BeHauptet - Ayla Işik - E-Book

BeHauptet E-Book

Ayla Işik

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was ist falsch daran, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen? Ayla Işik beschreibt den schwierigen Weg einer Muslimin, die sich den Glauben bewahren, aber den patriarchalen Gesetzen der Community nicht mehr unterordnen will. Ein Buch, das die innere Zerrissenheit muslimischer Frauen in Deutschland zeigt, das erklären, versöhnen und Mut machen will. Denn Freiheit und Gehorsam widersprechen sich. Dies ist kein Buch über das Kopftuch und doch spielt es eine große Rolle, denn oft fangen die Probleme genau dann an, wenn es als Symbol der inneren Befreiung abgelegt wird. Ayla Işik beschreibt ihren Weg aus dem engen Korsett der muslimischen Community hin zu einem selbstbestimmten Leben. Für Frauen, die nach Freiheit streben, heißt das nicht selten, auf die Kinder zu verzichten, von den Familien und der Gemeinschaft verurteilt zu werden und finanziell vor dem Nichts zu stehen, denn oft genug fehlen Berufsausbildung und somit die finanzielle Unabhängigkeit. Warum entscheidet sich eine Ehefrau und Mutter trotzdem für die Freiheit und gegen die soziale, religiöse und finanzielle Sicherheit? Ein Buch, das exemplarisch zeigt, wie schwierig und dennoch lohnend es ist, den eigenen Weg zu gehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 416

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ayla Işik

BeHauptet

Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ayla Işik

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Motto

BeHauptet

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Die Ereignisse, die im Buch geschildert werden, sind passiert, aber nicht so, wie sie geschildert werden. Namen, Orte, Handlungen und Ereignisse wurden verändert, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, sodass Ähnlichkeiten zufällig sind.

Inhaltsverzeichnis

Ich widme dieses Buch meinen Kindern und den Frauen, die diesen Weg gehen wollten, aber nicht konnten, und all jenen, die für ihren Mut mit dem Leben bezahlten

Inhaltsverzeichnis

verschwende nicht (Q17:26)

 

speise die Bedürftigen (Q22:36)

 

führe keine üble Nachrede (Q49:12)

 

halte deine Eide ein (Q5:89)

 

lasse dich nicht bestechen (Q27:36)

 

halte deine Verträge ein (Q9:4)

 

zügle deinen Zorn und vergebe anderen (Q3:134)

 

verbreite keine Gerüchte (Q24:15)

 

gehe vom Guten im anderen aus (Q24:12)

 

behandle deine Gäste gut (Q51:24–27)

 

sei gütig und geduldig mit deinen Eltern (Q17:23)

 

mache dich nicht über andere lustig (Q49:11)

 

laufe auf bescheidene Art und Weise (Q25:63)

 

entgegne Bösem mit Gutem (Q41:34)

 

predige nicht das, was du nicht selbst tust (Q61:2)

 

hüte das dir Anvertraute und halte deine Versprechen (Q23:8)

 

beschimpfe nicht die Götter anderer (Q6:108)

 

betrüge nicht im Handel (Q6:152)

 

gib anderen keine schlechten Beinamen (Q49:11)

 

erkläre dich selbst nicht für rein (Q53:32)

 

entgegne unhöflichen Menschen mit »Frieden« (Q25:63)

 

erwarte keine Gegenleistung für eine gute Tat (Q76:9)

 

schaffe Platz für Neuankömmlinge (Q58:11)

 

wenn dein Feind Frieden will, akzeptiere ihn (Q8:61)

 

halte anderen Menschen nicht deine guten Taten unter die Nase (Q2:264)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dieses Buch wird für viele eine Herausforderung sein. Es beschreibt meinen Weg aus den engen Strukturen einer Gemeinschaft von orthodoxen Musliminnen und Muslimen hin zu einem selbstbestimmten Leben. Unter »orthodox« verstehe ich ein auf Regeln fixiertes Religionsverständnis: Die Gebote und Verbote stehen im Zentrum und werden zu einem unhinterfragten Selbstzweck, sie werden nicht auf ihre Sinnhaftigkeit und Intention hin überprüft. Wichtig ist es mir zu betonen, dass Menschen, die Kopftuch tragen, beten oder fasten, kein Hinweis auf diese Art der regelgläubigen Orthodoxie sind. Auch ist der Kreis der orthodoxen Gläubigen relativ klein.

Mein Wunsch ist es, mit diesem Buch zwei unterschiedliche Welten zu erreichen. Einerseits die Welt meiner orthodoxen Glaubensgeschwister mit strenger Regelgläubigkeit und andererseits die Welt jener Menschen, die sich mit dem Islam nicht auskennen und keinen Bezug dazu haben. Für die Gruppe meiner Glaubensgeschwister wünsche ich mir, dass sie diesem Buch eine faire Chance einräumen und darin Werte wie Aufrichtigkeit, Geschwisterlichkeit, Barmherzigkeit und Kritikfähigkeit erkennen, die im Islam verankert sind. Für alle anderen Menschen wünsche ich mir, dass ihnen dieses Buch einen Einblick in die Lebens-, Denk- und Glaubensweise einer Gruppe bietet und sie die Parallelen zu anderen, ihnen bekannteren Strukturen erkennen.

Mein Buch erhebt nicht den Anspruch, ein theologisches oder wissenschaftliches Werk zu sein. Vielmehr erzähle ich meine ganz persönliche Geschichte und meinen Prozess der inneren und äußeren Auseinandersetzungen. Deshalb sollen weder meine Entscheidungen noch mein Lebensweg zum blinden Nachahmen animieren. Auch wurde das Buch nicht geschrieben, um eine Gruppe, einzelne Menschen oder eine bestimmte Religion zu verurteilen und der Öffentlichkeit vorzuführen. Vielmehr soll es seine Leser:innen für die feinen Unterschiede und Mechanismen freiheitlichen Glaubens, dogmatischer Religiosität und fanatischer Ideologie sensibilisieren und Mut machen, eigene Gedanken zuzulassen.

Dieses Buch ist also Zeitzeuge, Perspektive, Trost.

Bis zu meiner Entscheidung und auch eine Weile danach hatte ich Angst davor, die mir vertrauten Regeln, Verbote und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Zu den schwierigsten Aufgaben auf meinem bisherigen Lebensweg gehörte es deshalb, gegen die Angst anzukämpfen und sie zu überwinden. Jedes Mal, wenn ich dachte, dass ich es geschafft hätte, tauchte plötzlich eine neue Herausforderung auf, die mich zwang, genauer hinzusehen und differenzierter mit dem Erlebten umzugehen.

Was ich mir wünsche, ist eine Welt, in der wir anderen Menschen mit mehr Aufrichtigkeit, Verständnis und Offenheit begegnen.

Als Mutter, Tante, Schwester und Cousine möchte ich, dass meine eigenen Kinder und meine Nichten und Neffen, meine Brüder oder Cousins und Cousinen das Generationenkarussell unhinterfragter Glaubenssätze verlassen können, wenn sie es möchten. Die neue Generation soll sich mutig und ohne Angst Denkfreiheit erlauben. Eine Möglichkeit, wie das geschehen kann, wäre, wenn wir unsere Geschichten, Erfahrungen, Zweifel und Wünsche ehrlich erzählen und mit noch viel mehr Menschen teilen.

Geboren bin ich 1982 in einer deutschen Kleinstadt. Mit fünf Jahren zog ich in eine norddeutsche Großstadt, in der ich bis zu meinem Abitur lebte. Als einziges Mädchen und älteste von fünf Kindern wuchs ich in einer muslimisch praktizierenden Familie auf. Mit elf Jahren begann ich, ganz selbstverständlich und ohne es zu hinterfragen, Kopftuch zu tragen. Mit Ende sechzehn verliebte ich mich in einen palästinensisch stämmigen Mann, heiratete ihn mit achtzehn und machte mein Abitur. Mit einundzwanzig Jahren wurde ich zum ersten Mal Mutter.

