Beautiful Soul - Sara Langhirt - E-Book

Beautiful Soul E-Book

Sara Langhirt

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Beschreibung

Sara Langhirt fühlt sich wertlos. Nicht schön genug. Als sie bei einer Makeover-TV-Show mitmachen darf, ist sie sicher - endlich werde ich glücklich! Endlich ändert sich mein Leben zum Guten! Doch das Gegenteil ist der Fall. Obwohl sie neue Zähne, neue Brüste und sogar eine neue Nase bekommen hat, ist sie entsetzt. Dieser Mensch soll ich sein? Im Spiegel sieht sie eine Fremde. Danach fällt die junge Mutter tiefer als je zuvor. Durch Drogen versucht sie ihrem Elend zu entrinnen. Sie schämt sich für ihr Dasein und versteckt ihre Zerbrochenheit. Bis ihr Leben eine radikale Kehrtwende erfährt - ganz ohne Schönheits-OPs und Drogen ... Von ihrem zutiefst bewegenden Leben erzählt Sara Langhirt und trifft damit den Nerv der heutigen Frauengeneration.

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Ich widme dieses Buch meinen Eltern, Brigitte und Joe Langhirt.Danke, dass ihr in den schlimmsten Momenten in meinem Leben immer für mich da wart und seid und mir gezeigt habt, dass aufgeben keine Option ist. Danke für eure bedingungslose Liebe.Ich liebe euch.

Inhalt

Sara ohne h

Alles für die Schönheit

Am Boden

Weg von der Sucht

Gott ist Freiheit

Ein neues Fundament

Heile Familie

Mein Kompass

Unsere Kinder im Himmel

Wenn die Zweifel kommen …

Traumberuf: Evangelistin

Meine Kirche der Zukunft

Meine erste Predigt

Danksagung Sara Langhirt

Danksagung Heidi Friedrich

Sara ohne h

Mit sieben Jahren habe ich zum ersten Mal hinter einer Mülltonne heimlich geraucht. Der Reiz am Verbotenen war cool. Mit zwölf habe ich zum ersten Mal gekifft. Mit 15 nahm ich immer wieder Speed. Ich habe Koks ausprobiert und LSD. Aber die synthetischen Drogen waren nicht meins. Ich blieb bei Marihuana. Ich wollte und brauchte nicht das spontane High, sondern den angenehm-prallen Dauerzustand, der über alles Unschöne in meinem Leben einen Schleier der Erträglichkeit warf. Möglichst lange sollte der Schmerz, den meine sinnlose, nutzlose Existenz in mir hervorrief, gelindert sein.

Meine frühe Drogenkarriere schulde ich der Möglichkeit, der Verfügbarkeit. Der erste Joint, den Lilli und ich damals rauchten, lag bei ihr zu Hause auf dem Wohnzimmertisch. Lilli war viele Jahre lang meine beste Freundin und die Tochter eines Marihuana-Bauern. Ihre Eltern hatten sich, schon lange bevor wir uns kennenlernten, getrennt. Die Mutter kümmerte sich nur sporadisch um ihre Tochter. Lilli lebte bei ihrem Vater, der im Keller seines Hauses eine kleine Plantage angelegt hatte. Zwar hatte er uns verboten, hinter die Tür zu gehen, wo lilafarbenes Licht für ein gutes Gedeihen der Pflanzen sorgte, aber die Drogen waren so einfach zu erreichen wie Süßigkeiten aus dem Küchenschrank. Auch daheim musste ich schon als kleines Kind miterleben, wie Drogen die Menschen in meiner Umgebung in Rauschzustände versetzte und sie unberechenbar machte. Meine Brüder nahmen alle möglichen Drogen. Und mein Vater war Alkoholiker, Quartalssäufer, wie man früher sagte. Er trank also nicht jeden Tag, sondern immer phasenweise. Irgendein Trigger brachte ihn dazu, nach zwei Monaten ohne Alkohol von einem Moment auf den anderen wieder mit dem Trinken anzufangen. Nach einigen Exzessen, die ich hautnah miterlebte, begab er sich von Zeit zu Zeit in Therapie, war kurze Zeit trocken.

