Aus dem Staub erhebst du mich - Mary Marantz - E-Book

Aus dem Staub erhebst du mich E-Book

Mary Marantz

3,0

Beschreibung

Wenn draußen der Regen fiel, dann wurde es auch drinnen nass. Mary Marantz erzählt von ihrer beschwerlichen Kindheit in einem improvisierten Wohn-Trailer in den Bergen von West Virginia. Eine Kindheit in großer Freiheit, aber ebenso in großer Armut. Und sie schildert eindrücklich, wie sie später alles daransetzte, ihre Vergangenheit ungeschehen zu machen. Trotz aller Verletzungen und seelischen Narben, die Mary in ihrer Kindheit voller Entbehrungen erlitten hat, ist sie heute in der Lage, frei und versöhnt auf ihre Vergangenheit zu blicken und sie als Teil von Gottes Geschichte mit ihrem Leben zu begreifen. Aus dem Schmutz und Staub, der sie als Kind wie eine zweite Haut umgab, hat Gott etwas Neues gestaltet. Eine bemerkenswerte Autobiografie, die dabei hilft, zu einem heilsamen Frieden mit sich, der eigenen Geschichte und mit Gott zu finden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 337

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin

Mary Marantz wuchs in einem Trailer im ländlichen West Virginia auf. Als Erste aus ihrer Familie besuchte sie das College, erwarb einen Masterabschluss in Ethik und studierte Rechtswissenschaften in Yale. Sie schlug Angebote von Anwaltskanzleien mit sechsstelligen Gehältern in London und New York aus und machte sich als Hochzeitsfotografin selbstständig. Zudem bauten sie gemeinsam eine erfolgreiche Online-Bildungsplattform für kreative Unternehmer auf. Mary ist als Autorin und Rednerin unterwegs und Gastgeberin des Podcasts The Mary Marantz Show. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Justin lebt sie in einem immer noch renovierungsbedürftigen Haus am Meer aus den 1880er-Jahren in New Haven, Connecticut, das sie mit ihren beiden flauschigen Golden Retrievern Goodspeed und Atticus teilen.

Für Papa, Mama und Goldie, die das Mädchen im Trailer geliebt haben.

Für Justin, der das Mädchen nach dem Trailer liebte.

Ich wurde als ein neues Wesen wiedergeboren.

Dieses Mal eines mit Wurzeln und Flügeln.

Für die Menschen in West Virginia,

die ein unerschütterlicher Beweis für den unbezähmbaren Willen sind,

der dort in den Bergen zu Hause ist.

Diese Geschichte gehört uns allen.

Inhalt

Prolog

Teil 1 Das Mädchen im Trailer

1. Am Anfang war der Dreck

2. Man muss tief graben, um an den guten Teil zu kommen

3. Eine winzige Verschiebung, die alles verändert

4. Für schwierige Dinge ausgewählt

5. Es lag uns immer im Blut

6. Fühlen, was man nicht sehen kann

7. Die Narben, die wir tragen

8. Verlassenwerden ist wie ein Koffer

9. Der Geruch von Vanille

10. Die Narben, die uns miteinander verbinden

Zwischenspiel

Teil 2Das Mädchen nach dem Trailer

11. Ein Schiff, das in die Ferne segelt

12. Geschichten verändern Geschichten

13. Meine graue Strickjacke

14. Es ist kompliziert

15. Inhalt vor Form

16. Die schwere Last, die wir nie tragen wollten

17. Gepflanzt in falscher Erde

18. Von nun an bist du sicher

19. Gnade ist ein Grundwort

20. Der Zerbruch war von Anfang an Teil des Plans

21. Endlich schlägt die Freiheit Wurzeln

Epilog

Anmerkung der Autorin

Dank

Bildteil

Anmerkung zur deutschen Übersetzung:

Das Wort „Trailer“ bezeichnet in den USA eine Art überdurchschnittlich großen Wohnwagen, der oft als dauerhafte Behausung dient und von Aussehen und Größe her einer Hütte ähnelt. Solche Unterkünfte werden auch mobile home genannt, da es sich um transportable Wohneinheiten handelt, deren Inneneinrichtung mit einer Wohnung vergleichbar ist.

Prolog

Seine Hände sahen noch schmutziger aus, als ich sie in Erinnerung hatte, wie sie da auf den frischen weißen, sterilen Laken eines Bettes ruhten, das in einem Seitenflügel des Krankenhauses stand. In demselben Krankenhaus, in dem ich sechsunddreißig Jahre zuvor, im Frühjahr 1980, geboren worden war. Meine Eltern waren damals bereits seit drei Jahren verheiratet; Mama bekam mich zwei Monate vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, und Papa hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, Vater zu werden. Aber vom ersten Moment an, als er mich im Arm hielt, war ich das Kind meines Vaters, und das war sowohl unser größtes Problem als auch der gemeinsame Faden, der uns immer wieder zusammenhielt. Wir wussten sehr früh, was es heißt, sich gegenseitig anzubrüllen und anzuspucken und gegen unsere große Ähnlichkeit anzukämpfen, die der eigentliche Grund für unsere Differenzen war – mit all der Sturheit und Verbissenheit, die uns beide so sehr ausmachte. Wir wussten auch, was es heißt, miteinander – und füreinander – zu kämpfen. Wir hielten uns aneinander fest, als alle und jeder um uns herum losließ.

Und jetzt war das Piep-piep-piep der Maschinen, die ihr blassgrünes Licht auf alles warfen, was mittlerweile zwischen uns stand – mein Weggehen und mein Wegbleiben –, das lauteste Geräusch im Raum.

Es war fünf Jahre her, dass ich zuletzt zu Hause gewesen war. Ich war nicht mehr dort, seit wir meine Großmutter Goldie im kalten September in die Erde gelegt hatten, als Papa und ich unter der billigen Zeltplane standen, die die frisch geöffnete Wunde ihres Grabes bedeckte – noch lange, nachdem alle anderen gegangen waren. Wir hielten uns aneinander fest und weinten stechende, beißende Tränen, während der Regen um uns herum stärker wurde und einen heiligen, eindringlichen Rhythmus auf das Plastikdach über uns trommelte.

