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"Einmal die Ruinen dieser sagenhaften Inkastadt mit eigenen Augen sehen!": diesen Kindheitstraum erfülle ich mir; inzwischen bin ich Rentnerin. Mit über 70 mache ich mich, gemeinsam mit dem Sohn, auf den Weg.
Ein Reisetagebuch.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
"Diese Reise wollt Ihr ganz allein organisieren? Ohne Reiseagentur? Ganz schön mutig!" war der Kommentar einer guten Bekannten, die schon Dutzende von Reisen vorbereitet und organisiert hat. Sie hatte vor vielen Jahren eine Reise nach Peru ausgearbeitet. Gerne hätte ich damals daran teilgenommen. Zu meinem großen Bedauern klappte es aus verschiedenen Gründen nicht. Nun war die Zeit gekommen! Wir griffen die Gelegenheit beim Schopf und stürzten uns ins Abenteuer.
Vorbereitungen
Der Weg nach Machu Picchu ist weit, sehr weit, teuer, steinig und anstrengend. Dessen waren wir uns bewußt. Trotzdem wollten wir dort hin; vor allem ich: seit meiner Jugend, ja Kindheit, hatte ich den Wunsch, diese Inkastadt hoch oben in den Anden mit eigenen Augen betrachten zu dürfen. Viele meiner selbstgesteckten Ziele hatte ich bereits erreicht. Manche Reisen hatten wir gemeinsam in den Schulferien unternommen: New York, San Francisco, Rom, Venedig. Später mit den erwachsenen Kindern in Namibia. Mit meinem Mann zusammen Studienreisen nach Neapel, Pompeji und Herculaneum, Griechenland. Manche Reise hatte ich allein durchgezogen, da ich meinen Göttergatten nicht davon überzeugen konnte, mitzufahren: Paris, London, Chicago. Dort besuchte ich eine ehemalige Kollegin und stattete dem Hauptsitz meines damaligen Arbeitgebers, meiner Ansicht nach im schönsten Gebäude dieser Stadt beheimatet, einen Besuch ab. Im Untergeschoß des Sears Towers, einmal eines der höchsten Gebäude der Welt, beschlich mich ein etwas beklemmendes Gefühl: wie in einem Sarkophag oder wie unter einer Pyramide. Meinen 60. Geburtstag feierte ich in Kapstadt mit anschließender Tour über die Garden Route; Weihnachten in Windhoek; Nairobi mit Safaris in verschiedenen Teilen Kenias. Darüber ist ein gut Teil meines Lebens vergangen. Inzwischen war ich über 70 Jahre alt geworden. Und nun ist der Zeitpunkt gekommen für Machu Picchu!
Die Rahmenbedingungen waren günstig: Die letzten vier Jahre waren hart für uns alle gewesen; alles mußte sich dem Diktat der fürchterlichen Krankheit unterordnen. Im Moment war eine ruhige Phase; die Krankheit schien in die Schranken verwiesen zu sein. Und trotzdem: ich hatte schreckliche Gewissensbisse. Durfte ich das wirklich machen: meine Koffer packen, nicht für den Begleitservice in der Kur, sondern für eine Reise um die halbe Welt? Würde mein Mann es mir überhaupt danken, wenn ich auf die Reise verzichtete? Das alles ging mir im Kopf um, ich grübelte und hatte schlaflose Nächte. Schließlich gehen wir schon seit mehr als 40 Jahren gemeinsam durchs Leben. Bin ich in seinen Augen nicht vielleicht doch das 'Heimchen am Herde', die , die 'immer da' ist?
