Babylon – Das Siegel des Hammurabi - Hanns Kneifel - E-Book

Babylon – Das Siegel des Hammurabi E-Book

Hanns Kneifel

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Beschreibung

Babylon zur Zeit Hammurabis: der Stadtstaat ist ein blühendes Gemeinwesen, doch die Macht Hammurabis ist bedroht. Der junge Daduschu erhält den Auftrag zu einer abenteuerlichen Reise: mit zwei Handelsschiffen soll er bis an das Ende der in Babylon bekannten Welt segeln, mit dem Siegel des Hammurabi als Schutz. Aber noch vor seiner Abreise wird ein Mordanschlag auf Daduschu verübt – seine Stellung hat ihm mächtige Feinde eingebracht. Als er nach den Tätern forscht, entdeckt er, dass in der Priesterschaft eine Verschwörung geplant wird, die sich gegen Hammurabi selbst richtet … Spannungsreich und historisch fundiert schildert Hanns Kneifel die faszinierende Welt zweier der ältesten Hochkulturen (Mesopotamien und Indus/Harappa) der Welt.

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BABYLON -

DAS SIEGEL

DES HAMMURABI

 

 

Das Buch

Babylon zur Zeit Hammurabis: der Stadtstaat ist ein blühendes Gemeinwesen, doch die Macht Hammurabis ist bedroht. Der junge Daduschu erhält den Auftrag zu einer abenteuerlichen Reise: mit zwei Handelsschiffen soll er bis an das Ende der in Babylon bekannten Welt segeln, mit dem Siegel des Hammurabi als Schutz. Aber noch vor seiner Abreise wird ein Mordanschlag auf Daduschu verübt – seine Stellung hat ihm mächtige Feinde eingebracht. Als er nach den Tätern forscht, entdeckt er, dass in der Priesterschaft eine Verschwörung geplant wird, die sich gegen Hammurabi selbst richtet …

Spannungsreich und historisch fundiert schildert Hanns Kneifel die faszinierende Welt zweier der ältesten Hochkulturen (Mesopotamien und Indus/Harappa) der Welt.

 

 

Der Autor

Hanns Kneifel (1936-2012), begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Science-Fiction, verfasste dann eine Reihe Jugendbücher, Hörspiele und Sachbücher. Er bleibt vor allem als Autor zahlreicher farbenprächtiger historischer Romane in Erinnerung.

Der vorliegende Roman ist der letzte, der für die E-Book-Fassung Anfang 2012 von Hanns Kneifel noch einmal gründlich durchgesehen und bearbeitet werden konnte.

 

 

Impressum

 

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2017 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

Alle Rechte vorbehalten

 

Covergestaltung: Thomas Knip, nach einem Gemälde von James Fergusson

E-Book-Konvertierung: Die Autoren-Manufaktur

 

ISBN ePub 978-3-86305-242-3

 

www.verlag-peter-hopf.de

 

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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der Autor

Impressum

Babylon - Das Siegel des Hammurabi

1. KÖNIG DER GERECHTIGKEIT

2. TOD AM KANAL

3. IM HAUS DES HANDELSHERRN

4. BABYLA, DAS TOR GOTTES

5. SHINDURRULS WAAGE

6. VERSCHIEDENE SPIEGELBILDER

7. NACHT DER KAPITÄNE

8. DIE KNOTEN DES NETZES

9. DER BAUCH DES SCHIFFES

10. IN DER STRÖMUNG DES BURANUN

11. DAS SCHILFMEER

12. INSEL DER PERLEN

13. MAGAN: KUPFER UND ÖDE

14. IM UNENDLICHEN OZEAN

15. DER WÜSTENHAFEN

16. DER BISS DER GIFTSPINNE

17. IN TIAMATS GUTEM WIND

18. MOENSH'TAR: DIE UNTERE STADT

19. MOENSH'TAR: DIE OBERE STADT

20. KINTHARA

21. DIE FREMDEN GÖTTER

22. DIE BUCHT DER STURMVÖGEL

23. IM PALMENWÄLDCHEN

24. DIE BRÜCKE ÜBER DEN SIRRH

25. NACHT IN MAGAN

26. DIE HERRIN DER UFER

27. SIEGELTRÄGER DES KÖNIGS

28. SONNENFINSTERNIS

 

HANNS KNEIFEL

Babylon - Das Siegel des Hammurabi

 

Roman

 

 

 

 

 

Mit tiefem Dank meinen Freunden:

Für Gisbert, Harald, 2 x Michael und Thomas

 

 

»Ich, Hammurabi, der Vollkommene, war für die Schwarzköpfe, die mir Enlil und Marduk wie einem Hirten übergeben und anvertraut, niemals säumig; nie ruhte ich, ihnen friedliche Stätten zu schaffen. Drückende Nöte hielt ich von ihnen fern, ihr Leben machte ich licht. Mit starken Waffen, mir von Zababa und Ishtar verliehen, mit der Weisheit, die Enlil mir gab und mit Marduks Macht tilgte ich im Norden und Süden, oben und unten, die Feinde aus, machte ein Ende mit den Kriegen, schuf dem Land Wohlfahrt, schenkte den Menschen friedliches Wohnen und vernichtete diejenigen, die uns stören wollten. Mich beriefen die Großen Götter, ich ward der Hirte mit kräftigem, geradem Stab. Mein milder Schatten breitet sich über die Stadt; die Menschen Akkads und Sumers ruhen in meinem Schoss, auf dass ihr Wohl gedeihe. Ich behüte sie in Frieden und schirme sie in meiner Weisheit. Der Starke bedrücke nicht den Schwachen; Witwen und Waisen wird Gerechtigkeit. Zu Babyla, der Stadt, die Anu und Enlil erhöhten, im Esangila, dessen Grundfesten ewig sind, habe ich das Recht des Landes geordnet und die Gerichtsentscheidungen gesichert, um den Unterdrückten Gerechtigkeit zu verschaffen. Meine kostbaren Worte wurden in Kudurru-Steine gemeißelt und vor mir, dem König der Gerechtigkeit, aufgestellt.«

 

Aus dem Vorspruch des KH, des Kodex Hammurabi

 

 

1. KÖNIG DER GERECHTIGKEIT

 

Flammen züngelten aus dem Stroh der Dächer; vom Sog der Schleudersteine durchfurcht, quoll schwarzer Rauch über Mauern und aus Türöffnungen. Das Krachen der Schwerter und Streitkolben auf die Schilde und die Anfeuerungsschreie der Soldaten vermischten sich mit Waffenklirren, sirrenden Pfeilen, gellenden Signalhörnern und dem Wimmern der Verwundeten. Grau, blutrot kollerte die Sonnenscheibe durch Staubwolken, Rauch und Gestank: heißes Blut, Kot, schweißnasses Leder, vom Feuer zersprengter Stein, verbranntes Gefieder. Die Stadttore barsten in einem Wirbel aus Funken, Splittern und Bronzebeschlägen. Babylas Krieger stürmten die bröckelnden, rußgeschwärzten Mauern von Rapiqum, und die engen Gassen waren erfüllt von den Schreien und dem Kreischen der panisch Flüchtenden. Inmitten einer Schar Krieger, Anführer und Palastgardisten, blutbespritzt und mit triefendem Schwert, rannte Hammurabi auf den Palast zu. Zahllose Leichen, von Pfeilen gespickt, von Schleudersteinen zerschmettert, lagen zwischen Mauern und schmorenden Dattelpalmen.

Blutüberströmt wankte ein Mann vorbei. Er presste beide Hände über die klaffende Wunde unter der Brust und stierte die Soldaten aus leeren Augen an. Als seine Eingeweide hervorquollen, brach er zuckend zusammen und kreischte wie ein Kind. Junge Frauen, Säuglinge in den Armen, stolperten rechts und links durch den Qualm.

In der verwüsteten Palasthalle erwachte der König von Babyla aus der dumpfen Raserei, die alle Empfindungen verschluckt hatte: Wut, Todesfurcht, Schmerz. Leichen lagen auf den Stufen, den Boden bedeckten Blutlachen, zerbrochene Waffen und zerschmetterte Schalen und Krüge, Verwundete zuckten im Todeskampf. Wein tropfte von Tischen und färbte die Tücher. Ein Schwert steckte in der Armlehne des Thronsessels. In den besudelten Decken und Fellen lag eine Frau mit weit offenen Augen, den Mund im lautlosen Schrei aufgerissen. Sie war nackt bis auf goldene Ketten und Armreife. Ein Anführer packte sie an den Hüften und zwang sie fluchend, vor dem Thron zu knien. Er drang in wilden Stößen ein zweites Mal in sie ein und riss ihren Kopf nach hinten.

Eine Brandung aus Wimmern, Kreischen, Jaulen und Winseln schäumte zwischen Säulen und Wänden. Die Soldaten weideten die Palasthunde aus und hackten Schwänze und Läufe mit schartigen Schwertern ab.

Hammurabi stand zwischen dem zersplitterten Portal und einem Wall toter Verteidiger. Der Rand seines blutverkrusteten Schildes berührte den Boden. Um die Schwertspitze bildete sich eine rote Lache. Schweiß tropfte unter dem Leder und den Bronzeplatten des Helms in den geflochtenen Bart. Der Schädel dröhnte, die Lippen waren rissig vor Durst, und auf der Zunge schmeckte er Salz und Staub. Er warf einen Blick auf die misshandelte Frau, drehte sich um und ging hinaus in die Helligkeit. Seine Finger krampften sich um die Griffe von Schwert und Schild.

Ein Trupp Soldaten näherte sich. Hammurabi erkannte Redûm Utuchengal am Silberband des Helmes. Gesichter, Arme und Schilde waren unkenntlich unter der Schicht aus Staub, Ruß und Blut. Utuchengal nahm den Helm ab, klemmte ihn unter die Achsel und schlug mit dem Schwertgriff gegen den Brustharnisch.