Wenige Stunden vorher hatte ich in einem kleinen, mit rotem Samt dekorierten Raum in einem Beerdigungsinstitut gestanden und die Trauerrede für meine geliebte Großmutter gehalten; in einem Raum, der nur zur Hälfte mit Menschen gefüllt war, von denen einige es vielleicht lieber gesehen hätten, wenn ich gar nicht gekommen wäre. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, da zu sein, als die starb, warum sollte also ausgerechnet ich das letzte Wort haben? Einen Tag später zog Papa aus unserem alten braunen Trailer in Goldies kleines rotes, plötzlich leer stehendes Haus nebenan – dasselbe Haus, in dem er geboren und viel zu schnell erwachsen geworden war – , während meine Mutter zurück in ihr Motel ging.

Ein Jahr später begann er, Blut zu spucken. Es kam so plötzlich und heftig über ihn, dass es nicht aus seinem Mund herauslief, sondern förmlich spritzte. Selten schaffte er es rechtzeitig ins Bad, und so war Goldies bislang makelloser, grüner Teppich – den sie fünfzehn Jahre zuvor ausgewählt hatte, weil er perfekt zu ihrer hübschen rosa-grün geblümten Couch passte – nun mit verschiedenen Schattierungen von dunklem, getrocknetem Karminrot überzogen. Kampfspuren, die perfekt zu den verstreuten Punkten an der Zimmerdecke passten. Wäre Goldie nicht schon tot gewesen, hätte der Anblick sie sicherlich umgebracht.

Mein Vater, ein Mann, der stets für seinen Glauben an Postkartensprüche wie „Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter“ und „Das wird schon wieder“ bekannt war, hatte viel zu lange damit gewartet, zum Arzt zu gehen. Jetzt waren seine Eingeweide vom Krebs zerfressen: drei Tumore, die zu einem einzigen zusammengewachsen waren. Er hatte wegen der Schmerzen dreißig Kilo abgenommen. Die Krankheit hatte sein Gesicht so ausgehöhlt, dass er scheinbar über Nacht um zwanzig Jahre gealtert war und ich ihn kaum noch wiedererkannte. Mir stockte der Atem, als ich in das schummrige Licht des Krankenhauszimmers trat und ihn sah – einen Mann, der so viel älter war als an dem Tag, an dem ich ihn verlassen hatte. Ich musste den Blick abwenden, damit er das Entsetzen in meinen Augen nicht sehen konnte. Und so blieb mir nur, auf seine schmutzigen Hände zu starren, die Spuren auf den frischen, weißen Laken hinterließen.

Sie waren das Einzige an ihm, was ich noch erkannte.

Vom Flur aus konnte ich die Krankenschwestern reden hören – ihr Akzent klang fremd und vertraut zugleich, als könnten sich die zwei verschiedenen Versionen meiner selbst, die ich jetzt in mir trug, nicht einigen, welche dran war. Es gab das Ich, das das Mädchen im Trailer gewesen war … und dann gab es das Ich, das danach kam. Und beide waren nun hier, um am Bett meines Vaters zu stehen, wohl wissend, dass sie schon viel früher hätten kommen sollen.

Es war fünf Jahre her, dass ich zuletzt in Nicholas County, West Virginia, gewesen war, aber ich hatte bereits achtzehn Jahre lang nicht mehr dort gelebt. Und in diesem Moment war ich zugleich ein Mädchen und eine Frau, die mitten hindurch geteilt waren: achtzehn Jahre zu Hause und achtzehn Jahre fort. Ich hatte soeben die unausgesprochene Schwelle einer Ziellinie überschritten, an der ich nun genauso viel Zeit meines Lebens außerhalb des Trailers verbracht hatte wie in ihm. Und wenn ich an diese ersten 18 Jahre zurückdachte, fühlte es sich weniger wie eine Erinnerung an als vielmehr wie ein völlig anderes Leben.

In der flackernden, grünen, piepsenden Dunkelheit bewegten sich die Augenlider meines Vaters – langsam, zuckend, als ob allein diese Anstrengung sein Ende bedeuten könnte – , blinzelten und öffneten sich dann.

„Hey, Kind. Wie geht’s dir?“

Es war Jahre her, dass er mich „Kind“ genannt hatte. Nicht mehr, seit ich zum Jurastudium nach Yale gegangen war und er endlich, zum ersten Mal in meinem Leben, angefangen hatte, mich Mary zu nennen. In den drei Jahren, in denen ich dort studierte, hatte er mich genau zweimal in New Haven besucht – einmal, um mir bei der Wohnungssuche zu helfen, und einmal bei meinem Umzug. Doch er kam nicht, um dabei zu sein, wie ich mein Abschlusszeugnis entgegennahm. Mein ganzes Leben lang hatte ich darauf hingearbeitet, aber er war nicht da, um es mitzuerleben. Immerhin hatte ich mich in seiner Wahrnehmung zu meinem Vornamen „hochgearbeitet“, und das war schon etwas. Als er mich jetzt „Kind“ nannte in der begrenzten, stillen Dunkelheit dieses unbekannten Raums, fühlte es sich an, als wäre mein Vater die ganzen Jahre über nicht so sehr an einem anderen Ort, sondern vielmehr in einer anderen Zeit gewesen.

Mein erster Gedanke war, dass sie ihm ein starkes Schmerzmittel verabreicht haben mussten, das dafür sorgte, dass er ziemlich verwirrt war. Ich verfolgte den Schlauch, der aus seinem Arm kam, bis zu einem durchsichtigen Beutel mit Flüssigkeit, der an einem Metallständer hing und im Takt vor sich hin tropfte – bis alle Tropfe und Piepser im Raum den gleichen Rhythmus zu haben schienen und ich das Gefühl hatte, dass ich durch die ständige Wiederholung den Verstand verlieren könnte. Es war, als würden Szenen aus einem Filmprojektor Schattenrisse unseres Lebens auf die sterilen weißen Wände werfen: Er und ich zusammen und er und ich getrennt. Die Bilder verschwammen und gingen ineinander über, bis die Zeit rückwärtslief und meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft zu einer Einheit verschmolzen. Und ich konnte mich die ganze Zeit über nicht dazu durchringen, etwas anderes anzusehen als diese Hände, die dabei geholfen hatten, mich großzuziehen.