Und dann hieß es: „Mama, er hat wieder getrunken!“ Ich war immer die Erste, die es merkte. Ein ewiger Kreislauf, wie es mir schien. Gott sei Dank war mein Vater im Rausch nicht aggressiv. Er hat mich nie geschlagen. Dafür wollte er dann immer viel reden. Aber das war auch nicht einfach, denn mit diesen Psychogesprächen konnte ich als Kind überhaupt nicht umgehen. Meine Mutter war in den Sauf-Phasen meines Vaters jedes Mal sehr verzweifelt, hatte sie doch zwischendrin immer wieder die Hoffnung geschöpft, es könne doch noch alles gut werden. Dann wurde es laut in der Wohnung. „Ich suche mir und den Kindern eine Sozialwohnung! Wir hauen hier ab!“, drohte sie jedes Mal lautstark. Meine drei Brüder und ich wollten aber nicht weg. Wir wollten beim Papa bleiben. Wie ein Damoklesschwert hing der drohende Auszug über uns. Jeden Moment könnten wir fluchtartig unser Zuhause verlassen müssen. Eine schreckliche Bedrohung unserer Sicherheit! Mein Vater ist Country-Musiker. Seine Gitarre war schon immer seine Leidenschaft. Doch seinen Unterhalt verdiente er als Maschinenbaumechaniker. Er ist ein schlaues Köpfchen, kann alles reparieren oder konstruieren, was Räder hat. Eigentlich wollte er aber bei der Bundeswehr, wo schon sein Vater und sein Großvater gedient hatten, bleiben und die Offizierslaufbahn durchlaufen. Doch bei allen seinen „Karrieren“ machte ihm der Alkohol immer einen Strich durch die Rechnung. Dabei war ihm als Katholik extrem wichtig gewesen, was die Kirche vorschrieb. Was die Nachbarn dachten, wurde ernst genommen. Nach außen hin musste alles perfekt sein. Meine Großeltern waren mit ihrem Sohn sehr streng gewesen und hatten großen Druck auf ihn ausgeübt, zu studieren. Auch wenn es nie zum Studium gekommen war, schien ihm dieser Druck nicht gut bekommen zu sein.

Meine Mutter hatte ihre eigene belastende Geschichte. Sie war neunzehn Jahre alt, als ihre Mutter in der Badewanne verunglückte und starb. Sie war beim Aufstehen ausgerutscht und hatte sich bei dem Sturz nach hinten den Kopf angeschlagen. Sie wurde ohnmächtig und ertrank. Als ich sieben Jahre alt war, zog unsere Familie in genau dasselbe Mehrfamilienhaus um, das aus Sozialwohnungen bestand. Nur einen Stock über der ehemaligen Wohnung meiner Oma. Die Angst, meiner Mutter könnte das Gleiche passieren, saß mir ab da ständig in den Knochen.

Noch eine andere existenzielle Bedrohung lag in der Luft: Der erste Ehemann meiner Mutter, der Vater meiner beiden älteren Brüder, hatte versucht sie zu töten. Auch er war Alkoholiker und oft tagelang verschwunden. Das hatte meine Mutter nicht ausgehalten und sich eines Tages getrennt. Doch er verfolgte sie in den Gasthof, in dem sie Unterschlupf gefunden hatte. Mit einem Fechtmesser unter der Jacke betrat er die Gaststube, in der meine Mutter zu Abend aß, und stach unvermittelt vor aller Augen drei Mal auf sie ein. Die anwesenden Gäste überwältigten ihn, bevor es zu noch Schlimmerem kommen konnte. Der Täter ließ sich am Tatort von der Polizei ohne Widerstand abführen und wurde wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft verurteilt. Doch meine Mutter kämpfte nach dem Angriff im Krankenhaus tagelang um ihr Leben. Mit seinen Stichen hatte er ihre Leber getroffen. Doch sie überlebte Gott sei Dank ihre Verletzungen.

Trotz dieser unfassbar schlimmen Erfahrung hegte meine Mutter – für mich absolut erstaunlich – keinen Groll gegen ihren gewalttätigen Ex-Mann. Bei der Gerichtsverhandlung drängelte sie sich sogar an den Beamten vorbei, ging auf ihn zu und bat ihn: „Sei für deine Söhne da!“ Doch es kamen weder Briefe noch Anrufe aus dem Gefängnis. Nichts. Er meldete sich einfach gar nicht.

