Aus dem alten Europa - Helene Nostitz - E-Book

Aus dem alten Europa E-Book

Helene Nostitz

0,0
1,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich sehe in der Pariser Deutschen Botschaft eine breite, rot belegte Treppe; an den Seiten, aufrecht gegen die Wand gelehnt, steht eine Reihe Diener mit gepuderten Köpfen, roten kurzen Samthosen und gelben Westen. Diese Treppe hinunter schreitet ein überragend großer Herr, der ohne Stolz, eher zerstreut, in Gedanken versunken seines Weges geht. Er schüttelt den rassigen Kopf, den ein kurzer weißer Bart umrahmt, vor sich hin, als wäre er mit etwas nicht einverstanden, und murmelt „Schafskopf!“ zwischen den Zähnen. Aber mit der Grazie des Grandseigneurs wird dieses Wort ausgesprochen, so daß es dadurch einen eigenen Stil bekommt. Die Diener neigen sich unmerklich vor ihrem Herrn, dem Fürsten Münster. Sie haben das Selbstgespräch nicht gehört und würden es auch nur dahin auslegen: Seine Durchlaucht sind immer mit Politik beschäftigt. So ist es auch. Kaum an seinem großen Empire-Schreibtisch angelangt, ergreift der alte Herr einen Haufen Zeitungen und studiert sie aufmerksam mit der Lupe, die er in der Hand hält. Schon hat er den Punkt erkannt, auf den es ankommt, der aber nicht gedruckt dasteht, und er lächelt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AUS DEM ALTEN EUROPA

MENSCHEN UND STÄDTE

von

HELENE NOSTITZ

1926

© 2022 Librorium Editions

ISBN : 9782383835684

VORWORT

Es war im Bayrischen Gebirge, im Winter. Wir stiegen langsam zu einer kleinen Kapelle hinauf, die zuversichtlich unter den großen weißen Bergen stand. Die rührenden Gruppen der Passion begleiteten unseren Aufstieg. Die Sonne fing an, feurig unterzugehn. Da wurden Erinnerungen wach, einige Worte fielen von vergangenen Zeiten. Die Abendglut um uns, der Anblick der ersten funkelnden Sterne über den weiten Schneeflächen riefen entscheidende Augenblicke zurück und verstärkten das gegenwärtige Erleben. Ich war wohl bereit für diesen Sonnenuntergang zwischen den Bergen. Ein Geschenk, das uns nicht immer zuteil wird. Da sagte plötzlich eine Stimme neben mir: „Ich habe mit der romantischen Welt, von der Sie wissen, nichts mehr zu tun“... Mein Begleiter wandte den Kopf den Bergen zu. — Verwundert begriff ich zuerst nicht; denn dieser Abend war so zeitlos, daß mich diese scharf abgegrenzten Begriffe wie etwas Fremdes, fast Feindliches anmuteten. Ich wollte verteidigen, dann verstummte ich. Wir traten nun in die Kapelle ein, die wie ein Symbol des eben Gesprochenen für uns wurde. Still war sie und versonnen, goldene Schreine standen umher. In dem einen, zerfallen und doch von Goldstoffen und Edelsteinen zusammengehalten, die Gestalt eines Heiligen. Eine eigene Grazie schwebte über dieser zusammengeknickten Silhouette, die für den Gläubigen noch lebte. Es lag eine liebliche Verschwendung, eine Geste voll Pracht in diesen Goldstoffen, die noch zu heilen verstehn, und doch auch etwas von gespenstischem Verfall, von dem Tod der alten Götter. Wie soll man das alles erklären, wo Lieblichkeit und Traum und grausiges Vergehn so nah beieinander diese schillernde, zerflossene Erscheinung zu einem wunderbaren Geheimnis gestalteten, welches den Raum dieser kleinen Kapelle erfüllte, die unter den großen weißen, funkelnden Bergen steht. Da stieg es in mir auf. Waren nicht viele der Gestalten, die ich vor mir sah, Träger einer vielleicht schon fast romantischen Zeit, eines anderen Jahrhunderts? Die, welche sie nicht mehr gekannt, vermochten nur Aufhorchen, Erstaunen, wenn nicht Ablehnung für sie aufzubringen. Aus diesem Gefühl heraus erwuchs wie ein Befehl, das niederzuschreiben von diesen erlebten Menschen und ihrer Umgebung, was noch in mir weiterglühte, ehe der Funke ganz verglommen war. Angesichts der schroffen Übergänge und der bunten Gegensätze unserer merkwürdigen, zerrissenen und doch in neuer Wiedergeburt bebenden Zeit entsprang mir die Notwendigkeit einer Bestätigung und des Wacherhaltens eines schon vergangenen Denkens und Stiles in seinen für mich belangvollsten Äußerungen. So entstanden besonders die Erinnerungsworte an meinen Großvater, und wie ein Gespräch ist dann dieses kleine Buch unversehens weitergewachsen. Rodin aber gehört, obwohl er wie kein anderer aus seiner Zeit geboren war und für sie litt, jenen zeitlosen Welten an, von denen uns die scheidende Sonne, die Sterne und die großen weißen Berge an jenem Abend erzählten.

