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Szenen aus dem Zwiebelfisch in Berlin-Charlottenburg, der längst Legende ist. Eine "Kiezkneipe" für Menschen aus allen sozialen Schichten. Für Tagträumer und Nachtschwärmer. Für Menschen, die ankommen wollen - für eine Stunde, für einen Abend, für eine lange Nacht. Ein faszinierender Mikrokosmos.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Zur Erinnerung an Axel, einen liebenswerten Freund
Vorwort
Prolog
Einen Monat später – was suche ich hier?
Faschingsdienstag im Zwiebelfisch
Tavlispieler und das Kneipenteam
Ein junges Paar – Wiedersehen und Abschied
Frühlingswind
Ein offener Abend
Sommer am Savignyplatz
Stürmische Winde
Der Zwiebelfisch am frühen Abend
Sommerende
Alte Menschen
Ankunft eines kleinen Mädchens
Am Tag vor Heiligabend
Nachweihnachtliches
Besucher aus der Kälte
Ein tanzendes Kind auf dem Tisch
Ein langer Tag im März
Ortstermin
Zeitungsleser
Zwischenzeit
Frauen in Schwarz
Zwei Professoren im Gespräch
Jürgen, der Koch
Ein Derwisch im Zwiebelfisch?
Abendlicher Auftritt
Ein altes Paar
»Lass’ mal gut sein!«
Rote Lippen, schwarze Lederjacken
Der große Mann am Tisch nebenan
Die Nachtschicht kommt
Oktoberlicht
Der Schweiger und die Malerin
Der Zwiebelfisch zum »Dreißigsten« – Glut unter der Asche
Die Geschichte vom bleichen Zyniker und Bruder Georg
Künstler
Der Mann mit dem schwarzen Hut ist tot
Vom Lächeln eines Wissenschaftlers
Wie Philemon und Baucis
Ein unerwünschter Besucher
Zwei Tage vor Silvester – Gelächter über vergangene Zeiten
Schreiben in einer Kneipe
Paare
Ein Gast beobachtet mich
Ein Hauch von Frühling
Finstere Gespräche
Zeiten des Fußballs – Zeiten der Freiheit
Von den Anfängen des Zwiebelfischs
Sommersturm
Bernd
Ich versuche mich zu erinnern
Ankommen können und Vertrautheit finden
Dritter Advent – Regen und Sturm
Wo kann ich von Weihnachten träumen?
Augen – Blicke
Weihnachten ist beiseite geräumt
Auf dem Weg zum Savignyplatz am frühen Morgen – eine erste Amsel
Das letzte Fest
Der Zwiebelfisch um sechs
Aschermittwochmorgen
Axel
Naturereignisse
Ovids achtes Buch
Die Hausmeisterin kommt
Stammgäste
Ein schwarzes Sommergewitter – und Stille
Allerseelen am frühen Morgen
Wiener Walzer
Der Zwiebelfisch schmückt sich
Der große runde Tisch
Ein Paradiesvogel
Axel, der Kerzenzauberer
Die Ankunft des neuen Kochs
Wie in alten Zeiten
Der Zwiebelfisch um fünf
Kneipenszenen um Mitternacht
Ein besonderer Geburtstag
Das Bügelbrett – eine unendliche Geschichte
Mit einer Schreibmaschine auf Reisen
Epilog
Dank
Zum Autor
Seit seiner Eröffnung in den ersten Novembertagen 1967 hat der Zwiebelfisch am Savignyplatz in Berlin-Charlottenburg wechselhafte Zeiten mit mehreren Pächtern erlebt. Es kamen Schriftsteller und Architekten, Journalisten und Schauspieler, Bildhauer und Maler. Als Treffpunkt der links-intellektuellen Szene Berlins wurde dieser Ort schon bald zur Legende.
Im Spätsommer 1982 übernahm ein neuer Wirt das Lokal, und er prägte es auf eine ganz eigene, unverwechselbare Weise. Es wurde zu einer Kiezkneipe für alle sozialen Schichten. Ein »erzählender Ort« mit reicher Geschichte und vielen Geschichten, die seine Legende immer wieder mit neuem Leben erfüllten. Ein Ort, der die Vielfalt der Menschen einer Großstadt zum Ereignis werden lässt.