„Kind, Kind, Kindchen. Ich habe gebetet, dass du kommen würdest.“

Jetzt war ich mir sicher: Die Zeit, sich Sorgen zu machen, war gekommen.

Die einzige Kirche, in der J. R. Bess sonntags jemals Gottesdienst gefeiert hatte, war die Kathedrale des Waldes. Seine Gemeinde war ein Baldachin aus Bäumen, die reif für die Abholzung waren. Sein Prediger war ein abgewrackter, heruntergekommener John-Deere-550-Bulldozer, der ihn immer wieder dazu antrieb, über sich selbst hinauszuwachsen. Mir war er nie als ein Mann erschienen, der viel mit Gott am Hut hatte. Und wenn man sich diesen ungeheuren Kampf anschaut, der sein Leben gewesen war, liegt es nahe anzunehmen, dass Gott mit diesem Arrangement ganz einverstanden war. Soweit ich wusste, hatte Papa noch nie in seinem Leben für etwas oder jemanden gebetet. Und ich hatte keine Ahnung, warum er jetzt damit anfangen sollte.

Teil 1 Das Mädchen im Trailer

1. Am Anfang war der Dreck

Am Rande eines unbefestigten Weges an der Airport Road, wo sich die Straße gabelt und weiter zum höchsten Punkt des Fenwick Mountain hinaufschlängelt, kann man anhalten und von dort oben zusehen, wie ein Sturm aus allen Richtungen aufzieht. Als ich klein war, haben wir das oft gemacht. Wir standen draußen unter dem hölzernen Dachüberhang der schäbigen Veranda, die aus zusammengewürfelten Resten von allem bestand, was man so finden konnte (die Nägel waren teils nur halb eingeschlagen, krumm und unter der Peitsche der glühenden Sommersonne verrostet), und sahen zu, wie die Blitze die heiße Dunkelheit des Juli-Himmels erhellten. Wir lauschten, wie der Donner grollte und die Berge erschütterte.

Papa stand neben mir in seinen schmutzigen Jeans und dem längst vergilbten weißen Unterhemd, die nackten, ramponierten Füße auf den Brettern der Veranda. Sein dunkles Haar stand wild in alle Richtungen, aufgeladen durch die Elektrizität.

„Das ist wirklich schön, nicht wahr, Kind? Weißt du, wenn du genau hinhörst und zählst, kannst du schätzen, wie weit das Gewitter von uns weg ist.“ Der nächste Blitz leuchtete auf und wir begannen, gemeinsam zu zählen. Wir waren nur bis „zwei“ gekommen, bevor wir das Grollen des Donners wieder aufsteigen hörten. Dieses Gewitter kam nicht. Er war bereits über uns.

Als der Regen einsetzte, prasselte er in Strömen und Wellen über uns hinweg und hämmerte einen Johnny-Cash-Rhythmus auf das Blechdach unseres einachsigen Trailers. Er harmonierte perfekt mit dem einsamen Pfeifen des Sturmes durch das Windspiel, das Mama vor meinem Fenster aufgehängt hatte. Das wahre Schlaflied von West Virginia.

In dieser Nacht standen wir da und starrten dem Sturm ins Auge – es war die Art von erderschütternder Wildheit, die einem das Gefühl gibt, dass die Hand Gottes selbst nur ein paar Meter über dem Boden schwebt und mit dem Finger direkt auf einen zeigt. Wir erstarrten, als der Blitz nur zwei Häuser weiter einschlug und der Transformator aufleuchtete und Funken schlug wie ein Feuerwerkskörper. Das Haus blieb verschont, aber die Garage brannte nieder und mit ihr der Hund der Familie. Nun, um genau zu sein, starb er, als die Feuerwehrmänner ihn erschießen mussten, um ihn von seinem Elend zu erlösen, aber er wäre ohnehin verloren gewesen.

Der Berg, von dem ich stamme, war nie gut zu Tieren.

Ich war kein hübsches Kind.

Ich hatte eine klaffende Zahnlücke und wilde, braune Locken – die Art Frisur, die zum Synonym wurde für die Achtzigerjahre und die besondere Vorliebe dieses Jahrzehnts für billige Dauerwellen, Haarspray-Ponys und die Möglichkeit, alles, was einem an sich nicht passte, zu verändern. Meine Augen standen zu dicht beieinander, meine Lippen waren viel zu schmal, und – um dem Elend noch eins draufzusetzen – die Nase, die ich von meinem Vater geerbt hatte, saß genau in der Mitte und erinnerte alle anderen Teile meines Gesichts daran, dass sie viel zu klein waren.

Im Sommer 1989 traf man mich üblicherweise mit nackten Beinen an – leicht blutig von den letzten Kratzern im Gestrüpp – , wie ich über die Schulter eine Antwort auf die Aufforderung rief, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Währenddessen lief ich so schnell, wie meine schlaksigen, für meinen Körper viel zu langen Beine mich trugen, über die verwilderte Wiese hinter unserem Trailer. Immer weiter bahnte ich mir den Weg in die tiefen, dunklen Wälder, die gleich hinter dem Unkraut begannen und deren Sirenengesang mich unwiderstehlich anlockte.

Im Schutz und Schatten des Waldes konnte ich sein, wer immer ich wollte.

Es gibt eine Menge Dinge, die ich Ihnen über meine Kindheit erzählen werde, aber bevor wir dazu kommen, müssen Sie etwas wissen: Diesen Teil – der Teil mit den Wäldern – nun, den würde ich nicht ändern wollen.

Von meiner Geburt bis zu meinem Weggehen mit achtzehn Jahren wuchs ich auf dem Gipfel eines Berges im ländlichen West Virginia in einem einachsigen Trailer auf, der aus Holz und Aluminium zusammengezimmert war.

Jeden Winter knackte das Dach des Trailers unter dem Gewicht eines halben Meters Schnee, der üblicherweise in Nicholas County fiel. Die Abdeckung des alten Holzofens passte nie richtig, sodass die Flammen jedes Mal oben herausschlugen, wenn ein Holzscheit nachgeworfen wurde. Die orange-blauen Flammen tanzten gefährlich nah an den Fäden der Dämmwatte, die von der durchsackenden Decke herabhingen. Wenn der Frühling kam, regnete es dank des schadhaften Blechdachs drinnen genauso stark wie draußen, und der Geruch von Schimmel hing noch im Spätsommer in der Luft und klebte an meiner Kleidung und meiner Würde. Noch lange nach dem Ende eines Gewitters strömte dunkles Wasser von überall herab.