Wilhelmshagen in der Mark, Januar 1924

FÜRST GEORG MÜNSTER VON DERNEBURG

Ich sehe in der Pariser Deutschen Botschaft eine breite, rot belegte Treppe; an den Seiten, aufrecht gegen die Wand gelehnt, steht eine Reihe Diener mit gepuderten Köpfen, roten kurzen Samthosen und gelben Westen. Diese Treppe hinunter schreitet ein überragend großer Herr, der ohne Stolz, eher zerstreut, in Gedanken versunken seines Weges geht. Er schüttelt den rassigen Kopf, den ein kurzer weißer Bart umrahmt, vor sich hin, als wäre er mit etwas nicht einverstanden, und murmelt „Schafskopf!“ zwischen den Zähnen. Aber mit der Grazie des Grandseigneurs wird dieses Wort ausgesprochen, so daß es dadurch einen eigenen Stil bekommt. Die Diener neigen sich unmerklich vor ihrem Herrn, dem Fürsten Münster. Sie haben das Selbstgespräch nicht gehört und würden es auch nur dahin auslegen: Seine Durchlaucht sind immer mit Politik beschäftigt. So ist es auch. Kaum an seinem großen Empire-Schreibtisch angelangt, ergreift der alte Herr einen Haufen Zeitungen und studiert sie aufmerksam mit der Lupe, die er in der Hand hält. Schon hat er den Punkt erkannt, auf den es ankommt, der aber nicht gedruckt dasteht, und er lächelt.

Doch die Schar der Gäste steht im anderen Salon, jetzt ist nicht die Stunde des Schreibtisches. Er tritt hinein und begrüßt mit viel Grazie die Wartenden. Es wird etwas wie ein Cercle daraus. Seine Tochter und Großtochter sind eben aus England nach einer sehr stürmischen Überfahrt angekommen. Es wurde aber gleich gebeten, die Damen möchten in großer Toilette präzise acht Uhr zum Diner erscheinen, da viele Menschen zu unterhalten wären. Er begrüßt seine Tochter förmlich, ohne an das Wiedersehn nach langer Zeit zu denken. Seiner Großtochter klopft er auf die Schulter: „Nun, altes Kind, es ist gut, daß du wieder da bist.“ Schon beginnen die Formalitäten der Konversation, und jedes persönliche Gefühl wird zurückgedrängt. Wir sitzen blaß, aber unserer Unterhaltungspflicht bewußt, auf den hohen Stühlen. Und es geht; man bekommt keine Ohnmacht in solcher Situation. Man lächelt und spricht und nippt etwas am Essen, nicht zu viel, und lächelt wieder. Auch dieser Abend wird vorübergehen. Doch manchmal ist man trotz der Müdigkeit gefesselt. Denn Münster erhält das Gespräch auf einem Niveau, das immer wieder anregt. Feine Repartien fliegen hin und her, und man hat immer das Gefühl, daß der Gastgeber die Situation beherrscht und die inneren Fäden der geistigen Motive bei allen erkennt und leitet.