Unser Kennenlernen war purer Zufall gewesen, damals, im Jahr der Olympiade in München. Das Jahr 1972 war - zunächst - ein Glücksfall für München und später dann auch für mich persönlich. Aber nun der Reihe nach: Die XX. Olympischen Sommerspiele sollten nach München kommen? In 'mein' München, meine Heimatstadt, unser kleines, beschauliches, gemütliches München? Die Stadt an der Isar sollte zum Nabel der Welt werden? Für dieses bedeutende Sportereignis Gastgeber für Sportler, Journalisten, die Weltpresse, Besucher aus aller Welt? Welch ein Geschenk, welch unfassbares Glück! München stand Kopf. Es war ein Traum. Die neu gebauten Sportstätten, der Olympiapark, der Olympiaturm mit seinem Drehrestaurant in schwindelnder Höhe, das Zeltdach, einzigartig in seiner Eleganz und trotzdem stabil; alles faszinierte die Münchner, die Einheimischen und die Besucher. Ich war stolz auf meine Stadt. Jeder war stolz. Alle tauchten ein in die Begeisterung, für einige Tage Gastgeber der Welt zu sein. Die Menschen verspürten eine Leichtigkeit, die Leute auf den Straßen waren beschwingt. Alles war beschwingt, fröhlich, positiv, vergnügt. München umarmte die Welt und die Welt umarmte München. Es herrschte eine unbeschreibliche Euphorie. Bis dann die traurige Wendung kam - den Fortgang der Geschichte kennt jeder und ich mag jetzt nicht das Schöne in der Erinnerung zerstören…
Viel Zeit zur Vorbereitung hatten wir wirklich nicht. Ich hatte zwar vor zwei Jahren den Reiseführer Peru gekauft, der lag aber seither ungelesen in der Schublade. Daheim im Bücherschrank hatte ich 'alte Schinken' stehen, Bücher über Inka und alte amerikanische Kulturen. Die Bücher hatte ich geerbt. Seltsamerweise nahm ich mir nie die Zeit und die Muße, in diesen inzwischen angestaubten Büchern nachzulesen. Lieber blätterte ich in meinem neuen Reiseführer über Peru.
Vor Jahren hatte ich schon mit der Idee geliebäugelt, einmal nach Machu Picchu zu reisen. Es war aber durch die Wege des Schicksals zu jenem Zeitpunkt noch undurchführbar. Aber ein Vorhaben nahm ich in Angriff: Mit über 70 Jahren begann ich, spanisch zu lernen. Von Null an, ohne jegliche Vorkenntnisse. Ich wußte nur, dass im Spanischen lustigerweise auf den Kopf gestellte Frage- und Rufzeichen am Satzanfang stehen; das war alles. Max steuerte mir eine Sprach-App auf’s Handy und so saß ich dann abends da und begann mit den ersten Vokabeln und Sätzen. Mit diesem kleinen Sprach-Anfang besuchte ich dann im späten Frühjahr einen Abendkurs der Volkshochschule. Der spanische Lehrer war wenig motiviert, das Buch war nicht nach meinem Geschmack, die Mitstreiterinnen im Unterricht kamen aus den verschiedensten Motiven auf die Schulbank. Eine sportliche junge Frau hatte einen spanischen Freund. Oh, wie beneidete ich sie um ihre doch unstrittig vorhandenen Grundkenntnisse! Dann kam die Sommer-Pause. Ich machte aber eisern weiter, lernte die Begriffe aus der App, bestückte ein Karo-DIN A4-Heft mit fast 100 Seiten handschriftlichen Einträgen. Erst im Oktober ging es weiter mit Unterricht. Diesmal entschied ich mich für einen Senioren-Kurs im Altenzentrum. Der war praktisch, da er vormittags stattfand. Da bin ich aufnahmefähiger. Die anderen Kursteilnehmer waren auch bereits im Renten-Alter, hatten aber schon gut ein Jahr mehr an Sprachkurs hinter sich. Ein besonderer Glücksfall war der Lehrer: er war zwar kein 'Muttersprachler', beherrschte jedoch auch Französisch und Italienisch und verstand es, den Grammatik-Unterricht sehr gut zu strukturieren. Er legte ein 'Höllentempo' vor. Er verlangte viel von uns Schülern. Wenn jemand - aus welchen Gründen auch immer - fehlte, hatte der- bzw. diejenige fast keine Chance mehr, mitzukommen bzw. nachzukommen. Man kämpfte zwar immer mit seiner völlig unleserlichen Handschrift, aber er brachte uns sehr viel bei. Kam hier wieder meine Streber-Natur durch, immer 'die erste' sein zu wollen? Wir kamen bis zum Pretérito Perfecto Compuesto - einer Form der Vergangenheit - und Futuro 1. Endlich konnten wir Sätze bilden, etwas erzählen, was man erlebt hatte, etwas sprechen. Rundum: ich war vollauf zufrieden. Ein Folgekurs im Frühjahr kam leider nicht