Die Fußböden bestanden aus aufgeweichten Spanplatten, die mehr oder weniger von dem fadenscheinigen braunen Teppichboden zusammengehalten wurden, der sich seinen Weg über den Wohnzimmerboden bahnte – ein Überbleibsel aus den Tagen, als der Trailer neu gewesen war. Jetzt war er mit einer Mischung aus altem Tierkot und neuen Dreckbrocken bedeckt, die jeden Abend von Papas Holzfällerstiefeln fielen, bis man nicht mehr sagen konnte, wo der braune Teppich endete und der Schmutz begann.

Und … es war ein Zuhause.

Wenn ich den Leuten diese Dinge über mich erzähle, um ihnen zu erklären, wer ich bin, kann man sehen, wie sich Unbehagen schwer auf ihre Schultern legt. Wie eine Last, um die sie nicht gebeten haben. Sie schütteln sich und sind verunsichert und sagen Dinge wie: „Gott sei Dank bist du da rausgekommen! Zum Glück bist du das nicht mehr!“ Aber genau das ist der Punkt, an dem sie sich irren.

Natürlich habe ich diesen Trailer gehasst, als ich aufwuchs. Ich hasste alles an ihm. Ich saß stundenlang mit einem Bleistift und einem blauen Spiralheft draußen und zeichnete Skizzen davon. Ich dachte mir aus, wie ich Wände um ihn herum errichten könnte. Ein Dach darüber bauen. Ich wollte ihn irgendwie verändern und damit mich und meine Zukunft, einfach über Nacht. Ich träumte jeden Tag davon, wie aus unserem Trailer ein richtiges Haus würde. Als ob mir das allein schon eine echte Chance im Leben geben würde.

„Wir könnten rund um den Anhänger Pfosten setzen, wie Spinnenbeine, direkt in den Boden“, sagte ich zu Mama, als ich ihr meine Skizzen zeigte. „Man könnte Löcher graben und sie mit Beton ausgießen, wie bei der Schaukel, und das würde reichen, um ein richtiges Dach zu tragen.“

Ich wusste: Wenn ich nur die richtigen Pläne hätte, eine Art Blaupause für das Leben, das ich aufbauen wollte, dann würden Mama und Papa meine Vision erkennen, und ich könnte sie dafür gewinnen. Ich könnte sie retten – vor der Welt, vor sich selbst und vor einer Reihe von unglücklichen Entscheidungen. Und dann könnten wir uns dieses gute Leben gemeinsam aufbauen, Seite an Seite.

Wenn sie nicht überzeugt werden konnten oder wollten, würde ich es eben einfach selbst machen.

Also, ja, ich habe von klein auf gewusst, dass ich auf die eine oder andere Weise aus diesem Trailer herauskommen und ein anderes Leben führen würde, was auch immer ich dafür tun müsste, um es zu schaffen. Aber zu sagen, das Mädchen von damals bin nicht mehr ich – nun, das wäre falsch. Alles, was ich bin, beginnt und endet mit diesem Trailer. Und wo auch immer ich hingehe, wer auch immer ich auf dem Weg geworden bin: Ich trage diesen Trailer in mir.

Für mich ist mein Leben – entkernt und von Grund auf neu aufgebaut – weniger eine Erfolgsgeschichte geworden als vielmehr ein Lied der Erlösung, eine Versöhnung mit den Wurzeln, die mich wachsen ließen, eine Melodie, die aus den schmutzigsten Winkeln meines Lebens geboren wurde.

Denn was mich und meine Geschichte betrifft: Am Anfang war der Dreck.

Das ganze Jahr über verfütterte ich Reste von braunen Bohnen und Maisbrot an die Streuner, die sich auf das Grundstück verirrten. Sie alle wurden von einer verwilderten, grau getigerten Katze in Schach gehalten, die mich als ihr Eigentum adoptierte, als ich gerade vier Jahre alt war und sie auf dem Schulhof der Grundschule in New Hope fand. Das Kätzchen kam schnurrend auf mich zu, mit seinen grünen Augen und dem markanten M im Fell auf der Stirn, was ich als Zeichen dafür nahm, dass wir zusammengehörten. Also wickelte ich das Kätzchen in meine Lieblingsdecke und schmuggelte es nach Hause, wo ich es vorläufig Thomas nannte … bis es ein Jahr später Junge bekam und fortan Thomasina genannt wurde.

Als wir aufwuchsen, hatten wir ständig streunende Hunde und Katzen, die zu vorübergehenden Haustieren wurden, aber keines von ihnen nahm ein glückliches Ende. Sie liefen weg oder verschwanden, wurden von einem Lastwagen angefahren, der etwas zu schnell fuhr, wurden irgendwo ausgesetzt, wenn wir sie nicht behalten konnten, oder erkrankten an etwas, das vermutlich heilbar gewesen wäre, wenn wir sie jemals zum Tierarzt gebracht hätten. Stattdessen starben sie dort, wo sie lagen, oder Mama rief unseren Nachbarn an – den mit der Schrotflinte – und das war’s.

„Ich hasse es, ein Tier leiden zu sehen“, war alles, was sie zu diesem Thema sagte.

Das waren die willkommenen Haustiere, die ich kannte, als ich aufwuchs. Aber in unserem Trailer gab es auch viele unwillkommene Hausgenossen. Im Winter wimmelte es von Mäusen und im Sommer von Kakerlaken, die überall herumflitzten. Und oft fand ich sogar die zappelnden, sich windenden, blanchierten Körper von Maden in der Küchenspüle, die sich am Abendessen der letzten Woche labten. Ich war neun Jahre alt, als ich herausfand, dass sich die Maden, wenn man Bleichmittel direkt auf ihre winzigen weißen Körper schüttete, zu einem Ball zusammenrollten und starben. Die Magie von Clorox.