Die Tafel wird aufgehoben, und im Salon erscheint wie immer der Terrier Ripp mit seinem Ball. Kein politisches Gespräch ist so wichtig, daß er nicht berücksichtigt würde. Unermüdlich wirft man den Ball, den er immer wiederbringt. Und nun springen zitternd, in nervöser, subtiler Erregung, die Windhunde herein und stehen verlegen, eine Pfote hebend mit unendlich vornehmer Allüre, neben den grünen Empire-Möbeln, auf denen goldene Schwanenhälse sich strecken. Sie stammen noch von den Windhunden Friedrichs des Großen ab und sind ein Geschenk Kaiser Friedrichs. Es ist, als wäre ihnen ihr köstliches, dekoratives Leben zur Last, so bebend schauen sie ihrer eigenen Geste zu, weil in ihnen das Äußerste an Zucht und Rasse erreicht ist, dem sie selber nichts mehr hinzuzufügen haben. Ripps derbe, gesunde Bewegungen sind ihnen ein Rätsel.

Die Gespräche beginnen wieder. Die Stellung der deutschen Diplomaten in Paris war noch immer schwierig, und die Sekretäre waren oft vereinsamt, so daß die Botschaft eine willkommene Zuflucht bedeutete. Mein Großvater sprach auch gern oft eingehend mit seinem ganzen Stab, und so lebten wir eigentlich zusammen wie eine große Familie. Von Franzosen sah er mit Absicht meist die Leute der Regierung, weniger das Faubourg St. Germain, da er in lebendiger Fühlung vor allem mit den bestimmenden Persönlichkeiten sein wollte. Nur einzelne Gestalten der Aristokratie traten ab und zu auf, wie die Komtesse Greffulhe. Es war immer ein Ereignis, wenn sie in einem Salon erschien. Ihr dunkles Auge hatte den feuchten Glanz, den man manchmal bei Spanierinnen sieht. Toilette und Bewegung bildeten eine bezaubernde Einheit. Ihre Einfälle in der Kleidung waren immer persönlich und reizvoll. Das erste Mal, als ich sie sah, flatterten kleine rosa Flügel an ihren Schultern. Oft hielt sie halbzerstreut seltene Blumen im Arm, die genau wußten, wie sie sich in das Bild einzufügen hatten. Wenn sie redete, kam eine ungewöhnlich gut geformte Sprache aus ihrem Munde, dessen feine, geschwungene Lippen immer eine zugespitzte Repartie bereithielten. Als ich dem Dichter und Ästheten Montesquiou, der sie sehr bewunderte, sagte: „Madame Greffulhe est encore très belle“, antwortete er ganz in ihrem Geist: „Que vous ètes cruelle, Mademoiselle!“ Mit unnachahmlicher Grazie und Kultur stellte sie sich oft in den Dienst der Vermittlung zwischen Frankreich und Deutschland. Sie setzte die erste Tristan-Aufführung in Paris durch.