Als meine eigene Mutter einen inneren Prozess durchlebte und begann, neugierig und kritisch theologische Fragen zu stellen, die für die Welt, aus der wir kamen, weder üblich noch gern gehört waren, stand ich ihrem Wandel kritisch gegenüber. Doch der unbarmherzige Umgang meiner Glaubensgeschwister mit ihr stellte mich vor noch größere innere Konflikte, sodass ich anfing, gleichermaßen und Stück für Stück das Regelkorsett infrage zu stellen. Ich geriet in eine fünfjährige Identitätskrise mit der Einsicht, dass ich alles bis dahin Geglaubte und Erlernte erst hinter mir lassen müsse, um einen authentischen Lebensweg gehen zu können. Auf diesem Weg begegnete ich vielen Menschen, die mich in meinem Prozess teilweise bis heute begleiten. Immer wieder musste ich feststellen, dass es vor allem Nichtmuslim:innen waren, die an meine Kraft und Stärke glaubten und mich in meinem Entschluss, diesen schweren Weg zu gehen, unterstützten. Nicht wenige Mitglieder meiner muslimischen Gemeinschaft hingegen konfrontierten mich mit Ablehnung, Belehrung und Diffamierung: Den positiven Zuspruch von Nichtmuslim:innen bekäme ich nur, weil ich offensichtlich meinem Glauben den Rücken gekehrt hätte. Es dauerte seine Zeit, bis ich die wahren Ursachen für ihr Verhalten erkennen konnte: Mit meinem Zweifel und meinen Fragen rüttelte ich am System. Deshalb richtet sich meine Kritik an den unbewussten und durch Nachahmung und Angst geprägten Dogmatismus. Für mich ist es heute Privatsache, ob Menschen sich streng an alle Regeln halten, ob sie die Gebote als Empfehlungen sehen und ob eine Frau ein Kopftuch trägt oder nicht. Mir erscheint es als eine Anmaßung, wenn der moralische Zeigefinger erhoben und mit Strafen gedroht wird. Die wichtigste Grundlage ist heute für mich das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung, gerade für Frauen in einer immer noch patriarchal geprägten Struktur. Ohne Autonomie ist der Mensch seelisch und geistig tot, deshalb ist es auch so wichtig, dass wir einander nichts vorschreiben, uns nicht bevormunden und nichts aufoktroyieren, sondern auf die positiven Einflüsse einer liebevollen Umgebung vertrauen.

Freiwilligkeit ist heute für mich die Grundvoraussetzung für alles.

Inhaltsverzeichnis

Stille. Ich öffne die Augen. Zwischen den selbst genähten Gardinen blitzt das Licht der Straßenlaterne. Die Gardinen sind aus weißem Samt, verziert mit grauen Gräsern. Als eine Freundin sie vor zwei Jahren nähte, irrte sie bei den Maßen, sodass die Gardinen nicht ganz zugezogen werden können. Das macht aber nichts, denn für mich gibt es nichts Schöneres, als mit natürlichem Licht aufzuwachen und der Sonne die Möglichkeit zu geben, mit ihrem Licht die Räume dieses Hauses lebendiger zu machen, denn in diesem Haus, meinem Haus, wird das der Sonne oft sehr schwer gemacht. In allen Räumen dienen die dickeren Vorhänge dem Schutz vor unbefugten Blicken, wenn es draußen dunkel ist. Die etwas dünneren Gardinen aus Tüll sind Sichtschutz bei Tag. Und so wie keine fremden Blicke in unser Haus schauen dürfen, kann es die Sonne ebenfalls nicht. Umso dankbarer bin ich über die zu knapp genähten Vorhänge, die mir morgens helfen, den Tag gemeinsam mit den ersten Sonnenstrahlen zu beginnen.

Heute früh allerdings möchte ich nicht aufstehen, möchte keine Sonne, kein Straßenlaternenlicht, keinen Start. Ich will die [13]Zeit stoppen, aufhören zu atmen, aufhören zu fühlen, aufhören zu denken, aufhören zu sein. Ich schließe die Augen, überlege, wie viele Stunden ich wohl geschlafen habe, und komme auf drei. Oder waren es vielleicht doch vier? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich das erste Mal nach längerer Zeit in dieser Nacht keine Panikattacke hatte. Nach Tagen der inneren Erstarrung hatte ich mich wieder in den Schlaf geweint.

Mist, denke ich, ich habe bestimmt geschwollene Augen, taste mit den Fingern über meine Oberlider und spüre die raue Kruste vertrockneter Tränen. Ich darf keine dicken Augen haben. Nicht heute. Ich stehe auf, gehe ins Bad, das an das Schlafzimmer angeschlossen ist. Bei der Planung musste ich den Architekten überzeugen, dass das für uns wichtig ist. Schließlich wollten wir unsere Ruhe vor den Kindern, dem Besuch und nicht zuletzt vor meinen Brüdern haben, die bei uns ein- und ausziehen würden – das stand vor dem Bau schon fest. Ich habe vier jüngere Brüder. Der Jüngste ist zwanzig Jahre jünger als ich, die anderen verteilen sich dazwischen.

Jetzt stehe ich im Bad, schaue in den Spiegel und sehe in meine verheulten Augen. So dürfen mich die Kinder nicht sehen. Ein Glück, dass sie noch schlafen. Ich setze mich auf den flauschigen Badezimmerteppich – mein Rücken an die runde Duschkabine gelehnt. Ich erinnere mich, wie ich die gerade Wand um die runde Duschkabine, die wir in einer Kamikaze-Wochenends-Aktion in Luxemburg gekauft hatten, abschlug, um sie anschließend rund wieder hochzuziehen. Die erstaunten Blicke des Handwerkers werde ich nie vergessen. Damals war die Welt heil, und im Rückblick weiß ich, dass sie es nur war, weil wir uns in eine Vorstellung geträumt hatten, die keinen Platz für unbequeme Fragen ließ. Wir planten unsere Zukunft, so wie wir es bei anderen gesehen hatten. Raus aus der Stadt, ein Haus bauen, einen Garten anlegen und Bäumchen pflanzen. Das Haus bauten wir ohne einen Cent Eigenkapital. Es war die Zeit, als die Zinsen im Keller waren und der Staat junge Familien mit zinslosen Darlehen unterstützte. Wir wollten keine Miete mehr zahlen, das Haus in den nächsten fünfundzwanzig Jahren abbezahlen und unseren Kindern später Eigentum hinterlassen. Dass die Geschichte anders verlaufen könnte, war keine Option. Wir waren das perfekte Paar, das von so vielen für ihre Liebe, ihren Zusammenhalt, ihre Familien, ihre tiefe Religiosität und ihr junges Elternglück beneidet und bewundert wurde. Und jetzt bauten wir so jung auch noch ein Eigenheim.

Ich sitze auf dem Boden und lehne mit dem Rücken an der Dusche. Tränen rollen mir über die Wangen. Nein, ich will nicht mehr weinen. Ich starre durch die himmelblauen Lamellen am Badezimmerfenster. Wie soll ich in wenigen Stunden für immer dieses Haus, mein Haus, verlassen können? Wie soll das gehen? Warum passiert mir so etwas? Wo ist hier die Gerechtigkeit? Die Kinder, mittlerweile sind es drei, zwei Söhne, eine Tochter. Sie müssen geweckt werden. Ich muss sie wecken. Ich stehe auf, wasche mir das Gesicht, nehme die kleine rituelle Waschung vor, um das Frühgebet noch rechtzeitig zu schaffen. Eiskaltes Wasser läuft über meine Hände und mein Gesicht. Ich halte die Unterarme unter das kalte Wasser, hebe den rechten Fuß ins Waschbecken, lasse das Wasser zwischen meine Zehen und über die Ferse laufen. Dann folgt der linke Fuß.