Im Januar 1995 habe ich den Zwiebelfisch für mich entdeckt und bin für einige Jahre geblieben. Geboren und aufgewachsen in einem Dorf in Süddeutschland, beeindruckte mich von Anfang an, dass ich selbst von einer Kneipe aus – inmitten der Millionenstadt Berlin gelegen – den Wandel der Natur erleben konnte. So beobachtete ich durch ihre breite Glasfront nicht nur das Treiben auf dem Savignyplatz, sondern auch die unterschiedlichen Jahreszeiten. Letztlich waren es aber doch die Gäste des Zwiebelfischs, die mich zunehmend gefangen nahmen: ein faszinierender Mikrokosmos
Meine Eindrücke habe ich in vielen Skizzen festgehalten. Daraus sind Geschichten von jungen und alten Menschen entstanden. Von Paaren und Einzelgängern; von Einsamen und Familien mit Kindern; von Obdachlosen, Managern im Nadelstreifen und Arbeitern im Drillich; von Künstlern und Wissenschaftlern, Literaten und Journalisten; von Zeitungslesern und Tavlispielern; von Tagträumern und Nachtschwärmern. Ich erzähle von denkwürdigen Festen und von der Geschichte dieser außergewöhnlichen Kneipe.
Zahllose Abendstunden, manche Nächte, oft auch den frühen Morgen habe ich im Zwiebelfisch verbracht. Ich erlebte eine Zeit der Annäherung an einen Ort und seine Besucher, die mir zuvor fremd gewesen waren. Distanz und Schemenhaftigkeit wichen einer wachsenden Nähe. Die Gäste verloren ihre Anonymität, sie wurden mir über die Jahre vertraut.
OKTOBER 1989 – JANUAR 1995
Im Herbst 1989 besuchte ich gelegentlich das Café Stresemann am Anhalter Bahnhof, nahe der Berliner Mauer. Gelegen an einem Platz, der für mich die Zerstörung und die vielfältigen Brüche dieser Stadt besonders sichtbar macht. Ich schätzte das Café vor allem wegen seiner Gäste, mit denen ich interessante Gespräche über unterschiedlichste Themen – insbesondere über die sich abzeichnende dramatische Entwicklung in Ostberlin – führen konnte. Und ich liebte es wegen seiner Art-Deco-Einrichtung, den dunkel getäfelten Wänden, den kleinen Marmortischen und der sich elegant zur Galerie emporschwingenden Holztreppe. Wenn ich meine Blicke schweifen ließ, entstanden unwillkürlich nostalgische Gedanken und Gefühle, die mich in eine längst vergangene Zeit entführten.
Damals lernte ich auch das Café Bleibtreu in der Nähe des Kurfürstendamms kennen, das mir Freunde empfohlen hatten. Sehenswert das Altberliner Büffet und Lampen im Stil des Historismus. An den Wänden Poster berühmter Schauspieler, darunter eines mit Charlie Chaplin in »The Tramp«, das ich besonders liebte und immer wieder anschaute. Ein Lokal mit einer einladenden Atmosphäre, in dem ich mich schon bald heimisch fühlte.
Ich traf Gäste an, die vom Tag, vom Alter, vom Leben eben gezeichnet waren. Und doch waren sie »anders« als die im Café Stresemann, sie unterschieden sich deutlich voneinander. Ich fragte mich: Hat jedes Café, jede Kneipe ein eigenes, unverwechselbares Gesicht – mit jeweils anderen Menschen?
Das Café Bleibtreu wurde für mich ein Ort der Ruhe, des Lesens und Schreibens. Nachdem es Ende 1994 vorübergehend geschlossen wurde, begab ich mich, wie andere Gäste, auf die Suche nach einer neuen Bleibe.
An einem grauen Januartag des nächsten Jahres ging ich über den Savignyplatz, genannt nach Friedrich Carl Savigny, einem bedeutenden Berliner Rechtsgelehrten und Minister im 19. Jahrhundert. Zunächst als »Rasenschmuckplatz« angelegt, wurde er in den 1920er Jahren von dem Stadtgartendirektor von Groß-Berlin Erwin Barth als »regelmäßiger Erholungs- und Gartenplatz« für Berliner Bürger weitergestaltet. Eine Anlage mit Rabatten und »Lauben«, die Atmosphäre eines »Hausgartens« schaffend. Nach ihrer Zerstörung während des 2. Weltkrieges wurde sie anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin weitgehend originalgetreu rekonstruiert.
