Aus meinem Bühnenleben - Karoline Bauer - E-Book

Aus meinem Bühnenleben E-Book

Karoline Bauer

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Beschreibung

Die 1807 in Heidelberg und 1877 in der Nähe von Zürich verstorbene Karoline Bauer gehörte zu den erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen der Biedermeierzeit. Nach ersten Gastspielen in Karlsruhe, wo sie schnell zum Publikumsliebling avancierte, ging sie nach Berlin, wo sie an der Hofbühne auftrat. Es folgten Engagements in St. Petersburg, Wien, Budapest, Leipzig und vielen anderen Städten. Dies ist ihre Biografie. Der Text des Originals aus dem Jahre 1871 wurde insofern überarbeitet, dass die wichtigsten Begriffe und Wörter der aktuellen Rechtschreibung entsprechen.

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Aus meinem Bühnenleben

 

KAROLINE BAUER

 

 

 

 

 

 

Aus meinem Bühnenleben, K. Bauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661540

 

Grundlage dieses Werkes ist das Digitalisat im Deutschen Textarchiv (Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871>, abgerufen am 06.12.2021), das dort unter der Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0) zur Verfügung steht. Der Text des Originals aus dem Jahre 1871 wurde insofern überarbeitet, dass die wichtigsten Begriffe und Wörter der aktuellen Rechtschreibung entsprechen. Näheres zur Lizenz und möglicher Weiterverwendungen unter https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de. Eine Gemeinfreiheit des reinen Textes bleibt von dieser Lizenz unberührt.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Karoline Bauer?. 1

I. Die erste Gage.8

II. Das erste Engagement.17

III. Eröffnung des Königstädter Theaters.28

IV. Heiße Bretter.43

V. Eine heitere Kunstpause.54

VI. Wieder in Reih und Glied.73

VII. Eine aufrichtige Gegnerin.106

VIII. Drei Jahre in Petersburg.116

IX. „Es gibt nur a Kaiserstadt.“. 164

X. Vier Tage in Dresden.214

XI. Beim alten Dramaturgen.245

XII. Das letzte Engagement.276

 

 

Karoline Bauer?

 

Es war im Spätherbst 1868. Ich saß am Redaktionstisch von »Über Land und Meer« und las einen Brief und dann ein beiliegendes Manuskript: Bühnenerinnerungen, von Karoline Bauer …

Karoline Bauer? Ich muss ehrlich bekennen, der Name war mir völlig fremd. Die alte tapfere Theater-Garde aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die so fröhlich lebte und schwärmte und kunstenthusiastisch glühte und sich so gern und so stolz — ergab, möge dem Nachgeborenen verzeihen.

In dem Briefe stand: … »Ich war nicht die bedeutendste und berühmteste Künstlerin meiner Zeit, aber ich hatte das Glück, in der Blütezeit dramatischer Kunst mit den größten Mimen unseres Jahrhunderts zusammenwirken zu dürfen. Von diesen edlen Künstlern und von dem ganzen vergangenen Künstlerleben zu erzählen, treibt mich mein Herz, das einst so heiß für die Kunst glühte und sich noch immer so gern an dem Blütenduft der Erinnerung aus jenen unvergesslichen Frühlingstagen erquickt. Ich habe treu und ehrlich und schmucklos nach dem Leben gezeichnet — auch nach dem meinigen. Ich habe mich bemüht, wahr über mich und gerecht gegen Andere zu sein. Vielleicht gehen diese Spiegelbilder aus alten Tagen auch nicht ganz nutzlos an den Augen und Herzen meiner jungen Leser vorüber …«

Dann las ich das Manuskript — und bald hatte sich mein ganzes Herz liebevoll versenkt in diese Blätter, in jene verschollenen großen Künstlertage und vor Allem in das liebenswürdig fesselnde, anmutig erheiternde und belehrende … und dann wieder so wunderbar tief rührende »Bühnenleben« der Schreiberin. — Das war keine gewöhnliche Ware auf meinem so viel belagerten und gemissbrauchten Redaktionstisch.

»Haben Sie Karoline Bauer spielen sehn?« fragte ich einen alten Tapferen jener aussterbenden Berliner Theater-Garde … Wie seine Augen da leuchteten, so stolz und dann so wehmütig feucht! Und sein altes — unsterblich junges Herz lag in den Worten: Karoline Bauer? — Cara memoria! La bella Donna Diana — das holdeste Käthchen von Heilbronn — die liebreizendste Julia — die edelste Maria Stuart — die rührendste Gabriele — — und dann wieder das übermütigste Suschen — der keckste Page in den Pagenstreichen — der flotteste Armand Richelieu … Karoline Bauer war entzückend schön, aber doch noch ausgezeichneter durch Grazie, Anmut, Liebenswürdigkeit, Wohllaut der Stimme und vor allen Dingen durch edelste Naturwahrheit in der Darstellung. Sie spielte ihre Rollen nicht, sie lebte sie. Darum gelangen ihr auch am besten die liebenswürdigen Partien, weil sie in diesen sich selber gab. Sie war vielseitig, wie heute wenige Schauspielerinnen. Eine gediegene Geistes- und Herzensbildung unterstützten ihr reiches Talent auf der Bühne, und machten die bewunderte Künstlerin fast noch mehr zum Liebling der Gesellschaftskreise. Sie und ihre schöne hochgebildete Mutter waren ebenso ganz anders, als die meisten Theaterdamen — wahrhaft vornehm! — Im Übrigen verweise ich Sie auf das Theater-Lexikon von Robert Blum, Herloßsohn und Marggraff und auf die »Portraits und Silhouetten« von Gustav Kühne …«

Robert Blum, der damals als Theater-Sekretär in Leipzig lebte und später durch seinen traurigen Tod so berühmt werden sollte, schreibt nach der kurzen Biographie, die der Leser in dem »Bühnenleben« ja ausführlicher wiederfindet, 1839: »Karoline Bauer ist eine der lieblichsten und achtungswertesten Schauspielerinnen; im feineren Lustspiel, im höheren Konversationsstücke, in naiven, kecken, koketten, pikanten und schalkhaften Charakteren ist sie ausgezeichnet und dürfte nicht leicht eine würdige Rivalin in diesem Genre finden; in der Tragödie hat sie in der letzten Zeit außerordentliche Fortschritte gemacht und sich als eine treffliche Darstellerin gezeigt, deren Mittel und Fähigkeiten das Vollkommenste erwarten lassen. Ihre Leistungen zeugen ebenso sehr für ihr tiefes Gefühl und ihren klaren Verstand, als für ihr eminentes Darstellungs- Talent und ihre vollendete allseitige Bildung; sie erhalten einen besonderen Reiz durch den Umstand, dass sie alle Effekthascherei verschmäht und nur durch die Totalität eines vollkommen gerundeten Bildes zu wirken strebt. Die reizendste Persönlichkeit unterstützt ihre lebensvollen Darstellungen und sie weiß die ihr von Natur verliehenen schönen Mittel aufs vorteilhafteste zu benutzen, ohne dieselben jemals an unpassender Stelle geltend zu machen. Ihrer liebenswürdigen Charaktereigenschaften wegen wird sie ebenso geliebt und geehrt, als wegen ihrer künstlerischen Vortrefflichkeit gepriesen und bewundert!«

In Gustav Kühnes »Portraits und Silhouetten« (Hannover 1843) heißt es über Karoline Bauer aus dem Jahre 1836:

»Nach dreiwöchentlicher Landestrauer wurde die Leipziger Bühne mit dem Gastspiel von Fräulein Bauer wieder eröffnet. Ein Leipziger Korrespondent in der Allgemeinen Zeitung nannte Fräulein Bauer eine — Repräsentantin echt klassischer Schauspielkunst. Dieser Ausdruck, falls er Sinn haben soll, lässt bei dem geehrten Herrn auf die entgegengesetzte Annahme einer romantischen Schauspielkunst schließen.

Diese Unterscheidungsweise mag etwas für sich haben. Eine Repräsentantin romantischer Schauspielkunst dürfte sich in der Schröder-Devrient finden, und wem aus der Erinnerung Wolffs und Devrients Gestalten aufsteigen, der hätte recht eigentlich Belege für diese zwiefache Richtung der Bühnenkunst. In Wolff war Klassizität: sein ganzes Spiel ging lediglich aus dem Verständnis des Dichters hervor; die Idee des Poeten zu erreichen, schien ihm das Höchste, ein anderes Ziel kannte er nicht. Devrients Spiel war nie das Ergebnis der Reflexion, er hatte nie den Zweck, durch Studium den Gedanken des Dichters zur Erscheinung zu bringen. Er hatte gleichsam seinen eigenen Gott für sich, der ihn so, und nicht anders seine Rolle auffassen hieß, ihn nicht selten ganz irre führte, aber ihn, wo er zutraf, der größten Effekte gewiss machte. War seine Darstellung einer Rolle mit der Intention des Dichters identisch, hatte sein Genius richtig getappt, so sah man wie durch wunderbares Walten das Höchste zur Erscheinung kommen. In Wolff feierte das Talent, in Devrient das Genie seine Triumphe.