Die Reihenfolge der Waschung ist vorgeschrieben. Ebenso die Regel, dass die linken Körperteile den rechten folgen. Ich trockne meine Füße, gehe ins Schlafzimmer, das seit drei Monaten zu meinem persönlichen und spartanisch eingerichteten Rückzugsort geworden ist, ziehe mir die Gebetskleidung an, nehme einen Schal, wickle ihn mir um die Haare und um den Hals. Die Gebetskleidung, ein weit geschnittener Umhang, ein Kleid oder Rock, soll bei Frauen alles am Körper bis auf Hände und Gesicht bedecken. Männer müssen ihren Körper nur zwischen Bauchnabel und Knie bedecken, wobei die meisten Männer beim Gebet auch den Oberkörper bedeckt halten und eine längere Hose tragen. An diesem Morgen also werde ich mich in diesem Haus zum letzten Mal zum Gebet hinstellen. Das Gebet ist für mich zu einer Reise in mein Innerstes geworden. Es gab Zeiten, da war das Gebet eine Abfolge von Bewegungen, begleitet von Gedanken, die jenseits religiöser Inhalte waren, manchmal eine willkommene Unterbrechung einer anstrengenden Unterhaltung, eines unwillkommenen Besuchs, eines lästigen Termins oder aber auch nur Pflichterfüllung aus Angst vor Strafpunkten. Viele Muslime und Musliminnen glauben daran, dass ihnen gute Taten und das Befolgen der Regeln Punkte auf dem Paradies-Konto bringen. Das Pendant dazu ist das Minus-Konto, das sich bei Sünden und Regelbrüchen füllt. Und wenn am Ende des Lebens das Minus-Konto voller ist als das Paradies-Konto, wartet die Hölle.

In den letzten Monaten war das Gebet meine Rettung und meine Zuflucht. Ich fand nirgends so viel Trost und so viel Kraft wie in den Momenten des Gebets – der Zwiesprache mit meinem Schöpfer. Wenn ich mit meiner Stirn den Boden berührte, fühlte ich mich gehört und verstanden, geborgen und sicher. Und auch jetzt ist es nicht anders. Ich beginne wieder zu weinen und kann nicht mehr aufhören. Als meine Stirn den Boden berührt, ist mein Schluchzen nicht mehr zu überhören, bis ich das Klopfen an der zugesperrten Tür höre. Meine Kleinste, Leyla, ist wach geworden. Ich hoffe, nicht durch mein Weinen, denke ich laut zu mir selbst. Ich versuche mit der letzten Konzentration das Gebet zu beenden, stehe auf, ziehe mir die Gebetskleidung aus, gehe kurz ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen, und öffne die Tür. Vor mir steht meine Vierjährige mit ihren großen, wachen und dunkelbraunen Augen und fragt mich, wieso ich weine. Irgendwie bin ich heute dazu verdammt, nicht aufhören zu können. Ich nehme sie auf den Arm und schmiege meine Nase an ihren Hals, atme ihren Geruch tief ein und trage sie auf mein Bett.

Meine kleine Kämpferin. Die Schwangerschaft mit ihr kostete mich viel Kraft, doch ich wurde nach 41 Wochen belohnt, als mir die Hebamme nach einer schmerzvollen Sturzgeburt ein schweres Päckchen auf die Brust legte. In den darauffolgenden Minuten und Stunden wurde mir klar – dieses Kind wird eine Herausforderung. Es war bereits im Alter von fünf Minuten ein Charakterkind mit einem unbeugsamen Willen, einer Ausdauer und Zähigkeit, die ich in dieser Form von seinen beiden älteren Brüdern Adam und Noah nicht kannte. Doch genau diese Eigenschaften sollten uns beiden später als wahres Geschenk dienen.

Ich lege mich mit ihr unter die Decke und wir kuscheln. Lieber Gott, wenn es etwas gibt, was du mir bitte niemals nehmen sollst, dann ist es diese Nähe und Verbundenheit mit meinen Kindern, denke ich und halte unter der Decke ihre kleine Hand. Ich weiß noch nicht, dass dieses Band durch äußere Einflüsse in Gefahr geraten könnte. Irgendwann kommt Noah und schaut mich mit einem traurig fragenden Blick an. »Mami, warum bist du traurig?«. Seine Lippen zittern, seine Hände suchen mein Gesicht. Ich nehme sie und küsse sie, sage ihm, dass ich traurig bin, weil ich bald wegmuss. »Du darfst nicht gehen Mami«, höre ich ihn leise sagen. Seine kleine Schwester schweigt, doch ihr Körper spricht Bände. »Ich liebe euch und werde euch immer und ewig lieben.« »Bis zum Mond und zurück«, sagt Noah. »Ja, bis zum Mond und zurück und bis zum Mond und zurück und bis zum Mond und zurück. Tausendmal.« »Und ich dich eine Million Mal zum Mond und zurück, Mami.« Er legt sich zu uns.

Damals, vor sechs Jahren, platzte plötzlich meine Fruchtblase, während ich abends vor dem Fernseher saß. Ich wusste nicht, wie mir geschah, und befand mich urplötzlich in einer Gefühlsachterbahn aus Angst, Trauer, Freude und Aufregung. Angst, weil ich noch vage in Erinnerung hatte, wie es mir knapp fünf Jahre zuvor im Kreißsaal ergangen war. Trauer, weil die Schwangerschaft mit Noah zu der schönsten Zeit seit Jahren gehört hatte und ich nicht wollte, dass sie jetzt aufhörte, Freude, weil in mir die Hoffnung auf bessere Zeiten so stark wie nie war. Ich sprang von der Couch auf und lief ins Bad, während mir das warme Fruchtwasser an den Beinen herunterlief. »Bitte, ruf Caron an«, hörte ich mich mit überschlagender Stimme sagen.

Caron war meine belgische Hebamme, die kurz vor ihrer Pensionierung stand und mir in den vielen Monaten der Schwangerschaft mit ihrer mütterlich weisen und erfahrenen Art die Angst nahm. Bei ihr fühlte ich mich sicher. Sie redete nichts schön und blieb stets freundlich und bestimmt. Als Frau und Schwangere wusste ich, dass meine Belange und Bedürfnisse an erster Stelle standen. Caron fragte am Telefon, in welchen Abständen die Wehen kämen und dass ich mich ausruhen solle. Sie sei in spätestens einer Stunde bei mir. Als sie kam, lag ich auf der Couch. In der Zwischenzeit war bereits eine Freundin gekommen, um meinen großen Sohn abzuholen, denn es stand noch der Gedanke an eine Hausgeburt im Raum, und ich wollte unter keinen Umständen, dass er das mitbekam. Draußen war es bereits dunkel geworden. Caron und ich gingen ins Schlafzimmer. Ich legte mich aufs Bett, und Caron untersuchte meinen Muttermund. »Fünf Zentimeter. Wenn du wirklich zu Hause entbinden möchtest, sollten wir das langsam entscheiden. Sonst könnte es zu spät werden, um noch ins Krankenhaus zu fahren.« Wir befragten Caron und wollten in Bezug auf Risiken sichergehen, dass sie alles im Griff hatte. Sie machte uns mit kurzen Sätzen deutlich, dass sie eine Hausgeburt niemals in Erwägung ziehen würde, wenn es auch nur eine Kontraindikation gäbe. Doch die Anspannung im Raum war deutlich zu spüren, und unter diesen Umständen würde ich mich niemals in meiner Badewanne entspannen und im wahrsten Sinne des Wortes loslassen können. Also willigte ich ein, ins Krankenhaus zu fahren. Ich wusste, dass mir mit Caron an der Seite nichts passieren konnte und dass sie niemals ohne meine Zustimmung in Dinge einwilligen würde, die ich nicht wollte. Und so war es dann auch.

Während der gesamten Geburt waren wir unter uns. Die Ärztin warf einmal einen kurzen Blick in den Kreißsaal, sah, dass alles in Ordnung war, und ging wieder. Die Geburt verlief so, wie ich es mir gewünscht hatte – ganz natürlich, ohne unnötige Eingriffe, intim und trotzdem so schmerzvoll, dass mir die Luft wegblieb. Aber eine PDA wollte ich nicht. Lieber brüllte ich das Krankenhaus zusammen und krallte meine Finger in die Decke. Als mir Caron gegen fünf Uhr in der Früh unseren Sohn Noah auf den Bauch legte, konnte ich meinen Augen kaum trauen – ich hatte noch nie so ein schönes Kind gesehen. Große wache Augen schauten mich an. Eine Haarpracht, die mich breit grinsen ließ, denn er war unverkennbar eine perfekte Mischung aus uns beiden. Dieses Kind war ein absolutes Wunschkind.

