätze einzutauschen. Momo half mir, mich zu bilden, als ich ein Kind war, indem er mir Goodis, Thompson, Chandler zu lesen gab. Man kann sich also vorstellen, wie er bei der Vorstellung, dass es die Série Noire nun auch in die USA, Deutschland und andere Länder schafft, vor Freude zerfließt. Wir, die Franzosen, sind gut im Importieren … aber Exportieren ist eine andere Geschichte.

Wir rauchen zusammen vor einem hell erleuchteten Café, Momo und ich. Momo glaubt, und damit hat er recht, dass ich nicht genügend brillante Ideen habe, also zeichnet er mir ein historisches Bild von Paris, der Stadt des Verbrechens. Er erzählt mir von der ausnehmend gefährlichen ­Arbeiterklasse, die das Innerste von Paris im 19. Jahrhundert bevölkerte, bis das Bürgertum sie durch den Bau von breiten Straßen und eine Kahlschlagsanierung he­rauswarf, unter der Herrschaft des seligen, unbeweinten Barons Hauss­mann.

Zwei Biere später ist Momo bei der Butte Montmartre mit den Gangstern der Dreißiger und Fünfziger, den frühen Tagen des Schrotthandels, gewieften Pariser Straßenkindern und lauten, fluchenden Prostituierten, deren Jargon sogar die höchsten Tiere in Angst und Schrecken versetzte. Momos Problem ist die Liebe zum Bier, und je verliebter er ist, desto unklarer werden seine Ideen. Jetzt ist er beim Filmemacher Melville, dem Schauspieler Alain Delon (einer unserer Spezialitäten – wie unpasteurisierter Camembert) und Sepiafotografie.

Dann aber dämmert mir, dass praktisch nichts von dieser improvisierten Vorlesung bei mir hängenbleibt, und ich werde ganz unruhig. Kein Wunder, dass man in Klassenzimmern lernt und nicht auf Barhockern in Cafés, wo die Atmosphäre zu fröhlich ist (wie in dem berühmten »Atmosphère, atmosphère, est-ce que j’ai une gueule d’atmosphère, moi?« – Arlettys entrüstete Antwort auf Louis Jouvet in dem Film Hôtel du Nord).

Als ich wieder vor meinem schlaflosen Computer sitze, sage ich mir: Das Wichtigste ist doch, dass Paris eine Stadt ist, die lebt und deshalb stirbt, jeden Tag. Sie braucht sich nicht hinter ihrer Geschichte oder ihren Kriegserinnerungen zu verstecken. Paris, insbesondere ihre Noir-Dimen­sion, wird bedroht von ihrer potenziellen »Museumifizierung«, der Gefahr, dass sich die Stadt in einen riesigen Freizeitpark verwandelt. Dabei ist in Paris immer noch ­alles vorhanden. Man muss nur mit offenen Augen durch die Straßen gehen. Im Dunkel seiner Limousine träumt der Chauffeur in Marc Villards Geschichte davon, die Liebe ­seines Lebens zu retten, eine Prostituierte, die auf dem ­Asphalt gestrandet ist wie ein Vogel in einer Ölpfütze. Weiter nördlich, um den Bahnhof herum, folgt Jérôme Leroy den Fußstapfen eines Typen, der vor Geheimagenten flieht, doch die Men in Black sind keine der üblichen Geheimagenten. Gleichzeitig lässt uns Salim Bachi zwei jungen Männern arabischer Herkunft folgen, die Schwierigkeiten haben, in einer abgeschotteten Gesellschaft Fuß zu fassen; unglücklicherweise, ob nun in Paris, New York oder Karachi, fällt es schwer, sich der Anziehungskraft der Gewalt zu widersetzen: Sie ist immer da, heimtückisch und hinter­hältig.

Und was ist mit dem Chinesen, der so entzückend von Chantal Pelletier dargestellt wird? Er dachte, er könne die berühmte französische Küche kosten … bis ihm klar wird, dass er selbst auf dem Speiseplan steht.

Weitab vom Postkartenklischee können wir die Rache der Kellner zusammen mit Jean-Bernard Pouy beobachten: Sie spüren einem unbekannten Jogger nach, der aufgehört hat, seine täglichen Runden an der Place des Vosges zu drehen und auf mysteriöse Weise verschwunden ist.

Alles findet in Cafés statt, nicht nur Momos bierselige ­Geschichtsstunden. Dort treffen sich heimlich die todgeweihten Liebhaber in dieser Anthologie, um Weihnachten zu feiern. Didier Daeninckx’ Informationshändler, ein Experte im Aufspüren von Gerüchten im Internet, wurde auch zuletzt in einem Café gesehen, bevor man ihn in der Rue des Degrés erstach. Aber wer weiß, vielleicht waren das alles doch nicht einfach nur Gerüchte. Und wo wir gerade von Gerüchten sprechen, sagen Sie DOA bloß nicht, die Gewaltbereitschaft der Russen sei nur eine Legende. Lassen Sie ihn von seiner wunderbaren Freundin erzählen, einem russischen Model, das Diamanten zu sehr liebte, als dass es unbemerkt bleiben konnte. Hinter den falschen Juwelen und dem Glamour hält die Modewelt gefährliche Beutejäger versteckt. Fragen Sie Layla, Dominique Mainards Heldin in »La Vie en Rose«, ob ihr das Leben wirklich so rosig erscheint. Für sie ist das Leben nichts weiter als eine Reality-Show; die aufstrebende junge Sängerin, die hoch hinaus wollte, wird sehr tief auf dem Boden enden. Kein Grammy für die junge Träumerin, nur ein Leichensack. Unter seinen polierten Steinen bleibt Paris der Ort täglicher Tragödien; unter dem Pariser Pflaster liegt Peloponnes. Wie die Rückkehr des Sohns bei Laurent Martin nach langem Exil, der feststellen muss, dass man seinen Geistern genau wie der unglücklichen Liebe nicht entkommen kann.

Abseits der Lichter, der Cafés und Bars ist Paris manchmal wie ein Grab. Eine Stadt, vor der man wegläuft, oder zumindest träumt man vom Weglaufen. Aber an jeder Straßenecke springt einem die Vergangenheit ins Gesicht wie eine grinsende Hyäne. Patrick Pécherot nimmt Sie mit ins Herz des 17. Arrondissements; dort war die Gestapo in den frühen Vierzigern stationiert. Manch einer würde alles Geld der Welt dafür geben, um vergessen zu können, aber wenn einem das Gedächtnis einen Streich spielt, verwandelt sich das Leben schnell in einen Albtraum. Oder in Wahnsinn … Begleiten Sie Hervé Prudon auf seinem Spaziergang durch das 14. Arrondissement; wenn Sie ihn nach dem Weg fragen, sprechen Sie ihn lieber nicht auf Englisch an. Sonst laufen Sie Gefahr, dass er Ihnen antwortet: »No comprendo, Stranger«. Ich rate Ihnen, ihm ohne ein Wort zu folgen. Nehmen Sie die Seitenstraßen, schlendern Sie mit ihm die Rue de la Santé entlang, wo Sie ein Gefängnis, eine Psychiatrie und Samuel Becketts letzten Wohnsitz finden. Entdecken Sie sein magisches Paris, das nur in seinem Kopf existiert.