Bei dieser Unterscheidung aber stehen bleiben und sie auf eine einzelne Erscheinung, die vielleicht noch nicht das Höchste, was sie vermag, erreicht hat, beziehen, hieße irre gehen. Hier wird weit weniger von einem großen Stil, als von Manieren in der Spielart die Rede sein müssen. Und in dieser Beziehung muss man an den Leistungen des Fräulein Bauer rühmlichst anerkennen, dass sie in einer Manier gehalten sind, die gar keine Manier ist. Bei Mad. Crelinger, Mad. Haizinger, Fräulein von Hagn kann man in der Tat von Manieren reden, von großen, interessanten und liebenswürdigen, womit sie zu effektuieren im Stande sind, und mir fällt dabei das Wort der Catalani über die Sontag ein, von der sie sagte: sie sei groß in ihrer Manier, aber ihre Manier sei nicht groß. Fräulein Bauer hat in ihrem Spiel den eigentümlichen Vorzug, keine effektuierenden Nebenrücksichten zu kennen, ihr Spiel geht wesentlich aus dem Verständnis des Dichters hervor, und tritt niemals aus dem Rahmen heraus, der ein Kunstwerk zu einem Ganzen gestaltet. Künstlerische Persönlichkeiten dieser Art erhalten ihre wahre Stellung recht eigentlich nur in einem allseitig durchbildeten Ensemble, dessen Zusammenspiel nur den Zweck hat, ein echtes Kunstwerk zur vollendeten Erscheinung zu bringen. Wolff musste sich immer erst seine Mitspieler erziehen, damit sie ihm so, wie es zu einem Totaleindruck nötig war, in die Hand spielten. Devrient bedurfte kaum talentvoller und konvenabler Mitspieler, er riss in seinen großen Momenten Alles mit sich fort, und zwang dann auch den Stümper, wie ein willenloses Werkzeug ihm zu folgen; in Nebenzügen ließ er das Stück und die Mitspieler fallen.

Von effektuierenden Momenten ist bei Fräulein Bauer eigentlich keine Spur. Mag das Bedingung ihres Naturells, oder Ergebnis ihres poetischen Verständnisses oder Beides sein; so brillant ihre Erscheinung auf der Bühne genannt werden kann, so wenig besteht ihr Spiel aus brillanten Einzelheiten. Sie scheint selbst auf Kosten der Wirksamkeit nur einen — Totaleindruck zu erzielen. Es liegt hierin etwas sehr Schönes und echt Künstlerisches; allein wie viel Rollen, selbst gute Rollen gibt es nicht, deren Wert nur in der Entwickelung dieses oder jenes Momentes beruht! Stände Fräulein Bauer immer in einem kunstfertigen, ausgebildeten Ensemble, und brächten unsere Bühnen nur immer Klassisches, so würde das Talent dieser Künstlerin wohl niemals seiner Wirksamkeit entbehren. Wie schön ist in Dresden ihr Zusammenspiel als Julia mit der humoristisch-salbungsvollen Werdy als Amme! — Auf unserer Bühne hatte sie mit ihrer Amme förmlich zu kämpfen, und der Zauber ihrer musikalischen Stimme in den Balkonszenen zerbrach fast an einem wortkargen Romeo, dem der Souffleur mit seinem Kasten hätte nachlaufen müssen in die grüne Schattenlaube. Durchaus glänzend — und von dem Effekt, den die Dichtung bezweckt, war der große Monolog, nach welchem Julia den Giftbecher leert. In der Szene mit dem alten Capulet war ihr Kampf zwischen Liebe, Schmerz, Verzweiflung und kindlicher Ergebung meisterhaft. Dagegen erschien sie in der Totengruft zu kühl. Wie sehr ihr Spiel jedoch, selbst mit Aufopferung des Effekts, dem poetischen Verständnis huldigt, beweist unter anderem die Art und Weise, wie sie in der Szene auf dem Ball die Worte: »Ihr küsst recht nach der Kunst« — von jeder sonst üblichen Betonung verschieden, zu geben wusste. Diese Worte lassen sich im Sinne der Julia kaum recht deuten; man weiß nicht, wie Julia zu dieser auffälligen Rede kommt. In der Regel tappen die Darstellerinnen über diese Schwierigkeit sehr oberflächlich hin, Fräulein Fournier schlägt wie errötend den Blick dabei zu Boden. Fräulein von Hagn sieht dem Romeo dabei listig ins Auge, sowie denn diese Schauspielerin überhaupt dem Charakter einen Beigeschmack von moderner Schalkhaftigkeit gibt, von der das Shakespeare'sche Mädchen nichts weiß. Beide Darstellerinnen effektuieren aber mit dieser Auffassung der Stelle. Fräulein Bauer spricht die Worte gewissermaßen ganz harmlos ins Blaue, wie ein junges Ding einmal Gehörtes gedankenlos nachplaudert. Mich dünkt, Shakespeare habe so und nicht anders seiner Julia dergleichen in den Mund gelegt.

An Fräulein Bauer als Donna Diana ist vielerlei als Missgriff zu bezeichnen. Der ganze Charakter war mädchenhaft, deutsch, nicht spanisch, nach ihrer Auffassung. In der Eifersucht war sie mehr die empfindlich Gereizte, als die Leidenschaftliche, vor deren Liebesschmerz die Säulen des Stolzes zusammenbrechen. Ihre Leidenschaft drohte nicht, sie zu verzehren, sie wurde nur gepeinigt von dem Gefühl der erwachten Liebe. Der ganze Charakter wird von der Darstellerin durchaus deutsch gefühlt und gegeben, mit allen Nuancen weiblicher Empfindsamkeit, weiblicher List und mädchenhafter Lust zu triumphieren.

In den ersten Akten musste der Stolz pointierter, in der Gartenszene die Koketterie raffinierter gehalten werden. In Beiden ist die Crelinger bedeutsamer, während sich in ihrem Spiel wieder das verwischt, was Fräulein Bauer, die an der Naturtreue allgemein menschlicher Auffassung festhielt, durch den Reiz elegischer Rührung hervorruft. Meines Wissens war die zu früh für die Kunst gestorbene Sophie Müller diejenige Diana, welche den spanischen Typus mit dem allgemein poetischen Grundelement am richtigsten vereinte. Die heißeren Farben des Gemäldes waren in der Darstellung von Fräulein Bauer viel zu sehr durch Lieblichkeit und mädchenhafte Grazie vertuscht.

Als Hedwig im Ball zu Ellerbrunn gab sie ein vortreffliches Bild der modernen Salondame. Als Suschen und Walpurgis entfaltete sie die ganze Spielerei einer ersten jungfräulichen Neigung in allen ihren Stufengängen von der erwachenden Lust bis zur listigen Verschlagenheit. Wie die unbefangene Seele sich überraschen lässt von ihrem eigenen Gefühle, trat in diesen Bildern idyllischer Gemütswelt als ganz besonders glücklicher Moment hervor. Als Goldschmidts Tochter ließ sie den Zug einer religiösen Stimmung nicht außer Acht und sprach das Gebet vor Schlafengehen, das andere Darstellerinnen in falsch verstandener Auffassung dieses Charakters fortlassen, mit jener echten Natureinfalt des Gemüts, die bei Rollen dieser Art so leicht in Koketterie umzuschlagen pflegt. So hob sie auch ihres Vaters Rang als Altbürger von Ulm gegen den Ritter ganz besonders hervor, und gab der Walpurgis dadurch jene Beimischung von mittelalterlich-bürgerlichem Stolz, der diese Figur von aller modernen Naivität abscheidet.

Als Margarethe (in den Hagestolzen) war sie eine Erscheinung, wie sie alte niederländische Maler in ihren Bildern eines idyllischen Friedens so gern zeichneten.

Ihr Käthchen von Heilbronn war von ganz besonderem poetischen Verdienst. Diesen mittelalterlichen Charakter sieht man oft mit einer Sentimentalität versetzt, die ihn völlig vernichtet. Weil das Mittelalter schwärmte, glaubt man, es sei auch sentimental gewesen.

Heinrich von Kleist war ein zu tiefer Poet, umso fehlzugreifen. In dem Unbewussten, in dem Rätselhaften des inneren Dranges liegt die Romantik des Mittelalters, und diese dunkle Entzückung zeigt der Dichter in der spiegelreinen Mädchenseele. Dies ist die unverwüstliche Poesie in diesem Käthchen von Heilbronn.

Fräulein Bauer war in jeder Beziehung das lebendige Bild dieser Dichtung.«

So Gustav Kühne. Mein Interesse an dem »Bühnenleben« der mir unbekannten Künstlerin, die sich in so bescheidener Weise bei »Über Land und Meer« einführte, wuchs natürlich nach diesen glänzenden Kränzen, welche die Mitwelt ihr geflochten und die so freundlich bis in unsere Tage fortgrünen und duften. Mit Liebe ging ich an die Redaktion des Bühnenlebens — eine fröhliche Oase in der sonst oft recht dürren Redaktionstätigkeit. Und die Früchte blieben nicht aus. Keine Artikel fanden während der 3 Jahre, in denen die Bühnen-Erinnerungen von Karoline Bauer in »Über Land und Meer« erschienen, eine solche Teilnahme bei den Lesern, wie dies »Bühnenleben«. Dafür zeugten die vielen herzlichen Briefe aus ganz Deutschland, aus Russland, ja aus Amerika, die bei der Redaktion einliefen und von der unvergessenen und unvergesslichen Karoline Bauer sprachen und um Fortsetzungen und schließlich um eine Buchherausgabe der Erinnerungen baten.

Dieser Wunsch — auch mein wiederholter dringender Wunsch — ist mit diesem Buche erfüllt. Die Verfasserin hat mir eine Sammlung und Herausgabe ihrer Bühnenartikel gestattet. Für dies Buch übernehme ich als Herausgeber die volle Verantwortlichkeit. Also, meine Herren Kollegen mit den flinken Rezensentenfedern, respektieren Sie die Anonymität der Verfasserin, die sich seit 1844 in ein hervorragendes glückliches Privatleben still zurückgezogen hat, — und halten Sie sich freundlichst bei Ihren Besprechungen an das »Bühnenleben« von Karoline Bauer und — wenn's sonst noch Not tut — an den

verantwortlichen Herausgeber.

Wien, im Oktober 1871.

 

 

I. Die erste Gage.

 

Ich hatte das Glück, eine engelsmilde, vortreffliche Mutter zu besitzen. Sie liebte mich und meine drei Geschwister zärtlichst und hätte ihr Leben freudig für uns geopfert, — aber sie konnte auch streng und energisch verfahren.