Die darauffolgenden Tage waren ein Ankommen in der Realität und ein schöner Traum zugleich. Noahs Wesen half mir dabei, nicht in Wochenbettdepressionen zu versinken. Er war sensibel und weich und weinte selten. Trotzdem wurde mir schnell bewusst, dass mein Wunsch nach trauter Zwei- bzw. Viersamkeit nicht in Erfüllung gehen sollte. Zu sehr waren die Rolle der Mutter, des Vaters und die gesamte Familienstruktur in Stein gemeißelt. Ich verbrachte in den kommenden Wochen viele einsame Stunden mit meinem kleinen Sohn, weinte beim Stillen und Windeln wechseln, lag oft starr mit dem Blick zur Decke auf meinem Bett und kam bei den vielen Verpflichtungen als Mutter, Ehe- und Hausfrau kaum hinterher. Schließlich war da noch ein Fünfjähriger, der die volle Aufmerksamkeit einforderte, was schließlich auch sein gutes Recht war. Hilfe von der Familie gab es so gut wie keine. Meine Mutter wohnte zu weit weg und konnte ihre Hilfe nur anbieten, wenn sie uns besuchen kam, und andere Familienmitglieder sahen sich nicht in der Verantwortung, denn schließlich gab es noch weitere Töchter, die ihre ganze Aufmerksamkeit bei der Kinderbetreuung in Anspruch nahmen. Und die bekamen sie auch. Ich hingegen sollte mir selbst helfen und mich freuen, wenn die Kinder irgendwann alt genug seien, um ausziehen zu können, und dann meine Träume verwirklichen. Wie Frauen sich gegenseitig im Stich lassen können, würde ich im Laufe der Jahre noch an vielen Stellen zu spüren bekommen. Doch das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Die Rolle meines mittleren Kindes sollte sich mit der Zeit immer mehr herausstellen. Er war der Tröster, der Aufmerksame mit sechstem Sinn, derjenige, der es immer schaffte, mir in meinen traurigsten Momenten ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Er würde auch derjenige sein, der mich später mit Stolz und Freude über mein Leben überschütten sollte, aber auch das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.

Wir liegen zu dritt auf einer 90 Zentimeter breiten Matratze und fallen fast hinunter. Ich halte beide fest. Lange werde ich euch nicht mehr so festhalten können, denke ich. Die Gedanken werden lauter, und mein Bemühen, sie zum Schweigen zu bringen, endet wieder mit Tränen. So unterschiedlich beide in ihrem Wesen sind, so sehr ähneln sie sich jetzt gerade. Beide wissen nicht, was sie machen sollen, und der Zusammenhalt untereinander, der bereits seit mehreren Wochen immer stärker wird, ist unübersehbar. Mit Blick auf die Uhr weiß ich, dass wir nicht viel Zeit haben, denn im Zimmer nebenan schläft Adam, der zur ersten Stunde in die Schule muss. Das Aufstehen alleine fällt ihm mit dem Älterwerden zunehmend schwerer, und so gehört es seit Jahren zu meiner Aufgabe, ihn morgens im 5-Minuten-Takt aus dem Bett zu schimpfen. Doch heute kann ich weder schimpfen noch dafür sorgen, dass er pünktlich ist – und ehrlich gesagt ist es mir heute auch egal, ob er pünktlich zur Schule kommt. Und überhaupt – wieso war das seit Jahren immer meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder in diesem Haus seine Termine wahrnimmt?

Soll er halt ausnahmsweise zu spät kommen, schließlich ist heute kein Tag wie jeder andere, geht es mir durch den Kopf. Mit seinen zwölf Jahren ist er ein überdurchschnittlich selbstständiges Kind. Mit großem Sinn für Gerechtigkeit und einem Dickkopf, der ihn bereits bei seinen ersten Gehversuchen im wahrsten Sinne des Wortes regelmäßig auf den Boden zog. Unser Verhältnis hatte von Anfang etwas von einem Konkurrenzkampf. Mein Sturkopf gegen seinen Sturkopf. Seine Schwangerschaft überforderte mich lange, bevor ich von ihr erfuhr. Im Nachhinein weiß ich, dass die Überforderung dem Druck geschuldet war, mich beugen zu müssen und so jung schon ein Kind zu bekommen, wenn ich meine Ehe nicht riskieren wollte. Wenn es etwas gibt, was mir wohl bis zu meinem Lebensende wie ein festgewachsener Dorn im Herzen erhalten bleiben wird, dann ist es die traurige Wahrheit über das Fehlen eines unbeschwerten ersten Mutterglücks. Viel zu früh und viel zu schnell mussten Adam und ich einen Weg finden, aus der Situation das Beste zu machen. Er für sich in seinem Kindsein, ich für mich in meinem Muttersein. In meinem Fall mit einem riesigen Loch aus Trauer, Sehnsucht und Hoffnung. Da waren Themen wie ein abgebrochenes Studium, die nicht vorhandenen Reisen ins Ausland, die nicht gelebte Jugend mit all ihren Facetten, die Erfahrungen eines ersten Jobs, das Erkennen von Fehlern nach selbstständig getroffenen Entscheidungen – all das sollte für eine sehr lange Zeit, damals noch für immer, unerfüllt bleiben. Doch jede Faser meines Körpers schrie fast zwei Jahrzehnte lang danach, Erfahrungen machen zu dürfen. »Mami, du bist stark. Du wirst es auch ohne uns schaffen. Papa braucht uns«, sagte Adam, als ich ihm die Entscheidung, dass ich ohne sie ausziehen würde, mitgeteilt hatte. Bis heute hallen seine Worte in meiner Erinnerung nach. Ich erinnere mich, als wäre es gestern, wie mein Herz vor Schmerz explodierte und gleichzeitig von Liebe und Stolz überwältigt wurde. Und ich schämte mich meiner Schwäche als Erwachsene, während mein kleiner Junge nur so vor Stärke und Besonnenheit strotzte. Wenn er nur wüsste, wie oft ich in den vielen endlos einsamen und von Sehnsucht nach ihm und seinen Geschwistern heimgesuchten Nächten wach lag, laut weinte und Sorge hatte, dass die Nachbarn irgendwann an die Tür klopfen würden. Adams Worte gaben mir die nötige Kraft, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Genauso verhielt es sich mit meinem täglichen Gebet, das mir auf seine Weise Kraft gab, dessen Form sich aber im Laufe der nächsten Jahre verändern sollte.

Andere Worte wiederum wecken bis heute den Kampfgeist in mir. »Alleine wirst du es sowieso nicht schaffen!«

Inhaltsverzeichnis

Meine Geschichte ist die Geschichte vieler junger Mädchen, die davon träumen, als Ehefrau und Mutter ihr persönliches Glück zu finden. Sie ist eine Geschichte, die trotz ihrer Individualität stellvertretend für Millionen junger Mädchen und Frauen jedweder Kultur steht. Meine Gedanken, Ängste und Erfahrungen werden von vielen anderen Frauen, auch vielen Nichtmusliminnen, geteilt. Mein Nordstern war früher und ist bis heute die selbstbestimmte Freiheit. Obwohl ich viele Frauen kenne, die ohne diese selbstbestimmte Freiheit ein gutes Leben führen, weil sie sich der Maxime ihres Mannes, anderer Menschen oder den Regeln ihrer Gemeinde angepasst haben, weiß ich um das Gefühl, wenn etwas, das sich anfangs noch richtig anfühlte, plötzlich wie das Damoklesschwert am seidenen Faden hängt. Besonders, wenn die Freiwilligkeit eher Gewohnheit war und sich mit einem Mal in einen Zustand der Unfreiwilligkeit wandelt. Um es mit einem Vergleich zu erklären: Bevor Truman durch die Pappwand stieß, war seine Welt in Ordnung. Ich jedenfalls brauche Freiheit und wurde unglücklich, weil sie mir nicht gewährt wurde.