»Die letzten, die sich wehrten, sind tot«, sagte er. Er hustete und wischte über die Stirn. »Die Beute, König, wird nicht gering sein. Einen Teil siehst du dort.«

Die Soldaten umringten den König und den Anführer seiner Sturmsoldaten. Utuchengal winkte. Ein Soldat zerrte eine junge Frau an dem Lederseil um ihren Hals näher. Etwa einem Dutzend hellhäutiger junger Frauen, mit schwerem Schmuck behängt, waren die Handgelenke im Nacken gefesselt worden. Ein Soldat knurrte:

»Palastsklavinnen. Hockten im Frauenhaus und haben Wein getrunken.«

Hammurabi blickte in schreckensstarre Gesichter. Die Schminke war zerlaufen und zeichnete schwarze und silberne Muster.

»Wir bleiben eine Zeitlang in der Stadt.« Hammurabi legte Utuchengal die Hand auf die Schulter. »Nehmt euch, was ihr braucht. Macht es ihnen nicht zu schwer; sie führen keinen Krieg gegen mich.«

»Ich hab’s nicht vor.« Utuchengal ließ den zerhauenen Schild sinken. »Wir besetzen den Palast und sichern ihn für dich, König.«

Er zeigte auf den nächsten Torbogen. Seine Bewaffneten schleppten sich darauf zu und zogen die Frauen hinter sich her. Hammurabi ging zur ummauerten Umrandung des Teiches, schöpfte Wasser und kühlte sein Gesicht. Über der Umfassungsmauer lagen Erschlagene, ein Körper trieb im Wasser, in dem sich rötliche Schlieren auseinanderzogen. Hammurabi säuberte das Schwert und schob es in die Scheide zurück.

Als er sich zwang, seine Fäuste zu öffnen, spürte er schweißfeuchtes Tuch unter den Fingerkuppen.

 

Er schlug die Augen auf. Sein erster schlaftrunkener Blick fiel auf die Zedernbalken der Decke.

Er wartete regungslos, holte tief Luft und schluckte. Es roch wie an jedem Morgen: heißes Lampenöl, Wein, der in goldenen Bechern verdunstete, kalter Schweiß, die Miasmen nächtlicher Leidenschaft und Asche in der Feuerstelle. Hammurabi richtete sich auf, stützte sich auf die Ellbogen und spürte die Last seiner Jahre. Mühsam bahnten sich seine Gedanken in den Tag. Narudadja schlief und atmete leise. Ohne Muster und Bilder wirklich zu erkennen, starrte er die Wandteppiche an. Kein Sonnenstrahl drang in den Raum. Er lauschte in die Korridore und Säle des Palastes, dieser gewaltigen Masse aus Mauern, Säulen, Dächern und Steinen – das Lärmen der Diener, Sklavinnen und Heerführer, Bartscherer, Ratgeber, Schreiber und Handwerker hatte noch nicht begonnen. Langsam schwang er die Beine über den Rand des Lagers, bemüht, die Beischläferin nicht zu wecken. Er warf sich einen Mantel um und tappte über Teppiche, dickes Strohgeflecht und Felle, zum Abtritt. Er gähnte, als er sein Wasser abschlug und sich erleichterte. Als er sich gegen die glatten Mosaikkacheln abstützte, war es, als greife er in groben Sand.

Er stieg, zwei Dutzend Schritte weiter, ins warme Wasser des Beckens, schob die Wasserlilien auseinander, genoss die Stille und schloss einige Atemzüge lang die Augen. In beschlagenen Silberspiegeln tanzten Flammen; Harzrauch und Duftwässer tränkten die Luft. Der Geruch der warmen Tücher erinnerte Hammurabi an sommerliche Blüten. Er seufzte, als er aus dem Bad stieg und vier Krüge kalten Wassers über Kopf und Nacken schüttete und nicht merkte, dass die Färbung seines Bartes gelitten hatte. Er trocknete sich ab; ihm graute vor dem Tag.

 

Malereien und Mosaiken – Ranken, Götterbildnisse, Fabelwesen in leuchtenden Farben, mit silbernen und goldenen Augen und solchen aus Edelsteinen – sprangen ihn von den Wänden an. Ölflammen zitterten auf Silber und Gold. Weißglasierte Tonschalen, von Bronzearmen gehalten, ragten ins staubige Halbdunkel. Als tröffen sie vor Nässe, hingen Vorhänge auf den spiegelnden Boden. Die wuchtigen Palastwände schluckten das Geräusch seiner Schritte, die Decken der Korridore verloren sich in dämmeriger Höhe. Es gab Tage, an denen sich Hammurabi nicht als Herr, sondern als Gefangener in den Mauern dieses Palastes fühlte; es war einer dieser Tage, die als Drohung über ihm hingen.

Er schob einen weiteren Vorhang zur Seite und ging zum Bett. Eine Sklavin hatte Holzscheite auf die Glut getürmt, ohne Narudadja zu wecken. Sie reckte unter dem Leinen die Hüften und hatte die Arme gestreckt. Ihr Haar breitete sich blauschwarz über das Laken aus. Hammurabi betrachtete schweigend die hellbraune Haut, die dunklen Spitzen der Brüste, die langen Wimpern. Er legte seine Hand an den Hals Narudadjas, als wolle er sie würgen, dann ließ er sie in die Furche zwischen den Brüsten gleiten. Die Frau öffnete die Augen, leckte über die Lippen und stieß ein langgezogenes Summen aus. Sie legte die Hände unter die Brüste und flüsterte:

»Bin ich der Grund, Herr, für deine starre Miene?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du nicht. Die Träume waren schwarz, voll Tod und Gewalt. Der Tag wird nicht besser sein.«

Hammurabi starrte über ihre Schulter. Die farbigen Bilder der Wände zeigten Motive seiner Macht und seiner Triumphe über allzu ehrgeizige Fürsten. Narudadja legte die Hände auf Hammurabis Schultern und wartete, bis er in ihre Augen blickte.

»Deine Gedanken werden klar, Herr der Gerechtigkeit; du bist zäh wie der Löwe und verschlossen wie das Grab. Du bist kräftiger als ein Jüngerer. Deine Gegner überragst du wie eine Zikkurat – nicht nur ich weiß das, Herr. Deine Leidenschaft hat mich in der Nacht erschöpft. Jetzt zeige ich dir, wie du den Tag fröhlich anfangen kannst.«

Ihre Finger strichen den feuchten Bart unter der Lippe glatt und glitten durch das schwarze Gekräusel unter dem Kinn, seit dem Bad von hellem Grau durchsträhnt. Hammurabi atmete schwer, als ihre Hände über die Innenseiten seiner Schenkel glitten. Er sank auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Narudadja kauerte auf seinen Knien und beugte sich ihm entgegen. Die Haarflut fiel vor ihr Gesicht.

»König der vier Weltgegenden.« Sie berührte ihn unter den Achseln, an den Rippen und am Nacken. »Du wirst lächeln, wenn dich die Diener ankleiden, und jeder Ärger flieht dich, bis tief in die Nacht.«

Hammurabi zwinkerte. Seine Stimme war heiser. »Du bist schön und voll Leidenschaft. Und du redest bisweilen kluge Worte, Schwester Inannas.«

Sie antwortete nicht, lächelte nur. Hammurabi schloss die Augen und überließ sich ihren erfahrenen Fingern.

 

Der helle Raum, in dem würzige Dämpfe brodelten und Stimmen murmelten, bedeutete für Hammurabi den ersten Schritt in das Gewebe des Tages; ein Dutzend Sklavinnen und Diener hantierten an seinem Körper und besorgten Handreichungen in seiner Nähe. Haupthaar und Bart wurden gekämmt, angefeuchtet, geschnitten, mit schwärzenden Salbölen gebürstet und zu Locken gedreht, Finger und Arme mit warmen, feuchten Tüchern gereinigt. Behutsam schoben Diener jene Ringe auf die Finger, die Hammurabi aus Dutzenden prunkvoller Kleinode in den Fächern eines Kästchens aus Zedernholz und Gold wählte. Ein Hemd aus Leinen fiel federleicht über die Schultern, Mädchen schnürten die Stiefel an Hammurabis Füßen. Bevor der Halsschmuck geknotet wurde, schob der König seinen Arm durch die Öffnung des Wollmantels, fühlte Duftöl im Nacken, an den Unterarmen und Knien. Man brachte honigsüßen heißen Kräutersud, Brot, Braten, Milch und Fisch. Während er aß und trank, legte der älteste Diener den Gürtel um Hammurabis Hüften und die Armbänder um die Handgelenke. Hammurabis Blick glitt gleichmütig über das Durcheinander und ruhte lange auf den Bildwerken Apilsins und Sinmuballits, des Großvaters und des Vaters, in einer Nische, zwischen Säulen, Blumen und Opfergaben. Gott Marduk überragte sie und schien Hammurabis Blick zu erwidern. Hammurabi winkte die Diener zur Seite und näherte sich dem Vorhang, der von unsichtbaren Händen geöffnet wurde. Diener verbeugten sich tief. Die Stille des Morgens endete für ihn jenseits des goldbestickten Vorhanges.

 

Am anderen Ende des Korridors, in der Tageshelle, stand Awelninurta. Hinter ihm verneigten sich die Schreiber. Der Oberste Suqqalmach legte die Linke auf die Brust und senkte den Kopf.

»Babyla und das Land am Buranun und Idiglat warten, Herrscher der Himmelsrichtungen. Dein Schlaf war tief und gut?«

Hammurabi hob die Schultern. Awelninurta verstand den Blick und ging schweigend an Hammurabis rechter Seite bis zur Mitte eines Tisches aus Zedernbrettern. Im Morgenlicht, von weißen Vorhängen gefiltert, tanzten die Stäubchen. Die Schreiber setzten sich an ihre Tischchen.

»Das siebenundzwanzigste Jahr deiner Herrschaft, Jahr der rotgoldenen Feldzeichen. Auch im achtundzwanzigsten wird sich, meine ich, nicht allzu viel ändern am Lauf der Tage.«

Die Tontäfelchen klapperten. Die gemalten Tiere und Pflanzen des Bodens glänzten, als schwämmen sie in Öl.