zustande. Dann kam das Herbst-Semester. Der von mir erhoffte Lehrer war offenbar abserviert worden. Einige Damen der alten Truppe waren noch da. Das nette Ehepaar, das Spanisch lernen wollte für seinen Urlaub auf Teneriffa, war nicht mehr dabei. Er war offensichtlich abgesprungen und seine Frau entschied sich, dann auch nicht weiter zu machen. Neu zur Gruppe kam ein Herr, der keinerlei Vorkenntnisse hatte. Die anderen begrüßten freudevoll die Ankündigung des neuen Lehrers, alles wieder ganz von vorne zu beginnen und zu wiederholen. Nicht jedoch ich. Ich war sauer. Ich war einfach nicht bereit, die mühsam in eineinhalb Jahren erworbenen Grundkenntnisse beiseite zu legen und wieder mit 'ser und estar / eso und esto' - den Formen von 'sein': immer, bzw. nur vorübergehend - zu beginnen. Ich sprang ab. Lieber wollte ich selbst weitermachen, allein, für mich, mit dem Buch, das ich ganz gut fand. Leider war durch die Wege des Schicksals ein strukturiertes kontinuierliches Lernen nicht mehr möglich, ich kam nur sehr selten dazu, einen Blick ins Buch zu werfen. Aber immerhin hatte ich etwas Kenntnisse und konnte mir einigermaßen in manchen Situationen weiterhelfen. Es weckt immer gewisse Sympathien, wenn man im fremden Land versucht, ein paar Worte der Sprache anzuwenden. Nicht alle Peruaner sprechen und verstehen Englisch…
Max rückte die Realität wieder zurecht. Er hatte seine Zukunftspläne soweit geschmiedet, dass er bis zur nächsten Etappe etwas zeitlichen Freiraum hatte. Mein Mann konnte und wollte nicht auf die Reise mit; große Reisen waren nie seine Vorliebe gewesen. Ich war körperlich so weit fit, dass ich mir anstrengende Wanderungen zutrauen konnte, hatte ich doch die letzten Wochen und Monate fast täglich meinen 'Rentner-Trab' absolviert. Na ja, manchmal lief es passabel, manchmal hatte ich Blei in den Beinen. Wenn mich jemand auf der Straße sah, wie ich 'lief', der dachte wohl: „Arme Alte, will die für den Boston Marathon, trainieren? Da kann sie aber noch lang trainieren und wird nie ankommen…!“
Und so faßten wir, Mutter und Sohn, kurzfristig den Entschluß: „Jetzt packen wir es an! Wenn nicht jetzt, wann dann ?“ Kurzfristig spielten wir beide sogar mit der Idee einer Reise um die Welt. Einen Flug, ausgehend von München, westwärts über Madrid, über Südamerika, Bogota, weiter über Neuseeland, Australien, Ostasien, um schließlich über Dubai nach Europa zurückzukehren. Dazu hätten wir eine gewisse Anzahl von Städten und Ländern in einer gewissen Zeit besuchen und jeweils dort eine gewisse Zeitdauer verbringen müssen. Wir überlegten hin und her. Konnten wir uns das leisten? Hatten wir wirklich die Zeit und das Geld dafür? Für Machu Picchu würde im Zuge einer Weltreise die Zeit nicht reichen. Letztendlich scheiterte diese hochfliegende Idee an der Realität.
Jetzt, wo wir vor der großen Reise standen, schlug ich mich mit dem Problem des Gepäcks herum. Worauf mußte ich verzichten? Ich war schon eine verwöhnte Nudel in dieser Beziehung: Wenn wir mit dem Auto zur Tochter unterwegs waren, spielte es keine Rolle, ich packte alles in handliche Tragetüten ein, die konnte man unproblematisch im Auto verstauen und dann nacheinander hochtransportieren. Mein Mann war da immer leicht genervt: „Sind wir am Umziehen? Oder willst Du in Urlaub? Wo soll ich das denn alles unterbringen?“ typisch eben die Männer-Autoverstau-Panik!
Diesmal war kein Platz für Lockenwickler. Zudem: ich hatte keine Lust, wertvolle Zeit zu verschwenden, während draußen das Leben in einem fremden Land ablief, dass ich mich mit dem Aufdröseln meiner blöden Haare mit den noch blöderen Lockenwicklern beschäftigen müßte. Andererseits bin ich aber eitel - und das nicht wenig - und will immer eine einigermaßen gute Frisur haben. Wie konnte ich das Problem lösen, was konnte ich machen, ich mit meinen feinen und wenigen Haaren? Eine gute Bekannte brachte mich drauf: eine Perücke. Warum denn nicht? Mußte man sich etwa dafür schämen? Nein, das glaub ich nicht. Kurz entschlossen ging ich los. In der City wußte ich einen Laden, der hatte die perfekten Frisuren an Puppenköpfen im Schaufenster. Sicher kosteten diese ein Vermögen. Sollte ich….?