Ergänzt durch schwarzweiße Fotoaufnahmen aus den 1920er Jahren las ich all dies auf einer Tafel vor dem nördlichen Teil des Platzes. Ich betrachtete die beiden Plastiken »Knabe mit Ziege« von August Kraus und ließ die Gestaltung der gesamten Anlage auf mich wirken. Ging vorbei am »Diener Tattersall«, »Café Hegel« und »Dicke Wirtin« – Lokale mit klangvollen Namen und langer Geschichte, die ich bereits kannte. An einem Haus entdeckte ich ein Schild, auf dem »Zwiebelfisch« geschrieben stand. Während ich durch eine breite Glasfront hineinschaute, erinnerte ich mich an eine vor einigen Jahren davor erlebte Szene, die auf mich geradezu archaisch wirkte …
Im Licht der tief stehenden Sonne sah ich schwarz gekleidete Frauen und Männer, die an einfachen Holztischen auf dem Bürgersteig saßen. Sie tranken Bier und Wein. Sie lachten und tanzten. Leben wollten sie, auch wenn sie trauerten und weinten.
Der Anblick der Frauen und Männer, die vermutlich vom Begräbnis eines Freundes gekommen waren, berührte mich. Und ein Wunsch war in mir erwacht: Dieses Lokal wollte ich bald einmal näher kennenlernen. Wollte erfahren, ob ich mich hier wohlfühlen könnte, hier Menschen treffen würde, die offen für ein Gespräch sind. Deren Gesichter und Stimmen mir mit der Zeit vertraut werden würden. Die das Leben genießen, mit einem Glas Wein in der Hand.
Noch erfüllt von meinen Erinnerungen, betrat ich nun einige Jahre später den Zwiebelfisch. Ich setzte mich in die Ecke eines Raums, der sich zu einem Tresen mit Barhockern öffnete. Gelegentlich trafen mich skeptische Blicke, die zu fragen schienen: Was will der hier? Solch eine Art von »Begrüßung« hatte ich nicht erwartet und fragte mich unwillkürlich, warum ich gekommen war. Hoffte ich, Nähe und Wärme zu finden? Hoffte ich »anzukommen«? Ein Gefühl, das für mich immer sehr wichtig war.
Noch auf der Suche nach einer Antwort fiel mir ein Mann mit kahlem Kopf und fett glänzender Haut auf. Auffallender noch war die Art und Weise, wie er die in rascher Folge vor sich ausgebreiteten Zeitungen las. Begierig las er, schier unbegrenzt schien sein Aufnahmevermögen der Nachrichtenflut. Zugleich schien dem unablässig Lesenden nichts von dem zu entgehen, was um ihn herum geschah.
Auf einmal wurde es still. Keine laute Musik mehr, die mich empfangen hatte. Unwillkürlich dachte ich an das Café Bleibtreu, an jenen anderen, während der letzten Jahre für mich wichtigen Ort. Dort hatte ich Musik gehört, die mir seit langem vertraut war: Lieder von Donovan, Emerson, Lake & Palmer, den Beatles und Rolling Stones. Lieder, die ich liebte, die mich oft hatten träumen lassen.
Mitten hinein in die Stille hörte ich das Klacken von Steinen. Junge Männer saßen an einem großen runden Tisch beim Tavli, einem Brettspiel, das in Griechenland, der Türkei und dem Vorderen Orient weit verbreitet ist. Spieler voller Hingabe und Leidenschaft, so wie ich sie auch im Café Bleibtreu angetroffen hatte. Dennoch nahm ich sie in anderer Weise wahr: Dort war es das oft rücksichtslos wirkende Knallen der Karten auf den Tresen, hier der leise, behutsame Klang der Steine auf dem Holzbrett. Mir scheint, dass dabei unterschiedliche Gefühle zum Ausdruck kommen.