»Deine Worte sind ein wahrer Trost, Awel.« Hammurabi lächelte mühsam. »Zähl also die Katastrophen auf und sag, welche misslichen Zustände ich aus der Welt schaffen kann.«

Awelninurta lachte leise. Sie setzten sich in hochlehnige Stühle mit weichen Polstern. In Flechtkörben standen Hunderte trockener Lehmtäfelchen. Awelninurta deutete auf den ersten Schreiber. Er begann vorzulesen. Nach kurzer Beratung sprach entweder Hammurabi oder Awelninurta. Die Schreiber stichelten: Briefe an die Rabinum kleiner und größerer Siedlungen. Boten und Späher wurden aufgerufen, verneigten sich vor Hammurabi, berichteten und eilten hinaus. Im Klappern trockener und Klatschen feuchter Tontafeln arbeiteten Hammurabi und Awelninurta weiter an dem schwierigen Geflecht der Babyla-Macht; Anordnungen an Priester; Hinweise auf die Gesetze der Kudurru-Steine; Anweisungen für Kanalbaumeister, unmissverständliche Befehle an Vasallen und Tributpflichtige, Bitten an jene Fürsten, »die hinter mir, Hammurabi, einhergehen«; Einträge in die Archive des Handels, der Landschenkungen, der königlichen Rinderherden.

Wie lauteten die Botschaften der Soldaten, die entlang der westlichen Grenzen die gewalttätigen Nomaden zurücktreiben sollten? Welche Gesandtschaft, aus welcher Stadt, war zu erwarten? Neue Königspächter? Auf welchem Stück Kronland? Und immer wieder drängende Bitten: es wurden Vorgesetzte und Wasserbaumeister gebraucht, dringender als Steine von Akkad, als Grassamen und Erdpech. Streit mit dem Hohen Priester Iturashdum um das Eigentum der Tempel?

»Schicke Jarimlin, den Anführer der Palastwachen, zu ihm. Er soll ihm die Schwelle zeigen, an der meine Nachsicht endet.«

Awelninurta schnippte mit den Fingern. Ein Bote rannte davon. Nach fünfeinhalb Stunden waren die Körbe auf der linken Seite des Tisches leer. Hammurabi stützte das Kinn in die Handfläche und gab dem Sklaven neben der Säule durch einen Blick seinen Wunsch zu verstehen. Schweigend glitt der Schwarzgekleidete um die Säule herum und brachte zwei Pokale. Awelninurta schwieg und sah zu, wie die Schreiber feuchte Tücher über die Tafeln breiteten.

»Lasst uns allein«, sagte er und hob die Hand. »Bereitet euch vor; morgen geht’s weiter. Wie alle Tage.«

Die Schreiber verließen erschöpft den Raum, schnell und lautlos. Awelninurta wartete, bis der Herrscher den Pokal hob und trank, vier Atemzüge lang. Er deutete auf die vielen Tontäfelchen auf der rechten Tischseite.

»Und immer wieder erstaunst du mich, Bruder des göttlichen Marduk. Was weißt du nicht? Entgeht dir etwas, das im Land zwischen Assur und Larsa geschieht?«

Hammurabi seufzte und legte die Hände auf die Tischplatte.

»Ich weiß nicht, was an der nordwestlichen Grenze geschieht. Ich kenne nicht die Spinnwebfäden zwischen den Priestern Babylas, denen aus Malgium am Idiglat und im Tempel zu Mari. Weiß ich, was König Zimrilim denkt?«

»Nichts, was dir Freude bereiten würde, wenn du’s wüsstest«, sagte Awelninurta. »Es sind keine Spione gefasst worden. Die Priester schweigen lächelnd und bedeutungsvoll, wie immer.«

Hammurabi massierte mit Daumen und Zeigefinger die Kerbe und die fleischige Kuppe seiner Nase, musterte Awelninurta über den Rand des Pokals und grinste. Sein Blick blieb gelassen.

»Samsuiluna mit dem stolzen Namen ›unser Gott, die Sonne‹ – mit viel Glück und zu Recht – soll als achter Fürst meines Geschlechtes ein wohlgeordnetes Reich mit sicheren Grenzen beherrschen. Dafür lohnt sich alles Wissen und jede Verschlagenheit.«

Awelninurta nahm einen langen Schluck und senkte den Blick auf die Maserung des Zedernholzes.

»Schamasch und Marduk mögen noch ein halbes Jahrhundert ihre schützenden Hände über dich halten, siebenter Fürst. Wäre es jetzt nicht Zeit, sich zu vergewissern, dass die Sonne an einem wolkenlosen Addaru-Himmel steht, trotz Alpträumen, Müdigkeit, Narudadja und schwierigem Kanalbau?«

Hammurabi stellte den leeren Pokal hart ab, lachte und stand auf. »Bei Marduk! Du hast recht. Wo sind die Tage und die Nächte? Erinnerst du dich? Damals? Im Schilf, auf Entenjagd? Zwischen den Palmen, am Kanal, als keine Sklavin vor uns sicher war?«

Diener rissen die Vorhänge zur Seite. Die Sonne blendete den Herrscher und den Suqqalmach. Sie hielten die Hände vor die Augen.

Als habe er seine Antwort wohl überlegt und die Bedeutung mehrfach geprüft, sagte Awelninurta: »Das war, mein königlicher Freund, als Vater Sinmuballit, der alte ›König der Gerechtigkeit‹, an deiner Stelle dort am Tisch saß.«

Der Palasthof, leer und im Windschatten, verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Zwei Diener liefen hinter ihnen her und legten schwere rote Mäntel auf ihre Schultern. Am Ende der Rampe, vor der Dachbrüstung, drehte sich Hammurabi um.

»Diese Frau, Narudadja … was weißt du?«

»Eine Naditum-Priesterin aus Sippar, durch brüderliche Willkür verarmt und vertrieben. Wenn die Gnade deiner nächtlichen Leidenschaft versiegt, wäre sie mit einem königlichen Lehen nahe eines Kanals zufrieden. Wird sie ihrem Ruf gerecht?«

Sie gingen neben raschelnden Palmwedeln durch die Schatten gemauerter Dachverzierungen, die Bäume waren erst vor ein paar Jahren gepflanzt worden. Aus den Gärten hinter den Ställen gellten Pfauenschreie. Hammurabi sah sich um.

»Niemand hört zu, königlicher Ratgeber«, sagte er. »Sie erfreut nicht nur mein Herz. Lass sie wissen, dass sie ein herrliches Stück Land erhalten wird, flussab, am Kanal, der ›Reichtum des Volkes‹ heißen soll – wenn die Gnade meiner Leidenschaft zu tropfen aufhört. Stößt mir etwas zu, von Samsuiluna oder anderen, die meine Gesetze brechen werden, ist sie dort in Sicherheit.«

Awelninurtas Augen glitten über Hammurabis Gesicht. Er schob die Hände in die weiten Mantelarme. Plötzlich schien er zu frösteln. Er deutete vage in die Richtung des Unteren Meeres. »Was mich zu der Überlegung bringt, die wie ein Dämon durch meine Träume kriecht. Nicht nur für diese Wasserbauwerke brauchst du einige tausend Arbeiter. Sie sind, weil mit Silber zu bezahlen, leichter zu finden als gute Baumeister. Alle Edubba-Lehrer tun mehr als ihre Pflicht und lehren die Jungen die Kunst des Wasserbauens. Bedenke: wenn im Süden Ruhe an den Grenzen herrschen soll, müssen viele Männer mit scharfer Waffe ihren Besitz, deine königliche Landschenkung, verteidigen. Ich soll – später – dafür sorgen, dass Narudadja entsprechend belohnt wird?«

»Ja. Im Simanui, nach dem Hochwasser, nach etlichen Alpträumen, wissen wir mehr. Man wird neue Wasserbaumeister in der Edubba finden.«

Sie gingen weiter und blickten in einen größeren Hof hinein. Karren waren aufgebockt; Bronze funkelte von breiten Scheibenrädern. Palastsoldaten übten in Zweikämpfen, Peitschen knallten, fluchende Wagenlenker zerrten an den Zügeln von Onagergespannen, deren stämmige Tiere schäumten und schwitzten. Awelninurta machte eine weitausholende Geste.

»Natürlich wissen es auch die Spione Zimrilims und aus Larsa: Tausend kampferprobte Soldaten leben in den Mauern des Palastes und der Stadt. Die Waffen sind scharf; die Pfeile treffen.« Er deutete auf stoffumwickelte Strohpuppen, die dort von Pfeilen starrten, wo Wunden tödlich waren. »Unsere Speicher sind voll, die Herden zahlreich, die Tiere fett. Und da die Straßen zwischen Ost und West ebenso sicher sind wie die Flüsse, ist Hammurabis Stadt reich vom Tribut, Zoll und dem Geschick der Kaufmannschaft. Ein Grund mehr, ruhig zu schlafen – abgesehen von Narudadjas überströmender Leidenschaftlichkeit.«

Hammurabi hob eine dürre Palmrispe auf. Er deutete auf den Mittelpunkt eines alten Spinnennetzes. Ausgetrocknete Fliegen zitterten im kalten Wind. Awelninurta erschrak, als er Hammurabis Blicke deutete.

»Das ist es, was ich fürchte.« Es war, als sähe der König gleichzeitig nach innen und in unbestimmbare Ferne. »Die kleinen Herrscher und die Priester! Mit der kleineren Hälfte dienen sie den Göttern, die größere gehört ihnen und ihrem Ehrgeiz. So sehe ich es: wie dieses verfluchte Netz, Awel.«

»Du hast Angst, Freund?«

Hammurabi senkte den Kopf. Er nahm seinen Blick nicht von dem Mittelpunkt des Netzes, das an den langen Fäden wippte.

»Nicht um mich. Ich, Hammurabi, halte das Reich in meinen Händen. Mein Vater konnte es besser, mein Sohn wird’s vielleicht lernen. Sie spinnen ihre Fäden, jene Kreaturen mit haarlosen Köpfen. Und sie sprechen mit den Ehrgeizlingen von Schallibi, Rapiqum und Eschnunna, denen ich mühsam beigebracht habe, dass es dem dümmsten Eselstreiber besser geht, wenn das Land groß und mächtig ist. Und reich. Warum kamen wir denn sonst mit Schwert und Feuer über Eschnunna und Mari?« Awelninurtas Lächeln war kälter als der Wind auf dem Palastdach.