Mit 23 Jahren Witwe geworden — mein Vater blieb in der Schlacht bei Aspern, als ich noch nicht zwei Jahre zählte — schön, anmutig, geistreich, wies sie jeden Heiratsantrag zurück, um sich ganz ihren Kindern widmen zu können und das Andenken des Seligen treu zu bewahren. Es war keine leichte Aufgabe für eine so junge Witwe: ohne bedeutendes Vermögen vier Kinder zu erziehen, fern vom heimatlichen freundlichen Coburg und den Verwandten, — ohne jede andere Stütze, als die allgemeine Achtung der Menschen und ihr unerschütterliches Vertrauen zu Gott! — So steuerte sie mutig vorwärts und überwand das Schwerste.

Meine ältere Schwester war ein wunderbar begabtes Wesen, hold und lieblich; sie starb am Nervenfieber, erst zwölf Jahre alt. Die Brüder waren gutmütig, geistig aufgeweckt, aber wild und unbändig, wie die meisten Knaben in unserem Wohnorte Bruchsal im Großherzogtum Baden. Die fast ununterbrochenen Truppendurchmärsche 1813—1814, die Einquartierungen störten die Hausordnung der Familien und die gequälten Eltern vermochten ihre Kinder nicht vom Umgang mit den Soldaten zurückzuhalten. Da hatte auch unsere Mutter ihre liebe Not. Sie strafte zwar sehr streng, sperrte nicht selten die Brüder bei schmaler Kost ein, — doch das half nur auf kurze Zeit.

Auch ich drohte zu verwildern, denn ich liebte die Brüder über Alles und begleitete sie nur zu gern, wenn Kosaken oder Mameluken zu sehen waren. Ich jauchzte dann lustig mit: Hurra! oder: Vive l'Empereur!! —

Bis zu meinem sechsten Jahre kleidete die Mutter mich als Knabe, weil ich zu unschön als Mädchen aussähe. Die starken Züge, die große Nase passten eher zum gelockten Tituskopf, und ein leichter Gang und Mobilität in allen Bewegungen ließen mich im Knabenkostüm hübscher erscheinen. Ich war auch nicht wenig stolz auf meinen Sonntagsanzug von dunkelblauem Tuch mit Spitzenkragen und hellgelben Saffianstiefelchen. Ich hatte zwei Titel: »Großnase« und »kleine Komödiantin«. Der erste demütigte mich gar nicht, der zweite erfüllte mich mit Stolz. Ich bildete mir nicht wenig darauf ein, das Spiel einer Wandertruppe, die in Bruchsal einige Vorstellungen gegeben, nachahmen zu können, so auch den Tanz eines Seiltänzers, den ich als kleiner Knirps mit angesehen. Wenn Trübsinn im Hause herrschte, hieß es von den Brüdern gewöhnlich: »Komödiantin, spiele uns etwas vor!« — und die kleine Komödiantin gab sich alle Mühe, die Traurigen zu erheitern. Wenn bei Kaffeevisiten die Unterhaltung stockte, hieß es: »Linchen, tanze!« und freudestrahlend tat ich mein Bestes. Einen Stock als Balancierstange nach Art der Seiltänzer haltend, stellte ich mich auf eine Ritze des Fußbodens, und hin und her ging es auf dem Pseudo-Seil mit den zierlichsten Pas. Eine alte Dame, die einst diese Seiltänzersprünge sah, hielt mich für — behext — und schlug das Kreuz vor mir. Erst meine der Kammerjungfer abgelauschten Lieder: »In einem Thal bei armen Hirten«, und »Willst Dich, Hektor, ewig von mir wenden«, welche ich rein und wohlklingend gesungen haben soll, vermochten sie etwas zu beruhigen. — Einst mussten viele Knaben Bruchsals ins Gefängnis wandern, so auch meine Brüder als Hauptschuldige — als Anführer. Sie hatten ein Feuerwerk abbrennen wollen — und verbrannten sich dabei nebst einigen Scheunen. Die Brüder saßen im Nord- und Südturm. Da war es wenigstens hell und luftig. Eine ganze Woche lang wanderte ich nun nach dem Nord- und Südturm. Hinein durfte ich nicht, aber von außen hinaufsprechen und Obst und Brot für sie abliefern. Da stand ich denn zuerst am Nordturm: »Louis! wie geht's Dir da oben?« — Ein blasses, feines Gesicht sah zum kleinen Fenster heraus: »Ganz gut, Linchen!« — »Hast Du Hunger?« — »Nein! gib es dem Karl, der hat immer Hunger; lebe wohl! grüß' die Mutter.« — Dann eilte ich nach dem Südturm: »Karl, wie geht's Dir in Deinem Krähennest?« — Das runde, sonst so übermütig lustige Gesicht meines ältesten Bruders sah wehmütig nieder. »Nicht gut, Lina.« — »Willst Du Obst und Brot?« — »Gewiss! ich habe Hunger,« und der Wärter trug ihm meine Schätze hinauf …

Wir zogen 1814 nach Karlsruhe, Louis kam in eine Pension, um sich zum Kaufmann auszubilden, Karl in die Junkerschule, um Offizier zu werden. Die Mutter trennte sich ungern von Bruchsal, sie hatte mit unserm Vater, der beim Dragoner-Regiment Heimrot stand, dort glückliche Jahre verlebt. Auch meiner Erziehung wegen ging sie nach Karlsruhe. Die Knabenkleidung ward beseitigt; und ich erschien schon weniger hässlich als Mädchen; die Nase hielt glücklicherweise im Wachstum inne und mich schmückte blühendste Gesundheit.

In Karlsruhe ging mir ein neues Leben auf — und vor Allem ein Ahnen von der Bedeutung des Wortes »Komödiantin«, nachdem ich im großherzoglichen Theater einige Vorstellungen gesehen hatte. Nichts vermochte mich so zu beseligen, als wenn ich das Theater besuchen durfte; mit nichts wurde mein Fleiß mehr angespornt, als durch das Versprechen: »Du darfst dann auch morgen ins Theater gehen!« Als die Händel-Schütz »lebende Bilder« stellte, stand ich mit den der Mutter abgebettelten 24 Kreuzern schon zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung an der Eingangstür des Museumssaales. Aber nachdem ich diese in der Tat lebensvollsten Bilder gesehen, wurde es der Mutter mit mir fast zu bunt. Was einem Vorhang, Shawl, einer Draperie glich, wurde zusammengeschleppt und benutzt, um die Händel-Schütz nachzuahmen, bis endlich das mütterliche Machtgebot dem Treiben ein Ende machte. Ja, die »kleine Komödiantin« durfte nur selten noch das Theater besuchen. Meine Mutter eiferte mich stets zum größten Fleiße an: »Benutze die kostbare Zeit!« Sie erlaubte auch nie, dass ich mich bedienen ließ. Ich musste mich ohne Hilfe frisieren, mich selbst ankleiden, das Zimmer aufräumen, meine Kleider und Wäsche in Ordnung halten … und auf rebellische Fragen: »Aber, Mama, wozu ist denn die Kammerjungfer da?« gab's die ernste Antwort: »Kind, Du wirst es mir später noch danken! — Je mehr Du lernst, Dir selber zu helfen, desto unabhängiger wirst Du sein und jede schwierige Lage leichter ertragen!«

Ich lernte eifrig und wurde bald die Erste in der Klasse. Auf dem Klavier übte ich mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit. Die Mutter hielt mir den besten und teuersten Klavierlehrer, Marx. Noch nicht 13 Jahre alt, spielte ich das D-moll-Konzert von Mozart mit Orchesterbegleitung in einem Dilettantenkonzert im Museumssaal. Gern hätte ich mich ganz der Musik gewidmet. —

Einige Wochen später, als ich das Mozartsche Concert gespielt hatte, langte ein großer Brief mit mächtigem Siegel an. »Poststempel Eisenach?« sagte die Mutter, »dort kenne ich Niemand, als meine Stiefschwester.« — Als sie den Inhalt überflogen, sank sie totenblass aufs Sofa … Die Stiefschwester hatte eine gerichtliche Klage wegen der Erbschaft vom seligen Großvater angestrengt. Sie beanspruchte die Hälfte von Allem, was meine Großmutter zurzeit erhalten.

Verlor die Mutter den Prozess und musste herauszahlen, so blieb ihr nur die mäßige Pension als Rittmeisterswitwe. Unsere Erziehung und die Kriegsjahre hatten große Opfer gefordert. — Der berühmteste Advokat wusste auch keinen besseren Trost: »Im schlimmsten Falle müssen Sie das Geld erst nach einem Jahr herauszahlen.«

Sogleich war mein Entschluss gefasst. Als wir allein waren und die Mutter blass und angegriffen ihr Herz durch Tränen erleichterte, fiel ich ihr um den Hals — und fröhlich, zuversichtlich rief ich aus: »Sei ruhig! — in einem Jahre nehme ich Dir alle Sorgen ab! Mutter, lass die kleine Komödiantin Schauspielerin werden — ich fühle: es soll so sein — gewiss, ich habe Talent. Weshalb wählte Kirchenrat Kazner mich, um das Gebet vor der Konfirmation zu sprechen, mich von sechzig vornehmeren, reicheren und begabteren Mädchen! — Weshalb? — — Weil er voraussetzte, dass ich es am besten vortragen würde … Und hat man nicht in der großen Kirche jedes Wort verstanden? Weinten nicht Viele und sagten nachher, ich hätte sie durch meine gefühlvolle Rede zu Tränen gerührt? Oh, ich will mich übermenschlich anstrengen, um vor dem vierzehnten Jahre auftreten zu können, und mit dem vierzehnten nehme ich die erste Gage ein.« Die Mutter umarmte mich, sagte aber trotz wiederholter Bitten noch nicht ja. Bekannte und Freunde wurden zu Rat gezogen, es wurde dafür und dagegen gesprochen. Die Mutter schrieb nach Kassel an den Bruder des seligen Vaters, den General Bauer, allein dieser riet zu meiner Verzweiflung ab. Das Haupt der Familie in Coburg sollte entscheiden, der Neffe der Mutter, der nachher so berühmt gewordene Baron Stockmar. Wir reisten nach Coburg, die Verwandten lernten mich kennen, und — — der kluge, prächtige Vetter sagte in seiner humoristischen, herzigen Weise zur Mutter: »Tante Christiane! — Bis jetzt ist unsere Familie mit Talenten nicht gesegnet gewesen, es soll mich freuen, eine Künstlerin Cousine nennen zu können; aber das bitte ich mir aus, Lina, dass Du eine wahre, edle, tüchtige Künstlerin wirst.«

Ich hatte also gesiegt! — und mit Riesenschritten ging es dem ersten Versuch entgegen.