Im grünen Empire-Salon, wo alle noch versammelt sind, spielt man jetzt „curling“. Auf einer langen, glänzend polierten Holzplatte wirft man die Steine wie beim „boccia“. Es ist ein schottisches Spiel und stammt wohl noch von Lady Harriet Sinclair, der zweiten Frau Münsters. Er liebte an ihr den unüberwindlichen Mut, der die wildesten Pferde am liebsten bezwang. Stundenlang fischte oder jagte sie in Männerstiefeln bei schlechtestem Wetter. Welcher Kontrast zu seiner ersten, russischen Frau, die einst mit Säcken voll köstlicher Edelsteine eingezogen war und, perlenbehangen, in weißen Seidenkleidern, jeden Windstoß fürchtete. Sie liebte glänzende Feste, bei denen die Dienstboten des Hauses ein Orchester bilden mußten, wie die Leibeigenen auf den großen Gütern in Rußland. Ich habe beide Großmütter nicht gekannt. Die Atmosphären dieser zwei Frauen aus fernen Ländern aber sind in den Räumen des großen Derneburger Schlosses niedergeschrieben. Dort goldene italienische Reminiszenzen, Boule-Möbel, primitive Madonnen. Hier ein Bild in schwarzem, strengem Rahmen von einer Frau in hohen Reiterstiefeln, daneben Fischangeln und Gewehre. Welch düsteres Erleben liegt doch in den alten Klostermauern dieses Schlosses, das mein Urgroßvater nach dem Wiener Kongreß als Dotation erhielt. Jedes einfachste Vorkommnis nimmt dort ein tragisches Gesicht an und wird dramatisch verwandelt. Ein großer Park umgibt das Schloß, in dem die Bäume einzeln und mächtig wie Monumente auf den großen Wiesen stehen. Auf dem Donnersberge, wo vorzeiten eine ungehorsame Nonne vom Blitz erschlagen wurde, erstreckt sich die mächtige Eichenallee, in deren Rauschen man Geisterstimmen zu vernehmen meint. Eine unheimliche Einsamkeit umgibt das Mausoleum, in dem die Münsters ihre letzte Ruhe finden. Überall weht ein wehmütiges Erinnern, eine dunkle, dämonische Macht, die die Familienglieder gegeneinander treibt und Unglück zu verheißen scheint. Und doch gibt es auch dort milde, träumerische Nächte, wenn der Teich tief unten im Mondlicht schimmert und die Stimme der Nette sich rauschend hören läßt. Dann stehen die großen Buchenwälder ringsum still und horchen, und oben über dem breiten Turm erklingt das leise Girren der Tauben. In den großen Rittersaal fallen die schrägen Mondstrahlen, auch in die langen Kreuzgänge, wo ein Mönch eingemauert sein soll. Aber die düsteren Gespenster meiden in diesen Nächten so viel Lieblichkeit.

Merkwürdige Gestalten versammelten sich um meinen Großvater in Derneburg, wenn er die zwei Monate seines Urlaubs dort verbrachte. Ab und zu erschienen aus „Binder“ die „Tanten“. Tante Thusnelde und Tante Julie mit ihrem alten Kutscher, dessen Zylinder nie erneuert werden durfte. Sie trugen die Tracht ihrer Mädchenzeit und große schwarzseidene Schleifen im Haar. Streng und unpersönlich saßen sie auf ihren Stühlen beim Tee und lehnten sich nie an. Sie mißbilligten jede weichere Geste, ohne doch unfreundlich gesonnen zu sein. Der kleine harte Schlag, den man auf die Backe bekam, wirkte immer wie eine Ermahnung, wie ein Zuruf: „Mehr tenue!“ Dies waren zwei der sechs Schwestern meines Großvaters. Er lächelte immer erfreut, wenn sie da waren, und schüttelte den Kopf über ihre Eigentümlichkeiten, die er aber als Notwendigkeit anerkannte.