Damals, als all das in meinem Leben geschah, gab es keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen und der mir sagen konnte, wie ich am besten zwischen religiöser Komfortzone und selbstbestimmter Freiheit entscheiden sollte und ob meine Ängste bezüglich der möglichen Konsequenzen tatsächlich berechtigt waren. Letzten Endes blieb mir nichts anderes übrig, als mir jede Frage selbst zu beantworten, obwohl ich mir an vielen Stellen eine Orientierung gewünscht hätte.

Inhaltsverzeichnis

Ich war sechzehn Jahre alt und saß inmitten von Gleichgesinnten beim Jahrestreffen der Muslimischen Jugend Deutschland, einem Verein aus jungen, hier in Deutschland geborenen Muslim:innen. Das Ziel: den Jugendlichen aus religiös praktizierenden muslimischen Elternhäusern als Anlaufstelle zu dienen und dabei möglichst viele verschiedene Freizeitaktivitäten anzubieten. So gab es beispielsweise im Rahmen der Lokalkreise bundesweit in jeder größeren deutschen Stadt die Möglichkeit, sich im geschützten Raum zu treffen und dabei wie die »anderen« Gleichaltrigen seinen Spaß zu haben. Der einzige Unterschied zu konfessionslosen Jugendaktivitäten lag im Fokus eines gemeinsamen Regelbewusstseins und darin, seine Religion lieben, verstehen und praktizieren zu lernen. Für mich war die Muslimische Jugend mein zweites Zuhause. In der Zeit zwischen meinem dreizehnten und sechzehnten Lebensjahr verging kein Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Form aktiv am Gruppengeschehen teilnahm. So auch an diesem Treffen.

Neben meinen muslimischen Glaubensgeschwistern gab es auch »die Anderen« – das waren die mit anderen Wertvorstellungen, mit einem anderen Glauben, mit einer anderen Erziehung und mit anderen Zielen im Leben. Und »anders« war eben oft auch ein »Nicht-Gut« oder ein »Nicht-Richtig«, je nach Toleranz. Auch wenn diese Haltung nicht nach außen gezeigt wurde, war sie ein unausgesprochener Konsens. Ein Konsens, der für Zusammenhalt, Loyalität und Verständnis untereinander [23]sorgte. Rückblickend würde ich es Parallelwelt nennen oder das Leben in einer Bubble. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Muslimische Jugend neben meiner Familie und der Schule der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Freund:innen außerhalb hatte ich keine. Ich brauchte sie auch nicht, denn im vertrauten Kreis meiner Mädchengruppe waren genug Freundinnen, mit denen ich, ohne aus meiner Komfortzone treten zu müssen, Zeit verbringen und Gedanken austauschen konnte.

Bei dem diesjährigen Treffen sollte an diesem Wochenende ein neuer Vorstand gewählt werden. Wahlberechtigt waren nur die Mitglieder des Vereins, und die Wahl war für den frühen Abend geplant. Doch wie immer zogen sich die Vorträge der meisten Redner und der eher wenigen Rednerinnen sowie die Einwände der Hörenden und die erneuten Erklärungen der Redner:innen sowie die anschließenden Diskussionen zwischen Redner:innen und Hörenden in die Länge. Am Ende wurde es immer später als geplant, und eine Frage zog eine neue Frage nach sich. Ein wenig ist das vergleichbar mit einer Grundschulklasse, die wissbegierig nach Antworten sucht, aber mit den gegebenen Antworten entweder nichts anzufangen weiß oder die Antworten möglicherweise neue Fragen aufwerfen oder zum Umdenken auffordern. Doch der Konsens, dass Regeln wichtig sind und Sinn haben, gibt eine klare Struktur vor, es gibt wenig Raum für Interpretation, und bei Befolgung werden Zufriedenheit und Gottes Wohlgefallen versprochen. Eine dieser Regeln, die sich aus meiner Sicht an der Oberfläche bewegt, ist beispielsweise die Nagellack-Regel, die besagt, dass das Tragen von Nagellack nicht erlaubt ist, weil das Wasser während der rituellen Waschung, deren korrekte Ausführung wiederum Voraussetzung für das fünfmalige Pflichtgebet ist, dann nicht an die Fingernägel kommt. Ganz Pfiffige umgehen diese Regel, indem sie beispielsweise den Nagellack unmittelbar nach der Gebetswaschung auftragen und dann dafür sorgen, dass sie nicht in die Situation kommen, beim nächsten Gebet erneut die Waschung vornehmen zu müssen. Das wäre beispielsweise durch den Gang zur Toilette, das Entweichen von Darmgasen, durch das Bluten einer Wunde der Fall. Dann müsste der Nagellack runter. Als Antwort auf dieses Problem gibt es seit einigen Jahren wasserdurchlässigen Nagellack, der aber 20 Euro pro Fläschchen kostet und – für Jugendliche also fast unerschwinglich ist.

Eine weitere dieser Regeln, die bei unseren Zusammenkünften stets für neue Diskussionen sorgte, war das Verbot des Augenbrauenzupfens. Diese Regel hat den Hintergrund, dass es Muslim:innen nicht erlaubt ist, sichtbare und/oder nicht reversible Veränderungen am Körper, beispielsweise durch das Zupfen der Augenbrauen, das in meiner Familie verboten war, oder das Stechen eines Tattoos, durchzuführen – Monobraue hin oder her. Bärte und Kopfhaare sind von dieser Regel ausgenommen. Auch die Dos und Don’ts, wie eine Unterhaltung zwischen Mann und Frau geführt wird – mit so wenig Blickkontakt wie möglich –, sind im Islam geregelt. Heute frage ich mich, wie Heranwachsende jemals in die Situation der Eigenverantwortung kommen können, wenn ihnen der Zugang zu eigenen Erfahrungsprozessen aufgrund von diesen und anderen Normen und Regeln verwehrt bleibt?

An dieser Stelle mag man die Sinnhaftigkeit und insbesondere die Aktualität dieser Regeln infrage stellen, denn Tattoos sind bereits seit Längerem entfernbar und Augenbrauen wachsen, seit es Menschen gibt, nach. Doch wenn es um diese und ähnliche Regeln geht, bei denen der Interpretationsspielraum, angefangen vom Zweck bis hin zum persönlichen Stellenwert, weit gefasst werden kann, führt es oft dazu, dass die Regeln so lange diskutiert und infrage gestellt werden, bis der Fragende seine individuelle und befriedigende Antwort erhält. Doch wo es früher noch wenige Anlaufstellen für die religiösen Fragezeichen im Kopf gab, wuchs mit der Digitalisierung auch der Markt der Online-Geistlichen, um der entsprechenden Nachfrage gerecht werden zu können. Das Ergebnis dieser Entwicklung lässt mich täglich aufs Neue die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ich einen Blick in die Kommentarspalten selbst ernannter Theologen und Islamkenner auf Instagram, Facebook und YouTube werfe. Nicht selten stellt sich mir dann die Frage, wieso Menschen für Entscheidungen, die ihr persönliches Leben betreffen, die Meinung und das Wissen eines fremden Menschen hinzuziehen, der sich innerhalb anerkannter Lehrmeinungen bewegen muss. Die Antworten der Geistlichen werden in den allermeisten Fällen nicht infrage gestellt. Wieso ordnen sich Menschen den zum Teil sehr willkürlich anmutenden religiösen Regeln, die das Leben bis ins Detail festlegen, unter? Ist es vielleicht die Sicherheit, weil sie dann nicht Gefahr laufen, sich möglicherweise für den falschen Weg zu entscheiden? Oder spielt hier das religiöse Versprechen auf ein gutes Leben, die Geborgenheit durch die Gruppenzugehörigkeit und die Angst vor dem möglichen Alleinsein eine Rolle? Ist es vielleicht auch eine gewisse Faulheit, vielleicht sogar eine Unfähigkeit, nicht selbstverantwortlich und täglich aufs Neue eigene Entscheidungen treffen zu müssen, weil das andere schlicht bequemer ist? Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich die Mechanismen und Strukturen hinter dem erkennen konnte, womit ich mehr als drei Jahrzehnte meines Lebens tagtäglich konfrontiert war. Aber die Antworten stimmten mich traurig und zeitweise auch wütend. Ich wollte und konnte nicht begreifen, dass weltweit Millionen Menschen an Fernsehern, auf YouTube, TikTok, Instagram oder Facebook fragend an den Lippen dieser geschulten und gut in Szene gesetzten Online-Geistlichen hängen und dabei das Wertvollste verpassen, das ein Mensch für sich tun kann – nämlich eigenverantwortlich und selbstbestimmt das Für und Wider abwägen und mit bestem Gewissen eigene Entscheidungen treffen. Egal, ob sie letztlich richtig oder falsch sind. Ich jedenfalls sehe die starre Befolgung von vorgegebenen Regeln heute kritisch, denn obwohl ich die Gründe hinter diesem Verhalten verstehe, kann ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen behaupten, dass Lernen und inneres Wachstum nur durch Probieren, Abwägen, Hinfallen, Aufstehen, Reflektieren und wieder Von-vorne-Anfangen funktionieren können.