»Ich weiß es. Ich war neben dir, Freund und König, als die Mauern niederbrachen.«

Mit einer einzigen Handbewegung zerfetzte Hammurabi das Spinnennetz.

»Bei Marduk, meinem Freund!« Er flüsterte; heiser und gerade laut genug, um den Wind zu übertönen. »Ich hasse Krieg, Blut, Tod und Brand. Ich bin zu alt für das Schwert. Sag: was soll ich tun, um das Land zwischen den Flüssen friedlich und fruchtbar zu halten? Ist es nicht genug, wenn die Nomaden meine Bauern schlachten? Muss ich, damit du und ich und alle, denen wir Sumers Wohlergehen danken, gut schlafen können – muss ich jetzt die Priester schlachten?«

Awelninurta legte die Hand auf Hammurabis Unterarm.

»In Assur, Elam und Larsa habe ich meine Augen und Ohren. Es sind zierliche Ohren und große, schwarze Augen darunter.« Hammurabi starrte ihn schweigend an, blinzelte und drehte das Gesicht aus dem Wind. »In Dilmun, beispielsweise, hört man mehr Gerüchte als in Babyla. Lass mich nachdenken, Hammurabi. Wenn in Babyla die eine oder andere priesterliche Spinne lauert – ich erfahre es. Nur brauche ich ein wenig länger. Ich weiß, was zu tun ist. Du erfährst, wann der König zu handeln hat. Da ich von Priestern verschieden mächtiger Gottheiten erzogen wurde, kenne ich ihre Gedanken. Hab Geduld.«

Hammurabi sah zur Marduk-Zikkurat hinüber. Sonnenlicht verströmte auf dem Blau der Kacheln.

»Du weißt, was zu tun ist, Awel?«

»Ja. Erwarte gewisse Erfolge, aber keine schnellen Antworten auf uralte Fragen.«

»Eine Verschwörung?«

Awelninurtas Hand stieß zum Netz in der Mauerkante. »Noch nicht. Ein möglicher Anfang davon. Du thronst ganz oben. Meine Ohren heben sich, sozusagen, gerade erst aus dem Kanalschlamm.«

Hammurabis Blicke hefteten sich wieder auf die Palasthöfe, Mauern und Soldaten. Er zog die Hände aus den Ärmeln. Sein Zeigefinger berührte Awelninurtas Schlüsselbein.

»Gut. Richtig. Nichts überstürzen. Wir wissen, worum es geht.«

»Zumindest wir wissen’s.« Awelninurta lachte laut und, wie es schien, voll Freude. »Und außer uns viele andere.« Er kicherte und schob die Hände ineinander. »Der eine oder andere fällt mir gerade ein. Morgen sind’s schon viel mehr. Glaub’s mir, König.«

»Dir glaube ich, fast, alles.«

Vom Tempel des Marduk wehten Trommelschläge und dumpfe Gesänge über die kantigen Gebirge der Mauern. Schatten zogen über Gesichter und Körper der Götterstandbilder und zeichneten massige Konturen grellweißer Pfeiler und Säulen. Inanna lächelte, Enlil blickte stumpf, Schamasch blinzelte, und Marduks Körper schien zu zittern. Von den Kacheln der Zikkurat blitzte ein breites Lichtband über die Stadt. Ein Schwarm Tauben mit lauten Flügelschlägen durchquerte die Strahlenbündel. Die Sonne schien zu flackern; die Männer in den Palasthöfen hoben die Köpfe, erstarrten und sahen hinauf zu Hammurabi und Awelninurta, gerade als ein Adlerpaar die Tauben auseinanderjagte.

Der Suqqalmach hatte Mühe, die Stimme des Herrschers zu erkennen. Hammurabi drehte sich herum und presste die Hände über die Augen.

»Welch ein Vorzeichen! Und du sprichst ›gute Worte‹ von der Ruhe meines Herzens!«

Aus Nordost fegte ein Shamal-Windstoß winselnd über leere Felder und wischte den Glanz von den Kanälen. Staubwolken brodelten auf; schneidende Kälte griff nach den Gestalten auf dem Dach.

 

 

2. TOD AM KANAL

 

Ein Löwe brüllte im Westen; die Drohung zitterte in der kühlen Luft. Im Laub des Weinstocks raschelten Eidechsen. Die Kälte hatte den Hof noch nicht erreicht, die dicken Lehmziegelmauern strahlten die Hitze des Nisannu-Tages in das Viereck hinein. Sharmadu entzündete zu Ehren des Gastes ein Dutzend Öllämpchen und stellte sie in die Nischen zwischen knorrige Äste. Ihr Schatten verschwand im Muster des Weinlaubes auf dem körnigen Kalkanstrich. Seit Daduschu denken konnte, wuchs und grünte der Wein; der Vater pflegte Weinstock und Trauben mit mehr Hingabe als andere Pflanzen.

Endlich brannte der Docht des letzten Tonlämpchens. Vor der flackernden Flamme wirbelten Staubkörner. Daduschu gähnte, hob den Kopf und reckte sich. Wohliger Schmerz zog durch alle Muskeln. Er war die Feldarbeit noch nicht wieder gewöhnt. Sharmadu lächelte ihm zu, ein Versprechen für eine Stunde am frühen Morgen, und huschte ins Haus. In die Stille des Gevierts drangen Geräusche, die Daduschu lange vermisst hatte: Ratten zischelten im Kanalschilf, Frösche lärmten schnarrend, und Mücken sirrten durch die warme Luft vor den kleinen Fenstern. Wind raschelte mit Palmwedeln. Daduschu stand auf, als er die Stimmen Shindurruls und des Vaters hörte.

»Der junge Herr hat die Palastschule schwänzen dürfen?« Shindurrul packte Daduschus Handgelenk. »Ungewohnt, wie, wenn man die Hacke schwingt statt mit dem Stichel zu zittern?«

Daduschu erwiderte den Gruß und verbeugte sich. Der Kaufmann im feinen Leinengewand verströmte eine Wolke süßlichen Wohlgeruchs. Daduschu verbiss sich ein Lachen.

»Die Lehrer haben erlaubt, dass ich helfe. Nachts muss ich trotzdem lernen, Damgar Shindurrul. Alle Muskeln tun weh. Und der Rücken wird nicht mehr gerade.«

Hinter den Mauern steigerte sich das Zirpen der Grillen zu ohrenbetäubendem Lärm. Wieder donnerte das Löwengebrüll im Tum Martu-Südwest, dem Wind der Göttin. Der Kaufmann tätschelte Daduschus Wange und setzte sich auf die gemauerte Bank.

»Daduschu ist fleißig. Sonst vergisst er in der Stadt, wie viel Mühe das Geldverdienen macht. Er braucht seine ganze Kraft. Nicht wahr, Usch?« Vater Utuchengal stupfte den langen Zeigefinger gegen Daduschus Oberarm. »Unsere Felder sind groß; sechs Bur hat das Lehen, mehr als hundertfünfzig Morgen.«

Vaters kurze Finger, hart wie Kupfer, waren rau, die schwärzlichen Nägel abgesplittert. Vom Morgengrauen an hatten er, zwei Sklaven und Daduschu die Kanäle zwischen den Gerstenfeldern gesäubert, den schmutzig-gelben Schlamm auf die Böschungen geschichtet und aus dem zwei Ellen breiten Wasserlauf die Felder bewässert.

»Schließlich soll aus ihm ein reicher und mächtiger Mann werden, ein Suqqalmach aus dem Ekallum. Stimmt’s, Usch?«

Daduschu nickte und lächelte müde. Der Kaufmann stemmte die Arme in die Seiten und sah sich um. An fast allen Fingern blitzten Ringe; rot glühende und blau leuchtende Steine tranken das Licht der Ölfunzeln und funkelten es zurück.

»Recht so, Bruder Utuch.« Shindurruls Blick entging nichts. Das Kreuzmuster der dunkelrot gebrannten Agurru-Bodenziegel und das Weinlaub, von der Nacht schwarz gefärbt, verschluckten das Licht. Utuchengal sah seinen Sohn nicht ohne Stolz an, dann deutete er auf Siachu, die ein Tablett aus Binsengeflecht mit Krug und Becher brachte. Der erste kühle Windhauch sank lautlos über die Mauerkanten. Der Kaufmann grinste.

»Kraft im Hirn und im Arm. Beides braucht dein Sohn, reichlich, sage ich, bis er rechts vom Mächtigen sitzt und Klugheit verströmt wie ein Felsenquell.«

Utuchengal nickte und schwieg. Siachu lächelte den breitschultrigen Händler an und senkte den Kopf. »Willkommen, Herr. Mutter schickt Bier.«

»Recht so. Danke.«

Daduschu teilte die Becher aus und füllte sie, bis bräunlicher Schaum über die Ränder tropfte.

»Du wirst sehen, Herr, wie die Palmen stehen, die Pistazien und die Granatäpfel.«

»Morgen früh.« Shindurrul nahm einen langen Schluck. Der kahle Fleck auf seinem Hinterkopf war in diesem Frühling schon größer als eine Faust. »Ich will gute Ware, dein Vater einen guten Preis; gutes Geld wollen wir verdienen, er und ich.« Grinsend zeigte er seine weißen Zähne. »Du sollst nicht ewig der arme Junge in der Edubba bleiben; jeder Sekel, jede Mine zählen, junger Mann!«

Shindurrul, seit sieben Jahren Aufkäufer des besten Teils der Ernte, besuchte sie ein Dutzend Mal im Jahr und war ein lauter, doch gerngesehener Gast, dessen Erzählungen dafür sorgten, dass die Lampen nicht erloschen. Ein Drittel des Landes gehörte Vater, zwei Drittel blieben Königspacht. Niemals betrog Shindurrul, nie stellte er unsinnige Forderungen. Daduschu, todmüde, setzte sich wieder. Seine Gedanken tropften wie Honig. Die harte Zucht der Schule, die sengende Sonne, die Arbeit auf den Feldern, an den Hebebrunnen und im brackigen Kanalwasser waren fast zu viel gewesen. Ihm schmeckte nicht einmal das herbe Bier.