Ich schaute mich um. Viele Plakate an den Wänden, auch mehrere alte, zum Teil vergilbte Fotos. Ein Mann, der hinter dem Tresen arbeitete. In weißem Hemd, mit dunkelblondem, leicht gewelltem Haar und dünnem Bart. Das Hemd weit geöffnet, ein goldenes Kreuz auf der Brust. Ich ahnte, dass wir uns schon bald wiedersehen würden.
23.2.1995
Die Luft ist klar, mit einem leichten, kaum spürbaren Hauch nahender Vorfrühlingstage, die für mich einen ganz eigenen Reiz besitzen. Nach meinem ersten Besuch im Januar bin ich wieder im Zwiebelfisch. Die Gäste rauchen mit einer Hingabe, die mich an Sucht und Einsamkeit denken lässt. Musik aus Lautsprechern, die von der Decke herabhängen, verbreitet eine angenehme Stimmung. Zu meiner Freude höre ich Lieder aus den späten 1960er Jahren. Sie wecken in mir Erinnerungen an eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung einer ganzen Generation.
Ich sehe in Gesichter, die von jener Zeit geprägt sind. In Augen hinter modischen Brillen, deren Ausdruck ich verstehen möchte. Aber sie weichen aus, halten meinem Blick nicht stand. Vielleicht wollen sie es auch gar nicht. Und noch immer finde ich keine überzeugende Antwort auf die Frage, was ich hier suche. Doch ich spüre, dass ich auf dem Weg bin, »anzukommen«.
28.2.1995
Der Tag ist stürmisch, voller Regen und Schnee. Mit gesenkten Köpfen und weit über die Gesichter herabgezogenen Mützen versuchen die vorbeieilenden Fußgänger, sich vor dem Wind zu schützen. In den Bussen drängeln sie sich mit zerzausten Haaren und winterblassen Gesichtern. Es riecht nach feuchter Kleidung.
Faschingsdienstag in Berlin, und ich sitze an einem kleinen, runden Tisch direkt neben der Eingangstür des Zwiebelfischs. Die Anwesenden wirken seltsam angestrengt und leicht gereizt. Während ich mir ein paar Notizen mache, kommt mir das in Süddeutschland gelegene hohenlohische Dorf meiner Kindheit in den Sinn...
Mit leiser Wehmut denke ich an jene Tage im späten Winter, wenn ein lauer Wind als Vorbote des Frühlings die Dorfstraße entlang wehte und sich Staub vor die geschlossenen Fenster legte. Der Himmel in sanftem Blau. Die Bäume noch schwarz, ohne Leben. Doch die Büsche bereits mit einem Schleier zarten Grüns.
Erinnerungen an jene Februartage werden in mir wach. Mit geschlossenen Augen fühle ich ihr Licht, glaube, den Geruch von frischer Erde, von kaum erst geschmolzenem Schnee einzuatmen. Ich glaube, Winterlinge und Schneeglöckchen vor mir zu sehen, die sich Teppichen gleich über den elterlichen Garten ausgebreitet hatten. Blütenteppiche, die bei Nacht leuchteten, als ob weiße Feuer entzündet worden wären.
Es war eine Zeit des Abschieds und Aufbruchs. Kinder mit rotbemalten Nasen tobten durchs Dorf. Bunte Indianerfedern und Papphüte über das struppige, kurz geschorene Haar gestülpt. Die unverzichtbare Pistole zwischen den Fingern, wild davonrennend, als ob der Faschingsteufel hinter ihnen her wäre. Eine Zeit, die erfüllt war von unbeschwerter Fröhlichkeit.
Es sind wehmütige Erinnerungen an mein Dorf. An einem Faschingsdienstag im Zwiebelfisch. Schweigsame Gäste. Kein Klacken der Steine auf dem Tavlibrett. Keine Köpfe, die tief in ihre Zeitungen eintauchen. Heute wirkt alles anders, unbestimmter, offener auf mich als sonst. Irgendwie abwartend.
Könnte es sein, dass Besucher nur auf das Ende dieses Tages warten, der für die meisten ein Tag wie jeder andere ist? Um am Morgen danach zu »normalem« Leben zurückzukehren. Das heißt, ganz einfach so weiterzuleben, wie in den Tagen, Wochen und Monaten zuvor.