Man bewohnt seine Stadt nicht, man erträumt sie. Ich möchte Sie einladen, mir in diesen Traum zu folgen.

Aurélien Masson

Paris, Frankreich

Teil 1Stadt des Lichts – Stadt der Dunkelheit

Der ChauffeurVon Marc VillardLes Halles

Vania

Ich trieb mich in der Nähe von Les Halles herum, das sollte mein Verhängnis sein.

Ein paar Schritte vom Sunside-Jazzklub entfernt, mit seinen verrückten Tenorsaxofonisten. Ich schlenderte durch die Straßen, zur Mittagszeit, zusammen mit der Art von Leuten, die keine Arbeit kennen, mit bierseligen Teutonen und Flittchen aus dem Mittleren Westen.

Leder und Lobotomie.

Ich lief auf meinen beschissenen Stöckelschuhen. Die schwarze, sexy Hure aus Martinique. Wir rissen uns den Arsch auf, die Zuhälter umkreisten uns wie Wachhunde, schoben sich die Mädchen hin und her, und Alice sagte zu mir: »Vania, gib die Straße auf, du hast was Besseres verdient.«

Ja, schon klar.

Daheim in Fort-de-France fand meine Mutter keinen Job, also schicke ich ihr haufenweise Geld, damit sie meinen beiden Brüdern etwas zu essen kaufen konnte. Inkognito: Sie dachte, ich sei eine Schwester im Krankenhaus Hôtel-Dieu. Aber ich machte die Beine breit, sagte »oh, Baby, ja, ja, ja«, und die Kohle floss nach Martinique.

Eines schönen Abends, ich weinte in einem Café auf der Rue Montmartre in meinen Kaffee, pflanzte sich Mister K, der Dealer von Les Halles, auf den Stuhl neben mich.

»Du siehst traurig aus, Vania.«

»Mir geht’s beschissen. Meine ganze Kohle geht an die Familie.«

»Du bist keine Sozialarbeiterin, sollen die sich doch allein durchschlagen.«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Vielleicht gehe ich zurück auf die Inseln.«

»Ich kann dir helfen«.

»Ich kann keinen Stoff verkaufen, ich kann nur meinen Arsch hinhalten.«

»Nein. Du wirst unser Kurier. Wir pflastern dich mit Koks, du drehst deine Runden, und wenn meine Jungs zu dir kommen, gibst du ihnen das Zeug aus deiner Handtasche.«

»Das ist nichts für mich.«

»Für meine Jungs ist es risikolos, die Bullen im Viertel kennen dich: Du bist sauber. Die perfekte Dealerin.«

Ich habe Ja gesagt.

Die rote Lunge der Bars.

Die verrückten Penner.

Die dröhnenden Drogen.

Nichts hatte sich geändert, aber alles war anders geworden. Ich war Mata Hari, die Spionin in tödlicher Gefahr. Die nervöse Straße, der schwitzende Schlachter, alles wurde zum Problem. Mir wuchsen Augen am Hinterkopf.

Und immer wenn ich einen Freier bediente, während der Typ grunzend und geil zwischen meinen Schenkeln herummachte, starrte ich so intensiv auf meine Tasche, dass sich das arme Teil schon ganz hypnotisiert vorkommen musste.

Mister K gab mir das Zeug um sieben.

Seine drei Dealer holten sich ihren Teil um elf, mittags, und um fünf. Von heute auf morgen verdoppelte sich meine Kohle, ich konnte mir was zum Anziehen kaufen und weiße Höschen für sonntags. Die Luden wussten, dass ich jetzt in Mister Ks Team spielte, und ließen mich in Ruhe.

Ich fing an, mich in den Gedärmen und dunklen Schächten des S-Bahn-Systems herumzutreiben, weil K es so wollte. Und eh ich mich versah, hatte ich auf die dunkle Seite der Nacht gewechselt, mit ihren Drogen und ihrem dreckigen Sex.

Taumelnde Leichen.

Crackheads.

Dobermann-Ficker.

Der Abschaum der Erde überlebte in Gängen, von denen jene, die das andere Leben lebten, nichts wussten. In dieser Unterwelt war alles anders. Auch die Bullen. Und so traf ich auf Nico.

Ich erledigte meine Sachen in den Katakomben und Tunneln der RER B.

Heimliche Geschäfte.

Oft stieg die Temperatur auf 35 Grad, also arbeitete ich fast nackt. Schmuddelige Matratzen im Halbdunkel, zur Freude der Spanner.

Eines Morgens kam dieser Kerl auf mich zu. Lockiges dunkles Haar, zerknautschter Anzug, Hawaiihemd. Sehr geschmeidig, federnder, rollender Gang.

»Hi Vania. Ich brauch zwanzig Gramm.«

»Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen.«

»Ich bin Mister Ks neuer kleiner Star. Wo ich auftauche, explodiert der Markt. Na los, gib mir das Zeug.«

Ich zögerte. Es war keine Übergabezeit, aber da stand dieser Kerl wie so ’ne schillernde Pflanze. Okay. Ich scannte die Umgebung und öffnete meine Tasche.

»Komm her und nimm dir zwei Päckchen.«

Er zog mich an sich, griff in meine Tasche und drückte mir eine SIG Sauer gegen die Muschi.

»Keine Bewegung, Baby. Du bist verhaftet.«

»Du … du bist doch gar kein Bulle!«

Er nahm die Hand aus meiner Tasche und drückte mir seinen Ausweis ins Gesicht.

Scheiße. Verdammt.

Beine aus Gummi.

Ich dachte an meine Maman.

An den Geruch des Knastes.

An Mister K, natürlich.

Dann drängte mich Nico in einen nahen Heizungsraum, nahm mir meine Prada-Tasche ab und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht.

Sein Körper auf meinem.

Seine Hände überall an mir.

Sein Schwanz in Rage.

Unser Atem wutentbrannt.

Ich schlug ihn mit meinen Fäusten, er rammte seine Waffe in mich hinein. Es gelang ihm zu kommen, aber ich ließ ihn dafür bluten. Wir starrten uns an wie zwei wilde Tiere im Käfig. Ich hasste ihn.

»Sie haben mich vergewaltigt, Sie verdammtes Arschloch.«

»Nutten kann man nicht vergewaltigen. Ich hab vergessen zu zahlen, mehr nicht.«

Er nahm den Stoff aus meiner Tasche. Fünfzig Gramm in kleinen Päckchen. Ein feistes Grinsen wie ’ne Made.