Trank er weiter, würde er wahrscheinlich noch am Tisch einschlafen. Trotzdem war er unruhig. Er wusste nicht, aus welchem Grund. Etwas störte ihn; wie ein Splitter unter der Fingerkuppe.

Der stille Raum zwischen weißen Mauern war viel zu schlicht für den schwarzbärtigen Kaufmann, der über Königspacht, Geld, die unsäglichen Preise der Händler im Basar sprach, über abgabefreie Lehen und den Hunger von Hammurabis Priesterschaft nach mehr Macht und Wohlleben. Daduschu fühlte, dass er in den Schlaf zu gleiten drohte. Leicht wie ein Vogel lehnte sich Siachu an ihn.

»Schlaf dich aus, Usch.« Sie flüsterte fast. »Geh ins Haus. Vater und Shindurrul reden wieder die ganze Nacht und trinken, wie jedes Mal.«

Daduschu zwinkerte gähnend. Noch war Siachu – »ein Lächeln« – mehr dünn als schlank; in einer Handvoll Jahren würde sie eine dunkle Schönheit sein, eine der Frauen, denen man in Babylas Gassen nachstarrte. Er rieb und wischte die Müdigkeit aus seinen Augen.

»Ich bin eure Arbeit wirklich nicht mehr gewöhnt.«

Shindurrul und Utuchengal lachten laut und drehten sich um, als Mutter Shushuma den Vorhang aus Holzperlen und Knochenzylinderchen zur Seite schob.

»Trinkt nicht zu schnell«, sagte sie. »Der Tisch ist gedeckt. Die Nacht wird kalt werden; ihr holt euch den Bluthusten.«

»Der Herr des Weinstockhauses hat gerufen.« Shindurrul deutete schmunzelnd eine Verbeugung an. »Gehorchen wir. Sonst wird dein gutes Essen kalt, Shushuna.« Shindurrul schwenkte den Becher und schob, die fleischige Hand auf der Schulter Utuchengals, den Gastgeber durch den Rundbogen. Daduschu massierte seine Augen mit den Handballen. Zwischen den Schulterblättern nistete dumpfer Schmerz. Wieder fuhr das wütende Grollen des Löwen über den Rand der Wüste; dreimal – ein Omen! Daduschu unterdrückte sein Erschrecken. Ein feuchtkalter Windstoß winselte über die doppelt mannshohe Mauer.

Siachu nahm seine Hand, hob den schmalen Kopf und flüsterte: »Was ist das? Dieses Knistern?«

»Ich hör nur den Wind und das Schilf.« Daduschu blickte in die Sterne. Palmenstämme und Granatapfelbäume zertrennten den vollen Mond in Streifen aus Licht und Dunkelheit.

»Da waren Schritte.« Siachu fröstelte; Daduschu legte den Arm um ihre Schultern und schob sie in die Wärme des schilfgedeckten Hauses. Er holte eine Lampe aus der Nische, schirmte die Flamme mit der flachen Hand und verließ den Hof. Jede Stunde entdeckte er Einzelheiten aus der Kindheit in der flachen Welt des Elternhauses wieder. Er stand auf der Böschung, die zu Feldern, Kanälen und Hebebrunnen hinunterführte. Alle Gebäude am Schnittpunkt breiter Kanäle waren in sicherer Höhe vor Überschwemmungen gebaut. Er überblickte fast zwei Große San. Kleine Brücken, meist nur eine Elle breit, überspannten die Wasserläufe. Mondlicht lag molkig auf unbewegtem Wasser.

Viereckige und rechteckige Felder, in denen Gerste, Hirse und Weizen keimten, tiefe Schatten unter Palmwedeln, Schilfränder wie Zäune, die nichts anderes schützten als unzählige Libellen, Fische und Frösche: aneinandergeduckte Häuser, der strenge Geruch des Lauchs und der Riesenmond schufen miteinander das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das Daduschu wiederfand. Er lächelte. Seine Hände waren rot, die Haut spröde vom scharfen Kalkbrei, und es half nicht viel, dass Sharmadu sie mit warmem Sesamöl massierte.

»Es ist der Wind.« Er ging zurück zum Wohnhaus. Um die Mauern wirbelte Staub. Die zitternden Ölflämmchen färbten sich rötlich. Als Daduschu den Kopf unter dem dicken Vorhang aus Wolle und Leder wieder hob, saßen der Kaufmann und die Familie am Tisch. Utuchengal pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Ihm gegenüber, am Kopfende, saß Shindurrul.

»Alles ruhig, Usch?« Daduschu nickte.

»Schöpf deine Schüssel voll, Junge, sonst fällst du vor Schwäche in den Kanal.«

»Ja, Vater.« Daduschu tunkte Schweinebraten in Bohnenbrei. Die Kruste glänzte dunkel und roch nach Honig. Salzkörner knirschten zwischen seinen Zähnen. Fast gleichzeitig erstarrten sie alle. Wildes Geschrei und wüster Radau näherten sich dem Haus.

Sharmadu ließ eine Schüssel fallen, ein berstendes Klirren in einer plötzlichen Flut erschreckender Geräusche. Die Grillen hörten sie nicht mehr, aber Esel und Maultiere brüllten. Aus dem Stall kamen polternde Schläge. Heisere Schreie und kehlige Rufe vermischten sich überall mit dem hellen Krachen von Holz. Shindurrul und Utuchengal sprangen auf, ihre Blicke gingen umher und richteten sich auf die Eingänge. Jetzt kam Daduschu auf die Füße, würgte den Fleischbrocken herunter und war mit drei Sprüngen am Durchgang zum Korridor. Seine Gedanken überschlugen sich. Drei Löwenschreie, und jetzt gellten die Gefahren um die Häuser. Schafe blökten jämmerlich, die Ziegen meckerten wie rasend. Der Hund grollte und knurrte in heiserer Angriffslust. Sein Gebell endete in schmerzlichem Winseln. Die Muttersau kreischte langgezogen, bis auch ihr Geschrei abriss. Daduschu löste sich aus der Lähmung des Erschreckens und tastete über der Tür des Zimmerchens nach seiner Waffe.

Durch den Korridor heulte ein Pfeil, aus nächster Nähe abgeschossen. Schatten wischten über die Mauern. Zitternd stand Daduschu im Winkel. Schweißnass schlossen sich die Finger um den Schaft des zweischneidigen Bronzebeils; Shindurruls Geschenk. Eindrücke, die ihn ängstigten, lösten einander in verwirrender Eile ab, überschlugen sich. Mutter schrie auf, der Vater fluchte. Von rechts kam das Krachen schwerer Schläge. Aus dem Chaos kreischte die Sklavin, die sich gegen etwas wehrte, das Daduschu nicht begreifen konnte. Daduschu wagte sich ins Licht hinaus. Er zitterte vor Schrecken, Verwunderung und Zorn und hob das Beil über seinen Kopf. Ein heller Schemen sprang an ihm vorbei, sein Blick erhaschte ein braunes Gesicht, einen wehenden Umhang und zwei blitzende Dolche.

Das Beil sauste herunter, beschrieb einen Viertelkreis und traf den Mann, der versuchte, Siachu einzuholen. Sie rannte in Panik ins Dunkel. Die Schneide zerfetzte das Ohr des Nomaden. Daduschu hörte sich einen seltsamen Laut ausstoßen, als die Klinge Schulter und Oberarm bis zum Gelenk spaltete. Der Körper wurde gegen die Wand geschmettert, aus zerfetzten Adern pumpten dünne Blutstrahlen und zeichneten wirre Muster auf den Kalk. Der Nomade stieß ein trillerndes Kreischen aus und brach zusammen.

Daduschu handelte, ohne zu denken. Jeder Augenblick dieser Nacht grub sich unauslöschlich in seine Erinnerungen wie in eine Tontafel, die im Feuer härtete. Er riss am Beil, wirbelte herum und führte den nächsten Schlag gegen einen zweiten Schatten, der ihn mit funkelndem Dolch ansprang. Die Schneide zerschnitt die Nase, schlitzte die Wangen auf und blendete den Angreifer. Als der Oberkörper nach hinten geschleudert wurde, gellte ein Schrei, der im Blut erstickte. Mit dem Schädel schlug der Braunhäutige gegen die Steinbank. Mutters Hilferufe endeten in blasigem Gurgeln.

Siachu war verschwunden. Links krachten Hiebe auf Metall. Das Schwein schrie wieder wie ein geschundenes Kind. Daduschu sprang vorwärts und wandte sich nach links; er dachte an Flucht in die Felder. Die Doppelaxt schlenkerte an seinem rechten Arm, der ihm nicht zu gehören schien, die Schneide zischte neben dem Knöchel durchs Gras. Er rannte zum Hauptraum: Shindurrul war nicht mehr hier. Ein Nomade zerrte einen Dolch aus einem Körper und sprang, als er Daduschu mit der blutigen Axt sah, in den Innenhof hinaus. Mutter lag rücklings halb über dem Tisch, zwischen zerbrochenen Schalen und Essensresten. Bier lief über die Platte und schäumte auf den Boden.

Daduschu rannte hinter dem Flüchtenden her. Die Klinge schmetterte gegen die Wand. Im Halbdunkel außerhalb der Mauern ertönten unverständliche Rufe; Schritte raschelten überall. Ein Angreifer im wehenden Mantel kletterte über die Äste und Ranken des Weinstocks. Das Holz splitterte, die Pflöcke brachen aus der Wand, und der Weinstock sackte zusammen. Daduschu setzte dem Nomaden nach, aber als er das Beil hochriss, sprang der Fremde über die Mauerkrone zurück in die Dunkelheit. Daduschu rannte aus dem Eingang und duckte sich. Lärm und rote Flammen kamen von rechts. Binsenstapel brannten qualmend, an einigen Stellen züngelten Flammen aus zerbrochenen Öllampen an Wänden und Boden. Daduschu merkte nicht, dass Tränen über seine Wangen liefen. Zwischen Bäumen und Mauerkanten hasteten Gestalten hin und her. Hinter dem Wohnhaus, in Richtung auf Babyla, erschollen Kampflärm, Keuchen, Flüche und Schreie und das Bersten trockenen Holzes.