In diesem Buch werde ich an der einen oder anderen Stelle noch auf weitere Regeln genauer eingehen. Dabei ist es nicht meine Absicht, die für viele Menschen so wichtige Grundlage ihrer Religion zu kritisieren. Vielmehr geht es mir darum, auf die so selbstverständlich gewordene Praxis des Nachmachens und Nicht-Hinterfragens hinzuweisen, in der Hoffnung, dass Bewegung in die Köpfe und Herzen derjenigen Menschen kommt, die ihre autonome Entscheidungsfähigkeit in die Hände religiöser Regeln und Oberhäupter legen. Es spielt primär auch keine Rolle, um welche Religion oder welche Bereiche des Lebens es geht. Denn ich bin überzeugt davon, dass Gutes und Nachhaltiges nur dort gedeihen kann, wo Veränderung stattfindet, und unzeitgemäße, falsche und die Menschen zur Heuchelei verleitende Lebensmodelle nur dort entstehen können, wo Nachahmung und blinder Gehorsam gelebt und gefordert werden.

An den Jahres- und Lokaltreffen der jeweiligen Städte dürfen sowohl Gäste als auch Mitglieder teilnehmen, wohingegen die Wahlberechtigung ausschließlich den Mitgliedern vorbehalten ist. So auch auf diesem Jahrestreffen. Während sich nun die Nichtmitglieder auf ihre warmen Betten freuten, die in den weitläufig verteilten und nach Geschlechtern getrennten Gebäuden auf sie warteten, versammelte sich eine Gruppe aus knapp einhundert Menschen im großen und mit Teppich ausgelegten Raum, der in erster Linie für die gemeinsamen Gebete genutzt wurde. Wie selbstverständlich saßen auf der einen Seite die Frauen und auf der anderen die Männer. Dazwischen wurde ein Durchgang gelassen. An dieser Stelle von Frauen und Männern zu sprechen, scheint mir unpassend, denn das Alter der Teilnehmer:innen, der Schwestern und Brüder, wie wir uns untereinander nannten, lag zwischen zwölf und zwanzig Jahren. Das Alter der Betreuerinnen und Betreuer ging bis Ende dreißig. Auf der Seite der Schwestern wurde ständig gekichert, denn es gab immer den einen oder anderen Bruder, bei dem eine von ihnen davon ausging, ihr sei ein verheißungsvoller Blick zugeworfen worden. Für uns Mädchen, aber auch für die Jungs, waren diese Treffen weitestgehend die einzige Möglichkeit, in einem Raum zu sein und vom jeweils anderen Geschlecht wahrgenommen zu werden. Neben pubertären Schwärmereien gab es aber auch genug junge Menschen, die es sich zum Ziel gemacht hatten, eine:n heiratstaugliche:n Partner:in zu finden.

Ich gehörte zu der Sorte Mädchen, die sich zwar hinsichtlich ihrer Außenwirkung unsicher war, aber trotzdem, wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass ich nur mit jüngeren Brüdern aufwuchs, einen sehr entspannten und fast schon kumpelhaften Umgang mit Jungs im Allgemeinen oder eben mit den Brüdern im Speziellen pflegen konnte – wenn es nicht jene gab, die sich dem Glauben und dem Befolgen der bereits erwähnten Regeln auf eine fast schon zwanghafte Weise verpflichtet fühlten. Rückblickend würde ich sie die Sittenwächter nennen, denn sie erschwerten mir das Leben, wenn sie mein Verhalten infrage stellten und durch ständige Ermahnung für die Einhaltung der Anstandsregeln sorgten, wie beispielsweise die Stimme und den Blick zu senken. Dadurch schafften sie eine Atmosphäre der richtig praktizierten Religiosität und riefen uns unsere persönliche Schamhaftigkeit in Erinnerung. Der Anstand, aber auch die Interessen und Themen, die man von sich preisgibt, sind in muslimischen Kreisen eine unausgesprochene Währung, weil sie über Status und Wert eines Gläubigen innerhalb der kleinen und großen Gemeinschaft entscheiden können. Je höher dieser ist, desto größer sind die Chancen auf ein hohes Ansehen, eine:n bessere:n Partner:in oder eben die Aussicht auf einen verantwortungsvollen Posten innerhalb der Gruppe, der allerdings, früher jedenfalls, meist ausschließlich Männern zustand. Zu der Wahl guter Themen und Interessen gehören Dinge jenseits von haram-Themen, wie beispielsweise Gebote, die Aspekte des Benimms und Anstands regeln. Alles, was nicht explizit verboten ist, ist erlaubt. Hinzu kommen viele ungeschriebene Benimm- und Anstandsregeln, die nicht selten von Scham besetzt sind – im Türkischen und im Arabischen wird hierfür gerne der Begriff ayip verwendet – schändlich, moralisch verwerflich, beschämend. Doch greifbarer sind zunächst die Regeln, die sich mit klaren Verboten befassen.

Neben den religionsübergreifenden Verboten, die mit den zehn Geboten verglichen werden können, gehören zu den islamischen Verboten beispielsweise das Alkoholverbot, das Versäumen von Pflichtgebeten, das Nichtfasten im Monat Ramadan (außer unter besonderen Umständen wie Schwangerschaft, Stillzeit oder Krankheit), das Beigesellen göttlicher oder gottähnlicher Urschöpfer neben dem einen Gott, uneheliche Beziehungen/Beziehungsanbahnungen, Analsex, aber auch die bereits genannten Dinge wie Tattoos stechen lassen, Nagellack tragen oder das Zupfen der Augenbrauen. Letztere zwei zählen dabei eher zu den Halb-Verboten, wenn beispielsweise der Nagellack während der rituellen Waschung nicht aufgetragen ist oder die wasserdurchlässige Sorte benutzt wird. Im Falle der Augenbrauen werden beim Zupfen des mittleren Parts der Augenbrauen Ausnahmen gemacht. Mir wurde früher gesagt, dass ich zwar den Bereich über der Nase zupfen könne, aber die restliche Form meiner Augenbrauen nicht verändern dürfe.