»Verhaften Sie mich?«

»Weiß nicht. Muss drüber nachdenken.«

»Beeilen Sie sich. Ich muss meine Sachen wechseln.«

»Hör zu. Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich nehm dich mit, und du verbringst schöne lange Ferien in Fleury-Mérogis. Oder wir vergessen das alles hier, aber dafür musst du wirklich richtig nett zu mir sein.«

»Du willst Freificks?«

»Nein. Ich möchte meinen Anteil.«

»Vom Stoff?«

»Das mit dem Koks ist für dich vorbei. Außerdem würde das gar nicht gut aussehen. Ein Bulle aus dem Drogendezernat von Saint-Denis, verwickelt in Kokaindeals. Nein, ich will meinen Anteil von deiner Fickgage.«

»Ich muss meine Familie unterstützen, und ich verdiene nicht viel.«

»Vergiss deine Familie. Ich bin jetzt deine Familie, Baby. Und deine Familie sagt: Schluss mit dem billigen Rumge­ficke. Dein schwarzer Arsch verdient was Besseres. Es ist deine Wahl.«

»Alles, außer Knast.«

Er warf die Handtasche in meine Richtung. Ich stand auf, mein Gesicht war voller Blut.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, sagte ich.

»Erst mal gar nicht. Mein Name ist Nico Diamantis, ich melde mich bei dir.«

»Na super.«

Ich ging nach oben, zurück ans Tageslicht. Ich lief durch die schattigen Straßen, das Herz zerbrochen, das Gesicht ­zerschlagen. Als ich an den anderen Mädels vorbeikam, sagten sie: »Verdammt, Vania, was ist denn mit dir passiert.«

Mister K erwischte mich auf der Rue des Lombards. Ich war so fertig, ich hielt mich an einem Milchkaffee fest und erzählte ihm alles. Das Koks: weg, Diamantis: hatte mich in der Hand, unser Deal: gestorben. Er blieb ruhig: Er ist ein Typ aus Lagos, der schon mit Fela Kuti rumgehangen hatte, als der Schwarze Präsident noch nicht mal von Aids geträumt hat.

»Du hast mir die Wahrheit erzählt, Vania, entspann dich. Fünfzig Gramm sind nicht viel. Mach, was der korrupte Bulle sagt, aber pass auf deinen Arsch auf. Ich habe das Gefühl, das wird kein gutes Ende nehmen.«

Er glitt in die Nacht hinaus, und ich saß da wie ein Idiot und jammerte über meine Zukunft als Schwanzlutscherin.

Drei Tage später meldete sich Nico auf meinem Handy.

»Woher hast du meine Nummer?«

»Ich bin Bulle, das ist mein Job. Triff mich in zwanzig Minuten am Ciné Cité. Erste Reihe in Three Burials – Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada; beweg dich.«

Als Tommy Lee Jones erschossen wurde, begann er, meinen Oberschenkel zu streicheln. Dann teilte er mir mit, wie mein Leben von nun an aussehen würde.

»Ich hab’s mir genau überlegt. Ich richte eine Internetseite mit Fotos von dir ein. Kontakt ausschließlich per Mail. Danach verteile ich Karten mit ›Vania, alle Positionen, ­melden Sie sich unter …‹ überall, wo sich die Reichen tummeln. Ich besorg dir ein zweites Handy, nur für die Freier, ich kenn da jemanden bei Orange. Du bleibst weg von der Straße, du kaufst dir schöne Klamotten und wartest auf Kundschaft. Du bist jetzt ein Star, verstehst du? Du machst Hauszustellungen, aber glamourös: Du beschränkst die Muschi-Lieferungen auf Paris. Nicht schlecht, was?«

»Klar. Wie viel bleibt bei dir?«

»Alles. Aber ich gebe dir genug, damit es für ein angenehmes Leben reicht.«

»Was? Du bist ja verrückt!«

»Das Labor sagt, auf den Kokspäckchen sind überall deine Fingerabdrücke. Was wolltest du noch mal sagen?«

Scheiße, scheiße, scheiße.

Ich hielt den Mund und machte mich an die Arbeit.

Ich kaufte meine Slips bei Chantal Thomass: fünfzehn Gramm Musselin und tonnenweise Sinnlichkeit.

Manchmal fuhr ich mit der Metro durch Paris, manchmal, wenn es Scheine regnete, nahm ich ein Taxi zurück. Drei Wochen später, ich verließ gerade die Maisonettewohnung eines Produzenten, wurde ich von zwei Dreckskerlen übel zusammengeschlagen. Die Kohle und meine Jugend gingen in zwei Minuten den Bach runter.

Nico war gar nicht begeistert, dass sich die Scheine in Luft aufgelöst hatten.

Er besorgte mir einen Chauffeur.

Keller.

180 Zentimeter, 80 Kilo. Er sah aus wie der Killer aus Der große Coup.

Keller holte mich zu Hause in der Rue des Lombards ab und ließ mich vor der Wohnung der Freier raus. Während ich performte, wartete er im Auto, rauchte stinkende Zigarillos und suchte nach Neo-Bob auf TSF. Eines Tages lehnte ich mich vorm Aussteigen zu Keller rüber.

»Hey Keller, kommst du nicht auf komische Gedanken, wenn du hier in deinem Seat Ibiza sitzt, während es mir diese Typen von vorn und hinten besorgen?«

»Ich versuche, nicht daran zu denken.«

Ich betrachtete seine Augen. Sie waren rot, und er bemühte sich, nicht in meine Richtung zu blicken. Ich war so ein Arschloch. Der einzige Typ, der bereit war, für mich zu sterben. Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm und ließ sie eine Weile dort liegen. Etwas zu sagen hätte mich umgebracht.

Ein paar Nächte später holt mich das wieder alles ein. Keller hat mich gerade kurz hinter Beaubourg aus den Klauen zweier brasilianischer Junkies befreit, und wir sitzen außer Atem im Auto.

»Bring mich nicht gleich wieder nach Hause, Keller. Fahr ein bisschen an der Seine entlang.«

Zwei Uhr morgens. Wir gleiten an der Pont des Arts vorbei. Leute mit Gitarren; Makramee und Ziegenkäse. Der Louvre, die schiefen Schuten. Als wir die Rue de Bac erreichen, tippe ich ihm auf die Schulter.

»Halt mal an, ich möchte rauchen.«

Ich befreie mich von meinen High Heels, schlendere auf die Brücke hinaus und ziehe an meiner Camel. Keller, der etwas hinter mir geht, hat seine Davidoff-Packung noch in der Tasche. Die Lichter des letzten Touristenboots beleuchten die Uferböschung.

Besoffene Tommys.

Autistische Japsen.

Angeekelte Weiber.

Ohne mich umzudrehen, frage ich: »Wie lange arbeiten wir schon zusammen, Keller?«

»Sechs Monate.«

»Was hat Nico gegen dich in der Hand?«

»Ich kann jederzeit verschwinden.«

»Warum machst du es dann nicht?«

Er sieht aufs Wasser, das unter unseren Füßen entlang­strömt. So schwarz wie ein schlechter Traum.

»Ich mag den Job.«

Wir schauen uns jahrzehntelang in die Augen.

Dann sage ich: »Ich werde durch die Gegend kutschiert, ich werde auf kostbaren Teppichen flachgelegt, aber ich habe am Ende des Monats kein Geld. Mit den paar Groschen, die mir das Schwein übrig lässt, schaffe ich es kaum, meine Familie zu unterstützen. Ich muss irgendwie raus aus dieser Scheiße, Keller.«

»Meinst du Nico oder das Anschaffen?«

»Erst mal Nico.«

Endlich zündet er sich eine Zigarette an. Ich frage mich, wie er mit Vornamen heißt.