1.3.1995
Raue Winde in der zurückliegenden Nacht. Dann zunehmende Wärme an diesem lichtlosen Aschermittwoch. Sanft und einhüllend wie der Abendwind, der mich auf dem Weg zum Savignyplatz begleitet hat.
Beim Betreten des Zwiebelfischs höre ich den unverwechselbaren Klang aneinanderschlagender Steine, wie bei meinem ersten Besuch im Januar. Männer mittleren Alters sitzen an dem großen, runden Tisch beim Tavlispiel. Zunächst etwas zögernd, dann zunehmend schnell und zupackend werden ihre Handbewegungen. Angespannt ihre Gesichter. Ihre Augen gebannt auf die Steine gerichtet. Ich fühle das Wachsen einer verschworenen Gemeinschaft.
Heute erlebe ich auch eine andere Welt: das Kneipenteam. Die jungen Frauen und Männer gehen behutsam, fast liebevoll miteinander um. Dabei singen sie zu Liedern aus amerikanischen Musicals, sind ständig in Bewegung, voller Aufmerksamkeit und Zuwendung für die Gäste. Sie gleichen einer frischen Brise.
Rasch vergehen die letzten Stunden des Aschermittwochs. An den kahlen Lauben zwischen Grolman- und Carmerstraße flattern Luftschlangen aus buntem Papier. Warme Winde wehen die letzten Reste vermeintlicher Karnevalsfröhlichkeit davon.
20.4.1995
Nach überraschendem Wintereinbruch mit starkem Schneefall in der vergangenen Nacht nun ein kalter, lichterfüllter Nachmittag. Mir gegenüber sitzt ein junges Paar, das französisch miteinander spricht und sich dabei liebevoll ansieht.
Der Mann ist bereits sommerlich leicht gekleidet, mit gelocktem, fast schwarzem Haar. Die Frau noch in dickem Pullover. Mit großen, dunklen Augen und einem Mund, der sinnlich voll und dann wieder aufreizend schmal sein kann. Silberne Ringe an den Händen.
Ihre Arme hat sie um die Schultern des Mannes gelegt. Küsse mit geschlossenen Augen, unterbrochen von zärtlich klingendem Französisch. Welch’ ein verführerisches Spiel zwischen den beiden!
Sich eben noch heftig umarmend und küssend, erheben sie sich, hüllen sich in dunkle Mäntel, zahlen und verlassen eilig das Lokal. In der spätwinterlichen Kälte, auf dem Bürgersteig, beginnt ihr Spiel von Neuem: mal wunderbar leicht, dann wieder sehr intensiv, mit großem Ernst.
Erfüllt von Trauer über den offenbar bevorstehenden Abschied, stehen sie sich einige Augenblicke lang wie erstarrt gegenüber. Die leidenschaftliche Umarmung zuvor ein bloßer Traum im Licht des späten Nachmittags? Aber nur kurz währen meine Zweifel. Sie umarmen sich von Neuem, lösen sich voneinander, schauen sich lange an, umarmen sich ein weiteres Mal. Angehalten scheint die Zeit, die jungen Liebenden untrennbar miteinander verbunden. Schließlich lösen sie sich endgültig voneinander. Ein letzter, flüchtiger Blick. Und sie entschwinden in die beginnende Dunkelheit, jeder in eine andere Richtung.
25.4.1995
In der Stunde vor Sonnenuntergang gleicht das Leben auf dem Savignyplatz einem herrlich-leichten Spiel. Spaziergänger schlendern vorbei und genießen den Frühlingswind. Selbst die alten, graubraunen, regenverwaschenen Fassaden der umliegenden Häuser leuchten im Schein der tief stehenden Sonne.
Das Licht umfängt und wärmt die Menschen, ihre Gesichter, ihre Körper, ihre Seelen. Sie haben sich mit dem wiedergekehrten »neuen« Leben sehr schnell angefreundet. Der Wind streicht behutsam über ihre winterblassen Gesichter, verleiht ihnen eine leichte Rötung. Er verfängt sich in den Stoffen ihrer Kleider. Verführerisch spielt er mit Formen und Farben.