Mein Lehrer der Ästhetik war der berühmte Aloys Schreiber (Herausgeber der rheinischen Taschenbücher), ein herzlicher Freund des lieben alemannischen Hebel. Oft wurde mir das Glück, diese herrlichen Männer sprechen zu hören. Hebel kam gern ins gastliche Haus des Professors und fühlte sich behaglich in dem trauten Familienkreis, in dem ich bald heimisch war. Wie lauschten wir Jungen auf jedes Wort! Mit innigster Verehrung blickte ich auf die Sprechenden mit dem niederwallenden Haar, den edlen Zügen und den ausdrucksvollen, klugen, mild verklärten Augen. Gütiges Lächeln umspielte die Lippen und ermutigte zu bescheidenen Fragen. Welch' goldene Lehren prägten sich da uns ein ins junge Herz und Gedächtnis! Und wie harmlos heiter konnten diese liebenswürdigen Greise dann wieder sich und uns necken!

Nie werde ich vergessen, wie anmutig scherzend Schreiber einst fragte: »Weshalb benahmen Sie denn Ludwig Tieck jede Hoffnung, Neues schaffen zu wollen, lieber Freund?« — »Weil ich nicht gegen meine Überzeugung sprechen durfte!« entgegnete Hebel. — »Dürfen wir nichts davon erfahren?« riefen wir im Chor. — Hebel nickte lächelnd und Schreiber fuhr fort: »Tieck hielt sich auf seiner Reise nach Baden einige Tage hier auf und wir sahen ihn öfters. Als ich ihm mit Freund Hebel Lebewohl sagte, kam das Gespräch auf die alemannischen Gedichte. Tieck erschöpfte sich in Lobeserhebungen und sagte: »Weshalb, Verehrtester, schreiben Sie nicht mehr solcher allerliebsten Sachen?« Treuherzig und mit größter Ruhe antwortete unser Kirchenrat: »Weil mer nix, mehr einfalle tut!«

»Tieck schien seinen Ohren nicht zu trauen, und wiederholte in seiner gewinnenden, bezaubernden Sprachweise im feinsten Hochdeutsch: »O! Sie wollen die Welt mit herrlicheren Dingen überraschen!« Aber unser Hebel wiederholte unerschütterlich in seiner gemütlichen Mundart: »Gewiss, lieber Herr, es will mer nix mehr einfalle!« — Da lachte Hebel recht herzlich und wir Jungen getrauten uns einzustimmen. Der Professor aber sagte gerührt: »Kinder, wem die alemannischen Gedichte eingefallen, der kann auf seinen Lorbeeren ruhen« — und dem Dichter die Hand reichend, fügte er hinzu: »Und hätten Sie auch nur »Vergänglichkeit« geschrieben, teurer Freund!«

Mlle. Demmer, eine Schülerin Ifflands, welche sich in Mannheim zur vortrefflichsten Künstlerin herangebildet hatte, gab mir Stunden in der Deklamation. Sie musste der Bühne im Zenit ihres Ruhmes Lebewohl sagen und wurde pensioniert, — weil sie einige Mal während des Spielens plötzlich von einem Starrkrampf überfallen wurde … Die Worte verhallten, und unbeweglich, leeren Blickes starrte sie die entsetzten Zuschauer an! Ihr Bruder (auch in Mannheim gebildet und ein geschätzter Künstler) stürzte leichenblass aus der Kulisse und trug die Schwester fort. Einmal war ich Zeugin von dieser erschütternden Szene; sie erinnerte an den Aktschluss in der Jungfrau von Orleans, als alle Welt sich von Johanna wendet, sie allein dasteht (im 4. Akt) — und der treue Raimond ihre Hand fassend sagt: »Ich will Euch führen.« Ich konnte den Eindruck gar nicht los werden. Die Familie Demmer, Mutter, Bruder, Schwester, waren sehr liebe, achtungswerte Menschen; sie lebten aber seit der Pensionierung ganz zurückgezogen.

Die Schwester litt an nicht zu besiegendem Trübsinn, seit sie der Bühne entsagen musste. Monate lang wanderte ich jeden Vormittag zu ihrer abgelegenen Wohnung, und meine Anwesenheit belebte dann die sonst so stillen Räume. Sie hallten wieder vom »Kampf mit dem Drachen« — »Ein frommer Knecht war Fridolin« — und als das Einstudieren der Margarethe in den Hagestolzen von Iffland begann, da glaubte ich das glücklichste Geschöpf der Welt zu sein! Wie ein Feenland lag die Zukunft vor mir! Nichts schien mir zu schwer. Ich gelobte mir, Alles zu erreichen durch beharrlichen Fleiß und begeistertes Streben. Da ich auch groß für mein Alter war, glaubte meine Lehrerin, ich könne den ersten Versuch bald wagen. Drei Monate, bevor ich 14 Jahr wurde, stand auf dem Theaterzettel: »Die Hagestolzen, Schauspiel von Iffland … Margarethe — Mlle. Karoline Bauer, als erster Versuch!« Aus besonderer Rücksicht für mich fanden zwei Proben von dem oft gegebenen Stück statt, damit ich mit der Bühne, dem Proszenium, dem Kommen und Abgehen bekannt werde. Der große altväterische Theaterwagen, den ich so oft sehnsüchtig betrachtet hatte, brachte mich mit Mlle. Demmer ans Schauspielhaus. Diese wollte im Zuschauerraum der Probe beiwohnen, um zu hören, ob ich laut genug spräche, und mir überhaupt noch manche Winke geben.

Ein unbeschreibliches Gefühl erfasste mich, als ich an der Hand meiner Lehrerin auf meine die Welt bedeutenden Bretter trat. Sie stellte mich den Mitgliedern vor, bat um Nachsicht für die Anfängerin, und Alle bewillkommten mich freundlich. Es wurde mit einer gewissen Feierlichkeit begonnen, — wenigstens kam es mir so vor. Später sollte ich die Überzeugung gewinnen, dass da, wo Achtung und Pietät für die Kunst herrscht, die Proben stets mit Ernst und größter Aufmerksamkeit abgehalten werden. Die schwache Beleuchtung, der große dunkle Raum, die feierliche Stille, die Angst, dass ich nun bald sprechen müsse, raubte mir fast den Atem und das Herz klopfte hörbar. Zum Glück konnte ich nach und nach etwas Fassung erringen. Ich hatte erst im vierten Akt zu erscheinen. Mit welchem Interesse beobachtete ich jetzt in der Nähe das Spiel der von mir so oft schon bewunderten Künstler — wie benahmen sich Alle so würdig, einfach, edel! Ich hätte laut rufen mögen: »Habt mich doch ein bisschen lieb, ich gehöre ja nun auch zu Euch — und ich will mit Ernst und Fleiß an meine Aufgabe gehen!« Das Zeichen zum vierten Akt ertönte, ich musste sprechen … und die peinigende Angst war nach den ersten Worten wie durch Zauber entschwunden! Immer vertrauter wurde mir die Umgebung, ich sang auch das Lied ohne Bangen, und am Schluss der Probe lobten, ermunterten mich Alle. Mlle. Demmer schien zufrieden, ja — gerührt zu sein und hatte wenig zu tadeln. In erhöhter, glückseliger Stimmung kam ich nach Hause und erzählte der besorgten Mutter, wie Alles über Erwarten gegangen sei. Die Hauptprobe andern vormittags ging prächtig, ich wurde viel zutraulicher begrüßt. Die Schauspieler mochten sich wohl ihres ersten Versuches erinnern.

Mittags vermochte ich vor Aufregung keinen Bissen zu essen. Selbst Bruder Karls Fröhlichkeit und himmelstürmender Übermut hatte sich in Ernst verwandelt, und die Mutter versuchte umsonst ihr Bangen zu verbergen. Um vier Uhr schon kleidete ich mich als Bäuerin — ich seh' mich heute noch im grünen, wollenen Rock, roten Tuchleibchen, weißen Ärmeln, großer, faltiger Schürze, am schwarzen Samtbande das silberne Kreuzchen, von dem Margarethe zu sprechen hat, die Haare zurückgestrichen und in Zöpfe geflochten niederhängend. — Ich kam mir schließlich aber doch furchtbar dünn vor und fand mich nur — ziemlich hübsch in dem Kostüm. Um 5 Uhr holte Mlle. Demmer die Mutter ab; sie sah aufgeregt aus und ihre Wangen glühten. Sie zeigte mir noch, wie ich mich verbeugen müsste … im Fall ich hervorgerufen würde, und fragte, was ich dann sprechen wollte? — »Oh, in die Verlegenheit werde ich wohl nicht kommen!« — »Aber, Kind, im Fall es doch geschehen sollte, wie wollen Sie danken?« — »Nun, ich werde sprechen — — was mir gerade einfällt!« entgegnete ich resolut. Die Demmer schüttelte bedenklich den Kopf. Der Wagen rollte heran, der Theaterdiener klopfte und bat um die mitzunehmenden Sachen. Ich umarmte Mutter, Bruder, Mlle. Demmer und bat Alle, ja ruhig zu sein. — — Schnell flog ich die Treppen hinab, in den Wagen — der Schlag klappte zu — und einer Ohnmacht nahe schloss ich die Augen und bat Gott um seinen Beistand … Im Konversationszimmer verhielt ich mich sehr still und ging die Rolle noch in Gedanken durch. Herr Demmer, der den Konsulent Wachtel spielte, schminkte mich. — Ich hörte die Ouvertüre, vernahm das Klingeln am Aktschluss, wagte aber vor lauter Bangigkeit nicht zuzusehen. Da klingelte es zum dritten Male — Herr Demmer führte mich zu dem Hügel, von welchem herab ich zu kommen hatte. Ich stand, des Stichworts harrend, mit Rechen, Hut, Wasserkrug — nein! der war vergessen. — »Mein Wasserkrug!« rief ich — und der Requisiteur vermochte ihn mir noch zu geben. »Jetzt!« flüsterte Herr Demmer — ich trat vor und wurde mit Beifall empfangen! — Darauf war ich nicht vorbereitet, ich wusste nicht, sollte ich mich verbeugen oder sprechen, es flimmerte mir vor den Augen, die helle Beleuchtung blendete mich förmlich, aber mein Stoßgebet: »Lieber Gott, steh' mir bei« — half — und hell und fröhlich begann ich: »Ist der Schwager noch nicht da?« … — — Wie ich die Margarethe darstellte — weiß ich nicht; ob ich den Beifall verdiente — eben so wenig, ich erinnere mich nur, dass es mir war, als sei ich wirklich die Margarethe! — dass ich mit Entzücken spielte, den Hofrat trotz seiner 45 Jahre liebte, weinte, lachte, wie es die Rolle mit sich bringt, und als Herr Meierhofer (der den Hofrat hinreißend darstellte) die letzten Worte sprach, indem er mir die Feldblumen überreichte: »Blühe wie sie, nütze wie sie, und bleibe dem Schmucke getreu, mit dem deine Felder Dich schmückten« — sank ich an seine Brust und erwachte wie aus einem Traum, als nach dem Fallen des Vorhangs »Margarethe« stürmisch gerufen wurde.

