Bilder von ihr - Karen-Susan Fessel - E-Book

Bilder von ihr E-Book

Karen-Susan Fessel

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Beschreibung

Theas Welt fehlt ein Fixpunkt, ein ruhender Pol. Kindheit, Jugend, die ersten Erwachsenenjahre sind für die Einzelgängerin ein ständiges Suchen, Loslassen, Weiterziehen – sich bloß nicht zu lange auf eine Person einlassen, keine Bindungen eingehen. Plötzlich wirft die Begegnung mit der faszinierenden Reisefotografin Suzannah Thea aus der Bahn: Suzannah fordert nichts, lässt Thea Zeit und Raum, denn Suzannah weiß: Theas unstetes Leben wird sie immer wieder zu ihr zurückführen. Suzannahs Anziehungskraft bietet die Sicherheit und Geborgenheit, vor der Thea all die Jahre geflohen ist. Nach langem Wiederstreben lässt sie sich darauf ein. Und mit der Zeit erkennt sie, dass Suzannah ein Teil ihrer Welt geworden ist. Doch auch Suzannah ist eines Tages fort, und dieser plötzliche Verlust kündigt ein neues Kapitel in Theas Leben an, ein Kapitel, in dem sie sich an dem festhält, was ihr von dieser einzigartigen Liebe geblieben ist: Gedanken, Erinnerungen und die vielen Bildern von ihr, von Suzannah. Thea verlässt Berlin und geht nach Paris, Suzannahs Heimatstadt. Hier, fern von den Freunden, ihrem schwulen Onkel Paul und all den Vergnügen, denen sie sich jahrelang hingegeben hat, ordnet Thea ihr Leben neu. Und hier entsteht ein Buch, dieses Buch. Karen-Susan Fessel gräbt tief, in aufwühlenden Bildern fordert sie Gefühle ans Tageslicht, sondiert die Verlustängste, Freuden, Wünsche, Hoffnungen ihrer Figuren mit einer Kraft und Intensität, die diese Geschichte einer großen Liebe einzigartig erscheinen lassen.

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Seitenzahl: 594

Veröffentlichungsjahr: 1996

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© Karen-Susan Fessel

© für die deutschsprachige Ausgabe Querverlag GmbH, 1996

Erste Auflage September 1996, zweite Auflage 1997

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und graphische Realisierung von Sergio Vitale unter

Verwendung von vier Fotografien der Autorin

ISBN 978-3-89656-543-3

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

www.querverlag.de

gewidmet

Anna Karstens 1943 – 1995

I

Sie fehlt mir. Immer noch fehlt sie mir. Sie fehlt mir auf eine Art, daß es mir die Kehle zusammenschnürt, eng und heiß wird sie mir, das Schlucken wird schwer und schwerer, bis es ganz unmöglich scheint. Aber ich reiße mich zu­sammen.

„Trage es mit Fassung“, hat meine Tante Krüpp zu mir gesagt. Tante Krüpp ist in Wirklichkeit nicht meine Tante, aber ich habe sie im­mer so genannt. Sie wohnte neben uns, neben mei­ner Mutter und mir, als ich noch ein Kind war und dann, spä­ter, ein junges Mädchen. Tante Krüpp ist die einzig wahre Tante, die ich je hatte. Tante Krüpp, alt, klein und mit leicht verkrümm­ten Gelenken, die ihr das Auf­stehen und das Verrich­ten alltäg­licher Haus­arbeiten immer schwerer machen; Tante Krüpp scheint ein Relikt aus einer Vergangenheit, die nicht nur weit an Jahren zurückliegt, sondern auch meine ei­gene ist. Auch diese liegt weit zurück.

„Trage es mit Fassung“, hat Tante Krüpp gesagt. Ich kann das nicht. Ich habe nie Zeiten gekannt, in denen ich etwas mit Fassung tragen mußte. Ich habe alles so ge­tragen.