Sie selbst fand in der schweren Zeit danach, als sie vor allem psychisch mit den Folgen zu kämpfen hatte, Halt bei den Zeugen Jehovas, die eines Tages bei ihr vor der Tür standen. Und drei Jahre später traf sie meinen Vater. Die beiden heirateten und bekamen meinen jüngsten Bruder und mich. Mein Vater hätte die beiden älteren Söhne gerne adoptiert, aber dem widersprach ihr leiblicher Vater, obwohl er mit ihnen immer noch keinen Kontakt hatte.

Erst gegen Ende seiner Haft, als er für einzelne Wochenenden Ausgang erhielt, näherten sich alle wieder an. Meine Eltern erlaubten ihm sogar, bei uns zu übernachten, damit er mit seinen Söhnen zusammen sein konnte. Aus dieser Zeit gibt es sogar ein gemeinsames Foto von meinem Vater und dem kleinen, fast zierlichen Ex-Mann meiner Mutter. Ich staune noch heute: Wie haben sie es geschafft, dem Mann zu vergeben, der so eine ungeheuerliche Tat begangen hatte? Vielleicht waren es die christlichen Werte, die meine Eltern verinnerlicht hatten und nun aktiv lebten. Zu verzeihen, sich zu versöhnen, Chancen zu geben. Zwischenzeitlich war ja auch mein Vater bei den Zeugen Jehovas eingetreten. Beide, ursprünglich streng katholisch aufgewachsen, wurden aktive Mitglieder der Gemeinde.

Trotz aller guten Vorsätze kehrte keine Ruhe in unserer Familie ein: Mein Vater war weiterhin dem Alkohol verfallen. Der Kreislauf von Trinken, Entgiftung, Therapie, trocken und wieder rückfällig werden setzte sich fort. Es wurde mit der Zeit sogar immer schlimmer: Es gab Momente, in denen nun meine Mutter in ihrer Hilflosigkeit so durchdrehte, dass ich fürchtete, sie wiederum könnte meinen Vater umbringen.

Als er sich einmal im Suff im Duschvorhang verheddert hatte und dabei die Vorhangstange herunterriss, flippte meine Mutter aus und schlug vor Wut und Verzweiflung mit aller Wucht auf seinen Rücken ein. Ich war schnell ins Bad gelaufen und versuchte sie davon abzuhalten, ihm auch noch ein Handtuch um den Hals zu wickeln und daran zu ziehen. Sie war so außer sich, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Komplett außer Kontrolle. Ich zog weiter von hinten an ihr und schrie, sie solle aufhören. Doch sie schlug weiter um sich. Und mein Vater wehrte sich nicht mal. Gerade in diesem Moment klingelte das Telefon, ich rannte hin, hoffte auf Hilfe. Es war ein Musikerkollege meines Vaters. Aus vollem Hals schrie ich hysterisch in den Hörer: „Mama will den Papa umbringen!“ Da wurde es plötzlich still im Bad. Voller Furcht ging ich zurück und fand meine Eltern auf den Boden gesunken, nass und total erschöpft. Keiner bewegte sich. Ich konnte Tränen auf dem Gesicht meiner Mutter erkennen. Niemand sprach mehr ein Wort. Nur aus der Brause lief weiter Wasser.

Nun startete wieder das Normalprogramm: Beruhigung, Entgiftung, Therapie. Ein ewiges Auf und Ab. Bis zur nächsten dramatischen Szene.

Immer wieder war es an mir, Verantwortung für meine Eltern zu übernehmen, obwohl ich selbst noch so jung war. Einmal, als meine Mutter wegen einer Operation im Krankenhaus lag, waren meine Brüder und ich mit meinem Vater allein zu Hause.

Es war Fasching und er wollte nicht auf seinen Auftritt in einer Gaststätte verzichten. Also nahm er mich, acht Jahre alt und das jüngste der Kinder, kurzerhand mit zum Konzert. Als es später und später wurde, fiel ich fast um vor Müdigkeit. Irgendwann legte ich mich mitten im lautesten Halligalli auf eine Eckbank und versuchte zu schlafen. Mit halboffenen Augen beobachtete ich noch, wie die Bedienung zu der Band auf die kleine Bühne ging und auf einem runden braunen Tablett Schnapsgläser anbot. Das hatte ich befürchtet.