Jedes Jahr kam der in Psychologie und Rassenfragen bewanderte russische General Erckert und die Schottin Miß Rose Balfour mit ihrer Nichte Eglantine, und dann der alte Maler Suhrland, der immer ohne Gepäck anlangte und seine Kleidungsstücke alle übereinander auf dem Rücken trug. Er war Tiermaler, und oft hörte man das Blöken eines Schafes in den langen Gängen des Schlosses, eines ungeduldigen, von Suhrland tyrannisierten Modells. So hatte jeder seine Eigentümlichkeit, die respektiert wurde. Aunt Rose durfte die Rosen vor Tisch im Blumengarten pflücken, der immer, man wußte nicht warum, „der Gemüsegarten“ hieß, und nur sie. Dazu hatte sie ihren besonderen Korb und ihre Schere. Sie durfte nicht erschreckt werden, sonst stieß sie einen Schrei aus, den niemand vergaß und der den russischen General in ein unbändiges, meckerndes Lachen versetzte, das gar nicht aufhören wollte. Wenn diese zwei elementaren Äußerungen zusammentrafen, lachte mein Großvater ein gemütliches, amüsiertes Lachen, das man sonst nur selten an ihm wahrnahm. „Verrückter Kerl!“ murmelte er dann. Diplomatische Gäste aus Berlin sahen erstaunt dieser grotesken Szene zu, die für uns eine liebe Gewohnheit geworden war und manchmal eine Entspannung nach tragischen und düsteren Vorgängen bedeutete. Denn viele komplizierte Fäden spannen sich um unser Dasein in den düsteren Kreuzgängen und in dem Rittersaal, der groß war wie eine Kirche. Dort saßen nach dem späten Diner die Gruppen in Schmuck und Abendtoiletten, immer gleich verteilt: der alte General mit Eglantine beim Halma, Tante Marie mit Großvater „curling“ spielend, meine Mutter singend, ich am Klavier, und Gäste aus Berlin, London, Paris. Der große Raum war wie eine Landschaft; man störte sich nicht darin. Niemand hätte es gewagt, anders als in festlichem Gewande zu erscheinen, und so wurde ein Stil aufrechterhalten, der auch in großen Häusern zu versinken droht. Kiderlen, der Staatssekretär, und Graf Hutten-Czapsky, der Pole, besprachen sich oft geheimnisvoll in einer Ecke, und auf der anderen Seite redete ein Engländer ausschließlich über Automobile mit Ernst und Würde, während einige schöne Frauen mit langen Perlenketten halb melancholisch der Musik lauschten. Nach einem „curling“ setzte sich Münster nun auch ganz nah ans Klavier mit seinen Hunden. Er hatte bestimmte Lieblingsstücke, die ich ihm immer spielen mußte und zu denen er dann leise pfiff.

Mittags nach dem Lunch gingen wir alle in den Stall zu den Pferden und brachten ihnen Brot und Melonenschalen. Zu einigen Reitpferden bestand ein inniges Verhältnis; sie drehten sich um, nickten mit dem Kopf und kannten unsere Stimmen, besonders der irische Hunter Hotspur, den mein Großvater immer ritt.

Am Morgen war Münster ganz Landwirt, wenn er „regierte“, wie er es lächelnd nannte. Ich durfte oft mitgehen. Mit Gründlichkeit und Sachlichkeit besprach er alle kleinsten Dinge und war bekümmert, wenn ich nicht genau den Namen jedes Baumes, jeder Kornart wußte. Nie ließ er nach in seinem Suchen nach der letzten positiven Ursache aller Erscheinungen. Niemand war ihm zu gering, zu uninteressant, wenn er in seinem Fach Bescheid wußte. Er verwickelte ihn sofort in ein sachliches Gespräch, wo kein Entrinnen möglich war. So verfuhr er auch mit den Politikern, die er mit leichter Liebenswürdigkeit sondierte, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden. Sogar ein Buch über Kochkunst hatte er mit seiner zweiten Frau verfaßt, und er bedauerte immer sehr meinen Mangel an Begabung für dieses Fach. Als wir drei Wochen in Wildbad zusammen verlebten, waren wir ganz auf das Forellenfischen konzentriert, und der Plan des Tages richtete sich danach. Trotz einem alten Professor, der uns einfach einen Wurm zu nehmen riet, als er unsere fruchtlosen Bemühungen sah, fischten wir vorschriftsmäßig weiter mit der Fliege. Der Stil mußte bewahrt werden, und ein zu kleiner Fisch wurde wieder ins Wasser geworfen, was unsere Umgebung ebenfalls in Erstaunen versetzte. So hatte jede Betätigung meines Großvaters ihr eigenes Gesetz, von dem nicht abgewichen werden durfte. Dazu gehörte auch die unbedingte Pünktlichkeit. Als man mir einmal bei einem Landbesuch einen Pony-Viererzug anvertraut hatte und ich damit zeitlos herumgefahren war, weil ich dem Reiz der Entdeckungsfahrt verfiel, empfing man mich bei meiner späten Rückkehr wie einen schweren Verbrecher, und ich werde den Schrecken dieses Augenblicks nie vergessen. Denn bei solcher Gelegenheit wurde mein Großvater zu einem Richter strengster Art, und sein Zorn über die Verletzung für ihn ewiger Gesetze kannte keine Grenzen. Sein Gesicht verfärbte sich, und wenn auch seine Stimme sich nicht sonderlich erhob, enthielt sie so viel Empörung in ihrer Vibration, daß die Zuhörer bebten. Er hatte dann etwas von der Kraft, die große Tyrannen besitzen, welche Völker unter ihren Bann zu zwingen vermögen.