Böen sprangen auf und winselten in die Nacht hinaus, die Sandschleier waren dichter geworden, feiner Staub sank zu Boden. Daduschu lief in die Richtung des Lärms, schlug nach Schatten und verteidigte sich gegen vorbeihuschende Schemen. Blinde Wut hatte ihn gepackt; als er am Stall vorbeirannte, stolperte er und rutschte im Blut eines zuckenden Schafes aus. Dünnes Wimmern drang aus dem Stall. Es stank nach Kot und brennender Wolle. Träge brodelte Rauch ins Freie, von Flammen durchglüht. Der Wind trieb den zerfaserten Rauch hinter Daduschu her. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Nomaden Ziegen mit sich zerrten. Männer kletterten und sprangen durch den tiefschwarzen Schatten im wasserleeren Kanal, trampelten über das Bohnenfeld und verschwanden aus dem Bereich des roten Flackerscheins.

Zwei Pfeile heulten über Daduschu hinweg. Er spürte den Luftzug und hörte das pfeifende Schnarren. Hinter ihm: ein würgender Schrei. Überall waren Blutlachen. Als er vor sich eine Gestalt im Leinenmantel sah, schlug er blind und mit äußerster Kraft zu. Die Klinge zerschnitt Fleisch und blieb in Knochen stecken. Die Gestalt schrie und drehte sich ächzend. Die Bewegung riss das geschliffene Metall zwischen den Rippen heraus. Einen Augenblick sprangen Daduschu große Augen in einem gelb überpuderten Gesicht an, ein Schrei erstickte, dann sackte der Bärtige in sich zusammen. Daduschu fror, gleichzeitig schwitzte er aus allen Poren. Er sprang über das gurgelnde und heulende Etwas und blickte zum brennenden Stall. Aus dem Dach wirbelten Rauch und Flammen, in roten Staubschleiern stoben Funken zum Himmel. Aus Daduschus Kehle kam ein langgezogenes, rasselndes Keuchen. Vor ihm rannten Gestalten zwischen windgepeitschten Binsen auf dem Kanaldamm nach Westen.

Ein Schlag traf ihn zwischen die Schulterblätter. Als er nach vorn sackte, den Arm mit der Waffe hoch erhoben, hörte er hohles Dröhnen und spürte gleichzeitig stechenden Schmerz im Nacken und am Hinterkopf. Betäubt ließ er die Waffe los, sie wirbelte davon. Daduschu fiel, schlug gegen einen Palmenstamm und rollte die Böschung hinunter, zwischen das Schilf, dessen Halme knisternd brachen. Er klatschte ins kalte Wasser und versank. Die schwache Strömung zog ihn mit sich.

Kälte weckte ihn aus der Bewusstlosigkeit. Der Schmerz wurde dumpf und nebensächlich. Daduschu schlug um sich, dann beruhigte er sich und ließ sich treiben. Zwischen dem ratternden Schilf und der zuckenden Helligkeit tauchte ein Bogenschütze auf, blickte sich um und spannte mit selbstverständlichem Zug die Sehne. Ein Pfeil zischte durchs Schilf und fuhr ins Wasser. Daduschu hielt die Luft an und versuchte unterzutauchen, ohne die Beine zu bewegen.

Der nächste Pfeil, den er weder sah noch hörte, schnitt durch seine Schulter und bohrte sich in den Schlammgrund. Der Bogenschütze drehte sich herum und folgte den Nomaden, deren Schatten in den Sandschleiern ins Riesenhafte wuchsen und im Dunkel verschwanden.

Daduschu schwamm zum Ufer, stand im Schlick und taumelte durch die Binsen die Böschung hinauf. Dort verlor er die Besinnung und stürzte zu Boden. Alles um ihn herum wurde zu undurchdringlicher Schwärze.

Die Kälte hatte ihn fast gelähmt, trotzdem zitterte Daduschu am ganzen Körper. Seine Zähne schlugen aufeinander, er blinzelte, hustete und spuckte bitteren Schleim aus Sand, lehmigem Speichel und Grasfetzen in die Binsen. Die Schulterwunde blutete nicht mehr. Die Gewissheit, ganz langsam aus einem Traum schwarzer Gewalttätigkeit aufzutauchen, wich der Erkenntnis: die Nacht war voller Raub gewesen und Tod. Daduschu schob die lehmverkrusteten Hände in die Achselhöhlen und drehte sich herum. Hinter dem Morgennebel, blutrot vom Staub, schob sich die erste Dämmerung über die Mauern der fernen Stadt.

Kalter Rauch und verbranntes Hörn stanken. Knackend schwelten und rauchten Reste der Dächer und des Stalles. Daduschu atmete tief ein und aus. Sein Blick klärte sich. Alle sind tot. Das Weinstockhaus zerstört wie alles andere, kein Tier war verschont worden; nichts gibt es mehr. Ich weiß nicht … Er näherte sich den Mauern voller Rußzungen und fingerbreiter Sprünge. Verzweiflung schüttelte ihn. Ein harter Klumpen hatte sich im Magen gebildet, die kalte Angst vor dem, was er sehen würde, schnürte seine Kehle zu, in der es gallebitter brannte. Er machte, schwer atmend, einige unsichere Schritte und blickte ins Sklavenquartier.

Quer über der Schwelle lag Buriasch mit eingeschlagenem Schädel. Blut, Haar und Hirnmasse bildeten Lachen und fahlfarbige Klumpen. Eine Hand vor den Augen, raues Würgen in der Kehle, wagte sich Daduschu in die halbdunkle Höhlung hinein. Er hörte sich sagen: »Alle sind tot. Alles haben sie gestohlen.« Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr.

Blind vor Entsetzen stolperte er die Mauer entlang, wich den zusammengekrümmten Leichen aus, fing zu rennen an. Die ersten Sonnenstrahlen fuhren über die Ebene und ließen die Mauern überscharf hervortreten. Fenster und Türen wurden zu schwarzen Löchern, aus denen Schrecken und Zerstörung starrten. Daduschu flüsterte eine Litanei.

»Mutter, Vater, Siachu, Sharmadu – Shindurrul. Wo seid ihr?«

Er fand Sharmadu im Stall. Stroh, Tierkot, Kleiderfetzen, Stricke und leere Gestelle, in denen Häute ausgespannt waren, zeigten, dass die Räuber gewusst hatten, was es zu stehlen gab. Licht kroch um die Pfosten des Tores. Sharmadu lag auf dem Rücken, die langen Beine gespreizt und abgewinkelt, geronnenes Blut auf der Scham und den Schenkeln. Sie war nackt, in der Haut klafften Schnitte, Spuren von Fingernägeln und Schlägen. Um den Hals war ein Strick aus dem Eselsgeschirr so festgezurrt, dass aus der Haut Blutstropfen gesickert waren. Zwei Ellen neben Sharmadus Kopf, im Mist neben dem Wassertrog, lag ein Körper im wüstengelben Umhang. Im Hinterkopf des Nomaden steckte Vaters Hacke fast eine Handbreit tief.

Sharmadus Arm war ausgestreckt, die Finger schienen im unhörbaren Hilferuf nach Daduschu zu tasten. Er schüttelte sich. Schmerz wollte seine Brust zerreißen. Er verstand, was er sah und fürchtete sich noch mehr vor dem, was er sehen würde.

Aus dem Gewirr niedergebrochener und schwelender Dächer, aus Palmholzbalken und grauen Schilfresten stieg beißender Rauch in dicken Fäden auf. Die Sonne kroch feuerrot über den Horizont, aber sie wärmte noch nicht. Dunst hing über den Feldern und zwischen Büschen und Bäumen. Er verbarg die Schneise der zertrampelten Böschungen und Saaten, das niedergelegte Schilf und die Eindrücke vieler Hufe. Daduschu schleppte sich in den Wohnraum.

Seine Mutter war vom Tisch auf die gemauerte Bank gerutscht. Ihr Gesicht, schmal und blutleer, starrte ihn an. Das Haar hatte sich gelöst und hing wie nasses schwarzes Tuch zu Boden. Überall waren Scherben und Essensreste. Eine Hand, die Finger gespreizt, berührte den Dolch in der Fuge zwischen Herd und Holzstapel. Ringe, Armbänder, der Halsschmuck aus Silber, Kupfer und Steinen – sie fehlten. Daduschu lehnte am Tisch und versuchte, aus dem starren Blick etwas herauszulesen – irgendetwas, das erklärte, warum der Dolch, der aus der Kehle ragte, bis zum Heft hineingerammt war. Sein Flüstern war rau. »Vater? Siachu?«

Im Innenhof fand er seine Erinnerungen an blitzartige Eindrücke bestätigt. Der Weinstock war aus der Mauer gerissen, die knorrigen Äste zerbrochen. In der zerbröckelten Kalkputzfläche, drei Hohe Rohre breit, klafften die Löcher der Knochenpflöcke. Mitten in der Masse losgerissener und zerfetzter Blätter lag Utuchengal auf dem Rücken. Aus der rechten Wange, dem Hals und zwei Stellen der Brust ragten zersplitterte Pfeilschäfte, aus großer Nähe abgeschossen und tief eingedrungen. Hinter der Mauer schlurften schwere Schritte.

Daduschu zuckte zusammen und rannte hinaus. Er suchte ratlos seine Waffe oder etwas, das er als Waffe gebrauchen konnte. Eine Gestalt, halb fremd und halb vertraut, stapfte aus dem Palmenwäldchen heraus und auf die Böschung zu, von Kopf bis Fuß lehmverschmiert. Getrockneter Lehm löste sich aus den Kleidern und von der Haut. Daduschu schrie auf.

»Shindurrul!«

Seine Erstarrung löste sich. Er rannte auf den Kaufmann zu, der überrascht den Kopf hob und im Sonnenlicht zwinkerte. Sein Gesicht, eine staubige Maske aus hilflosem Zorn und Trauer, war zerschnitten von Furchen aus Schweiß, Tränen und Blut.