Ich wusste, ich hätte auf meinen Papa aufpassen sollen, wie ich es bei meiner Mutter oft gesehen hatte. Bei solchen Gelegenheiten hatte sie immer die Bedienung instruiert, meinem Vater auf keinen Fall Alkohol auszuschenken, denn er konnte schon nach kleinen Mengen nicht mehr stehen. „Keinen Schnaps für Joe, verstanden?!“ Er vertrug nicht viel.

Ich hörte meinen Vater noch durchs Mikrofon lallen und sah ihn schwanken und stolpern. Es war mir zwar schrecklich peinlich, aber ich war einfach zu müde, um irgendetwas zu unternehmen, also schlief ich ein.

Mitten in der Nacht weckte mich die Bedienung. Ein Taxi stehe bereit. Schlaftrunken sah ich, wie zwei Kumpels meines Vaters ihn aus der Kneipe zogen und ins Taxi verfrachteten. Wie im Automodus suchte ich die Sachen meines Vaters zusammen: Cowboyhut, Gitarre, Zigaretten. Das kannte ich schon. Ich war es, die dem Taxifahrer unsere Adresse nannte und ich war es auch, die ihm bei der Ankunft sagen musste, dass wir kein Geld dabeihatten. Nicht einmal die 13 Mark, die die Fahrt gekostet hatte. „Bitte kommen Sie morgen nochmal vorbei. Dann bekommen Sie Ihr Geld“, bat ich ihn. Der Mann war gutmütig und willigte ein. Ich bin sicher, ich tat ihm leid.

Irgendwie schleppte sich mein Vater in die Wohnung und krachte schon schnarchend auf das Sofa. Ich zog ihm die Stiefel aus und stellte den Wecker für meine Brüder, die am nächsten Tag ins Skilager fuhren. Erst dann konnte ich selbst ins Bett gehen und noch kurz schlafen, bevor ich in die Schule musste.

Unsicherheit und Orientierungslosigkeit begleiteten meine ganze Kindheit und Jugend. Ich hatte einfach keinen Plan, wo es hingehen sollte.

Aber es gab natürlich auch schöne Zeiten. Vor allem, wenn uns mein Opa aus Bremen besuchte, war ich immer im Glück. Größtes Highlight: Wenn er mit mir zum Schlittschuhlaufen nach München fuhr. „Du bist sehr begabt“, lobte er mich immer, wenn ich meine Pirouetten drehte. Mein Opa! Er hat nie geschimpft, war immer lieb und guter Laune.

Einmal ging er mit mir in einen Spielzeugladen mitten in München. „Du darfst dir etwas aussuchen, egal was“, sagte er, als wir den Laden betraten. Es war, als hätte ich das Tor zum Schlaraffenland gefunden. Zu Hause bekam ich immer nur gebrauchte Sachen: gebrauchte Kleider, gebrauchte Spielsachen, gebrauchte Fahrräder. Aber jetzt verließ ich das Geschäft mit einem funkelnagelneuen Puppenwagen, der nur mir ganz allein gehörte. Es war einer der schönsten Momente meines Lebens.

Aber auch mit meinen Eltern gab es entspannte Phasen, wenn auch nicht viele. Wenn mein Vater Konzerte hatte, fuhren wir in den Ferien mit ihm durch ganz Deutschland. Urlaub, wie andere Kinder ihn mit ihren Eltern machten, kannte ich eigentlich gar nicht. Nur einmal verbrachten wir gemeinsam eine Zeit in den Schweizer Alpen. Das war im Winter. Ich erinnere mich an die verschneiten Hänge und an die Aussichtsplattform über den Wolken. Dort stand ich und war fasziniert von dem Gedanken, dass es diese unendliche Weite wohl auch am Meer geben müsse.