Über sein politisches Können werden Berufenere schreiben. Aber es scheint mir, als wäre ihm auf diesem Gebiet die Intuition eigen gewesen, die das Geheimnis aller großen Lebensäußerungen ist. Mit ihm eine Zeitung zu lesen, war ein Ereignis, das man nicht vergaß; denn ein Satz genügte manchmal, um Zusammenhänge in ihm zu erwecken, die die ferne Zukunft berührten, und noch jetzt fallen mir seine Voraussichten ein. Er stand in innerpolitischen Fragen, so in der des Kulturkampfes, oft im Gegensatz zu Bismarck und mißbilligte auch seine Kolonialbestrebungen, da er eine Konkurrenz mit England fürchtete und sich für Deutschland nichts Gutes davon versprach. Er mußte deshalb seinen Londoner Posten mit Paris vertauschen und war auch einer der ersten, der den großen deutschen Fehler während des Burenkriegs erkannte. Als Krüger durch Paris fuhr, gab ihm einer der deutschen Botschaftssekretäre die Hand. Münster war darüber sehr erzürnt. Die deutsche, wenig fernblickende politische Sentimentalität war ihm immer stark zuwider, und jede Äußerung dieser ihm so fatalen Eigenschaft brachte ihn auf. Ich erinnere mich noch, wie er mir in seinem Schreibzimmer in Paris ungewöhnlich leidenschaftlich sagte: „Altes Kind,“ wie er mich immer nannte, „du wirst später noch an das denken, was ich hier voraussage! Deutschlands Kurzsichtigkeit England gegenüber wird noch schweres Unglück über uns und über Europa bringen.“

Nur selten schimmerte bei ihm durch, was wir das Menschliche nennen. Aber bei aller äußeren Nüchternheit war vielleicht um ihn und in ihm mehr des Unfaßbaren, das im letzten Grunde die Dinge bestimmt, als dem flüchtigen Beobachter klar wurde. Wahre Größe ist schweigsam. In der Rückerinnerung steht mir seine Erscheinung so klar umrissen vor der Seele mit ihrer starken Ausstrahlung, die einen Stil schuf, der nur sein eigener war. So mischten sich Ernst und Groteske, Tragik und Komik des Lebens in buntem Kranz um ihn, und hinter allem stand seine große Leidenschaft für die rätselhaften Probleme und Verknotungen des Weltgeschehens, die er zu entwirren und zu leiten suchte. Ich werde ihn immer an seinem großen Empire-Schreibtisch in Paris sitzen sehen, sein weißes Haupt vom matten Licht beleuchtet, während ich ihm vor dem Diner den „Temps“ oder die „Memoiren des Generals Marbeaux“ vorlas. Interessiert und amüsiert hörte er zu.