Die Mutter schilderte den ersten Versuch in dem Brief an eine teure Verwandte:

»Lina wagte gestern ihren ersten Versuch, worüber die ganze Stadt sich freute. Ich selbst bin noch wie betäubt davon. Jedermann wusste, welche Liebe und Lust sie zu diesem Berufe führte, und so war denn das Haus schon um 5 Uhr so besetzt, dass kaum noch ein Plätzchen zu finden war. Sie wurde vom Offizierskorps, das wohl damit das Andenken ihres tapferen Vaters ehren wollte, freundlich empfangen. Dies machte sie etwas beklommen, doch fasste sie sich bald und spielte über Erwarten. Mit Enthusiasmus wurde sie gerufen. Ich musste weinen; ich allein wusste ja, dass Lina außer durch Talent und Lust noch durch edlere Zwecke zur Bühne geführt wurde. Sie ist nach diesem Erfolg ebenso bescheiden, so innig wie ein Kind. »Hast Du mich lieb, Mutter?« war das Erste, was sie mir nach der Vorstellung sagte …«

Meine zweite Rolle war Ifflands »Elise von Valberg«, die dritte »Rosalie« im Inkognito von Ziegler. Es wurde mir Engagement angetragen, und stolz unterschrieb ich den Kontrakt »Großherzoglich badische Hofschauspielerin.«

Als ich an meinem 14. Geburtstage ganz still mit der Mutter, den Brüdern und unserm gerichtlichen Beistand um den Kaffeetisch saß, trat der Theaterdiener ins Zimmer — — mit meiner ersten Monatsgage! Wir sahen uns lächelnd an; wir hatten in demselben Augenblicke von meinem vor einem Jahre gegebenen Versprechen geplaudert. Ich nahm die 50 Gulden in Empfang, — zitternd vor Bewegung. Jubelnd, schluchzend warf ich mich der Mutter an den Hals: »Nicht wahr, Mütterchen — jetzt hat die kleine Komödiantin ihr Wort gehalten!«

… Später hatte ich größere Gagen einzunehmen, Kunstreisen, Benefize, Glücksfälle brachten Gewinn, der Prozess endete auch bald nach meinem Engagement in Karlsruhe zu unsern Gunsten — — aber keine noch so große Summe beglückte mich wieder so unaussprechlich, wie diese 50 Gulden — meiner ersten Gage.

 

 

II. Das erste Engagement.

 

Als Debütrolle auf der Karlsruher Hofbühne gab ich in Kotzebues Zigeunerin die Lazarilla. Es war eine höchst unglückliche Wahl. Diese Aufgabe erfordert mehr Bühnengewandtheit, als natürliches Gefühl und Anmut. Überdies sollte mir beim Einstudieren neuer Rollen der Beistand meiner trefflichen Lehrerin schon bei dieser Lazarilla fehlen. Sie zog sich zurück — wegen einer grünen Schürze! Nach Mlle. Demmers bühnenerfahrenem Rat sollte ich nämlich in meiner dritten Proberolle als Rosalie im Inkognito eine schwarzseidene Schürze wählen. Die Mutter wollte mich aber zum weißen, einfachen Kleide lieber mit einer grünen sehen. Mlle. Demmer vermochte ihre verletzte Autorität nicht zu verschmerzen, — und versagte fortan ihre mich so fördernde Hilfe. Sie war vollkommen im Recht und ich — musste die kleine so verzeihliche Eitelkeit der Mutter büßen. Noch sehe ich die erstaunten Blicke der guten Lehrerin, als sie vor der Vorstellung kam, um im Theaterwagen mit uns ins Schauspielhaus zu fahren, und mich weiß und grün fand.

Die Freude über den freundlichsten Empfang und Beifall als Rosalie war keine so ungetrübte wie nach den Hagestolzen, als Ifflands Elise von Valberg. Die Mutter kämpfte während der Vorstellung mit den Tränen, denn kein Wort kam über die Lippen der neben ihr sitzenden, sonst so sanften Lehrerin. Diese ominöse Schürze lehrte uns Künstler-Empfindlichkeit schonen. Die Mutter und ich warnten uns später oft gegenseitig: »Denk' an die grüne Schürze!«

So mussten Mutter und Tochter nun auf eigene Hand versuchen: de conduire leure barque! … Dass der arme Nachen nicht gleich am Beginn des klippenreichen Theater-Fahrwassers zerschellte, begreife ich jetzt — da ich mich am Abende meines Lebens redlich bemühe, mit der Devise: »Gerecht gegen Andere, streng gegen mich« klaren, leidenschaftslosen Blickes die ferne Vergangenheit zu schildern — oft selber kaum.

Wie waren die gute Mutter und ihr vierzehnjähriges Töchterchen doch so gar unerfahren und unpraktisch in allen Kulissendingen — — und viel zu bescheiden fürs Theaterleben!

Wir verstanden nicht einmal: mich vorteilhaft zu schminken. Als einige ebenso unerfahrene Freundinnen mir rieten, die blonden Augenbrauen zu schwärzen, um meinem weichen kindlichen Gesicht mehr Ausdruck zu geben, — da zog ich im Eifer so kühne, schwarze Bogen, dass ich förmlich entstellt aussah. Zu meinem Unglück hatte ich überdies gehört, dass schwarze Punkte unter den Augenwimpern dem Auge flammende spanische Glut geben … und ich tat auch hier des Guten mehr als zu viel.

Es stand wahrhaftig schlimm um die kleine Komödiantin, und schon bekamen wir unter dem Mantel der Teilnahme manches mitleidige Lächeln zu sehen, manch' zweifelndes Wort über mein Talent zu hören.

Das Alles trieb mich, etwas Entscheidendes zu wagen. Ich wählte als zweites Debüt unverzagt — Preziosa!

Ganz Karlsruhe geriet in Aufruhr, dass ich — das blutjunge, unerfahrene Ding, überhaupt erst viermal vors Publikum getreten, nach der gefeierten, schönen Amalie Neumann die schwere Rolle der Preziosa spielen wolle. Die arme Mutter kam immer halbtot aus ihren Tarock-Partien nach Hause — so sehr hatten die Damen ihr wegen meiner »Preziosa« bange gemacht. Selbst Bruder Karl, der inzwischen Offizier geworden, berichtete oft kleinlaut, dass seine besten Kameraden am Erfolge zu zweifeln anfingen. Die Frau Markgräfin ließ mir durch Major Hennehofer teilnehmend ihr Bedenken äußern, ob meine junge Stimme auch für die pathetischen Stellen der Preziosa ausreichen würde.

Wenn ich aber die bangende Mutter ansah, so wuchs mir das mutige Wollen. Und ich setzte meine ganze junge Kraft daran, die Feuerprobe würdig zu bestehen.

Auf meine Bitte arrangierte Ballettmeister Zeisig ein brillantes Solo: Pas de zephir der Gavotte für mich zu Webers entzückender Musik. — Preziosas berühmtes Lied: »Einsam bin ich nicht alleine!« studierte mir Gesanglehrer Berger fleißig ein, und die melodramatische Deklamation übte ich unermüdlich nach dem Klavierauszuge. Bruder Karl besorgte eine leichte Jagdflinte und exerzierte mich wie einen Rekruten damit ein: blitzschnell zu zielen, während der Rede absetzend und bei der geringsten Bewegung des Zigeunerhauptmanns wieder anzulegen.

Und mit welchem Entzücken staffierte die gute Mutter ihre Preziosa heraus: spanisches Kostüm, himmelblau mit Silber, graziöse Marabouts auf dem Kopf! So wünschte mich später Maler Muxel in München zu malen. Er wählte die Szene, wo Preziosa wie verklärt Alonsos Bouquet aufgehoben. Ob das Bild noch in einer Münchener Galerie hängt — ob in einer Trödelbude … ich weiß es nicht.

Das Haus war überfüllt und vor Beginn des Stückes in aufgeregter — ja, die Verehrer von Mad. Neumann in kampfgereizter Stimmung. Und wie klopfte mir selber das junge, bange Herz! Aber schon während der süßen, beseligenden Melodien der Ouvertüre kam mir eine wunderbare Ruhe … und mit Gefühl und Begeisterung konnte ich sprechen:

 

»Lächelnd sinkt der Abend nieder,

Rings erschallen Jubellieder …«

 

Der freundliche Beifall erhöhte meinen Mut — meine Begeisterung — mein Glück!