Doch allzu schnell kehrten wir in die Normalität zurück und der Stress ging von vorne los. Meine Grundschule befand sich in einem sozialen Brennpunkt. In unserem Viertel wohnten fast alle Familien in Sozialwohnungen, und der Ausländeranteil war schon damals sehr hoch. Hinzu kam in dieser Zeit der Kosovo-Krieg, infolgedessen viele Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse zu uns in die Klassen kamen. Die Lehrer waren durch die Förderung dieser Kinder so sehr gefordert, dass viele Inhalte auf der Strecke blieben.

Schon in der Grundschule galt bei uns das Gesetz des Stärkeren oder zumindest des Cooleren. Meine Kindheit endete in der dritten Klasse. Spätestens ab da hieß es, sich zu beweisen, wenn man dazugehören und nicht von den Mitschülern ausgegrenzt werden wollte. Allerdings zeigte man hier seine Stärke nicht mit seinen besonderen Fähigkeiten, sondern damit, wer die anderen am besten fertigmachen konnte.

Das wurde auf der Hauptschule, die ich später gemeinsam mit meiner Freundin Lilli besuchte, nicht besser. Wieder eine sogenannte Brennpunktschule, Riesenklassen und Multikulti mit all seinen Problemen und Herausforderungen. Wieder standen in der Schule nicht die Lerninhalte im Vordergrund, sondern die Rangordnung im sozialen Gefüge und Äußerlichkeiten wie coole Kleider und Schminke. Gute Noten zu erzielen war mir gleichgültig. Ich konnte mich ohnehin gar nicht auf fachliche Dinge konzentrieren. Ich war schon als kleines Kind recht hibbelig gewesen. Das Kiffen hat sicher auch nicht gerade geholfen.

Da mein Vater selbst sehr autoritär erzogen worden war, wollte er uns den schulischen Druck, den er kannte, ersparen. Ich hatte zwar den Wunsch, in der Schule besser zu sein und an meinen Leistungen etwas zu ändern, wusste aber gar nicht, wo ich ansetzen sollte. Im Rückblick wurde mir klar, dass ich etwas mehr Unterstützung und Anleitung von meinen Eltern gebraucht hätte. Heute denke ich, dass mir damals etwas mehr Strenge gutgetan hätte.

Mir wären auch nie Ambitionen in den Sinn gekommen, in eine höhere Schule zu wechseln. Alle um mich herum waren ja auf der Hauptschule. Da wäre es doch komisch gewesen, wenn ich plötzlich auf das Gymnasium hätte gehen wollen.

Trotzdem hatte ich ein einziges Vorbild, das anders war: meine Tante. Sie hatte als Einzige in der gesamten Familie studiert. Sie war Bankerin, mit einem Arzt verheiratet und hatte sich ein wohlsituiertes Leben erarbeitet. „Gib dir große Mühe in der Schule, dann kannst du ein besseres Leben führen!“, ermunterte sie mich immer wieder. Doch ohne eine konkretere Motivation und regelmäßige Unterstützung im Schulalltag kam ich nicht voran. Ich fühlte mich darin komplett alleingelassen. Wo sollte ich denn ansetzen? Und vor allem, wo doch alle anderen um mich herum auch nicht bestrebt waren, aus ihrem Leben etwas zu machen. So dümpelte ich durch die Schule. Immer wieder schaltete sich meine Tante ein und ermutigte mich zu einem Schulabschluss. Wenn ich ihn schaffen würde, dürfe ich mir aussuchen, ob ich einen Roller-Führerschein machen oder mit ihrer Familie in den Urlaub fahren wollen.

Tatsächlich war ich von den angenehmen Lebensumständen meiner Tante und meines Onkels beeindruckt. Wann immer ich zu Besuch war und auf meine kleine süße Cousine aufpasste, wurde mir vor Augen geführt, dass Geld doch viele Wege eröffnet. Meine Cousine wurde gefördert und verwöhnt. Sechs Tage die Woche wurde sie zu irgendwelchen Aktivitäten und Hobbys kutschiert: Reiten, Tennis, Klavier … Ein Traum für mich. In diesem Haushalt wurden alle Probleme oder Bedürfnisse mit Geld gelöst. Auch schulisch bekam meine Cousine jede Hilfe, die sie brauchte. Wenn sie eine schlechte Note in der Schule schrieb, wurde einfach eine Nachhilfelehrerin engagiert. Geld war ja kein Thema.