Seine stärkste Antipathie galt wohl jeder Sentimentalität. Vielleicht liegt darin eine Quelle jeder wahren Kraft. Es ist, als ob ein geheimnisvolles Gesetz jede losgelassene Bewegung, ohne Zusammenfassung, von vornherein zum Tode verurteilte. Ich habe nur ein- oder zweimal eine Träne im Auge meines Großvaters glänzen sehen. Das letzte Mal bei unserem Abschied, der wie eine Vorahnung seines Todes war, in seinem achtzigsten Lebensjahr in Hannover. Da brauchte er auch menschliche Worte, wie er sie sonst nur selten fand: der Abschied tue ihm weh, und ich sei einer der wenigen Menschen, die er immer um sich haben möchte. Es schnitt mir ins Herz, denn solche seltenen Äußerungen haben ein großes Gewicht und einen unvergänglichen Klang.

Am tiefsten erschüttert hatte ihn einst der Tod seiner zweiten Frau, von dem meine Mutter folgendes Merkwürdiges erzählte: Sie hatten morgens einen Teich ausgefischt. Zurückgekehrt, setzte sich mein Großvater an seinen Schreibtisch. Da trat Lady Harriet plötzlich ruhig ins Zimmer und sagte ganz gefaßt: „Good bye, George, I am dying“, setzte sich auf einen Stuhl und starb, wie sie gelebt hatte, ohne jegliche Sentimentalität. Sie selber würde es wohl verachtet haben, wenn man gesagt hätte: sie starb mit einer mutigen und großen Allüre. Sie starb eben, würde sie meinen, weil es ihre Zeit war. Nach diesem Ereignis war Münster eine Zeitlang ein gebrochener Mann.

Die Familie lebte dann in England, wo mein Großvater viel später zwölf Jahre lang als Botschafter wirkte. Dort sollen Haus und Stall in besonders glänzendem Stile gehalten worden sein; treibt doch die englische Atmosphäre jedes Formale zur höchsten Blüte. Besonders der Stall war eine Sehenswürdigkeit. Überall lagen die wundervoll in Sand ausgeführten Wappen, der Stolz jedes großen englischen Kutschers. Die herrlichen Pferde waren umgeben von rotgekleideten Reitknechten, die das Fell der kostbaren Hunters immer leuchtender werden ließen. Dann zogen die prachtvoll angespannten Viererzüge in den Hyde-Park. Mein Großvater fuhr sie mit leichter Hand und unmerklicher Gebärde; er übte eine große Macht auf die schwierigsten Pferde aus. Bis ins späte Alter liebte er über alles das Wagnis. Einen schmalen Weg neben einem reißenden Fluß mit schwierigen Pferden zu überwinden, war eine der geringsten Gefahren, die er aufsuchte. In Derneburg war die Anfahrt so eingerichtet, daß die Pferde kurz vor dem steilen Abhang, der jäh abfiel, umschwenken mußten. Die jungen neueingefahrenen Pferde schlugen oft kurz vorher ein Tempo an, das alles ins Verderben zu reißen drohte, und jede Fahrt bedeutete so eine neue Spannung.

In Paris fuhren wir jeden Morgen mit dem Phaethon ins Bois und trafen dort unsere Reitpferde. Es war nicht leicht, die feurigen Vollblüter, oftmals im Schritt, durch die belebten Reitwege zu lenken, wo zwischen dem Grün die blauroten französischen Offiziere einhersprengten und auf dem Fahrwege der Allée des Acacias die vielen eleganten Tonneaux und Automobile rasselten, oder der in hellblauer Seide ausgeschlagene Wagen der berühmtesten Kurtisane von Paris mit weißen Pferden trabte. Manchmal trafen wir den General Gallifet, mit dem sich mein Großvater gern unterhielt; oder ein Diplomat begleitete uns. Die Rennen in Auteuil, zu denen wir oft hinausfuhren, wirkten wie ein buntes Kostümfest, denn die Phantasie der Pariserin entfaltete sich dort in der amüsantesten und groteskesten Weise. Das Hauptereignis, die herrlichen sprengenden Pferde, wurde davon fast übertönt. Wir gingen auf den Sattelplatz, wo Münster die Pferde musterte und auch manches politische Gespräch führte, das der Zufall brachte.