»Dieser ziegenschänderische Abschaum!« Shindurrul stieß die Worte mit einer Wut aus, dass sie wie ein Peitschenhieb klangen. »Da. Schau, was sie gemacht haben.«

Er hob die linke Hand, die er mit der rechten umklammert hielt. Sämtliche Ringe fehlten; es fehlten auch die ersten Glieder von Ring- und Mittelfinger. Shindurrul hatte mit Lederbändchen aus dem Gürtel die Stümpfe abgebunden. Er erreichte die Plattform, starrte Daduschu an, legte den Kopf schräg und zog die Brauen hoch. Sand rieselte von der Stirn.

»Mich wollten sie verschleppen. Hab mich losgerissen, bei Marduks Wut, dann bin ich gerannt. Beim Nachbarn vorbei, aufs Feuer zu. Die Familie …?«

»Sie sind alle tot.« Daduschu starrte auf seine Zehen. »Wo ist Siachu? Ich hab’ sie nicht gefunden.«

»Alle?« Shindurrul zog Daduschu an sich und presste ihn an seine Brust. Beide zitterten vor Erschöpfung. Nach einer Weile murmelte der Kaufmann in Daduschus Ohr:

»Siachu haben sie mitgenommen. Entführt. Sie lebt, aber ich hab’ ihr nicht helfen können. Zu spät, die Bastarde zu verfolgen. Nicht einmal euer Nachbar hat sie gehört. Ich weiß nicht, wie wir helfen können.«

Daduschus Wangen rieben am abblätternden Schlamm und am Stoff von Shindurruls Obergewand. Der Kaufmann fasste ihn an den Schultern und schob ihn auf Armeslänge von sich weg.

»Die Nachbarn kümmern sich ums Haus. Wir lassen uns übersetzen und sagen den Wachen, was passiert ist. Ich muss zum Wundarzt. Morgen wird getan, was nötig ist – hier und bei mir. Keine Angst mehr, Kleiner. Du wohnst bei mir. Ich sorge für alles. Komm jetzt.«

Daduschu nickte. Der Kaufmann starrte auf seine blutverkrusteten Fingerstümpfe, packte Daduschu mit der unversehrten Hand und zog ihn an den geschwärzten Mauern vorbei, in die honigfarbene Sonnenscheibe hinein. Daduschu wagte nicht, sich umzudrehen. Oberhalb des Bodennebels sammelte sich ein Taubenschwarm und flatterte über die frisch eingesäten Felder. Daduschus Augen brannten; er konnte nicht mehr weinen. Er stützte sich an einen Palmenstamm und übergab sich; fünf Schritt vor ihm wartete mit abgewandtem Gesicht der Kaufmann.

 

 

3. IM HAUS DES HANDELSHERRN

 

Die Dammstraße, von großen Dattelpalmen gesäumt, schien geradewegs ins blendende Licht zu führen. Daduschu rieb sein Gesicht und folgte Shindurrul. Am Ende des Dammes, zwischen großen Wehranlagen, floss träge und mit Niedrigwasser der Buranun nach Süden, eine spiegelnde, fast unbewegte Wasserfläche, in der sich die mächtigen Mauern und die Sonne verdoppelten, dreißig Mannshöhen aus stumpfem Weiß, mit kantigen Mauerkronen, wuchtigen Vorsprüngen und schmalen Rampen. Daduschu war nicht fähig, das gewaltige Bild zu bewundern: wie durch das Rauschen von Gewitterregen hörte er das Glucksen der Uferwellen, das Knarren schaukelnder Stämme und das Rascheln staubbedeckter Palmwedel. Shindurruls Stimme war undeutlich vor Schmerz und Müdigkeit.

»Komm, Söhnchen. Da ist der Fährmann. Wir müssen übersetzen.« Er krächzte und hustete. »Die Hand tut scheußlich weh.«

Daduschu folgte ihm zum Ende der Dammstraße. Der Himmel trug fahle Farben; Schleier und Vorhänge bewegten sich jenseits der Stadt in schweren Falten. Durch den Staub des vergangenen Sturms leuchtete das Gestirn des Sonnengottes Shamash, davor stiegen Hunderte dünner Rauchsäulen auf und vergingen über der Stadt. Der Fährmann schlief in dem flachen Kelekboot aus Zweigen, Leder und Palmholz. Shindurrul rief:

»Bring uns rüber, Gurusch Fährmann. Mach schnell. Ich halt’s nicht mehr aus.«

Er hielt die Hand in die Höhe. Wieder sickerte Blut durch den Dreck. Unter dem Staub war Shindurruls Gesicht grau und verfallen. Der Fährmann kam gähnend auf die Beine, wankte und starrte sie an, ohne etwas zu sagen, dann griff er nach dem langen Stab und knotete die Fangschnur ums Handgelenk. Er winkte Daduschu.

»Hilf mir.«

Sie schoben das Boot ins Wasser. Grober Sand kratzte über das geölte Leder. Der Kaufmann watete zum Bug, hielt sich am Flechtrand fest und schwang sich stöhnend auf den Sitz. Der Fährmann wartete, bis Daduschu im Heck saß, grunzte und stemmte mit dem Stab das Boot in die schwache Uferströmung. Als das Boot genügend Fahrt hatte, packte er die Griffe der Ruder. Er schwieg, bis er ein Drittel der Strecke keuchend hinter sich gebracht hatten.

»Dich, Gurusch, hab ich gestern übergesetzt.«

»Ja.« Shindurrul schöpfte Wasser und reinigte sein Gesicht. »Und die verfluchten Amurrum haben mir die Finger abgeschnitten. Wegen der Ringe. Ihm haben sie die Eltern totgeschlagen und das Haus niedergebrannt.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Daduschu, der zur Stadt hinüberstarrte, sich umdrehte und Schilf und Palmen vor den Durchlässen der Kanäle schrumpfen sah, ebenso wie die Balken der Hebebrunnen im Dunst.

»Ihn hab ich auch gerudert. Vor einem halben Mond.«

»Ja.« Daduschu fühlte eine kalte Leere, die bis zu den Schläfen hochkroch und sich mit der Mattigkeit vermischte.

Nach einer Weile streckte der Fährmann den Oberkörper und sagte: »Nomaden, wie? Ungewaschene Wüstenpest. Auswurf.«

»Sie kommen immer wieder.« Shindurrul stützte seine Ellbogen schwer auf die Knie. »Man wird sie verfolgen und bestrafen. Das macht aber keinen wieder lebendig.«

»Ein ganzer Stamm, wie? Eine Sippe.«

»Es waren Dutzende.« Daduschu starrte blind auf die Palastdächer und die Zikkurat. Sie stießen wie kantig gefaltete Felsen in das Farbgemenge des Himmels und warfen riesige Schatten bis auf den Fluss. Der Fährmann spuckte über Bord.

»Hammurabi wird seinen Zorn über sie ausgießen und viele Soldaten schicken.«

Das Boot glitt ins ruhige Wasser der Flussbiegung, und der Fährmann setzte den Stab in den seichten Grund. Die vierfache Baumreihe und die grasbewachsenen Schrägufer waren nur einen halben Bogenschuss entfernt. Über den Dammweg mahlten die Felgen eines schweren Ochsengespanns und knirschten als Echos vom Fuß der Mauern. Ein Hund sprang um die Schafe herum, die auf dem Damm weideten; sein Kläffen zerschnitt den Morgen wie ein schartiges Messer. Ein Windhauch kräuselte die Wasseroberfläche vor dem Anlegeplatz und schleppte Gerüche aus der Stadt.

Das Boot war, wie immer, weit abgetrieben und glitt in den toten Winkel hinter dem Wellenbrecher und dem Kagal-Mach, dem Erhabenen-Tor. Die kümmerlichen Schilfhalme raschelten, mit einem Ruck schob der Fährmann den Bug auf den Sand des Hiritum-Wallgrabens. Shindurrul versenkte zwei Finger seiner unverletzten Hand in den Stiefelschaft und gab dem Fährmann ein Kupferplättchen.

»Danke, Gurusch. Ich muss morgen oder übermorgen wieder ans andere Ufer.« Er deutete mit der Rechten nach Nordwest. Der Fährmann rüttelte Daduschu an der Schulter.

»Ich bin hier oder drüben. Wach auf, Junge.« Der Kaufmann und Daduschu wichen einem Kampfwagen aus, der von hinten heranrasselte. Die Onager dampften, der Lenker zerrte an den Lederzügeln; in den Gesichtern der Soldaten hockte Erschöpfung. Zweihundert Schritt weiter schoben sie sich durch den Strom der Frühaufsteher der Stadt. Sklavinnen balancierten Wäschekörbe auf den Köpfen, Fischer schleppten Ausrüstung zu den Booten, und Gerber trugen stinkende Felle in dickbäuchigen Tonkrügen. Korbmacher wässerten die geschälten Ruten, und flussabwärts ragten die Schiffsmasten in die Höhe. Die nassen Sohlen klatschten auf dem Straßenpflaster. Shindurrul zog einen Torwächter am Ärmel. »Du bist der Redûm hier?«

Der Mann im zerschrammten Lederwams deutete auf einen Gardisten in glänzender Rüstung. »Der dort, Hyarush, ist der Bairum.«

»Ich sag’s ihm.« Shindurrul legte seinen Arm um Daduschus Schulter, ging zum rechten Torflügel und stieß Hyarush mit der flachen Hand vor die Schulter.

»Jeder kennt mich: ich bin Kaufmann Shindurrul.« Seine Stimme wurde hart. »Dem Jungen, dem Besten in der Palastschule, Sohn des Königspächters Utuchengal, haben sie die Familie umgebracht, und ihr seid gemütlich in der Wachstube gehockt. Ich bin entkommen. Um einen schlimmen Preis.«

»Warum schreist du mich an?« Der Hauptmann versenkte seine Daumen in den Gürtel. »Ich hab’ Dienst am Tor, nicht in der Wüste.«

»Geh zu deinem verschlafenen Hauptmann!« Shindurrul machte ein paar Schritte, drehte sich um und fluchte. »Dann erfährt’s wohl auch der Herr im Palast. Sie sind geflüchtet, nach Westen natürlich und haben seine Schwester entführt. Wenn ihr Fragen habt: Shindurruls Haus. Straße der Wohlgerüche.«

»Verlass dich drauf, Kaufmann. Der Bote rennt schon. Hierher, Adasi!«

»Wenigstens haben sie das Schmalz aus den Ohren gebohrt. Zum Haus, Usch.«

Nach fünfzig Schritten gingen sie nach links, bogen im rechten Winkel ab, durch schmale Gassen zwischen weißen oder erdfarbenen Mauern, in deren Tiefe schmale Türen verborgen waren. Teilnahmslos las Daduschu die Schrift auf glasierten Großziegeln an Mauerecken. Sie hasteten weiter, bis Shindurrul einen alten Mann zur Seite schob, der die metallenen Türbeschläge putzte.