Das war bei mir zu Hause anders. Unsere Eltern halfen uns zwar so gut es ging bei den Hausaufgaben, aber die ständige Unruhe in der Familie ließ gar keine Kontinuität zu. Meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und damit, den Alltag zu bewältigen. Eine wirkliche schulische Förderung erfuhr ich nicht. Und Geld für einen Nachhilfelehrer wäre gar nicht da gewesen. Aus einem guten Schulabschluss wurde (unter anderem deshalb) also nichts.

Mit meiner Leistungsfeststellung nach der neunten Klasse hatte ich auch keine großen Chancen. Genauso wenig wie meine Freundin Lilli, mit der ich damals fast alles gemeinsam tat, weil wir uns damit sicher fühlten. Das ging so weit, dass wir uns sogar am Vortag absprachen, ob wir gemeinsam die Schule schwänzen wollten. So hatten wir auch das erste obligatorische Schulpraktikum bei einem Malerbetrieb gemeinsam absolviert.

Nur für das zweite Praktikum trennten sich ausnahmsweise unsere Wege: Während Lilli bei einem Automechaniker unterkam, verbrachte ich eine Woche bei einer Floristin. Das war sofort mein Ding. Ich konnte mich kreativ austoben, durfte mir im Lager verschiedene Blumen und Gräser aussuchen und damit selbst Sträuße, Kränze und Töpfe gestalten. Die Floristin war so begeistert von meiner Arbeit, dass sie die fertigen Kreationen sogar im Laden zum Verkauf anbot.

Meine Chefin pflegte auch Gräber. Einmal fuhr sie mich auf den Friedhof, stellte Pflanzen und Blumen neben ein Grab, sagte: „Mach’ das mal schön!“ und ging wieder in ihren Laden. Ich war ganz perplex und stand erst einmal längere Zeit untätig da. Doch schon mit der ersten gepflanzten Blume war ich so vertieft in meine Aufgabe, dass meine Unsicherheit verflog. Am Nachmittag kam die Auftraggeberin total begeistert in das Geschäft: „Das Grab ist so toll geworden! Vielen Dank!“ Meine Chefin drehte sich zu mir um und deutete auf mich: „Das war Sara, unsere Praktikantin!“ Die Kundin bedankte sich herzlich bei mir und steckte mir 10 Euro zu. Das war für mich eine solch ungewohnte Bestätigung, ein derartig wunderbares Erfolgserlebnis in meiner sonst grauen Welt, dass ich mir dachte: „Ich könnte ja Floristin werden!“ Das sah meine Chefin ähnlich: Tatsächlich bot sie mir nach dem Praktikum einen Ausbildungsplatz bei ihr an. Endlich eine Perspektive! Ich schwebte fast nach Hause. Genau das war es: „Ich werde Floristin“, schwärmte ich meiner Mutter vor. Doch leider kam es anders. Sage und schreibe eine Woche vor Arbeitsbeginn verkaufte die Geschäftsführerin ihren Laden. Damit war mein Ausbildungsplatz als Floristin dahin.

Was sollte ich jetzt nur tun? Lilli hatte zwischenzeitlich einen Platz an einer Berufsschule für Maler und Lackierer bekommen. Aus Mangel an Alternativen meldete ich mich dort einfach auch an.

Überraschenderweise lief die Berufsschule allerdings richtig gut. Ich war sogar Klassenbeste. Die Lehrer dort schauten immer darauf, was wir konnten, nicht darauf, was uns noch fehlte. Das war für mich eine ungekannte Motivation. Nur leider war ich verführt, mit Lilli viel Quatsch zu machen. Und noch immer waren Drogen meine täglichen Begleiter. Wir nahmen sogar manchmal eine Bong mit in die Schule, um in der Pause zu rauchen. Obwohl ich das Jahr gut absolvierte, packte ich es hinterher einfach nicht, mich zu bewerben. Ich verstehe heute selbst nicht, warum. Stattdessen jobbte ich als Küchenaushilfe in einer Kantine – ohne Vertrag, fast rund um die Uhr. Nach ein paar Monaten wollte ich mich aber nicht länger ausbeuten lassen und schmiss den Job hin. Ab da lungerte ich zu Hause bei meinen Eltern herum, die mich finanzierten. Wie mir ging es vielen in unserem Viertel. Und so hingen wir gruppenweise im Park oder auf der Straße herum und rauchten. Ohne Perspektive. Ich fühlte mich wie immer nutzlos, wertlos, leer und ohne Identität. Das kannte ich nicht anders.