Das eingelegte Solo tanzte ich, den Tambourin schwingend, wie von Flügeln getragen … und ich dachte lächelnd dabei an des wilden Linchens Seiltänzersprünge auf der Dielenritze. Auch mein durch das Einfallen des Horns und der Flöte im Takt so schwieriges Lied gelang glücklich. Das Haus wurde nicht müde, die neue Preziosa zu rufen. Ich hatte vollständig gesiegt … und doch war mein Glück kein so harmloses, ungetrübtes, wie nach meinem ersten Erfolge als Margarethe. Ich hatte in diesen wenigen Monaten die »heißen Bretter« ahnen gelernt. Das Anfangs so lachend nahe Feenland der idealen Kunst war in immer weitere Fernen gerückt. Würde ich es je erreichen? würde ich je eine wahre, edle Künstlerin werden? Dass es nur nach vielen bitteren Erfahrungen — nach bangen, schweren Kämpfen und Ringen sein könne, wusste ich jetzt schon. Aus der fröhlich und unbefangen durchs Leben hüpfenden kleinen Komödiantin war — die nachdenkende Schauspielerin einer bretternen Welt geworden.

 

Nach diesem zweiten glücklichen Debüt trat ich in Reih und Glied mit den meist ausgezeichneten Künstlern des Karlsruher Hoftheaters.

Hätte Ludwig Tieck doch diese »echten Komödianten« — wie er am liebsten den wahren, kunstbegeisterten Schauspieler nannte — sehen können! Er wäre entzückt gewesen. Behauptete er mir gegenüber doch späterhin in Dresden stets hartnäckig: »Es ist ein Nachteil für die wahre Kunst, dass die Komödianten nicht mehr die »Parias« des bürgerlichen Lebens sind. Werden sie fein bürgerlich, so ist es mit dem Künstler vorbei. Ihr Boden, auf dem sie nur wachsen können, ist das Land der Ideale. Ich kann trotz meiner 75 Jahre den Glauben an ein romantisches Künstlertreiben nicht verlieren. Nennen die Herren Kritiker mich doch auch immer — den Romantiker!«

Unsere Karlsruher Komödianten machten sich selber zu »Parias« des geselligen Lebens. Und doch hätten sie nach ihrer meist gediegenen Bildung in den besten Gesellschaftskreisen glänzen können. Aber sie, die einst in Jugendbegeisterung Heimat, Freunde, glückliche Verhältnisse verlassen hatten, dem verführerischen Locken der Kunst zu folgen — — Kummer, Not, Enttäuschungen jeder Art hatten sie mit der Zeit — menschenscheu gemacht.

Woher stammte der Liebling des Publikums, der auf der Bühne so lebensfrische, fein humoristische — ja übermütig frohe Hartenstein? Durchs Leben eilte er finster, — in trübe Gedanken versunken.

In dem trefflichen Bassisten Sehring und seiner lieblichen Frau schäumte echtes, unruhiges Komödiantenblut. Beim Beginn der Theaterferien verschwanden beide immer spurlos. Und einst fand ein Bekannter das geheimnisvolle Paar — in einem winzigen Landstädtchen, auf einer aus Betttüchern und Fenstergardinen improvisierten Bühne … Verkleidungsrollen spielend. Sie konnten nun einmal die Komödiantenfahrten nicht lassen!

Der köstliche, närrische Komiker Labes, der das ganze Haus bei seinem Auftreten stets vom homerischen Lachen der Zuschauer erschüttern machte — lächelte im Leben nie. In seinem Hause war er sogar ein hypochondrischer kleiner Tyrann. Er spielte prächtig Violine — aber im abgelegensten Winkel seiner Wohnung, hinter mehreren verschlossenen Türen.

Bei welcher Wandertruppe hatte der tiefgebildete Regisseur Mittel seine Theaterlaufbahn begonnen? — Er sprach nie darüber.

Auch die Karlsruher Oper hatte damals einen wohlverdienten Ruf. Mad. Gervais, die gefeierte erste Sängerin, war die Tochter eines Pariser Tanzmeisters.

Die Perle unserer Bühne war aber unstreitig Amalie Neumann, die noch heute als Frau Haitzinger am Wiener Hofburgtheater glänzt und im Fach der »komischen Alten« unübertroffen in Deutschland dasteht. Wer aber damals zu sagen gewagt hätte: Amalie Neumann — das reizendste Blondchen in der »Entführung aus dem Serail« — der lieblichste Benjamin in »Jakob und seine Söhne« — die entzückendste jugendliche Liebhaberin in hundert naiven oder sentimentalen Lustspiel-Rollen … wird einst eine prächtige »komische Alte« werden und die guten Wiener als »Martha« im Faust entzücken, — den hätten unsere jungen Theaterenthusiasten sicher auf Pistole gefordert. »Unsere himmlische Amalie Neumann — unmöglich!« … Und doch wird in 50 Jahren, die seitdem hinabgerollt sind, im Leben so Manches möglich.

Amalie Morstadt war 1800 in Karlsruhe geboren. In einer Wohltätigkeitsvorstellung betrat das liebliche zehnjährige Kind in Wranitzkys jetzt vergessener Oper »Oberon« in der Titelrolle zum ersten Male die Bühne. Der Erfolg des seltenen Kindes entschied für ein Künstlerleben. Mit fünfzehn Jahren war Amalie Mitglied des Karlsruher Hoftheaters, Anfangs nur in kleinen Opernpartien tätig. Ein Jahr darauf heiratete sie den Schauspieler Neumann und trat ihre erste glänzende Gastspielreise durch Deutschland an. Aus einem zweiten Gastspiel in Berlin im Jahr 1824 schrieb mir Amalie Wolff, Goethes geliebte Schülerin und die damals geistreichste Künstlerin der Berliner Hofbühne, über die bezaubernde Persönlichkeit von Amalie Neumann: »Ein Wesen, wie eine verkleidete Prinzessin anzusehen, trat zu mir ins Zimmer, strahlend wie die Frühlingsgöttin in blühender Schönheit. Hellblauer Musselin umwallte die etwas zu volle und gedrungene, aber doch zierliche Gestalt. Ein runder italienischer Strohhut mit weißem Band, wie ihn die englischen Touristinnen tragen, beschattete reiche hellblonde Locken. Vergissmeinnicht-Augen blickten mich schelmisch-freundlich an. Griechisches Profil, purpurroter lieblicher Mund, Grübchen in den Wangen, rosig angehaucht — sanfte, wohlklingende Stimme … so bezaubernd die ganze Erscheinung, dass ich vor staunender Bewunderung kaum zu antworten vermochte!«

Wenn eine Kollegin — eine Rivalin in solche Begeisterung ausbricht: ist es da zu verwundern, wenn in jener Zeit des Theaterenthusiasmus die ganze junge und alte Männerwelt bei Amalie Neumanns Gastrollen fast närrisch vor Entzücken wurde? In Leipzig begnügte man sich nicht mit Serenaden, Gedichten, Pferdeausspannen — nein, die Enthusiasten gründeten in allem Ernst zu Ehren Amalie Neumanns einen »Rosenorden«, und als Königin musste die Gefeierte präsidieren. In Wien hatten ihre extravagantesten Verehrer sich einen von den goldenen Schuhen zu verschaffen gewusst, die Mad. Neumann als »Aschenbrödel« getragen … und aus diesem Goldschuh auf das Wohl der Vergötterten die Reihe herum Champagner getrunken …

Neben dieser reizenden Künstlerin spielte ich mit großem Fleiß zweite und dritte Rollen. Auch ich bewunderte sie neidlos mit kindlicher Begeisterung. Sie war damals unstreitig die vielseitigste Schauspielerin Deutschlands und unnachahmlich in heiteren Konversationsstücken, naiven und sentimentalen Mädchenrollen. Sie spielte mit unerschöpflicher Wärme des Gefühls, reizender Anmut und nie müder Laune. Dazu sang sie allerliebst. Nur das hochtragische Fach war ihr verschlossen.

Während meines Debüts war Amalie Neumann auf Gastreisen. Sie nahm die jugendliche Kollegin bei ihrer Wiederkehr freundlich auf. Nur einmal wussten taktlose, schlechte Freunde die Harmonie des Verkehrs zu stören. Sie hatten gegen die Neumann das an mir gerühmt, was sie nicht besaß: die schlanke, geschmeidige Figur und Leichtigkeit des Tanzes … und die sonst so reich Ausgestattete hatte darauf gereizt und unfreundlich über die Anfängerin gesprochen. Natürlich wurde mir dies schleunigst hinterbracht und ich fühlte mich sehr geschmeichelt, dass die prächtige bewunderte Rose der bescheidenen Knospe nicht gönnen wollte, auch bemerkt zu werden!

Das Lob über mein Tanzen als Preziosa konnte sie nicht vergessen. »Liebe Kleine, welche Pas haben Ihnen zu dem Beifall verholfen?« fragte sie mich einst. — »Pas de zephir aus der Gavotte!« — »Oh, die tanze ich auch!« rief sie vergnügt. »Wir wollen sie im »Räuschchen« zusammen tanzen.«

Ich ging gern darauf ein. Amalie Neumann hatte die brillante Rolle der Wilhelmine, ich die langweilig sentimentale der Elise. Eigentlich soll Wilhelmine tanzen, um dem armen Brandchen den Kopf zu verdrehen, und Elise dazu Klavier spielen. Aber wir wussten es uns schon zurechtzulegen und übten fleißig das Pas de deux. Im dritten Akt sagte dann auch Wilhelmine zum Entzücken des Publikums: Brandchen, spiel' ein lustig Stück auf Deiner Violine — wir wollen tanzen!«

Brandchen-Labes geigte die Gavotte — und ich tanzte mit Herzenslust und — — bemerkte gar nicht, dass mein Vis-à-vis nicht gleichen Tritt hielt.