Als ich das letzte Mal in Berlin war, traf ich eine alte Be­kannte, die ich seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ihr Lachen, als sie mich sah, in einer Bar, die wir früher oft ge­meinsam besucht haben, machte mich verdammt froh. Irgend­wann fragte sie mich, ob ich noch mit Suzannah zusam­men bin. Es hat mir wieder die Sprache verschlagen. Wie oft ist mir diese Frage in den letzten beiden Jahren schon gestellt wor­den? Im­mer noch verschlägt es mir die Sprache. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Sie gab ihrem Bedauern Ausdruck, und ich fügte hinzu: „Suzannah ist ge­storben“.

Ich weiß nicht, warum ich immer diesen Ausdruck benutze, an­statt zu sagen: „Suzannah ist tot.“ Tot – das klingt so viel klarer, direkter. Und härter. Vielleicht ist es mein Empfin­den, das mich dazu bringt, es wei­cher auszudrücken, weich von der Art einer kratzigen Bastmatte auf einem abgeschabten Fliesen­boden. Aber „ge­storben“ klingt, als sei es erst vor kurzem ge­wesen, und so ist mir auch: als sei es erst vor kurzem ge­schehen.

Suzannah ist vor nicht ganz zwei Jahren gestorben, genauer gesagt, vor einem Jahr, acht Monaten und fünfundzwanzig Tagen.

Ich war nicht dabei.

Es ist so still hier. Es ist still, nur manchmal kann ich das Ra­scheln der Vorhänge hören, oder besser: Ich sehe es. Ich sehe, wie sie sich bauschen in einem kleinen Luftzug, der durch die ange­lehnten Fenster in die Wohnung dringt. Die Vorhänge sind aus weißem, durchsichtigen Stoff und reichen von der Decke bis auf den Fußboden, eigentlich noch darüber hinaus. Wenn es weht, schleifen sie über das Parkett und wer­den mit der Zeit grau am Saum. Aber das stört mich nicht. Früher habe ich niemals Vorhänge besessen. Die Vorstellung war mir fremd. Aber hier, in dieser Wohnung, hier liebe ich sie. Ich genieße den An­blick. Und sie schützen mich. Sie ver­bergen die Stadt, die draußen vor meinem Fenster bebt und pul­siert wie ein einziges großes le­bendiges Gewebe.

Es ist still. Die Stille lastet nicht, sie schweigt, flüs­sig, wie Luft. Sie ist so still wie meine Finger, deren trockene Haut. Ich kann lange Zeit so dasitzen und meine Finger ansehen. Obwohl Sommer ist, seit Mona­ten, ist die Haut meiner Finger hell. Ich habe von Natur aus helle Haut, aber im Moment wirkt sie fahl. Mir ge­fällt das. Es ent­spricht meiner Stim­mung, meiner inneren Verfassung. Meiner Seele. Auch sie ist trocken.

Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Mein Denken aber hat nichts Fahles an sich. Ich kann gut den­ken. Besser als lange Zeit, klarer. So klar wie ein Som­mermorgen.

Manchmal bewege ich meine Finger. Ich nehme meinen Stift, drehe ihn herum und lege ihn wieder hin. Meine Hände kommen mir in diesen Momenten vor wie eigenständi­ge Wesen, deren Trennung von meinem Körper ich einfach nicht wahrgenommen habe. Aber ich weiß, daß das nicht stimmt. Die Zeit, in der ich das Wissen um mich selbst und meine Kör­perlichkeit nicht wahrgenommen habe, liegt schon eine Weile zurück. In jener un­bewußtem Ne­belzeit. Nachdem Suzannah ge­storben war.

Das leise Rascheln der Vorhänge knistert in meinen Ohren und er­innert mich an das Gefühl, als ich mit mei­nen Händen einen an­deren Körper berührt habe. Jenen Körper. Suzannahs.

Zwischen beidem – dem Berühren und dem Rascheln – liegt gar kein so großer Unterschied: Es sind Grüße, Grüße aus der Ver­gangenheit und aus der Zukunft. Und auch sie sind eins. Meine Gegenwart. Ich denke an die Vergangenheit, ich fühle in der Vergangenheit, ich hänge in der Vergan­genheit, aber ich lebe für die Zukunft. Die Wohnung, in der ich sitze, die Stadt, in der ich wohne, die Luft, die ich atme, die Bewegun­gen, die ich mache – all das ist jetzt, aber zugleich nur ein Zustand, ein Übergleiten. Wirklich, aber unbedeu­tend. Erst die Zukunft wird wieder bedeutend sein.