Identitätssuche war seit jeher mein großes Thema. Ich konnte mich nicht einmal richtig damit identifizieren, dass ich ein Mädchen war. Mit drei großen Brüdern hatte ich schon immer Schwierigkeiten gehabt, meinen Platz in der Familie zu finden. Ich hatte zwar ein eigenes Zimmer, aber ich musste teilweise die Kleidung meiner Brüder auftragen. Ich war also auch in der Schule nicht das typische Mädchen, das Rüschen liebte und Glitzer. Wenn ich ein normales Mädchen wäre mit rosa Kleidern und Haarspängchen, dann wäre ich bei den Lehrerinnen sicher beliebter, ist es mir oft durch den Kopf gegangen. Mein Markenzeichen war aber lange Zeit eher das Rowdy-Outfit. Ich spielte liebend gerne mit meinen Brüdern und ihren Freunden Fußball – und war sogar ziemlich gut. Aber irgendwann hörte ich auf mit ihnen zu kicken, weil ich von ihnen dafür gehänselt wurde, zu burschikos, so „un-mädchenhaft“ zu sein.

Doch als die erste Fußballmannschaft für Mädchen in unserem Ort gegründet wurde, trat ich dort bei. Drei Jahre lang trainierte ich mit ihnen. Mit zwölf Jahren musste ich allerdings aufgrund des Alters in ein anderes Team wechseln. Und noch immer wurde ich wegen meines Hobbys belächelt. Mädchen und Fußball? Das war für viele ein Widerspruch. Frauenfußball war damals gerade erst im Kommen. Für das, was ich gerne machte und gut konnte, bekam ich also wieder keine Anerkennung.

Tief in mir wollte ich eigentlich immer nur ganz „normal“ sein, mit einer normalen Familie, was auch immer das ist. Mein Selbstbild war auf jeden Fall ziemlich verquer. Ich war also weder ein richtiges Mädchen noch war ich ein Junge. Ich war anders als die anderen, fühlte mich überflüssig in dieser Welt. Total wertlos. Warum hatten meine Eltern mich überhaupt bekommen, wo doch eh alles so chaotisch war? Meine Selbstzweifel wurden immer lauter. Als Reaktion kiffte ich immer häufiger. Ich konnte in nichts einen Sinn sehen.

Als ich wieder einmal wie so oft bei Lillis Vater mit den anderen kiffte, lernte ich einen Freund von ihm kennen, der anders war. Er wurde von allen „der Heilige Peter“ genannt. Er ging offen mit seinem christlichen Glauben um. In unserem Freundeskreis wurde er deshalb belächelt. Lillis Vater nahm ihn auch gar nicht ernst: „Tu doch nicht so, du Pharisäer! Heilige Sprüche klopfen und gleichzeitig sündigen, das passt ja wohl nicht zusammen!“ Auch ich wusste damals nicht so recht, was ich davon halten sollte. Doch er hatte, auch wenn er selbst haschte, sein Leben im Griff. Das imponierte mir.

Er sah wohl Potenzial in mir und bot mir an, in der Kantine, die er gegründet hatte, eine Ausbildung zu machen. Eine großartige Chance. Die ich mir jedoch selbst verbaute. Ich ging ein paarmal hin, doch dann lernte ich Michael kennen. Wir verliebten uns, und ab dem Moment hing ich nur noch an ihm und ließ alles andere schleifen. Ich meldete mich so oft bei der Arbeit krank, dass ich mich irgendwann gar nicht mehr traute, dort aufzutauchen. Peter ließ lange Zeit nicht locker und rief immer wieder an, um mich zurückzuholen. Aber ohne Erfolg. Mein Weg war ein anderer. Noch.