Da wir mitten in der Wildnis von West Virginia lebten, gab es jede Menge Schlangen. Nattern, Boas und auch die eine oder andere Klapperschlange. Einmal, als Papa und ich auf der Couch saßen und gemeinsam eine Sendung ansahen, kam eine große, fette, zischende Schlange direkt über dem Fernseher auf uns zugeschossen und unterbrach unser Programm auf unbestimmte Zeit. Ich vermute, dass sie nur einen anderen Sender sehen wollte, aber ich war trotzdem ziemlich erschrocken.

Ich kann dir sagen, dass ich nie traurig war, wenn einer von diesen ungeladenen Gästen ein unglückliches Ende fand. Aber die Hunde und Katzen waren eine andere Geschichte.

Ich glaube, das schlimmste Erlebnis war, als unsere schwarze Labradorhündin gerade Welpen bekommen hatte. Einer unserer Nachbarn stellte ihr eine Schale mit Frostschutzmittel hin – zur Strafe dafür, dass sie sich einmal zu oft in seinen Garten verirrt hatte – , und bevor wir es bemerkten, hatte sie es getrunken und an ihre säugenden Welpen weitergegeben. Innerhalb eines Tages haben wir sie alle verloren. Sie rollten sich zusammen und starben. Einen nach dem anderen legten wir sie ins Gras, still und regungslos, bis keine Hoffnung mehr bestand. Das war das erste Mal, dass ich Papa weinen sah. Als er die Hündin in seinen Armen hin und her schaukelte und sein Gesicht in ihrem glatten, schwarzen Fell vergrub, während sich der Schaum aus ihrem Maul mit seinen Tränen vermischte, konnte ich ihn flüstern hören: „Geh nicht, geh nicht, geh nicht.“

Und da begriff ich, dass einem diese Welt Verletzungen zufügt.

Das waren die Karten, die von dem entschieden zu gleichgültigen Gott ausgeteilt wurden, den ich damals zu kennen glaubte. Ein Gott, der Leid zuließ und anscheinend nichts dagegen hatte, dass es diesem Haus gut ging und jener Familie alles gelang, während er die nächste ohne Vorwarnung niederschlug. Er war der Gott, der danebenstand und zusah, wie die Unschuld weggespült wurde … wie der Regen eines Sommergewitters die Hitze wegspült.

Und ich war mich sicher: Als Nächstes würde ich dran sein.

Bis dahin hatte ich Gott nie gefürchtet.

Die früheste Erinnerung, die ich an Gott habe, ist die, dass ich nachts im Bett lag und durch die Fenster in meinem Zimmer mit ihm sprach, während er zwischen den Sternen saß.

Mein Schlafzimmer befand sich am hinteren Ende des Trailers, und die Wand bestand aus drei nackten Aluminiumfenstern, die auf Goldies kleines rotes Haus hinausgingen. Ich sage nackt, weil damals kein einziges dieser Fenster eine Gardine oder ein Rollo besaß. Ich schätze, dass ich damals noch in einem Alter war, in dem die Dinge nicht versteckt werden mussten.

Gott konnte also direkt in mein Leben schauen und alles sehen.

Wenn die Dunkelheit hereinbrach und es draußen heller war als drinnen, dann war es so, als ob der ganze Himmel wie ein silbernes Tuch voller Sterne leuchtete. Die Fenster waren halb geöffnet, und die warme Sommerluft kroch herein und kuschelte sich neben mich. Sie strich über meine nackten Beine, weich wie Fell, seufzte und ließ sich dort nieder. Ich schätze, ich war noch in einem Alter, in dem man Dinge auch nicht draußen halten musste.

Wenn die Sommerluft nicht schlafen konnte, tanzte sie Pirouetten auf den Laken und wirbelte im ganzen Zimmer herum, schwebte frei und ohne Angst auf einem Strom der Unschuld und Sicherheit. Ich wandte mein Gesicht dem Himmel zu und sprach mit Gott, als wäre er ein Freund. Und er schien seinerseits herunterzukommen und direkt vor meinem Fenster zu schweben. Sein Atem war so nah, dass die Scheibe beschlug.

In Goldies kleinem roten Haus brannten immer noch ein paar Lichter. Und in manchen Nächten konnte ich sie drinnen herumlaufen sehen. Ihr sanftes Gesicht leuchtete in der Dunkelheit. Alle benachbarten Häuser auf unserem Berg waren bereits finster – wir waren nur ein Glühwürmchen in einem weiten, fernen Himmel – , sodass es in diesen Nächten schien, als gäbe es niemanden auf der Welt außer mir und Gott. Und manchmal Goldie.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemals jemand von diesem Gott erzählt hätte. Er war nicht der zornige Gott, dem ich später in der Kirche begegnete; jemand, vor dem man Angst haben musste. Und es war auch nicht der exklusive Gott, den einige Leute später aus ihm machen würden; jemand, der manchen Menschen sagt, dass sie nicht zu ihm gehören. Es war der Gott, den ich anscheinend immer als besten Freund gekannt hatte, der mich an meinem Fenster besuchte. Von Angesicht zu Angesicht und frei von Angst. Er war der Gott, der nahe genug herankam, um Spuren in meinem Leben zu hinterlassen.

Lange bevor mir jemand sagte, wie er sein sollte.

Bald fing Gott an, mir auch bei Tageslicht draußen im Garten zu begegnen. Wenn er nicht bei den Sternen war, war er überall. Er war im Grün des Grases, bis hin zu den einzelnen Pigmenten. Er war in den Vögeln, die sich mit weit ausgebreiteten Flügeln der Schwerkraft trotzend in die Lüfte erhoben, weit weg von der Begrenztheit ihrer Äste. Er war in der Sonne, die mir ins Gesicht schien, im Gold des Feuers, von dem man weiß, dass es noch da ist, selbst wenn man die Augen schließt. Er war in der Art und Weise, wie dünne Schlammschichten, die man einmal aus dem kalten, harten Boden gegraben hat, an den Händen trocknen und den Rest des Tages an einem haften bleiben. Als ob man das Gefühl nicht mehr vergessen könnte, wenn es einmal seine Spuren hinterlassen hat.