Das Verhalten der Menschen hat sich verändert. Sie gehen wieder aufrechter, ihre Schritte werden beschwingter. Und sie schauen erwartungsvoll um sich. Menschen an diesem ersten Frühlingsabend baden sich im Licht. Sie sind umflutet von Winden aus fernen, südlichen Gefilden. Und sie schlagen ihre Jacken und Mäntel weit auseinander, um ihnen ganz nah zu sein.
8.5.1995
Frische Luft, gereinigt von den Regengüssen des Nachmittags, strömt durch die geöffnete Tür. Axel vom Zwiebelfischteam, der am liebste Jeans, bunte Hemden und Pullover trägt, ist bei der Arbeit.
In meiner Nähe ein Gast, dessen Aussehen mich beeindruckt. Sein gleichermaßen kraftvoll und edel wirkendes Gesicht mit einem Mund, der sehr viel Willensstärke verrät, lässt mich an Laurence Olivier, den berühmten englischen Shakespeare-Darsteller, denken. Ernst ist sein Blick, mit einem milden Lächeln in den Augenwinkeln. Zugleich signalisierend, dass seine Augen, sein Mund, sein ganzes Gesicht zu einem harten, unerbittlichen Ausdruck fähig sein können.
An dem Tisch direkt links neben dem Tresen liest ein älterer Mann in sommerlich hellem Leinensakko Zeitung. Vor sich eine Tasse mit aufgeschäumtem Kaffee und ein halbvolles Wasserglas. Daneben ein noch leicht dampfender Suppentopf mit geröstetem Brot. Versunken in die Nachrichten, hat er die Hände in das auffallend lange, graue Haar vergraben. Die Brille droht jeden Moment über die Nase zu gleiten. Aber wie von unsichtbarer Hand gehalten, ist sie eingebettet in seine Versunkenheit: in Gelesenes und Gedachtes, nur Gefühltes. Kaum einmal hebt er den Blick von der vor ihm ausgebreiteten Zeitung.
Der Gast mit dem kraftvoll und edel wirkenden Gesicht schaut nach draußen. Seine Blicke wandern über den dunkel werdenden Platz bis zur Carmerstraße hinüber. Sie kehren zögernd in das Licht der Räume zurück. Sie verlassen es erneut, suchen offenbar die Dunkelheit.
Auf einmal blickt er mich direkt an, als ob er mich etwas fragen wollte. Doch er schweigt. Schließlich schaut er, als ob dies ein Ausweg aus seiner Suche wäre, zu dem gedankenverloren lesenden älteren Herrn hinüber, der gerade seine Zeitung beiseitegelegt hat und nun mit beiden Händen die Kaffeetasse umschlossen hält.
27.6.1995
Nach grauen, regnerischen Wochen ist der Platz erfüllt von Licht und Wärme. Klezmermusik dringt aus der weitgeöffneten Glasfront des Zwiebelfischs, reicht mit ihren schwermütigen Klängen bis zu den angrenzenden Straßen. Im Widerschein der untergehenden Sonne werden Farben aller Schattierungen sichtbar.
Axel in leichter Kleidung. Mit Hilfe von Bierdeckeln und flachen Steinen versucht er, einen wackligen Tisch auf dem Bürgersteig zu stabilisieren – ein Meister der Improvisation. Ab und zu schaut er mit einem fragenden Blick zu mir herein.
Ein weicher Wind streicht um Linden und Ahornbäume, um sorgfältig zurechtgeschnittene Zierhecken und Lauben. Scharf ausgeleuchtet sind die Fassaden der Häuser. Abblätternder Putz in Grau und hellem Braun, keine warmen Farben. Und dennoch empfinde ich überall Wärme. Gerötete Gesichter der vorbeischlendernden Menschen, einige strahlen Unsicherheit und Ruhelosigkeit aus. Die meisten mit dunklen Sonnenbrillen, um ihre lichtentwöhnten Augen zu schützen.
Doch kein Verhüllen, kein Verbergen mehr der Körper. Weit ausgeschnitten die Kleider der jungen Frauen, durchscheinend, die Stoffe sinnliche Gedanken und Gefühle auslösend. Ältere Männer mit Leinenhosen. Manche tragen Hüte, deren breite Krempen sich tief über die Gesichter wölben.