»Ich kenne einen ehrlichen Bullen … Zumindest glaube ich das.«

»Das würde nichts bringen. Das Wort einer Hure gegen das eines Kommissars, da ist doch klar, wie das ausgeht. Ich will nicht, dass es eine offizielle Sache wird. Das würde ich nicht aushalten. Ich denk drüber nach, mir fällt schon noch was ein.«

»Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.«

»Ich weiß, Keller.«

Es ist der 30. Mai in dieser irren Stadt. Nico, begleitet von seinem Sklaven (Lhostis, ein Doppelzentner vergammelndes Fleisch), hupt nach mir auf der Rue du Louvre. Das Hauptpostamt schließt, die soliden Leute machen sich auf den Heimweg. Ich gehe ein paar Schritte auf seinen aufgemotzten Renault Safrane zu.

»Hi Nico.«

»Hier ist dein Anteil. Besonders fleißig warst du diesen Monat nicht gerade.«

»Meine Blutungen waren ziemlich stark.«

»Na klar. Ich hab einen verrückten Wissenschaftler aufgetan, der ficken will, während er sich Bambi anschaut.«

»Das toppt sogar den belgischen Kerl mit seinen Schlangen.«

»Stimmt. Los geht’s, Vania, ich brauche Geld«, sagt er, wendet quer auf der Straße und verschwindet in Richtung Rue Montmartre.

Ich öffne den Umschlag, schaue hinein und würde das Miststück am liebsten sofort erschießen. Dann fällt mir Noémie ein. Seine süße kleine Frau.

Zwei Kinder, den Scheitel sauber nach rechts gezogen.

Babybrei von Gerber.

Ausflüge in den Zoo.

Der gesunde Duft von Blumenkohl.

Sonntage bei Großmutter, nach dem Kirchgang.

Zeit, dieses weiße Paradies ein bisschen zu beschmutzen.

Nächster Tag, zehn Uhr vormittags.

Nico war nachts um zwei stockbesoffen aufgetaucht. Er riss mich aus dem Bett, legte mich nackt über einen Stuhl, den Hintern nach oben. Während er mich in den Arsch fickte, schrie er mir dreckiges Zeug ins Ohr, zerkratzte mir den Rücken, wechselte die Sprachen, stammelte irgendwas auf Griechisch, spritzte dann sein Sperma durch die Gegend und verlangte anschließend ein Bier.

Okay. Gerade ist er gegangen. Zum Dienst aufs Revier. Ich renne ins Badezimmer, dusche. Schwarzer Leinenanzug, schwarze Sonnenbrille und rein ins Taxi; schnell zum Haus der Diamantis in Neuilly, Rue des Sablons.

Noémie öffnet die Tür. Nico hat mir Fotos gezeigt: Sie sieht aus wie die verdammte Doppelgängerin der Frau des Ex-Präsidenten. Anne-Aymone Giscard d’Estaing. Igitt!

»Noémie Diamantis?«

»Ja. Nico ist nicht zu Hause.«

»Ich weiß, ich bin Ihretwegen hier.«

»Und wer sind Sie?«

»Ich bin eine Hure.«

Ich stoße sie in den Hausflur, der vollgehängt ist mit Delfter Keramik, für die es sich zu sterben lohnt.

»Du hast es wirklich schön hier, Noémie.«

»Aber was …«

»Entspann dich, du wirst schon knallrot im Gesicht.«

Ich setze mich und schüttle eine Camel aus der Packung. Ich liebe den Qualm.

»Hier ist die Kurzversion. Dein Schatz Nico bessert mit meiner Hilfe sein monatliches Einkommen auf, damit es seine Familie hier in Neuilly möglichst schön hat. Ich bumse und blase, und er steckt die Kohle ein. Als kleine Dreingabe fickt er mich mitten in der Nacht, weil er bei dir, meine Liebe, offenbar seinen kleinen Nico nicht mehr hochbekommt. Das ganze Spiel widert mich an; ich brauche Geld, also mach deinem Nico klar, dass du seine verdammte Frau bist und nicht ich. Und mein Arsch mir gehört. Comprendo?«

Noémies Gesicht ist eine Maske. Kalkweiß.

»Verschwinden Sie auf der Stelle.«

Einer der Zwillinge taucht unerwartet in seinem Mickey-Maus-Pyjama auf, in der Hand ein zerbrochenes Spielzeug von Fisher Price.

»Wer ist das, Mami?«

»Niemand.«

»Ich bin Papas Nutte, die deine Familie ernährt, Kleiner. – Also, Noémie, ich verlass mich auf dich.«

Und ich verschwinde, ziemlich zufrieden.

Keller hat ein neues Auto, wir fahren nun in einer gebrauchten Mercedes-Limousine durch die Gegend. Zigarettenanzünder und Ledersitze. Ich habe schon eine ganze Woche nichts von Nico gehört. Ich besuche einsame Seelen an der Place des Victoires und in der Rue Beaubourg. Ich habe zwei Klienten, die in der Werbung arbeiten und in Lofts in der Nähe der Bastille residieren. Ich trinke Bordeaux, ich esse Pain Poilâne, und mein Hintern hat zwei Kilo zugelegt.

Gerade sind wir auf dem Boulevard Sébastopol unterwegs und fahren in Richtung Saint-Georges. Der Freier wohnt billig in einem Gebäude an der Rue Clauzel, dritter Stock. Keller parkt das Auto. Es ist zweiundzwanzig Uhr.

»Bis später, Keller.«

»Kennst du den Kerl?«

»Nein. Coleman. Sagt dir das was?«

»Nein. Ich bleib am besten im Hintergrund.«

Keine Fahrstuhlmusik. Dritter Stock. Ein Typ öffnet, er steht im Dunkeln.

»Monsieur Coleman?«

Er zieht mich in die Wohnung, knallt die Tür zu, und ich kassiere einen Schlag, der meine Nase zertrümmert. Der Teppich ist dünn. Aus den Augenwinkeln sehe ich eine große Figur. Langsam wird sie etwas klarer, ich erkenne den großen Bullen, Nico Diamantis, in einem Jogginganzug. Er beugt sich über mich und schlägt auf mich ein, wie von Sinnen. Ich bin kurz davor, ohnmächtig zu werden.

»Du wagst es, in meinem Haus aufzutauchen, du verdammte Nutte! Bei mir zu Hause, bei meiner Frau und meinen Kindern! Gibst ihnen Befehle! Was denkst du eigentlich, wer du bist, verflucht noch mal! Du bist nicht mehr als ein Stück Fleisch mit drei Löchern. Also halt dein verdammtes Maul und vergiss nicht, wo du hingehörst, capice?«

»Du impotentes Schwein«, stammle ich.

Er zieht mich hoch, nimmt meinen Kopf und schlägt ihn gegen ein gerahmtes Bild. Ich schmettere gegen das Glas, Blut läuft über mein Gesicht, ich kann nichts mehr erkennen. Er greift nach mir und reißt mir die Klamotten vom Leib.

Der Teppich.

Schläge.

Sein Geruch.

Seine Finger in mir.