Eigentlich hatte ich schon eine Perücke zuhause. Als ich noch ein ganz junges Ding war, unbeschwert, unbekümmert, immer drauf aus, gut auszusehen und gut gekleidet zu sein, hatte ich mir den Luxus geleistet, eine Perücke aus Echthaar zu kaufen. Ja, ja, ich hatte damals wirklich eine leichte Tendenz zum Luxus, kaufte bei den teueren Boutiquen in der Theatinerstraße ein, lebte meinen Faible für schicke Schuhe und dazu passende Handtaschen aus, die meinen Kleiderschrank vollstopften und die ich, ehrlich gesagt, gar nicht auftragen konnte. Diese Perücke hat eine besondere Geschichte. Als ich seinerzeit bei einem amerikanischen Broker angestellt war, sollte ich zum zuständigen Bundesamt nach Berlin reisen, um dort die erforderliche Genehmigung für den deutschen Verkaufsprospekt einzuholen. Als tüchtige Sekretärin begleitete ich meinen Vorgesetzten zu einem wichtigen Termin bei einem noch wichtigeren Kunden. Ehrfurchtsvoll betrat ich damals mit meinem Chef die düsteren Hallen eines Schlosses, wurde vom Hausherrn, einem gesetzt wirkenden Mann mittleren Alters, der einen grauen Trachtenjanker trug mit grün abgesetzten Applikationen, an einem Seiteneingang empfangen und saß dann, fleißig stenografierend, in einem Seitentrakt des mittelalterlich anmutenden Gebäudes. Ich erinnere mich noch schwach an die Jagdtrophäen und Geweihe, die die hohen Wände unter dem Tonnengewölbe des länglichen Raumes schmückten. Die Einzelheiten des weiteren Ablaufs sind im Laufe der Jahrzehnte verblaßt. Woran ich mich aber erinnere, ist, dass ich zu später Nachtstunde an einem öden Bahnhof wartete. Alles war unheimlich. Nachts, ein junges Mädchen in einer gottverlassenen Gegend, allein an einem menschenleeren Bahnhof. Wartend auf die Ankunft des Zuges. Fast wie in einem Albtraum…
Damals war noch die finstere Zeit des eisernen Vorhangs, der beide Teile Deutschlands voneinander trennte. Ich stieg um in einen schwach besetzten Zug Richtung 'Ostzone'. Der Zug ratterte durch die stockfinstere Nacht. Es war mir gar nicht wohl in meiner Haut; vor Aufregung konnte ich kein Auge zutun. Ich war allein in meinem Schlafwagenabteil, hatte ein warmes Molton-Nachthemd übergestreift und versuchte vergeblich, auf dem schmalen Bett im schaukelnden Zug die Augen zu schließen und ein wenig Ruhe zu finden vor dem sicher anstrengenden Tag an einer Behörde im für mich unbekannten Berlin. Irgendwann mitten in der Nacht schrak ich auf: ein Klopfen an der Tür meines Abteils! Unmittelbar darauf betrat ein uniformierter Mann das Abteil und fragte mit schwer verständlichem sächsischen Akzent, warum ich in diesem Zug saß, was ich für einen Auftrag zu erfüllen hatte. Ich erinnere mich auch heute noch, Jahrzehnte später, an diese Situation. Ich war wie das Kaninchen vor der Schlange. Der Uniformierte, das Gewehr über der Schulter, durchwühlte mein Gepäck. Dann kam das, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte: er blickte auf das kleine grüne Kosmetik-Köfferchen, das ich auf dem Ablagebrett am Fenster abgestellt hatte. Mir sank das Herz in den Hosenboden. Mit spitzen Fingern fischte er meine Perücke heraus und pflanzte sie auf die Spitze seines Gewehres. Mir wurde schwummrig vor Angst. Vermutete er in mir eine Spionin, die es darauf abgesehen hatte, mit Hilfe einer Perücke das Äußere zu verändern? Ich wartete jeden Moment darauf, Handschellen angelegt zu bekommen und, den Gewehrlauf im Rücken, aus dem Abteil und dem Zug gestoßen zu werden. Mit zitternden Fingern, den Tränen nahe, kramte ich in meinen Unterlagen und stammelte etwas von einem unumgänglichen Behördengang bei der Aufsichtsbehörde. Vielleicht tat dem Soldaten das naive Mädchen leid, vielleicht glaubte er tatsächlich die unaufschiebbare Terminsache vor der Berliner Behörde? Jedenfalls landete ich nicht in einem Zuchthaus jenseits des Eisernen Vorhangs, sondern konnte meinen Auftrag im Westsektor der großen Stadt Berlin erfolgreich ausführen. Dass dies alles Wirklichkeit gewesen war, kein Albtraum, daran erinnert mich heute noch ein schwarz-weißes Seidentuch, das ich mir in einem Laden am Ku-Damm gekauft hatte, und das ich mir manchmal um den Hals drapiere. Bei dem Bummel über den Ku-Damm hatte ich dann tatsächlich die Perücke aufgesetzt…