Am andern Morgen erhielt ich ein herrliches Blumenbouquet mit einem anonymen Billett: »Die Blumenspender gratulieren der leichten Infanterie zum Siege über die schwere Kavallerie.«

Als alte Frau darf ich wohl von einem solchen kleinen Triumphe sprechen. Zu meiner innigen Freude kann ich aber hinzufügen, dass Amalie Neumanns liebliches Bild und ihre liebenswürdige Kollegialität gegen die junge Anfängerin bei mir noch heute unvergesslich sind. Ich habe späterhin keine erste Liebhaberin neben mir gehabt, die ihren Kolleginnen gegenüber so wenig herrschsüchtig war, wie Amalie Neumann.

Zwei liebliche kleine Mädchen knospten damals neben der vollblühenden Mutter auf. Louise Neumann entfaltete sich zur leuchtendsten Wunderblume des deutschen Lustspiels, — bis Graf Schönfeld in Graz sie der Kunst entzog. Adolphine Neumanns kaum entfalte Blüte brach — der Tod.

 

Sechs Monate nach dem Debüt als Preziosa trat ich mit achttägigem Urlaub meine erste Gastreise an — nach Mannheim! Der Gedanke, mit den ausgezeichneten Künstlern aus der Schule Ifflands, Dalbergs und Schillers spielen zu dürfen, erfüllte mein fünfzehnjähriges Herz mit Stolz und Entzücken. Glückselig packte ich mein bescheidenes Reisekofferchen für Margarethe und Preziosa, und für die dritte Rolle die Husarenuniform zu Kotzebues Lustspiel: »Braut und Bräutigam in einer Person« ein.

Ferdinand Löwe stand damals im Vollglanz männlicher und künstlerischer Schönheit, — eine edle, hochpoetische Erscheinung. Ein wunderbarer Zauber umduftete alle seine Kunstgebilde. Er hatte gleich mein junges, enthusiastisches Herz gefangen. Während der Probe von Preziosa, als ich im zweiten Akt Alonsos Züge zu beschreiben hatte, hielt ich plötzlich inne: »Hat Alexander Wolff Sie persönlich gekannt? — »Ja, — aber warum?«

»Oh, da hat er also an Sie gedacht, als er diese Verse dichtete!«

Löwe lächelte anmutig über den Ausbruch meiner kindlichen Bewunderung … und jetzt wurden auch Preziosas Worte!

»Und dies Grübchen Schelmerei!«

aufs Schönste wahr.

So oft ich Heinrich Heines Verse aus den Atriden lese:

»Blühend blieb mir im Gedächtnis

Diese schlanke Heldenblume —

Nie vergess' ich dieses schöne

Träumerische Jünglingsantlitz.

Das war eben diese Sorte,

Die geliebt wird von den Feen!

Und ein märchenhaft Geheimnis'

Sprach aus diesen edlen Zügen …«

— muss ich dabei an Ferdinand Löwe denken. Schon nach zehn Jahren sollte diese »Heldenblume« zu Magdeburg ins Grab sinken. Sein Sohn ist der geniale Darsteller von Helden- und ersten Liebhaberrollen und der wissenschaftlich gebildete Regisseur des Stuttgarter Hoftheaters, Feodor Löwe, seine Tochter Sophie die einst hochberühmte Opernsängerin zu Wien, vor wenigen Jahren als Fürstin Friedrich von Liechtenstein zu Pest gestorben, während seine zweite Tochter Lilla als Schauspielerin glänzte, bis sie die Gattin des Freiherrn v. Küster wurde. Ein jüngerer Bruder Ferdinands — vor kaum einem Jahre als edelste Kunstgröße des Wiener Burgtheaters gestorben: Ludwig Löwe wurde nach dem frühen Tode des Vaters von Ferdinand erzogen und zu seiner idealen Größe mit Liebe herangebildet,

Türnagel, im Fach Ludwig Devrients, Brand als Tell und Wallenstein, die noch immer schöne und anmutige Frau von Busch standen Ferdinand Löwe würdig zur Seite.

Ifflands Geist lebte in Mannheim, wie auch in Karlsruhe besonders wohltuend fort: im maßvollen, klar durchdachten und naturtreuen Spiel! Auch dem Publikum war nichts unsympathischer, als affektiertes Übertreiben und zu kühnes Wagen, selbst bei genialen Gästen.

Der Mannheimer Intendant Graf Luxburg sorgte wahrhaft väterlich für seine Schauspieler und wurde von ihnen geliebt und verehrt. Leider fehlte ihm die einem Theater-Intendanten unentbehrliche hohe Geistesbildung. Er war aber so verständig, dies selber einzusehen und seine trefflichen Regisseure gewähren zu lassen.

Als ich 1835 zu Mannheim in Charlotte Birch- Pfeiffers »Günstlingen« Katharina II. als Gast gab, spielte Mlle. Kinkel die Liebhaberin Seraphine. Von Kindheit an bei der Mannheimer Bühne, wurde sie von dem noch immer rührigen Intendanten Grafen Luxburg echt patriarchalisch kurzweg »Du« angeredet. So hörte ich nach dem vierten Akt von ihm in seinem treuherzigen Pfälzer Dialekt: »Kinkele, Du hascht im Ganzen ziemlich schlecht gespielt, bischt aber schön in Ohnmacht g'fallen.«

Welch' einen Kontrast bildete dieser behäbige, wohlgenährte Intendant, der wie ein gutmütiger Landedelmann aussah, zu unserm fein ritterlichen Karlsruher Intendanten, dem Dichter von »Alhambra«, »Löwe von Kurdistan« und dem Trauerspiel »Viola«: — Freiherrn von Auffenberg!

Das kleine Mannheimer Gastspiel hatte den beglückendsten Erfolg für mich und erhöhte meine Zuversicht nicht wenig. Die edle Großherzogin Stephanie, die ohne Schönheit durch Geist, Güte und Liebenswürdigkeit zu bezaubern wusste und von den Mannheimern ebenso geliebt als hochverehrt wurde, ließ mich am Morgen nach der »Preziosa« zu sich rufen. Noch heute höre ich ihre lieben, guten Worte und sehe ihre milden, klugen Augen.

Große Reichtümer sollte ich von meiner ersten Gastspielreise nicht heimbringen. Aus Bescheidenheit hatte ich vorher kein Honorar ausgemacht. Für mein dreimaliges Auftreten vor stets vollem — bei Preziosa sogar überfülltem Hause erhielt ich von der Intendanz in Summa — — zehn Dukaten!

Wie mitleidig werden unsere heutigen Gastspieler, die sich für einen Abend 100, ja 500 Tlr. und noch mehr zahlen lassen, auf diese winzige Summe herniederlächeln!

Ja, wir »Komödianten« von ehemals waren bescheidener — — und ich bin noch heute stolz darauf, dass wir es waren. Wir reisten damals mit den primitivsten Lohnkutschen, auch Hauderer genannt, logierten in Gasthöfen zweiten Ranges, begnügten uns mit einem einzigen Zimmerchen — und waren dabei ein harmlos fröhliches Künstlervölkchen.

Für die Einnahme von Gastrollen kaufte ich mir eine eigene Sparbüchse — und war glückselig, da ich als Überschuss von der ersten Mannheimer Gastreise Einen Gulden hinein tun konnte. Der führte lange ein melancholisches Einsiedlerdasein. Erst nach meinem zweiten Gastspiel (Hamburg 1826) erhielt er einige Gesellschaft … und nach der Petersburger Gastreise (1828) ward die Büchse zu eng.

 

Der Wunsch, einer größeren Bühne anzugehören, bei der ich mehr beschäftigt werden konnte, wurde immer sehnlicher in mir. Die erst 23-jährige Amalie Neumann dürfte sich noch Jahre lang im Fach erster jugendlicher Rollen behaupten — und da wöchentlich nur dreimal gespielt wurde, konnte sie mir beim besten Willen ohne Opfer keine bedeutenden Rollen überlassen.

Das gesellige Leben Karlsruhes bot wenig Ersatz für mein dürftiges Rollenfach. Der Adel sonderte sich streng ab und nur auf den Museumsbällen tanzte er wenigstens im gleichen Saale mit dem höheren Bürgerstande. Aber auch auf diesen Bällen gab es eine adelige und bürgerliche Française. Ich sehe noch die pikierten Blicke einiger hochadeligen Fräuleins, als ein junger Gleichgeborener — wahrscheinlich ein verkappter Republikaner — es wagte, mich bei meinem ersten Erscheinen als Hofschauspielerin auf dem Museumsballe in die adelige Française am oberen Ende des Saales einzuschmuggeln. Mich amüsierten diese frostigen Blicke nicht wenig — ich rächte mich durch das Aufbieten meiner ganzen Tanzkunst und die unbefangenste, heiterste Konversation mit meinem kühnen Tänzer … und bald war in die so schön geschlossene hochadelige Phalanx für immer eine Bresche getanzt — durch eine Schauspielerin.

Erst in Berlin begriff ich, dass Geist und Gemüt, erfrischende Geselligkeit, herzliches Entgegenkommen, liebenswürdige Gastfreundschaft in Karlsruhe ums Jahr 1823 gar nicht existierten.

Und mein Sehnen, aus diesen kleinlichen Verhältnissen fortzukommen, sollte früher erfüllt werden, als ich selbst zu hoffen gewagt.

In der Probe zu Kotzebues »Wirrwarr« sah ich neben dem Regisseur Mittel einen ältlichen Herrn mit wohlwollendem Gesicht und feinen Manieren. Ich hörte, es sei Heinrich Bethmann, der liebenswürdige Schauspieler und Gatte der so früh verstorbenen berühmten Friederike Unzelmann-Bethmann. Zum Direktor des in Berlin von reichen Aktionären neu gegründeten »Königstädter Theaters« gewählt, machte er jetzt eine große Rundreise, um von den deutschen Bühnen für das neue Unternehmen die besten Kräfte zu gewinnen. Auf dieser Tour hatte er sich bereits den Namen »Bühnen-Pirat« erworben, den er mit großem Stolz trug.