Und dann ein Gedanke, ganz vom anderen Ende der Welt: Keller. Ich nehme einen Aschenbecher und werfe ihn durch das nächstgelegene Fenster. Der Mann schnaubt wie ein Ochse, holt aus und zertrümmert meine Zähne mit einem Schlagring. Etwas Rotes explodiert in meinem Kopf.

Ich

falle

in

den

schwarzen

Raum.

Die anderen

Als er ein Geräusch hört, hebt Keller den Kopf. Dritter Stock. Er holt die Beretta aus dem Handschuhfach und erreicht das Gebäude mit wenigen Schritten, das Herz wummert in seiner Brust. Er jagt die Treppen hoch und hämmert mit den Fäusten gegen Colemans Tür. Es hört sich an, als würde dahinter jemand wegrennen. Keller macht einen Schritt zurück, und nach drei kräftigen Tritten löst sich das Schloss aus der Verankerung, die rechte Seite der Tür springt auf. Hinter der Tür ist es dunkel, aber im Wohnzimmer stolpert er über ein regungsloses Bündel. Er beugt sich hinab und dreht sie auf den Rücken. Ihr Gesicht ist nur noch blutiger Brei. Kellers Herz schlägt schmerzhaft in seiner Brust, er lehnt sich weiter vor und lauscht auf den Herzschlag der jungen Frau. Dann wendet er sich ab, mit geballten Fäusten. Er spürt einen Luftzug, der aus der Küche kommt. Voller Wut läuft er dorthin. Die Tür zur Hintertreppe steht offen, er schaut über das Geländer nach unten. Niemand zu sehen. Keller geht zurück zur Straßenseite, zieht einen Vorhang beiseite, schaut durch das Fenster hinab in die Straße und sieht Diamantis in seiner neureichen Karre in Richtung Saint-Georges davonfahren. Keller geht zurück zu Vania. Holt sein Handy raus.

»Diego, ich bin’s, Keller. Arbeitest du noch in dieser Klinik in Poissy? … Okay, bereite ein Zimmer vor und sag den Sanitätern Bescheid. Ich bin auf dem Weg.«

Dann beugt sich der Mann erneut zu Vania hinunter. ­Seine Augen sind rot, seine Stimme ist brüchig. Keiner kann ihn hören, also flüstert er in ihr Haar: Mein Engel, meine ­Geliebte, mein kleines Mädchen. Er kniet sich auf den Acrylteppich, hebt den zerschlagenen Körper hoch und verlässt nach kurzem Zögern die Wohnung über die Hintertreppe.

In einem schmuddeligen Raum tief im Keller des Polizeireviers schlägt Nico Diamantis ein letztes Mal in das Gesicht eines ortsansässigen Dealers.

»Mit Drogen zu dealen ist böse, Rachid.«

»Fick dich.«

Der Grieche verdreht seine Augen zur Decke, fegt den Stuhl unter dem Hintern des Teenagers weg und beginnt, systematisch auf ihn einzutreten. Der Junge rollt sich in der der Embryonalstellung zusammen. Nico hat genug von ihm, er wendet sich ab, verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich ab.

Büro. Zehn Tonnen Akten. Der schwer atmende Lhostis kommt auf ihn zu. Cholesterin und Marlboros. Ein röhrenartiger Sessel.

»Ich hab die drei nächstgelegenen Polizeistationen überprüft, wie du es wolltest. Nichts.«

»Die Wohnung?«

»Ich bin durch die Hintertür rein; sie ist verschwunden.«

»Die Leichenhalle?«

»Ich habe dort angerufen, die haben seit fünf Tagen keine schwarze Frau zu Gesicht bekommen. Bist du sicher, dass sie tot war?«

»Nein. Ich weiß es nicht. Sie hat sich nicht mehr bewegt, und ich bin abgehauen, als jemand an die Tür geklopft hat.«

»Du steckst ziemlich in der Scheiße.«

»Danke, du bist eine echte Hilfe.«

»Was ist mit diesem Chauffeur, Keller?«

Jetzt denkt Nico nach. Es ist ein schmerzhaftes Unterfangen, er ist es nicht gewohnt.

»Hm. Stimmt. Er wartet im Auto, sie kommt nicht zurück, erst klopft er an die Tür, dann hämmert er an die Tür, und dann …«

»Und dann was?«

»Krankenhaus.«

»Niemals. Denkst du, er ist ein Idiot?«

»Auf ’ne Art schon.«

»Eine Privatklinik, Nico. Wir müssen uns durchs ganze Telefonbuch wühlen, um die blöde Schlampe zu finden. Und der ganze Mist nur, damit du vor Noémie auf dicke Hose machen kannst. Ich kann’s nicht glauben.«

»Niemand bedroht meine Familie. Geh ins Internet, das geht schneller.«

Während sich Lhostis hinter seinem Computer verschanzt, blättert Nico gedankenverloren durch ein paar Akten. Dann hat er eine Idee. Vania. Die Wohnung. Ich bin so doof.

Er nimmt seine Jacke, geht runter in die Garage, wo der Safrane vor sich hin döst. Zwei Linien Koks auf dem Armaturenbrett. Scheiße, das haut rein.

Er brettert mit dem Auto aus der Garage und steuert es Richtung Rue des Lombards. Den Mercedes, der sich hinter ihm einfädelt, bemerkt er nicht.

Rue Saint-Martin, Turbigo, rein in die Tiefgarage unter dem Forum des Halles. Vor Kurzem hat er sich entschieden, dort einen festen Stellplatz zu mieten, um die deprimierende Parkplatzsuche in den umliegenden Straßen zu vermeiden. Parkebene 3, recht weit unten.

Er verzieht das Gesicht.

Drei Sans-Papiers teilen sich einen vergammelten Big Mac.

Im hinteren Teils des Parkdecks sieht er eine Lücke zwischen zwei Clios. Sofort fährt er rein. Handy. Ein kleiner Kuss für Noémie, und gleich denkt Nico wieder: Ich muss eine Nutte aufgabeln. Okay. Er steigt aus dem Auto und will zum Fahrstuhl, aber er kommt nicht weit. Keller springt hinter einem Auto hervor, wirft sich auf den Bullen und sticht ihm dreimal in die Brust, dicht beim Herz. Sicherheitshalber schiebt er den Schalldämpfer seiner Beretta in Nicos Mund und drückt zweimal ab.

Dann verlässt Keller die Tiefgarage, geht zu dem Typ, der auf seinen schlecht geparkten Mercedes aufgepasst hat. Ein Sans-Papiers. Er gibt ihm einen Zwanzigeuroschein.

»Siehst du, hat nicht lange gedauert.«

Ein Polizeibeamter in Uniform fängt Lhostis ab, als der am nächsten Morgen das Polizeirevier von Saint-Denis betritt.

»Lieutenant, Diamantis wurde kaltgemacht.«

Lhostis erstarrt. Seine Blutfette ebenfalls.