Die Einteilung des Tages wurde immer mit eiserner Konsequenz durchgeführt: vor dem Frühstück um achteinhalb Uhr ein kurzer Spaziergang, nachher der Ritt, dann die Arbeit, ein zweites Frühstück, meist mit Gästen; Ruhe und dann Besprechungen mit Menschen bis spät in den Abend hinein. Diese Lebensgewohnheiten hatten in sich ein so eisernes Gesetz, daß Könige und andere Potentaten warten konnten, wenn es nicht in den Augenblick paßte. Man erzählt, daß Münster einmal aus Zerstreutheit vor dem Kaiser durch die Tür ging und auch gar nicht besonders bekümmert war, als er es merkte. Eine königliche Indifferenz und Selbstbehauptung lag in jeder seiner Gesten. Den meisten Eindruck auf ihn machte noch immer die starke Persönlichkeit der Königin Viktoria von England, und er erzählte gern, wie sie ihn, als er in Windsor schon abends beim Ausziehen war, an ihr Bett kommen ließ und mit ihrer unnachahmlichen Würde die halbe Nacht eine politische Frage mit ihm zu lösen suchte.

Ihrer Tochter, der Kaiserin Friedrich, stand er auch sehr nahe. Die Abende in ihrem Palais in Berlin, die ich oft miterlebte, hatten einen eigenen Stil. An großen, runden Tischen saß man konversierend. Joachim, der berühmte Geiger, oder irgendein Politiker meist am Tisch der Kaiserin, die immer ihren Stoff beherrschte. An einem kleinen Teetisch ganz allein die Oberhofmeisterin, schweigend. Man spürte aber einen Zusammenhang mit den Vorgängen der geistigen Welt, der sonst so oft an Höfen fehlt. Münsters Sinn für Humor war stark von einem Erlebnis mit der sehr korpulenten Königin Isabella von Spanien erfaßt. Er hatte sie nach einem Besuch bis an den Lift geleitet. Da stellte sie sich in ihrer ganzen Breite vor dessen Tür, welche sie nicht durchließ, und sagte trocken ohne Übergang: „Maintenant pousse!“ Mein Großvater hatte ein ganz eigenes Verhältnis zu all diesen herrschgewohnten Menschen und beugte sich nie, was sie manchmal erstaunte, aber doch fesselte. Auch Wilhelm der Zweite wußte, was er an ihm hatte, als er sagte: „Wenn Sie einmal nicht mehr sind, müßte man Sie ausgestopft in Paris erhalten, als Symbol unserer gebesserten Beziehungen zu Frankreich.“ Diese Einsicht des Kaisers blieb aber nicht maßgebend, und im Auswärtigen Amt wurde der Abschiedsbrief geschrieben, der einen Todesstoß für Münster bedeutete.

Unter den vielen Pariser Typen, die meinen Großvater aufsuchten, fehlte nicht der immer bereite Reporter, der auf jeder Botschaft sich einfindet und die geheimsten und letzten Nachrichten aus der ganzen Welt bringt. Dieser Pariser hatte einen besonders romantischen Hintergrund, denn eine indische Prinzessin war aus einem brennenden Palast von ihm gerettet und entführt worden. Er bezeichnete sie, wenn er von ihr sprach, nur immer als „Madame la Princesse“. Man sah sie nie. Sie lebte sicher wie alle solche Gestalten in halbdunklen, parfümierten Zimmern, mit Schmucksachen behangen. Wenn wir Betzhold auf der Straße trafen, wirkte die Zusammenstellung mit meinem Großvater sehr merkwürdig, da er so klein war, daß Münster sich tief hinunterbeugen mußte, wie der Riese zum Zwerg. Es war aber immer interessant und hörenswert, was er zu erzählen hatte.