»Oh, wenn er doch auch mich wegkapern wollte!« dachte ich sehnsüchtig — und war während der ganzen Probe zerstreut … Und als ich nach Hause kam, saß der Pirat traulich neben der Mutter auf dem Sofa und — bot mir mit dem Zauber seiner berüchtigten Beredsamkeit ein sehr verlockendes Engagement an als — Erste Liebhaberin. »Den 4. August wird unsere Bühne eröffnet, aber schon Ende Mai beginnt das Einstudieren. Sie können bei uns nach Herzenslust mit den bewährtesten Künstlern spielen — und sich an den Vorbildern erhabenster Kunst auf der königlichen Bühne weiterbilden. Die guten Berliner werden Ihnen und der Frau Mutter schon gefallen …« Wie berauschend klang dies Alles aus Bethmanns Munde! Freudestrahlend unterzeichnete ich ein Engagement auf ein Jahr … und bald schied ich mit tausend Tränen von dem schönen Vaterlande, von den mir so herzlich wohlwollenden Kollegen und all' den andern guten, herzigen Menschen in dem stillen Karlsruhe. Hinaus ging's zum ersten Mal — und jetzt nicht im Hauderer, nein, mit der Mutter im eigenen Wägelchen mit Extrapostpferden und lustig blasendem Postillon — hinaus in die weite, bunte, schimmernde Welt — in den lachenden Frühling hinein … Was wird diese fremde Welt dem jungen, quellenden, sehnenden Herzen bringen? — Rosen oder Dornen?

Wenn ich jetzt bei der sich sanft neigenden Sonne auf die seitdem herabgeglittenen vielen Jahre zurückblicke, so kann ich mit dankerfülltem Herzen — gegen Gott und die Menschen! — niederschreiben: jene weite, unbekannte Welt hat mir so viel köstliche Rosen gebracht, dass sie die Dornen fast verdeckten!

 

 

III. Eröffnung des Königstädter Theaters.

 

Welchem guten alten Berliner geht nicht noch heute das Herz so frühlingsfrisch und fröhlich und — doch wieder so jugendsehnsüchtig-wehmütig auf bei dem Namen: »Königstädter Theater«? — oder wenn er bei dem mächtigen, alten, längst zur Wohnungskaserne umgewandelten Hause auf dem Alexanderplatze, der früher Ochsenmarkt hieß, vorübergeht und daran denkt, wie er vor siebenundvierzig Jahren im apfelgrünen Frack und drunter das junge theaterschwärmende Herz — die holde Julie mit den langen, braunen Locken und dem blauseidenen Spencer und dem gelben Strohhut à la Galathea am Arm — an einem heißen Augusttage vier Stunden lang vor dem Theatereingange von glühenden Menschenwogen hin- und hergeschoben wurde … und wie endlich die Pforten sich öffneten und der Strom stöhnend — kämpfend — dampfend sich hineinzwängte … und wie er doch zuletzt glücklich auf seinem Parterreplatze anlangte, wenn auch mit dem Opfer des einen apfelgrünen Frackschoßes und der Hälfte der braunen Locken und des einen blauen Atlasschuhs der holden Julie … und wie sie beide doch so unendlich glücklich waren, der Eröffnung des neuen Königstädter Theaters beiwohnen zu können …

In dies alte, theaterenthusiastische Berlin von anno 1824 — wie es sich das junge Berlin von anno 1870 kaum noch denken kann — fuhren die Mutter und ich am 26. Mai 1824 nachts 11 Uhr ein, — durch die nicht enden wollende Königsstraße dem Ochsenmarkt zu. Bethmann hatte versprochen, uns dort ein provisorisches Logis zu mieten.

Der große Ochsenmarkt war wie ausgestorben. In dem bezeichneten Hause links neben dem Theater schienen sämtliche Bewohner zu schlafen. Der Postillon blies, rief, klopfte, zog die Glocke — lange vergebens. Endlich wurde ein Fenster im ersten Stock geöffnet. Ein Licht und ein jugendliches Gesicht neigten sich hinaus, und in bayerischer Mundart hörten wir: »Kommen Sie etwa aus Karlsruhe? Dann bitte heraufzukommen! Direktor Bethmann hat uns ersucht, Sie zu bewillkommnen; bis morgen müssen Sie sich schon mit dem bestellten, leider sehr unwohnlichen Zimmer behelfen.« Die artige Sprecherin, Fräulein Weidner aus München, begrüßte mich als Kollegin sehr herzlich. Aber eine Hiobspost kam nach: Bethmann hatte nach einer heftigen Szene mit den Aktionären seine Entlassung gefordert — erhalten — und tief gekränkt Berlin verlassen.

Aus übervollem, bangen Herzen, mit Seufzen und Tränen klang uns dieser Willkomm in der wildfremden Stadt entgegen. Bekümmert und erschrocken setzten die Mutter und ich uns auf eines der Betten in dem sofalosen, unbehaglichen Zimmer, und Fräulein Weidner und ihre Mutter auf das gegenüberstehende. Klagend fuhr die Kollegin fort: »Es herrscht hier heillose Unordnung! Nichts ist fertig, nur Weniges vorbereitet. Keine Rollen sind verteilt, keine Proben angesetzt. Vize-Direktor und Sekretär Baron von Biedenfeld vermag trotz des besten Willens keine Autorität zu erlangen. Niemand will gehorchen. Die Regisseure Schmelka und Angeli hemmen die Tätigkeit ihres einsichtsvollen Mitregisseurs Nagel durch Eifersüchteleien und Misstrauen. Der Geschäftsführer, Justizrat Kunowsky, ist ein geistreicher Mann und mit Enthusiasmus dem neuen Institut ergeben, aber ihm fehlt Zeit, Praxis und — Energie. Er taucht auf und verschwindet wie ein Irrwisch und hinterlässt nur Verwirrung. Die Aktionäre wissen wohl die Einnahmen zu berechnen, geizen aber mit den nötigsten Ausgaben. O hätte ich doch mein trautes München nicht verlassen!«

»Und wir nicht unser schönes Karlsruhe!« — und Tränen drohten auch bei mir auszubrechen … Da ertönte eine Flöte — wehmütige Melodien — sehr gut geblasen …

»Der Stiefsohn Bethmanns« — erklärte die Weidner, sanfter, ernster Jüngling; er wohnt über uns und musiziert oft die ganze Nacht hindurch.«

»Das fehlt' uns noch!« rief meine Mutter in komischer Verzweiflung, — »nichts stimmt trauriger, als melancholisches Flötenspiel … o wie er jetzt so schwermütig bläst:

»Mir auch war ein Leben aufgegangen!«

von Kapellmeister Himmel …«

»Sicher folgt jetzt:

»An Alexis send' ich Dich!«

lachte die Weidner — und richtig: Gleich intonierte die melancholische Flöte den Rosengruß an Alexis.

Da lachten wir denn hell auf — und wurden Alle heiterer und mutvoller. Und bald lullte uns:

»Freudvoll und leidvoll«

des schwärmerischen Flötenspielers ganz angenehm ein — die erste Nacht in dem großen, wildfremden Berlin.

Der folgende Morgen ließ sich besser an. Ein etwas zweifelhaftes Individuum präsentierte sich als Theaterdiener und brachte die erfreuliche Nachricht: die gegenüberwohnende Frau Doktorin Rintel ließe uns einladen, das freie, hübsche Logis über ihrer Wohnung zu besichtigen.

Froh eilte ich hinüber — und nach wenigen Stunden war Alles so weit eingerichtet, dass wir Besuch empfangen konnten. Als ich treppauf treppab sprang, um das Auspacken zu überwachen, und rüstig mit Hand anlegte — trat mir aus dem Zimmer des ersten Stockes eine nicht mehr junge, aber höchst anmutige Dame entgegen und sagte auf die liebenswürdigste Weise: — »Ich bin die Doktorin Rintel — mein Vater ist der Direktor der Singakademie Zelter! — Bethmann, ein Freund meines Mannes, hat Sie uns empfohlen. Er kam vor seiner schnellen Abreise noch atemlos gerannt, um dies Briefchen für Sie einzuhändigen. Recht viel Liebes haben wir von der Süddeutschen vernommen; nach Kräften werden wir Ihnen beistehen!«

Da erschien mir Berlin doch schon in einem rosigeren Lichte. Wir waren nicht mehr verlassen; gute, liebe Menschen wollten sich unserer annehmen …

Bethmann schrieb: »Um Ihretwillen, liebes Fräulein, bedaure ich hauptsächlich, Berlin so schnell verlassen zu müssen! Denn Sie sind unstreitig von den Mitgliedern die Unerfahrenste im Theater-Treiben. Doch nur mutig vorwärts! — Talent, Jugend und ernstes, eifriges Streben werden auch Ihnen helfen, im neuen Kunsttempel Fuß zu fassen. Vor dem Herbst kehre ich wieder und stelle Sie meinen ehemaligen Kollegen von der königlichen Bühne vor …«

Wie heimisch fühlten wir uns gleich bei Rintels, wie ungeniert plauderten wir zusammen, so vertrauensvoll, als sei es nicht das erste Mal, dass wir am Familientisch mit ihnen Kaffee tränken. Des Doktors sanftes, würdiges Wesen beruhigte und flößte Sympathie ein. Das liebenswürdige Paar bestätigte die Versicherung Bethmanns, dass die Berliner mit Ungeduld der Eröffnung des Königstädter Theaters — damals der einzigen Bühne neben der königlichen — entgegensähen, und das Publikum sich freue auf die heiteren Lebensbilder; — denn nur Lustspielen, Lokalpossen, Operetten solle die neue Bühne geweiht sein, höchstens dürften dann und wann Melodramas ihre düsteren Schatten werfen. Der König hätte gern dem Kommerzienrat Cerf die Konzession zum Bau eines zweiten Theaters erteilt, da beim königlichen Theater das klassische Repertoire vorherrsche und der König heitere Lebensbilder im Volkston besonders liebe.

»Aber warum lässt der König denn nicht seine Lieblingsstücke auf seiner Bühne spielen?«

»Nein, Friedrich Wilhelm der Gerechte hat mehr als einmal gesagt: Ich will meinen Geschmack dem Publikum nicht aufdrängen; — und Graf Brühl, der Intendant, soll in Ruhe gelassen werden!«