»Scheiße, was ist passiert?«

»Drei Stiche in die Brust und zwei Kugeln in den Kopf. Sie schlitzen ihn in der Gerichtsmedizin gerade auf.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Ladenbesitzer aus dem Forum des Halles, der in seinen Clio steigen wollte. Er lag daneben auf dem Boden von Parkdeck 3. Die Autotür war noch offen.«

»Das riecht nach Auftragsmord.«

»Ja, stimmt. Und wir alle möchten Ihnen gern helfen, den Hurensohn zu finden, der das getan hat.«

»Okay, okay. Ich fahre jetzt rüber zur Gerichtsmedizin.«

Auf der Fahrt zappt Lhostis durch den schlechten Film in seinem Kopf: Vania. Noémie. Der verkackte Mordversuch. Und jetzt das. Nico, dieser verdammte Idiot. Er ist nicht zu scharf darauf, den Rächer zu spielen. Aber muss ja wohl. Oder?

Fünfzehn Minuten später, während er auf das tote Fleisch vor ihm starrt, trifft er eine Entscheidung. Er holt sein Handy raus und wählt die Nummer von Noémie Diamantis.

In der Klinik in Poissy bewacht Keller die junge Prostituierte. Ihr Oberkörper ist unter Unmengen von Mullbinden verschwunden. Magische Schläuche verbinden Vania mit einer komplexen digitalen Maschinerie. Ein Doktor, der in seinem weißen Kittel ein bisschen wie George Clooney aussieht, betritt den Raum. Und bemerkt Keller.

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«

»Nein. Sie ist eine Prostituierte.«

»Ich kenne ein paar saubere Polizisten.«

»Ich nicht. Kann ich bei ihr übernachten?«

»Fragen Sie die Schwester. Ich weiß nicht, ob man’s Ihnen schon gesagt hat, aber die junge Frau hier wird mindestens eine Gesichtsoperation über sich ergehen lassen müssen. Und was am Ende dabei herauskommt, lässt sich noch überhaupt nicht absehen …«

»Ich werd’s ihr sagen.«

»Gut. Ich schaue in fünf Stunden noch einmal nach ihr.«

Im Haus der Diamantis in Neuilly trifft Lhostis auf die trauernde Familie. Noémie trägt einen schwarzen Chanel-Anzug. Die Kinder ganz in Grau mit kurzen weißen Socken. Noémie ist fuchsteufelswild.

»Spar dir dein Beileid. Er hat mich mit dieser Nutte betrogen. Zusätzlich zu dem ganzen anderen Kram, den er mit verheimlicht hat und über den du ganz sicher gut Bescheid wusstest.«

»Er war der Vater deiner Kinder.«

»Vielen Dank für die Information. Und deshalb muss Nico gerächt werden.«

»Polizisten sind keine Rächer.«

»Zehntausend Euro könnten dir vielleicht helfen, diese Position noch einmal zu überdenken.«

Lhostis Gedanken schweifen ab. Schon lange wünscht er sich ein Motorboot, mit dem er die Küsten rund um Marseille unsicher machen kann. Jetzt sucht er schon die Farbe aus.

»Erde an Lhostis?«

»Fünftausend sofort, fünftausend, wenn ich den Mann geschnappt habe, der es getan hat.«

»Die Frau.«

»Sie kann ihn unmöglich getötet haben. Sie war ziemlich übel zugerichtet. Aber vielleicht der Chauffeur.«

»Sie ist es, die die Fäden in der Hand hält. Beweg einfach deinen Arsch und finde sie.«

»Ich habe alle Krankenhäuser in Île-de-France überprüft, jetzt sind die Privatkliniken dran. Es kann nicht mehr lange dauern.«

Noémie beugt sich über einen kleinen Regency-Sekretär und füllt einen Scheck aus. Sie hält ihn Lhostis hin. Der Mann und die Frau sehen sich in die Augen.

»Wie werden Sie über die Runden kommen, mit den Kindern und allem?«

»Geld ist kein Problem, meine Eltern sind reich. Obwohl, eigentlich war es doch ein Problem. Nico wollte immer unabhängig sein und uns mit seinem eigenen Geld versorgen. Deshalb die Nutte. Mach sie fertig.«

Keller ist bei Vania, er kniet an ihrem Bett. Er drückt ihre Hand – und zum ersten Mal reagiert sie darauf.

Sie öffnet ein verquollenes Auge. Schließt es wieder.

Keller versinkt in einem gottlosen Gebet.

Ein Gewittersturm schleudert seine Speere gegen die Fenster.

Lhostis Computer hat fünfundsechzig Privatkliniken ausgespuckt.

Drei Uniformierte helfen bei der Überprüfung. Dann, um zwanzig Uhr dreißig, kommt die Nachricht rein: Auf der Intensivstation der Myosotis-Klinik in Poissy liegt eine unbekannte schwarze Frau. Lhostis schickt die Beamten nach Hause, rechtzeitig zum ersten WM-Vorrundenspiel Frankreichs.

Er ist im Auto unterwegs.

Das dunkle Band des Waldes von Saint-Germain erstreckt sich vor seinen Augen. Zwei Jagdmesser liegen auf dem Beifahrersitz.

Er überlegt, dass sein Boot ein Glasfaserboot von Beneteau sein wird, eine Top-Marke. Weiß mit einer blauen Zierleiste, angetrieben von einer Yamaha-Maschine.

Das Wasser in Marseille hat 20 Grad.

Da sind wir schon. Die Myosotis-Klinik. Lhostis parkt seinen Honda Civic auf dem fast leeren Parkplatz. Der erste Flur ist erleuchtet durch das Licht aus der Eingangshalle.

Der Bulle setzt eine Brille mit runden Gläsern auf, zieht einen weißen Arztkittel über, mit allem Drum und Dran, sogar mit einem Stethoskop in der Brusttasche, und klemmt ein Jagdmesser in seinen Gürtel, hinten am Rücken. Die Frau am Empfangstresen kommt nicht aus Afrika. Sie schaut auf von der Klatschkolumne in der Voici.

»Doktor Granger. Ich möchte zu Vania, der Frau auf der Intensivstation.«

»Sie wurde verlegt. In ein privates Zimmer.«

»Das freut mich. Doktor Varant hat mir erzählt, dass ich heute vorbeikommen und sie untersuchen könnte. Ist das in Ordnung?«

»Natürlich Doktor, aber hier ist keiner, der Sie hinführen könnte. Sie liegt in Zimmer 24, zweiter Stock. Meinen Sie, Sie finden allein dorthin?«

»Kein Problem.«

Der zweite Stock liegt verschlafen da. Als Lhostis das Zimmer Nummer 24 erreicht, greift er nach dem Messer und öffnet die Tür.

Vania liegt im Dunkeln. Eingehüllt in Verbände. Ihr Mund ist frei, ihre Augen sind geschlossen. Langsam und leise nähert sich der Bulle dem Mädchen, das Messer fest in der Hand.

Kellers Tokarew macht plop, und die Kugel zerfetzt das linke Auge des Polizisten. Blut schießt heraus, und der Körper sinkt in sich zusammen. Der Chauffeur macht zwei Schritte nach vorn, fängt den Bullen auf und schleift ihn zum Waschbecken. Was er dort im Licht der Waschtischlampe sieht, gefällt ihm. Er filzt Lhostis’ Brieftasche, dann tritt er zu Vania. Er knipst die Nachttischlampe an, die den Raum in ein gedämpftes Licht taucht. Sie schläft nicht. Er beugt sich zu ihr hinunter und fährt mit seinem Finger sanft über ihre Lippen. Aus dem Mund kommt ein Flüstern.