Er war Farbe und Freiheit und Feuer und Dreck. Und er war die Stimme, die mir sagte, dass all dies eines Tages sehr viel Sinn machen würde. Er würde das alles nutzen. Das Unordentliche, das Harte, das Zerbrochene, das Schöne. Eines Tages würde er es in Worte fassen. Und dann würde ich es sehen: Meine Geschichte wäre nicht umsonst.

2. Man muss tief graben, um an den guten Teil zu kommen

Wir teilten uns ein Grundstück mit Goldie. Oder besser gesagt, unser Trailer war auf einem achtzehnrädrigen Sattelauflieger herbeigeschafft und auf dem hinteren Teil ihres Grundstücks abgestellt worden – nur als vorübergehende Lösung, die dann aber irgendwie dauerhaft wurde. Wenn man die Airport Road hinauffuhr und die erste Straße rechts abbog, sah man zuerst Goldies rotes, holzverkleidetes Zweizimmerhäuschen und dann unseren Trailer, der auf einem wackelig aussehenden Sockel aus Schlackenbetonblöcken stand – eine unangenehme Überraschung, die hinter dem Haus wartete. Irgendwann bauten Mama und Papa eine Veranda an und verkleideten den Sockel mit Brettern, um dem Ganzen ein solideres Aussehen zu geben. Aber sie wohnten einfach zu nah an den Schwiegereltern; eine Situation, die alle Beteiligten gleichermaßen unglücklich zu machen schien.

Der Hof zwischen unseren beiden Häusern war übersät mit „Zeug“: Ein Pick-up, der ohne Räder auf Blöcken stand, ein Pick-up, der tatsächlich funktionierte, ein Firebird Trans Am aus den 1970er-Jahren – goldfarben mit einem riesigen Adler auf der Motorhaube, der tatsächlich zu fliegen schien, wenn Aerosmith im Radio lief. Es gab einen Frontlader und gelegentlich eine Planierraupe, die bis zum Schaufelblatt im Schlamm steckte. Und ein paar Jahre lang (bevor die Bank kam und es uns wegnahm) stand da ein Boot, das meinem Großvater Bill gehört hatte. Es gab einen undefinierbaren Haufen Metallschrott, eine Feuerstelle – die eigentlich nur ein verbrannter Fleck im Gras war, der nie zu rauchen aufhörte – und alte Reifen, die Mama weiß angestrichen hatte und in denen sie Wildblumen an zufälligen Stellen auf dem Grundstück pflanzte. Es gab einen Werkzeugschuppen, einen Holzschuppen und eine alte Garage. An den Wochenenden parkten unsere großen Mack- und Kenworth-Laster genau dort auf der Wiese.

Um zu verhindern, dass der Mack und der Kenworth zu weit in den Hof hineinrollten, wenn die Handbremsen nicht angezogen waren, brachte Papa einen Haufen Erde mit, die bei Straßenarbeiten übriggeblieben war, und formte daraus eine Art Wall – eine fast einen Meter hohe Barriere an einem Ende, die am anderen Ende sanft abfiel. Wenn die Lastwagen dort geparkt waren, stießen sie direkt an die Kante. Aber im Frühjahr, wenn das Gras alles überwuchs, die Lastwagen Baumstämme transportierten und der Regen die Rampe zum Glänzen brachte, fuhren wir Kinder aus der Nachbarschaft mit unseren Fahrrädern so schnell wir konnten die Steigung hinauf und flogen dann über die Kante wie die Superhelden, für die wir uns hielten. Wir brüllten „Bei der Macht von Grayskull!“, während unsere Fahrräder durch die Luft sausten.

Man musste sich auf die Rampe einlassen.

Ich nannte den Schlammhügel „Mountain Spring“ und ernannte mich selbst zu seiner rechtmäßigen Erbin: Königin Mary, Herrscherin über den Dreck.

Selbst als die Bank kam und sowohl den Kenworth als auch den Mack mitnahm und wir keine großen Lastwagen mehr hatten, die gestoppt werden mussten, lebte Mountain Spring auch ohne sie weiter. Ein paar Jahre später planierte mein Vater den Erdhügel, um Platz für einen Schotterhaufen zu schaffen.

Und dann wurde ich Königin Mary, Herrscherin über die Steine.

Man muss eben bereit sein, sich anzupassen, wenn sich die Geschichte ändert.

Jedes Jahr im April, wenn der dicke Teppich aus verrottetem Laub in den Wäldern rund um unser Zuhause einem leuchtenden Grün wich, schickte mich Goldie mit einem Spaten und einem leeren Eimer los und sagte mir, ich solle erst wiederkommen, wenn er voll sei.

„Schneide nicht nur die Blätter an der Oberfläche ab, Mary Ellen. Du musst tief graben, um an den guten Teil zu kommen.“

Ich kannte den Weg in- und auswendig. Von der Spitze unseres Berges aus gab es in jede Richtung Wald, also nannten wir ihn der Einfachheit halber „den Wald vor unserem Trailer“ und „den Wald hinter unserem Trailer“. Mein Weg führte mich in den vorderen Wald. Schnell über den Hügel und drei Serpentinen der Holzfällerstraßen hinunter, am ersten Wasserfall (der mit dem umgestürzten Baum) scharf links abbiegen, den Hang hinunter, wo der Boden nur aus Steinen besteht (es geht am besten, wenn man auf dem Hintern herunterrutscht), und dann, an der Stelle, wo der Hügel zu einer steilen, schroffen Klippe abfällt, konnte ich es sehen: ein geheimes Bärlauchfeld, das nur mir und Goldie gehörte.

Bärlauch ist eine Wildzwiebel, die dort, wo ich herkomme, tief in den Wäldern wächst. Die Stadt Richwood am Fuße des Fenwick Mountain ist sogar so bekannt für sie, dass sie als „Bärlauch-Hauptstadt der Welt“ bezeichnet wird, und jedes Jahr findet dort das Bärlauch-Festival statt. Doch wir machten unser eigenes Bärlauchfest zu Hause.

Wenn ich zurückkam, war Goldie schon fleißig dabei, braune Bohnen und Maisbrot zu machen und Speck in der Pfanne zu braten. Sie nahm den Eimer mit dem Grünzeug von mir entgegen, wusch die Erde mehr oder weniger ab und brutzelte den Bärlauch dann in der Pfanne mit dem Speckfett.