Mit achtzehn Jahren wurde ich mit meiner ersten Tochter Alicia schwanger. Ein eigenes Kind war schon lange mein Traum gewesen. Mein Bruder war auch früh Vater geworden und ich war damals die stolzeste Tante im ganzen Ort. Wann immer ich meine Nichte mit dem Kinderwagen durch die Straßen schieben durfte, war das ein wunderbares Gefühl. Endlich ergab etwas Sinn in meinem Leben. Ich war so stolz. Damals gab es die ersten Fotohandys. Ich konnte gar nicht aufhören, von dem kleinen Wesen, für das ich dann verantwortlich war, Fotos zu machen. Diese Momente waren wie ein Hoffnungsschimmer auf eine heile Welt.

Und nun war ich selbst Mutter. Zuerst zogen Michael und ich zusammen in mein Kinderzimmer bei meinen Eltern. Man kann sich allerdings vorstellen, dass das kein geeigneter Ort war, um dort als Familie zu leben. Kurz nach der Geburt fanden wir Gott sei Dank eine eigene Wohnung.

Aber nicht nur für mich war die Geburt meiner Tochter das größte Glück. Auch für meinen Vater war dies ein einschneidender Punkt in seinem Leben. Nach zig Entgiftungen hatte es endlich Klick bei ihm gemacht: Die Tatsache, dass er nun der Opa meines Kindes wurde, brachte ihn dazu, wirklich hinzuschauen, warum er alkoholabhängig war. Mithilfe einer Psychotherapie in einer Entzugsklinik schaffte er es, noch als ich schwanger war, trocken zu werden. Doch alle um ihn herum bezweifelten, ob er es dieses Mal wirklich durchhalten würde, allen voran meine Mutter. Denn wie oft hatte sie erlebt, dass es wieder kippte. Erst nach ein oder zwei Jahren realisierte ich, dass mein Vater schon so lange nicht mehr getrunken hatte. „Hat er wirklich ganz damit aufgehört?“, versicherte ich mich bei meiner Mutter. „Ja, keinen Tropfen!“, bestätigte sie. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass die Atmosphäre in unserer Familie deshalb schon lange viel entspannter war.

Tatsächlich ist er bis zum heutigen Tag nie wieder rückfällig geworden. Das ist nun fünfzehn Jahre her. Ich glaube auch fest daran, dass es so bleibt. Ich bin so stolz auf ihn, dass er es geschafft hat, vor allem, weil es für Alkoholiker besonders schwierig ist, abstinent zu bleiben. Alkohol ist ja überall ohne jegliche Hürde und legal verfügbar. Auch wenn es weiterhin – ein ganzes Leben lang – ein Kampf für ihn bleiben wird, ist die Willenskraft meines Vaters so stark wie nie zuvor. „Sei kein Opfer!“ lautet sein WhatsApp-Status.

Ich bin Sara. Ohne h. Das war mir immer sehr wichtig. Meine Eltern haben mir oft erzählt, dass sie diese Schreibweise ganz bewusst gewählt haben, weil sie an die biblische Sara aus dem Alten Testament erinnern soll, an die Frau von Abraham. „Du bist etwas ganz Besonderes“, sagten sie dann liebevoll zu mir. Sara mit h gab es in meiner Schule oft. Ich aber durfte mich mit der Auserwählten aus der Bibel identifizieren. Irgendwie ahnte ich schon damals, dass ich auch nicht war wie die meisten anderen. Erst viele Jahre später, als ich anfing die Bibel zu lesen, wurde mir klar, wie sehr mein Name – ohne h – tatsächlich zu mir passte: „Sara rief: Gott lässt mich wieder lachen! Jeder, der das erfährt, wird mit mir lachen!“ (1Mo 21,6 Hfa) Denn da hatte ich es bereits erfahren: Der Herr hat mir meine Freude wieder geschenkt.

Alles für die Schönheit

Große Brüste, Wespentaille, lange glatte braune Haare, flacher Bauch, voluminöse Lippen – knallrot geschminkt –, schwarze dichte Wimpern, die Beine gleichmäßig gebräunt. Bauchfrei – klar, Hotpants – klar, enge hochhackige Stiefel – klar. Die farbigen Fingernägel aufgeklebt, vorne gerade, wie abgehackt und mit Strass verziert. Und: Gucci-Handtaschen! So und nicht anders! Die Frauen aus den Hip-Hop-Videos meiner Kindheit waren für uns Mädchen das Nonplusultra. Alles andere war nur Bullshit und Trash