»Keller … bring mich hier weg.«

Der Chauffeur nickt, steckt die Waffe weg und hebt den zerbrechlichen Körper aus dem Bett. Es hat aufgehört zu regnen, und das Panorama der Stadt ist durch das Fenster klar zu erkennen.

Keller weiß von einer weit entfernten Insel, östlich von Schweden.

Der ChineseVon Chantal PelletierMénilmontant

Es war das Letzte, was Luc mir auf seinem Weg nach draußen sagte: »Sei nicht blöd, Sonia, nimm deine Tabletten.« Ich nickte. Ich hätte meine Medikamente wieder nehmen sollen, aber ich dachte, ich wäre stabil, und ich hatte es satt, mir die Scheißdinger jeden Tag reinzuwerfen. Draußen, entlang unserer Fenster, brachen die ersten Hyazinthen durch die Erde ihrer Keramiktöpfe. Wir gingen in den Hof, und mich überkam eine Woge der Zuneigung für die beiden Kirschbäume, die vor der Wohnung des Hausmeisters vor sich hin starben, und für die Grashalme, die zwischen den schiefen Pflastersteinen ihr Chlorophyll vorantrieben. Selbst der Anblick der verblichenen Fassaden gefiel mir.

»Keine Sorge«, sagte ich.

Er umarmte mich, oder genauer gesagt: Ich umarmte ihn. So waren wir, wir zwei. Ein umgekehrtes Paar. Ich war größer, schwerer. An Luc war nichts Athletisches, und ich war als Teenager Schwimmchampion gewesen. Achtzehn Jahre später waren davon Bizeps, Schultern und Oberschenkel immer noch übrig. Ich glaube, das war es, was Luc gefallen hatte: meine maskuline Seite. Aber an diesem Tag war alles vorbei. Luc ging, um sich einem anderen Gegner zu stellen. Wir küssten uns auf die Wange.

Ich sah zu, wie er davonging. Ich wusste, ich würde mir nicht noch mal die Zeit nehmen, um mich an jemand anderen zu gewöhnen. Zu viel Arbeit, keine Geduld mehr. Was Luc betraf, so hatte der bereits einen neuen Slalom begonnen, ohne auch nur daran zu denken, dafür zu trainieren. Von uns beiden war ich diejenige, die am meisten lächelte. Luc wusste, dass er, indem er ging, mir einen größeren Gefallen tat als sich selbst. Was ihn nicht davon abhielt, sich schuldig zu fühlen. Das tat mir beinahe weh.

Er trat durch das Hoftor nach draußen. Ich stellte ihn mir vor, wie er in den überfüllten Lieferwagen kletterte. Wahrscheinlich würde er in diesem Moment Reue verspüren: Er hasste logistische Probleme. Die Unannehmlichkeiten des Umzugs würden ihn für eine lange Zeit aus dem Gleichgewicht bringen.

Ich machte mich wieder an das Dressing meines griechischen Salats, fügte etwas Zitrone hinzu und eine Prise gemahlenes Oregano. Ich probierte. Nicht schlecht. Ich gab das Rezept, die Liste der Zutaten und die nummerierten Schritte, in den Computer ein und nannte diesen banalen Endivie-Tomate-Feta-schwarze-Oliven-Salat Griechischer Sommersalat. Ein neuer Titel ist genug, um ein altes Rezept frisch klingen zu lassen, das galt hier, und das galt für alles andere.

Ich sah aus dem Fenster, und mir fiel auf, dass die Pflas­tersteine im Hof weniger dunkel waren, der Tag heller als in den vorherigen Wochen. Der Frühling war unterwegs. Ich fühlte mich irgendwie berauscht und war plötzlich überzeugt davon, dass Freiheit und Frühling eine wunderschöne Hochzeitsfeier abgeben würden, wenn ich denn wollte.

Ich hatte nicht entschieden, ob ich Jérôme anrufen sollte. »Mir geht’s gut, danke!« Ungeachtet dessen, was Luc sagt, bin ich höflich, besonders meinen Kunden gegenüber, und Jérôme war nun mal mein Hauptkunde: Ich kreierte die meisten der Rezepte für sein Magazin Foodgourmet. Wie gewöhnlich, oder mehr sogar als sonst, mit Arbeit überlastet, verhandelte er gerade den Verkauf einer chinesischen Ausgabe seines Magazins an einen Verlagskonzern in Shanghai, und angesichts der Tatsache, dass er fähig war, seine Seele in kleine Stückchen geschnitten als Schlüsselanhängerdeko verhökern zu können, drehte er durch. 1,3 Milliarden potenzielle Kunden. Sogar ein Tausendstel dieses Glücksfalls wäre ein Vermögen wert gewesen.

Ich wusste sofort, dass er um einen Gefallen bat. Ich brauchte länger, um zu verstehen, um was für einen: Die letzten drei Tage hatte er für einen Chinesen den Stadtführer gespielt. Hingebungsvoll, aus gutem Grund: Er war der Cousin des Mannes, mit dem er in Shanghai verhandelte. Aber jetzt war es zu viel, im Ernst! Ob ich ihm wohl eventuell bis um neun heute Abend in Orly, dann fliege der anstrengende Kamerad weiter nach Mailand, diese Last abnehmen könne? Er hielt mir eine seiner Reden, »Ich mache es wieder gut, die Zukunft des Unternehmens steht auf dem Spiel« oder »Ich bin so überarbeitet, ich zahle dir das Äquivalent von drei Rezepten, du kannst nicht Nein sagen.« Ich sagte Nein, aber ich konnte nicht Nein sagen.

Abgesehen davon war es weniger schlimm, einen chinesischen Touristen durch die Hauptstadt zu führen, als an Rezepten herumzubasteln, die ich auf Fotos sah: Wenn man seine Vorstellungskraft bemühte, konnte dies als Tomate durchgehen, jenes als Sauce béarnaise, und das ganze Ding als eine Scheibe Kalbskopf. Weil es genau das war, zu dem mein Job geworden war: Ich schaute komplett lahme Bilder von komplett lahmen Gerichten an und dachte mir plausible Rezepte dafür aus. Um die Wahrheit zu sagen, verlor man dabei seinen Appetit, sogar ich, und ich liebe Essen.

Ohne diese Geschichte hätte ich meine Autopsie eines ­Salats gemailt und wäre zu Hause geblieben; jetzt druckte ich ohne Bedauern meine Seite aus, ganz aus dem Häuschen, rauszugehen und dem Frühling direkt in die Augen zu ­sehen.

Ich sah ihn sofort, als ich die Büroräume von Foodgourmet betrat. Mich traf der Schlag! Mein Chinese zeichnete sich gegen liebliches Licht und die begrünten Kaskaden an den Hängen des Parc de Belleville ab. Im Hintergrund verbeugte sich das neblige Paris vor solcher Schönheit, goldener Haut und geschürzten Lippen, einem echten Stück China, dem bernsteinfarbener Tee die Farbe braunen Zuckers verliehen hätte. In diesem Moment wusste ich, dass ich meine Tabletten hätte nehmen sollen. Ich kriegte die Krise. Dabei fühlte ich mich nicht mal wirklich zu asiatischen Männern hingezogen. Zu sanft, ganz und gar nicht sexy. Sie haben etwas beinahe Eunuchenhaftes an sich, dachte ich, obwohl ich mich nie schlau gemacht hatte.