Wenn du Bärlauch isst, solltest du eines wissen: Du wirst hinterher drei Tage lang danach riechen. Nicht nur dein Atem. Der Geruch wird direkt aus deinen Poren sickern. Die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, besteht darin, dass alle im Haus Bärlauch essen, damit alle gleich stinken.

Man muss sich auf den Bärlauch einlassen.

Jahre später, als ich in New Haven Jura studierte, ging ich einmal in ein schickes Restaurant mit weißen Leinentischdecken und echten Stoffservietten. Und siehe da, sie hatten wilden Bärlauch auf der Speisekarte! Sie titulierten ihn als „französisch“ und ergänzten es noch durch das Wort „Gourmet“. Ich habe ihn natürlich bestellt, aber ich kann dir sagen: Die Köche dieses schicken französischen Restaurants hatten nichts drauf im Vergleich zu Großmutter Goldie aus West Virginia und ihrem schmutzigen Speckfett.

Als wir aufwuchsen, gab es alle möglichen interessanten Mahlzeiten dieser Art. Zum Beispiel das Hirschfleisch, das uns die Männer, die für Papa arbeiteten, in jeder Jagdsaison brachten. Papa war selbst nie ein Jäger – ich glaube, ihm fehlte der Spaß am Töten – , aber er wollte das Fleisch auf keinen Fall verkommen lassen. Also brutzelte Goldie es in der Pfanne und kochte grüne Bohnen mit noch mehr Speck, und es schmeckte wie eine zähe Frikadelle, die etwas zu lange gebraten worden war. Aber es war Essen auf dem Tisch, also beschwerten wir uns nicht.

Manchmal war Jagdsaison auf Eichhörnchen, also aßen wir auch das. Goldie machte eine dicke Soße mit großen Stücken Eichhörnchenfleisch darin – es schmeckte wie dunkles, fettiges Huhn – und goss sie über Weißbrot. Diese Mahlzeit habe ich immer am meisten gehasst. Ich glaube, das liegt daran, dass wir mal ein Eichhörnchen als Haustier hatten.

Papa fand es verletzt in einem Baum, den er gefällt hatte, und brachte es nach Hause, um es wieder aufzupäppeln, und wir nannten es Hector. Es setzte sich auf meine Schulter und versteckte sich in meinem Haar, und wir fütterten es mit geknackten Walnüssen und altem Popcorn. Als es ihm besser ging und es anfing, wie verrückt durch das Haus zu rennen, brachte Papa es zurück in den Wald und ließ es wieder frei.

Und das gerade rechtzeitig, denn kurz darauf fand er ein Nest mit Flughörnchenbabys, deren Mutter verletzt oder getötet worden sein musste oder sie einfach verlassen hatte, wie es manchmal passiert. Auch die brachte er mit nach Hause, und wir fütterten sie mit Kondensmilch aus einer Augentropfen-Pipette, bis sie stark genug waren, um ebenfalls freigelassen zu werden.

Es war, gelinde gesagt, verwirrend.

Wir liebten sie als unsere Haustiere. Aber wenn die Eichhörnchensaison kam, gab es immer noch diese Soße mit Fleischbrocken.

Man muss auch bereit sein, sich anzupassen, wenn sich die Situation ändert.

Die Namen, die wir Dingen geben, haben Macht.

Goldie Philistine King war das mittlere von den insgesamt dreizehn Kindern ihrer Eltern.

Außer ihr gab es noch Lee und Gerald, Bernell und Harold, Lena und Edith und Ann. Dann gab es noch die Zwillinge Dora Lee und Ora Lee. Die eine starb bei der Geburt, die andere verbrachte die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens im Rollstuhl sitzend in einem Pflegeheim, weil sie an einer Krankheit litt, die man heute ohne Weiteres behandeln könnte. Dann war da noch Hilbert, der nur einen Arm hatte, und ein weiteres Geschwisterchen, von dem ich nicht weiß, wie es hieß. Und natürlich Goldies Schwester Tressie, die nach Kalifornien abhaute, als sie alt genug dafür war, und nie mehr zurückkam.

Wenn Sie wissen wollen, wie Goldies Vater über sie dachte, brauchen Sie nur auf ihren zweiten Vornamen zu achten. „Philistine“ bedeutet so viel wie „Spießerin“ oder „Banausin“. Ich habe mich immer gefragt, was das für Eltern sind, die ihr Kind so nennen, bevor es überhaupt die Chance hat, etwas anderes zu werden. Ich nehme an, sie sahen nur wenig Wert in weiblichen Kindern. Und Goldie hat bei mehr als einer Gelegenheit angedeutet, dass sie eine derjenigen war, an denen ihr Vater es am meisten ausließ, wenn er zu viel Zeit mit der Flasche verbracht hatte.

Aber eines hat sie nie verraten, nämlich wie sehr sie diesen zweiten Vornamen hasste.

Was mich betrifft, so kannte ich sie immer nur als Großmutter Goldie.

Sie war eine Mischung aus Feuerwerkskörper und Nelkenzimtbaum.

Sonntags in der Kirche trug sie ein rosa Kostüm, eine hochgeschlossene Spitzenbluse und Damenparfüm von White Shoulders. Aber zu Hause, in Jeans und T-Shirt, konnte sie eine Tür zuknallen wie ein Bierkutscher.

Ihre Lieblingssprüche waren „Ich mache das selbst!“ und „Es gibt nur eine richtige Art, das zu tun, und zwar meine!“.

Mit einer „Größe“ von nur 1,55 Metern war sie dennoch eine überragende Kraft in unserem Familienstammbaum. Eine unerschütterliche Frau, die aus einer zähen schottisch-irischen Familie stammte und ein brutales Leben geführt hatte. Sie hatte keine Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen. Ständig arbeitete sie im Garten, bis zu den Ellenbogen im Dreck, und pflanzte ihre geliebten Schmetterlingssträucher, als ob sie damit eine Verwandlung ihres Umfelds herbeibeschwören könnte.

Statt auf irgendeinen Mann in unserer Familie zu warten, um etwas zu reparieren, ging sie hin und reparierte es selbst. Mindestens einmal pro Woche sah man sie mit einer Schaufel in der Hand fluchend über den Hügel marschieren, um unseren Abwasserkanal freizugraben, der eigentlich nur ein Rohr war, das direkt in den Wald mündete und dazu neigte, einen Rückstau zu bilden.