»Schnell, Chassir. Lauf zum Arzt. Bachdilim soll sofort herkommen. Siehst du?«

Als der Alte die Verstümmelung sah, ließ er den Lappen fallen, nickte und rannte davon. Hinter Shindurrul krachte die Tür zu. Dämmerige Kühle umgab den Kaufmann, der Daduschu weiterschob und laut stöhnte.

»Buriasch! Belanim! – hierher! Wein, Essen, ein Bad. Bei Marduks Hass. Wo steckt ihr Faulpelze, während ich verblute?« Er sprach nicht besonders laut, aber seine Stimme ließ Daduschu zusammenzucken. Hinter schmalen Türen und dicken Vorhängen wachten die Bewohner auf. Aus dem Innenhof sprangen kläffende Hunde. Sie knurrten Daduschu an und drängten sich um Shindurruls Beine. Von allen Seiten rannten Sklavinnen und Diener auf den Hausherrn zu, eine Frau kam die Stufen vom Dach herunter. Während trockener Lehm aus dem Bart und dem Rock rieselte, stand Shindurrul in der aufgeregten Menge, schimpfte, verlangte und befahl, er deutete auf Daduschu, der jedes Wort hörte, aber kaum verstand, was um ihn herum vorging.

Zwei Mädchen nahmen vorsichtig seine Arme und führten ihn in einen Raum, der nach Salben und Gewürzen roch. Unter einem Kupferkessel brannte weiß die Glut des Holzkohlenfeuers. Ein halbnacktes Mädchen zündete mit einem Span Dochte in Öllampen an, die anderen schöpften heißes und kaltes Wasser in ein Viereck im Boden. Ein kahlköpfiger, runzliger Mann mit Knopfaugen trug in beiden Händen eine Tonschale. Er lächelte und sagte leise: »Trink, Junge. Wird dir guttun. Wirst lange schlafen.«

»Danke.«

Der warme Wein, mit Kräutern gemischt und mit Honig gesüßt, machte schläfrig. Gleichzeitig merkte Daduschu, dass sein Verstand ebenso klar wurde wie der Blick. Seine Finger zitterten, als er die leere Schale absetzte; sein Herz schien schneller und kräftiger zu schlagen, eine unklare Kraft erfüllte ihn. Die Mädchen zogen ihn aus, führten ihn die Stufen hinunter ins warme, duftende Wasser. Er folgte gehorsam den nachdrücklichen Fingern der Mädchen und setzte sich. Wasser lief über seinen Kopf, spülte Schmutz und Schweiß weg, er spürte kratzige Bürsten auf der Haut, seifigen Schaum, weiche Tücher. Die Pfeilwunde brach auf und blutete; ein trockenes Tuch und Salbe stillten den Schmerz.

Zwischen den Knien breiteten sich brauner Schmutz und blasiger Schaum aus. Nachdem die Mädchen kaltes Wasser über seinen Nacken geschüttet und ihn an den Achseln hochgezogen hatten, kam die schwarzhaarige Frau und faltete ein weißes Tuch auf. Sie breitete die Arme aus, legte das Tuch um ihn und zog ihn an sich. Sie faltete die Säume in seinem Rücken zusammen; ein glühender Stich der Erinnerung trieb Tränen in seine Augen. Sie besaß entfernte Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Es waren die gleichen Gesten und Bewegungen. Er blickte zu Boden.

»Ist schon gut.« Sie sprach besänftigend, mit dunkler Stimme. »Du wirst schlafen und vergessen, mein Kleiner.«

»Ich …«, er schluckte und sah in ihre großen Augen. Ihr Gesicht zerfloss wie ein Spiegelbild im Wasser. »Alle sind tot. Meine Schwester wurde entführt.«

»Hier bist du sicher. Du wirst ganz müde werden. Inanna bewacht deinen Schlaf. Komm.«

Sie schob ihren Arm um seine Hüfte, führte ihn aus dem Baderaum über kühlen Boden und weiche Felle, hinaus in den hellen Innenhof und wieder zurück ins Dämmerlicht einer Kammer mit hohen Wänden und einem winzigen Fenster unter den Dachbalken. Sie nahm das Tuch von seinen Schultern, drückte ihn auf die Kissen und zog Leintücher und Decken bis an sein Kinn. Er blinzelte sie an, und sie legte lächelnd die Hand auf seine Stirn.

»Schlaf jetzt. Shindurrul tut, was nötig ist. Morgen ist es nicht mehr so schlimm. Unsere Götter sind manchmal grausam, mein Junge.«

Daduschu fühlte, wie seine Augen zufielen; dann nichts mehr.

 

Ein dreifarbiger Lichtstrahl spannte sich waagrecht unter der Decke, traf die gegenüberliegende Wand und leuchtete rot, gelb und blau. Daduschus Augen gewöhnten sich ans Licht, er sah die handtellergroßen Glasstücke in der Lehmziegelwand. Alle Dinge und Gegenstände glühten und schimmerten in diesem seltsamen Licht. In Nischen standen zierlich geschnitzte Schiffe, daneben Schalen, Becher und Krüge mit fremdartigen Mustern. Kleine Statuen unbekannter Götter schienen ebensolche Geschichten aus fremden Ländern zu wispern wie die Truhen aus glänzendem Holz voller Schnitzereien und die Figuren aus Elfenbein und verschiedenen Metallen.

An Wandhaken aus gemasertem Wacholderbaumholz hingen zwischen kostbar verzierten und bestickten Gewändern seine eigenen Kleider. Sie waren frisch gewaschen. An den Wänden, unter einem Bilderfries, standen breite Sitze, Tischchen und Hocker aus Holz und kunstvoll geflochtenen Binsen, gekalkt und gewachst. Zwischen zwei Linien glasierter Kacheln waren in Schwarz, Rot und Braun Figuren gemalt, von Zierrat und Ranken umgeben. Zwischen Ornamenten stolzierten Fabeltiere: geflügelte Löwen, Gestalten mit Vogelköpfen und Löwenpranken, Stiere mit riesigem Gehörn. Einzelne Szenen schilderten Begebenheiten aus dem Kaufmannsleben.

Daduschu stand auf und stellte seine Fußsohlen auf die weichen Teppiche, die über den Schilfmatten lagen. Er wickelte den Schurz um die Hüften, knotete den Gurt und schlüpfte in den runden Hemdausschnitt. Das Leinen roch wie Blumen nach dem Regen. In der Stille zwischen den zwei oder drei Ellen dicken Mauern hörte Daduschu seinen Magen knurren. Die Tür aus Holzlatten und Rohrgeflecht schwang knarzend auf. Eines der Mädchen streckte den Kopf durch den Spalt und lächelte.

»Ich bin Shinkasi, Daduschu. Du sollst dich waschen und zum Herrn kommen. Frühstück. Du musst hungrig sein.«

»Ist jetzt … Morgen?« Er suchte seine Sandalen, während Shinkasi kicherte.

»Schon seit einer Stunde.« Sie winkte mit vier Fingern und lief vor ihm her. Er fand im Baderaum eine Tonschüssel, einen Krug und Tücher, und während er die Reste des langen Schlafs mit kaltem Wasser aus dem Gesicht wusch, die Unterarme tief in die Schale tauchte, bewunderte er die gebrannten Kacheln, die in farbigen Mustern auch den Boden bedeckten und nur das Abflussloch freiließen. Er schlug sein Wasser ab und schüttete das Waschwasser hinterher. Mit einem Elfenbeinkamm fuhr er durch sein Haar; nur Hammurabis Palast konnte prächtiger sein als das Haus Shindurruls! Er holte tief Luft und blieb unter der Holzgalerie stehen. Als er das Agurru-Zickzackmuster des gepflasterten Innenhofes sah, zuckte er zusammen. Alles, was gestern geschehen war, fiel ihm plötzlich ein. Es war wie ein Schlag auf den Kopf.

»Komm hierher«, rief die Sklavin. »Hier ist das Arbeitszimmer. Herr Shindurrul wartet.«

Wieder knurrte der Magen. Bis auf ihn, die Sklavin und Shindurrul, meinte Daduschu, schliefen noch alle. Shinkasi öffnete eine Tür neben dem Eingangsraum und deutete in den Raum.

»Danke.« Daduschu schob sich in den Raum, der dreimal so groß war wie seine Schlafkammer. Von der Decke bis zur Mitte der Nordwand erstreckte sich ein Halbkreis aus silber- und goldfarbenen Glasurkacheln. Shindurrul saß an der breiten Seite eines Tisches von riesigen Ausmaßen. Daduschu sagte leise:

»Guten Morgen, Damgar. Ich habe lange geschlafen. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.«

Shindurrul deutete auf einen Hocker, Schalen, Schüsseln und Brettchen auf einem Leinentuch.

»Iss, Söhnchen.« Seine Stimme war noch immer rau. Unter buschigen Brauen starrte er, als suche er etwas Bestimmtes, in Daduschus Augen. »Iss und hör gut zu. Wir müssen uns unterhalten. Warum, das weißt du; beim Schwert Marduks – alles hat sich geändert.«

Daduschu merkte, als er die Brotfladen und die in Öl gebratenen Fischstücke, Käse, Lauch, dünne Bratenscheiben und Becher sah, wie hungrig er war. Shindurrul hatte schon gegessen. Vor ihm war der Tisch von Bröseln und Resten bedeckt. Er fischte eine Bratenscheibe vom Brett, wickelte sie um ein fingergroßes Stück Käse, streute Salz darauf und schob die Rolle zwischen die Zähne.

»Wie alt bist du, Usch? Sechzehn Sommer, stimmt’s?«