Wahrscheinlich assoziierte ich sie mit den Bediensteten am kaiserlichen Hof in China, die kastriert waren, weil Seine Hoheit keine Rivalen unter seinem Dach duldete. Kurz, ich konnte mit chinesischen Männern nichts anfangen. Nein, es waren Ganoven, die mir Nervenkitzel bereiteten: haarige Brocken, die ihre Hemdsärmel ausfüllen, Schultern zur Schau stellen, die groß genug sind für zwei, dicke Arme und große, schroffe Hände, ruppige Männer, die dich mit ihren Tenorstimmen ins Unterholz schwatzen ... An diesem Tag aber verflüchtigten sich all meine Vorurteile. Ich hätte heftige Medikation gebraucht, um mein Urteilsvermögen wiederherzustellen, das sich ziemlich schnell verabschiedet hatte. Alles schmolz, meine Beine waren wie Pudding, mein Herz sank zwischen die Schenkel, und rasend, als wäre ich in einem Nest roter Ameisen, fiel es mir schwer, der Versuchung zu widerstehen, ihn zu bespringen und lebendig zu verspeisen. Dabei hatte ich seit Jahren niemanden vergewaltigt.

Der Kerl roch nach der Art Erdbeeren, die man im Wald findet, nicht in Supermärkten; wie wahnsinnig lief mir das Wasser im Mund zusammen, ein Zeichen, dass ich meinen Appetit nicht komplett verloren hatte. Seine perfekten Lippen schenkten mir ein unwiderstehliches Lächeln. Der Schuft hatte keine Angst: Er hatte keinen blassen Schimmer von den Risiken, die er einging.

Jérôme kam dem armen Kerl zu Hilfe, indem er mich am Arm packte und flüsterte, er würde für all meine Ausgaben aufkommen. Es war mir völlig egal; ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Als er aufstand, bemerkte ich, wie gut gebaut er war, nicht zu dünn und gleichzeitig nicht zu dickbäuchig, stark, aufrecht, gute Schenkel und ein ziemlich feines Arbeitsgerät, das durch seine schwarze, fließende Hose hindurchschien. Er hatte sogar Schultern und Brustmuskeln unter seinem dunkelblauen Sakko, und seine großen Augen strahlten in seinem goldenen Gesicht, unter Lidern, die mit einem Pinsel gemalt schienen. Diese unaufhörliche Kurve war unglaublich! Ich hatte so was noch nie zuvor gesehen!

Er sprach nur gebrochen Englisch, und ich natürlich auch, das kam uns gelegen. Er war offensichtlich erfreut darüber, nicht länger als ein Stück Töpferarbeit die Lobby von Foodgourmet zu dekorieren. Ich wollte verschwinden. Ich gab Jérôme meinen Griechischen Salat und schnappte mir den Chinesen. Er hatte nur eine kleine Tasche dabei; er reiste mit leichtem Gepäck, ein echtes Plus.

Ich ließ ihn durch den Parc de Belleville laufen, einfach nur, um ihm zu zeigen, dass Paris eine sehr grüne Lunge hatte und dass die schönste Stadt der Welt noch etwas anderes zum Angeben hatte als den Eiffelturm und Sacré-Coeur. »Very nice!« Es war in der Tat sehr schön. Eine Gruppe asiatischer Menschen machte vor Forsythien, die in voller Blüte standen, Tai Chi. Sie würden ihm bestimmt vertraut vorkommen. Ich erklärte ihm, dass wir seine Tasche erst in meiner Wohnung abstellen würden. Wonach stand ihm anschließend der Sinn? »As you like.« Er hätte das nicht sagen dürfen, aber woher hätte er das wissen sollen.

Elf Uhr morgens. Ich hatte noch einige Stunden Zeit, dann war er reif. Egal mit welchem Rezept. Ich war bereit, mich mit etwas Schnellem zufriedenzugeben, al dente gekocht. Dort, in der Ruhe des Parks, entschied ich, nichts zu überstürzen, nichts kaputt zu machen. Schön langsam. Wie eine ganz normale Frau.

An der Kreuzung der Rue des Pyrénées und der Rue de Ménilmontant zeigte Paris schamlos seine Unterwäsche bis rauf zum Eiffelturm-Strumpfband, wir ließen die Ampel zweimal grün werden, um den Striptease besser zu würdigen. Ich musste an den armen Luc denken, der sich beim Ausladen des Lieferwagens einen Hexenschuss holte. Er hatte wirklich Pech. Ich hätte keinen Cent auf ihr Glück als Paar gewettet.

Auf dem Weg die Rue de Ménilmontant hinunter sah sich der Chinese überall um, betrachtete die arabischen Supermärkte und Fleischereien und die Basare. »Wonderful!« Ich verstand, dass ich von ihm keinen poetischen Austausch erwarten durfte, das war ein Vorteil. Er nickte und lächelte so viel, dass er pausenlos mit seinem fleischigen Mund über militärisch stramm stehenden, chinesischen Zähnen zu lachen schien. Luc tat mir leid, er verpasste eine aufregende Vorstellung.

Die mit Brettern verschlagenen Gebäude und die Baustellen in der Nähe meiner Wohnung sorgten nicht gerade für eine anziehende Landschaft, aber ihm war es anscheinend egal. Sobald wir durch das Tor in meinen gepflasterten Hof kamen, war alles angenehmer, die Sträucher, die Blumen­kübel, er fand es »so cute!«.

Als er sein Sakko im Wohnzimmer auszog, gab ich auf. Sein wilder Erdbeerduft war unerträglich. Er war mit einer Tasse Kaffee einverstanden, also machte ich zwei kleine, sehr starke Espressi und zerstieß fünf meiner stärksten Tabletten in seiner Tasse. Er saß auf dem Sofa und nippte an seinem Kaffee, ohne sich zu bewegen. Er hielt nicht lange durch. Nach einem »Very good, it’s such a nice place« schlief er ein. Mailand war zu diesem Zeitpunkt den Bach runtergegangen. Ich schloss die Jalousien, zog mein Kleid aus und packte das Produkt vorsichtig aus seinen verschiedenen Schachteln, sodass ich es probieren konnte. Ein Genuss.

Als ich vom Einkauf im chinesischen Supermarkt auf der Rue de Belleville zurückkam, schlief er noch immer nackt auf dem Sofa, seine Hände und Füße gefesselt, sein schwerer Körper ummantelt von sanftester, bernsteinfarbener chinesischer Haut. Es gab lediglich diesen kleinen Unfall unvollkommenen, runzligen Fleischs: seinen Penis. Ein bisschen dunkler, halbsteif zwischen seinen Schenkeln. Guter Junge. Er war mindestens zwei Stunden missbraucht worden, das hielt ihn aber nicht von süßen Träumen ab. Ich hatte wirklich Glück.

Ich räumte meine Einkäufe weg, aß etwas und ging dann wieder an die Arbeit.