Wenn es um die größeren Pflichten geht, zu denen unter anderem auch das tägliche fünfmalige Gebet oder das Fasten im Monat Ramadan gehören, gibt es immer wieder Momente der Lustlosigkeit oder Schwäche, und obwohl das bekannte Phänomene sind, wird darüber nie laut gesprochen, denn sie werden nicht selten als Zeichen eines schwachen Imans (Glaubensstärke) interpretiert und durch Ermahnungen Dritter sanktioniert. Auch wenn der oder die Erinnernde nur an die Pflicht zur Erinnerung/Ermahnung verweist, ist es letzten Endes beschämend. Die Nasiha gehört zur Aufgabe eines Muslims. Jemanden, der sich vermeintlich auf religiösen Abwegen befindet, durch einen geschwisterlichen Rat wieder auf den richtigen Weg zu führen, geschieht auf so unterschiedlich Weisen, wie es Menschen auf der Welt gibt. Es reicht von gleichgültiger Beiläufigkeit bis hin zur vorwurfsvollen Maßregelung. Ersteres erfuhr ich auf indirekte und respektvolle Weise innerhalb meiner Familie, Letzteres hingegen sollte mir viel später in meinem Leben einige Male widerfahren. Aber bis zu diesen einschneidenden Erfahrungen war es noch ein weiter Weg. In den Jahren der Pubertät lernte ich beispielsweise, dass die größte Ursache für einen schwachen Iman angeblich der Nafs sei, dem man mit den Begriffen »Triebseele« oder »innerer Schweinehund« nicht gerecht wird. Dem Nafs sind verschiedene Eigenschaften zuzuschreiben, je nachdem, in welchem geistigen oder spirituellen Stadium sich sein Mensch befindet. Heute, viele Jahre später, verstehe ich unter diesem Begriff weder etwas Schlechtes noch Gefährliches, sondern die Summe urmenschlicher Eigenschaften, die in unterschiedlichen Anteilen in jedem von uns vorkommen und nicht selten für viele wertvolle Erfahrungen sorgen können.

Zu den unanständigen und verpönten Themen gehörten beispielsweise das Reden oder Erzählen von Sexpraktiken – allgemein war das Thema Sex schambesetzt –, aber auch lüsterne Gedanken, die einen dazu verleiten könnten, etwas zu tun, das den gegebenen Rahmen des Erlaubten sprengt – zum Beispiel Pornos schauen, Selbstbefriedigung, Sexfantasien mit einem anderen Partner oder einer anderen Partnerin oder ungewöhnliche Sexpraktiken, wenngleich interessanterweise der Islam, außer beim Analverkehr, keine Regeln oder Verbote aufstellt, solange sie im ehelichen Rahmen geschehen. Da diese Themen allerdings tabuisiert und von Scham belegt sind, ist es eine Seltenheit, wenn überhaupt jemand darüber spricht. Die Sorge, dadurch in Verruf geraten zu können, ist nach wie vor groß. So liegt es nahe, dass Schamhaftigkeit im religiösen Kontext eine ehrenhafte und erstrebenswerte Eigenschaft ist, die es aufrechtzuerhalten gilt.

Auch in meiner Familie wuchs ich mit dem Thema Scham auf. Nacktheit war ayip, und mein immer weiblicher werdender Körper wurde mit jedem weiteren Jahr zur Tabuzone. Ein Beispiel aus meiner Kindheit war der erste Schwimmunterricht in der dritten Klasse. Es war eine unausgesprochene und selbstverständliche Regel, dass ich unter meinem Badeanzug eine mindestens knielange Leggings aus Nylon tragen sollte. Als meine Schwimmlehrerin sich weigerte, während des Schwimmunterrichts auf mich aufzupassen, wenn ich in dieser Kleidung am Unterricht teilnehmen würde, endete die Auseinandersetzung zwischen ihr, meiner Mutter und dem Schulamt damit, dass sie mich von der Schule abmeldete und ich in eine andere Grundschule kam. Die knielangen Leggings wurden auch getragen, wenn ausschließlich Frauen im Schwimmbad waren, und ich trug sie noch einige Jahre nach dem Ablegen des Kopftuchs.

Ebenso verhielt es sich mit meiner Sexualität. Jungs waren tabu, genauso auch meine Lust, die ich mit zehn oder elf Jahren zum ersten Mal wahrnahm. Meine ersten Experimente mit Selbstbefriedigung machte ich heimlich und voller Angst, entdeckt zu werden. Weder wusste ich, was ich da gerade tat, noch warum ich es tat oder wie man es am richtigsten macht. Wegen der Scham, über sexuelle Dinge zu sprechen, und des Verbots der Selbstbefriedigung fand keine Aufklärung statt. Einzig das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, stand über allem. Viele Jahre lang. Rückblickend weiß ich, insbesondere durch Gespräche mit meiner Mutter, dass das Thema Sexualität auch von ihrer Seite von Scham und Unsicherheit begleitet wurde, darüber sprechen aber in ihrem damaligen wie heutigen Verständnis nicht verboten war.

Um nicht ins Schussfeld negativer Vorstellungen durch andere zu geraten, hütet man sich davor, gewisse Vorlieben oder Neugier mit anderen zu teilen. Auch im Falle eines möglichen Kennenlernens mit der Absicht zu heiraten, werden Informationen größtenteils durch Dritte eingeholt. Dass hier freizügiges Denken und Reden keine gute Voraussetzung sind, um bei dem oder der Zukünftigen im guten Licht zu stehen, ist selbsterklärend. Was die Wahl eines guten Partners angeht, hatte ich durch mein kumpelhaftes Verhalten einerseits und meine Unsicherheit andererseits sowieso keine guten Startvoraussetzungen, um aus der Menge positiv herauszustechen und somit einen guten Fang zu machen.

Dass auf dieser Veranstaltung alles anders laufen würde und sich bald mein ganzes Leben verändern sollte, konnte ich zu Beginn des mehrtägigen Treffens noch nicht wissen.

Für die Auszählung der abgegebenen Stimmzettel sollten sich zunächst die Nichtmitglieder melden, die vereinzelt in den Reihen von uns Mitgliedern Platz genommen hatten. Für mich war es kaum vorstellbar, dass zu so später Stunde noch Freiwillige anwesend waren, die statt wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, lieber hier saßen. Ein junger Mann stand auf und wurde vom Vorsitzenden des Vereins für seinen selbstlosen Einsatz mit einem herzlichen Zwinkern gelobt. »MaschaAllah, Bruder. Mögen dir deine Mühen vergolten werden«, sagte er. Mir war besagter Bruder Tarek während der Veranstaltung am Abend zuvor aufgefallen, als ich mit meinen Freundinnen in der ersten Reihe im großen Saal gesessen hatte. Zum Programm gehörte der Auftritt zweier junger Pop-Künstler, die in der Szene mittlerweile große Bekanntheit hatten. Mit ihren muslimischen Texten trafen sie den Nerv und die Themen der Jugendlichen. Das Benehmen der pubertären und hormonüberschüssigen Mädchen berührte mich peinlich, denn ich konnte ihrem offensichtlichen Kokettieren und den für mich unpassenden Flirtversuchen nichts abgewinnen. Schließlich wusste doch jede:r der Anwesenden, was sich gehörte und was nicht.

Während die Mädchen bemüht waren, die allgemeinen Anstandsregeln irgendwie einzuhalten und trotzdem für Aufmerksamkeit zu sorgen, saß ich mit einer unübersehbaren Abwehrhaltung fremdschämend auf meinem Stuhl. Rückblickend weiß ich, dass auch ich damals oft den inneren Zeigefinger erhob und mich im Grunde nicht von denen unterschied, die ich für ihren Übereifer im Ermahnen verurteilte. Doch genau dieses schamhafte und anständige Verhalten war es offenbar, was bei Tarek gut ankam. Zu dieser Zeit entschieden auch bei mir sittsame Eigenschaften über Hop oder Top. Und er imponierte mir. Einige wenige Blicke wechselten wir, während die Stimmzettel von einem anderen Bruder eingesammelt wurden.

Nach der Wahl des neuen Vorsitzenden, als wir ohne Schlaf, dafür frisch und mit vollzogener Gebetswaschung am Morgen den großen Raum wieder betraten, war dieser bereits gelüftet und sollte nun wieder für seinen ursprünglichen Zweck genutzt werden. Nach dem Gemeinschaftsgebet saßen wir noch in mehreren Reihen zusammen. Mein jüngerer Bruder, mit dem ich zum Treffen angereist war, kam zu mir. Er begleitete mich nicht, weil ich nicht alleine reisen durfte, sondern weil er nach der Meinung meines Vaters die Gelegenheit nicht verpassen sollte, Anschluss an Gleichgesinnte zu finden.