Es ist so still hier.

Suzannah hatte wunderschöne Füße. Wunderschön, wirklich. Ich finde, es waren außergewöhnliche Füße, ebenso wie ihre Hände. Das Beson­dere an ihnen war die Verbindung von Kraft und Zierlichkeit, die ih­nen eine ganz spezielle Anmut ver­lieh.

Suz­annah war groß, einssiebenundsiebzig, und alle ihre Gliedmaßen waren lang und schlank, auch ihre Hände und Füße, aber an­ders: Die Ge­lenke und Knöchel waren kräftig und gleichmäßig, Finger und Zehen liefen nicht, wie bei so vielen anderen Men­schen mit langen Gliedmaßen, an den Enden spitz zu, sondern sie behiel­ten ihre Form bei, bis hin zu den sanft gerundeten Kuppen. Als mein Blick das erste Mal auf diese kräftigen Hände fiel, an jenem heißen Tag im August, spürte ich so etwas wie ängstli­che Faszina­tion. Ich saß da, nervös und verlegen, und sah auf diese Hände, die mit geschickten Bewe­gungen die abgeschabte Mappe mit meinen Zeich­nungen darin öffneten, und ich fragte mich, wie diese langgliedrige Frau zu solch großen, kräftigen Händen kam, wie sie es schaffte, sie so leicht und flink zu be­wegen, ohne dabei plump zu wir­ken, und ich fragte mich, wie es sich anfühlen mochte, wenn diese Finger mich be­rühren würden.

Und immer wieder, auch als ich längst wußte, wie es sich an­fühlte, immer wieder fragte ich mich, wie es sich für Suzannah anfühlen mochte, mit diesen Fingern zu arbeiten, auf den Aus­löser ihrer Kamera zu drüc­ken, die glatte Fläche eines Be­lichtungsmessers zu umfassen. Woher wußte sie, wie fest sie zugreifen, an welchem Punkt das Gewicht ihrer Knöchel liegen mußte, wie weit sie die Finger zu biegen hatte?

Der starke Kontrast zwischen ih­ren langen Glied­maßen und den großen, kräftigen Fingern war so auf­fällig, daß ich immer eine gewisse Ungeschicklichkeit in ihren Handbe­wegungen erwartete. Aber ich habe nie erlebt, daß Suzannah etwas zerbrach oder versehentlich zerriß. Sie war unglaublich geschickt mit ih­ren Händen.

Auch mit den Füßen: Wie oft habe ich zugesehen, wie sie ein Klei­dungsstück zielsicher mit den Zehen vom Boden angelte und mir hin­hielt. Sie amüsierte sich selbst darüber: „Meine ur­sprünglichen Fähig­keiten trainieren“ nannte sie das. Es ge­lang ihr sogar, die einzelnen Zehen zu krümmen, ohne daß die an­deren sich mitbewegten. Das klingt einfach, aber es ist na­hezu unmöglich. Ich habe es oft genug ver­sucht, ohne jeg­lichen Er­folg.

Ich habe ihre Füße geliebt, den flachen Spann und die weiche Rundung der Ballen, die geraden langen Zehen, von denen ein­zig der kleine am linken Fuß leicht gekrümmt war, als Folge eines Bruchs, den sie sich als Kind zugezogen hatte. Der zweite Zeh war an beiden Füßen fast genauso lang wie mein kleiner Finger. Und fast genauso beweglich. Verrückt.