Goldie hatte kurzes, weiches, ehemals braunes, später graues Haar, das sie sich einmal im Monat im Schönheitssalon zu winzigen Locken legen ließ. Zwischen den Friseurbesuchen verwandelte sich ihre Frisur in eine wilde Mähne, die aussah wie eine Pusteblume – egal, wie oft sie es kämmte. Sie trug eine große runde Brille mit selbstverdunkelnden Gläsern in ihrem noch runderen Gesicht. Aber wenn man genau hinsah, konnte man dahinter ihre graublauen Augen lachen sehen. Und wenn sie lächelte, hatte sie diese Apfelbäckchen, die über ihren Wangenknochen strahlten.

Apfelbäckchen, die sie mir vererbt hat.

Sie trug eine Zahnprothese, die sie jeden Abend herausnahm und in einem Glas Wasser auf den Wohnzimmertisch stellte, wo sie bis zum Morgen Wache hielt. Irgendwann bekam sie einen Anflug von Hautkrebs am Ende ihrer Nase, also schnitt der Arzt die Nasenspitze ab, um ihr Gesicht zu retten. Danach konnte man jedes Mal, wenn sie sich zur Seite drehte, sehen, dass die Nase in einer abrupten harten Kante endete, wo früher eine Rundung gewesen war.

Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht zu bremsen. Wie zum Beispiel in jenem Sommer, als ich neun war und sie beschloss, dass die alte Garage, die zwischen ihrem Haus und unserem Trailer stand, wegmusste. Sie sagte, sie würde sie selbst abreißen, Stein für Stein, wenn es sein müsste. Also hängte sie eine rostige Kette an das Fenster im zweiten Stock der Garage und band das andere Ende an ihren alten silbernen Chevy Pick-up, eigentlich in der Absicht, nur den Fensterrahmen herauszuziehen. Aber als sie das Gaspedal betätigte, trat sie wohl etwas zu fest drauf, sodass das gesamte Gebäude mit Getöse in sich zusammenstürzte, die Fensterscheiben in ihrem Haus klirrten und der ganze Berg erschüttert wurde.

Als sie aus dem Wagen krabbelte und sah, was sie getan hatte, starrte sie mich schockiert an, die Augenbrauen so hochgezogen, dass sie aussahen wie zwei Bienen, die in ihrem Löwenzahnhaar schwirrten.

Und dann sagte sie: „Nun, Mary Ellen, das ist eine Möglichkeit, die Sache zu erledigen!“

Den Rest des Sommers verbrachte sie damit, das Gebäude Stein für Stein zur Müllhalde zu schleppen. Aber im Herbst war die Arbeit dann getan. Sie war die Erste, die mir gezeigt hat, dass man, wenn man etwas will in dieser Welt, nicht darauf warten sollte, dass jemand anderes es einem gibt. Man macht es selbst.

Ja, Goldie Bess war eine Urgewalt. Und sie war auch meine beste Freundin.

Es gibt da diese Szene in dem Film „Magnolien aus Stahl“.

Sally Field ist auf dem Friedhof, nachdem sie gerade ihre Tochter Shelby verloren hat, und sie spricht mit den anderen Frauen darüber, wie schön es ist, ein ganzes Leben zu erleben, von Anfang bis Ende. Dabei zu sein, wenn jemand in dein Leben tritt, und immer noch seine Hand zu halten, wenn er wieder aus dem Leben scheidet. Ich weiß, dass es dabei um Tod und Verlust geht, aber ich glaube, es sagt uns auch etwas sehr Wichtiges darüber, wie wir unser eigenes Leben betrachten sollten.

In jedem Leben wird es einige Szenen geben, die wir löschen möchten. Einige, die wir vor- oder zurückspulen wollen, um sie anders zu machen. Es gibt Szenen, von denen wir annehmen, dass sie für andere Menschen zu schwer zu ertragen sind. Szenen, von denen wir befürchten, dass sie jemanden verletzen, wenn wir sie in die Endfassung aufnehmen.

Aber wir vergessen dabei, wie schön es ist, ein ganzes Leben zu erleben, von Anfang bis Ende.

Ich weiß Folgendes: Die Teile von uns, die wir verstecken wollen; die Teile von uns, die wir am liebsten unter der Oberfläche begraben würden, wo kein Licht hinfällt, und um deren Veränderung wir beten; die Dinge, von denen wir glauben, dass sie die Menschen dazu bringen werden, sich in einer Art mitfühlender Scham von uns abzuwenden … genau diese Dinge tragen im Guten wie im Schlechten dazu bei, uns zu dem zu machen, was wir sind.

Wir müssen die Ärmel hochkrempeln und uns an die Arbeit machen, diesen Dingen nachzugraben. Wir müssen unsere Hände tief hineinstecken. Wir müssen spüren, wie der harte Boden aufbricht und nachgibt angesichts unseres hartnäckigen Willens, nicht aufzugeben. Wir müssen genau hinsehen, um zu erkennen, was wir vorher nicht gesehen haben.

Goldie hatte recht: Manchmal muss man tief graben, um an die besten Teile zu gelangen. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, muss ich eine Entscheidung treffen: Werde ich nur den Schlamm an der Oberfläche sehen oder werde ich auch das Wunder darunter erkennen? Werde ich glauben, dass ich die ganze Zeit allein war und es wirklich immer nur an mir lag, für mich selbst zu sorgen? Oder werde ich glauben, dass jemand anderes immer da war und meine Hand gehalten hat? Ein Gesicht, das sich dem meinen näherte und sich nie abwandte – ganz gleich, wie weit ich mich entfernte …?

3. Eine winzige Verschiebung, die alles verändert

Wenn ich an meine Mutter denke, denke ich an ihre schmutzigen, nackten Füße.

In den ersten Jahren meines Lebens ging mein Vater zur Arbeit, und meine Mutter blieb mit mir zu Hause. Sie briet mir Fischstäbchen und servierte mir rosa Limonade in einem Einmachglas. Sie setzte mich vor den Fernseher, wo ich mir im Schlafanzug Winnie Puh