In der Reihenfolge meiner Geschwister gibt es ein System: Ein Extrovertierter folgt einem Introvertierten. Als Erstgeborene und Extrovertierte folgte mir mein introvertierter Bruder. Diesem ruhigen und in sich gekehrten Kind wurde sein Gemüt oft zum Verhängnis. Denn wer nicht spricht, kann weder auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen noch auf seine Rechte bestehen. So sehr er in der Kindheit und Jugend durch Schule, Geschwister und Freunde hin und her geschubst wurde, so sehr schätzt ihn heute jeder für seine Besonnenheit und Ruhe. Er ist von uns Kindern meinem Vater am ähnlichsten. Geduldig, ruhig, harmonieliebend und viel zu gutgläubig. Im Türkischen nennt man diese Sorte Mensch auch saf. Übersetzt bedeutet es so viel wie »rein und unbedarft«, aber auch »naiv«, jemand, der hinter einer Handlung nicht sofort eine mögliche schlechte Absicht erkennt. Eine, wie ich finde, schöne Eigenschaft, vor allem, wenn man sich mit den Jahren der Erfahrungen eine gesunde Methode des Selbstschutzes zugelegt hat, wenngleich sie unter vielen Menschen als eine nicht wirklich erstrebenswerte Eigenschaft gesehen wird. So beantwortete er offen alle Fragen, die Tarek hatte.

Der Tag ging langsam zu Ende, und die bevorstehende Abreise stimmte alle traurig. Doch im Mittelpunkt stand zum allerletzten Mal das Spiel »Sehen-und-Gesehen-Werden«. Es war die letzte Chance, vor der Abreise gegenseitige Blicke zu erhaschen, deren Intensität letztlich darüber entschied, ob und wie es zu einem weiteren Kontakt kommen würde. Mich hatte dieses Spiel auch gepackt. Die Reisebusse, die die Jugendlichen nach vier gemeinsamen Tagen wieder in alle Himmelsrichtungen in ihr Zuhause bringen sollten, parkten nach und nach vor der Einfahrt. Ich wollte noch nicht in den Bus einsteigen und ging mit meiner Freundin zu der etwas entfernten Grünanlage. Die Lage war gut, denn von den Bänken aus war der Blick auf die Parkplätze, den Innenhof und den Vortragsraum frei. Er kam aus dem Haus, und unsere Blicke trafen sich. Mein Herz rutschte mir in die Hose, und mit einem Mal wurde mir klar – ich hatte mich verliebt. Im nächsten Augenblick wurde mir bewusst: bis auf seinen Vornamen wusste ich nichts über ihn. Weder woher er kam, noch, wie alt er war, und erst recht nicht, ob er mich ernsthaft mögen könnte. Aber meine Schüchternheit, mein erlernter Anstand und meine Unerfahrenheit machten allein die Idee, ihn anzusprechen, unmöglich.

Im Bus nahm ich auf meinem Sitz Platz und zog mir die Jacke über den Kopf. Ich wollte nicht, dass jemand sah, dass ich weinte. Zu schön waren die vergangenen 48 Stunden gewesen, zu sehr hatte ich die Aufmerksamkeit genossen, und zu sehr stimmte es mich traurig, dass das nur ein kurzer Ausflug in die Welt der Schmetterlinge gewesen sein sollte. Die gestrige Antwort meines Bruders auf die Frage, ob er ihn gesehen habe (»Ja und er hat ein Sixpack«), schwirrte mir in diesem Moment durch den Kopf und half mir nicht wirklich dabei, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Mein Bruder hatte verraten, dass wir aus einer großen türkischen Familie kamen. Hatte ihn das vielleicht erschreckt? In der Community waren besonders türkische Familien dafür bekannt, dass sie Anstandsregeln und das Behüten ihrer Töchter sehr ernst nahmen.

Zu Hause angekommen zog ich mich erst mal in mein kleines Reich zurück, nicht ahnend, dass all das Geschehene noch eine lange Geschichte nach sich ziehen sollte. Am Morgen nach meiner Ankunft legte ich mich zu meiner Mutter ins Bett und erzählte ihr von der Begegnung. Sie stellte Fragen. Viele Fragen. Doch leider konnte ich sie kaum beantworten. Stattdessen überlegte sie mit mir, wie wir weitere Informationen über ihn herausfinden könnten. Für mich kam das nicht infrage, denn um an Informationen zu kommen, hätten wir Kontakt zu den Verantwortlichen der Veranstaltung aufnehmen und ihnen die Ernsthaftigkeit der Lage darlegen müssen. Was grundsätzlich kein Problem gewesen wäre, denn schließlich waren wir gut vernetzt und meine Mutter für ihren Mut bekannt. Doch mir war das alles zu peinlich, und so musste ich sie in ihrer Euphorie, tätig werden zu wollen, bremsen. So vergingen die Tage, und man konnte mir ansehen, dass irgendetwas anders war als sonst. Ich war traurig und still, denn ich war mir sicher, dass es kein Wiedersehen geben würde. Gleichzeitig war in mir eine Stimme, die mir sagte, dass ich als Mensch kaum imstande war, das Schicksal zu lenken.

An einem Morgen im Mai, wenige Wochen nach meiner Rückkehr vom Treffen, verließen meine Mutter und ich gemeinsam das Haus, um einen Termin wahrzunehmen. Sie ging an den Briefkasten und holte einen Brief heraus. Den Absender kannten wir nicht. Es war der Name einer Frau. Der Brief war an mich adressiert. Mir rutschte das Herz in die Hose. Nein! Das konnte doch jetzt nicht …

Meine Hände zitterten, aber meine Mutter schien nichts zu merken. Sie hatte meine Verliebtheit in die Schublade »unerfüllt und abgehakt« gelegt. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und öffnete mit zitternden Fingern den Umschlag, holte den Brief heraus und begann zu lesen. »Liebe Schwester …

Währenddessen fuhr meine Mutter nichts ahnend los. Hektisch blätterte ich von Seite zu Seite, las aufgeregt die Zeilen und wandte mich ihr zu: »Weißt du noch, als ich dir von diesem Typen erzählt habe? Ich habe hier einen Brief von ihm.« Sie schaute mich mit einem ungläubigen Blick an. »Wenn du kurz anhältst, kannst du ihn lesen.« Sie parkte das Auto und nahm den Brief. »Das ist doch von einer Frau geschrieben«, sagte sie lächelnd. »Nein. Von ihm. Da sind versteckte Hinweise, die nur er und ich wissen können. Glaub mir.« Auch sie blätterte durch die Seiten, drehte sie um, las quer und schaute mich an. »Okay und jetzt?« Ich zuckte mit den Schultern, sie hingegen wusste genau, was zu tun war.

Was ich immer an meiner Mutter bewundert habe und bis heute bewundere, ist, dass sie eine Macherin ist. Sie vertraut auf ihre Intuition, hat einen unerschütterlichen eigenen Willen, pfeift auf Konventionen und glaubt zunächst immer an das Gute im Menschen. Ihr Handeln trägt die Handschrift einer mutigen Frau.

»Ich rufe Muhammad an. Der wird schon wissen, wer dieser Bruder ist.« Muhammad war der Vorsitzende der Muslimischen Jugend, und ich wusste, dass ich sie dieses Mal nicht mehr davon abhalten konnte. Tief im Herzen wollte ich es auch nicht, und so drängte ich sie dazu, es gleich heute zu tun.

Was danach passierte, glich dem Umschmeißen des ersten Dominosteins. Meine Mutter ließ sich versichern, dass er ein guter Junge aus einer guten Familie war. Somit stand einem Antwortbrief meinerseits und dem darauffolgenden gemeinsamen Kennenlernen nichts mehr im Weg. Auf meinen Antwortbrief folgte wieder ein Brief, dem wiederum meine Antwort folgte.