Ich erzähle das, weil ich mit bloßen Füßen am Schreibtisch sitze, ein Bein über das andere geschlagen, und der leichte Luftzug, der durch das halbgeöffnete Fenster zieht, strei­chelt sanft über meine Fußsohle. Es ist ein weiches Gefühl, wie eine Lieb­kosung, und wenn ich meine Hand über die Sohle lege, kommt es mir vor, als schnitte ich eine Berührung ab, deckte sie zu, und mir fällt auf, als wie intim ich die Berüh­rung der Fußsohle empfinde. Ich glaube, nein, ich weiß, daß nie­mand mehr meine Fußsohlen berührt hat, seit Suzannah es das letzte Mal tat. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann das war; ich wüßte es gern, aber ich weiß es nicht, und es fällt nicht allzu schwer ins Gewicht.

Ich wäge ab, erinnere mich, vergleiche, lege das Gute und das Schlechte nebeneinander, und das Gute, das ist alles, was Suzannah mir gab und ich ihr, und das Schlechte das, was ich ihr nicht gab. Was ich versäumte. Mir ist klar, daß ich mir da­mit keinen Gefallen tue. Ich könnte ewig so weitermachen, und die schlechten Dinge, die Versäum­nisse, die Fehler, sie würden sich anhäufen und anhäufen, mit jedem Tag, mit jeder Sekunde, denn immer mehr kommt dazu, mit je­dem Tag, der verstreicht, häufen sie sich an, weil jeder Tag, den ich lebe, einer ohne Suzannah ist, ein Tag, an dem ich ihr etwas hätte geben kön­nen, aber ich kann es nicht mehr, es geht nicht, und deshalb muß ich damit auf­hören. Ich muß damit aufhören, aber ich kann es nicht, noch nicht. Ich brauche diese Zeit, ich brauche die Erinnerung und das Be­wußtsein um das, was mir fehlt, was mir fehlt.

Es gab diesen Moment, diesen winzigen Moment im Sommer 1988. Wir kannten uns schon zwei Jahre, es war ungefähr um die Zeit, als ich aufhörte wegzulaufen, als ich aufhörte, mich zu wehren, immer weiter zu wehren gegen sie, gegen die Ge­fahr, die ich spürte. Suzan­nah hat erst später gemerkt, daß ich da war und ja gesagt hatte. Sie hat erst viel später gemerkt, daß ich mich nicht mehr wehrte. Ich habe es ihr lange Zeit nicht gezeigt; ich wollte nicht, daß sie es wußte, und so wähnte sie mich noch auf der Flucht, während ich schon ruhig neben ihr stand. Es dauerte noch ein Jahr, bis sie es merkte. Nicht, weil sie un­aufmerksam oder begriffs­stutzig war, ich habe es ihr einfach nicht gezeigt. Ich habe noch ein Jahr so weitergemacht. Ein weiteres Jahr bin ich weg­gerannt, habe aufbegehrt, um mich geschlagen und sie fortgestoßen. Und so kam es, daß ich drei Jahre gegen sie gekämpft habe und vier Jahre mit ihr.

Nein, nicht gegen sie. Gegen mich.

Um diese Zeit, als ich aufhörte wegzulaufen, im Sommer 1988, da gab es diesen winzigen Moment, in dem ich er­kannte, daß ich sie liebte.

Es war in Suzannahs erster eigener Wohnung in der Grol­mannstraße, in je­ner Wo­hung, in der sie lebte, während ich mein zermürben­des Katz-und-Maus-Spiel mit ihr trieb und kam und ging und im­mer wieder kam. An jenem Tag war ich am frühen Abend bei ihr aufgetaucht, müde und wachsam zugleich. Ich weiß nicht mehr, wo ich mich herum­getrieben hatte, jeden­falls klin­gelte ich, sie machte mir auf, wie meist in dieser heißen Jahreszeit mit einem viel zu großen T-Shirt und Trainingsho­sen be­kleidet und schwarzen, ausgebleichten Ballett­schuhen an den Füßen. Sie mochte Bal­lettschuhe, sie trug sie zu Hause oder auch im Atelier, wenn sie nicht barfuß lief. Sie spürte gern den Boden, auf dem sie ging. Die Härte von Strukturen unter ihren Füßen. Ich habe lange ge­braucht, um mich an diese Bal­lettschuhe zu gewöhnen, ich fand sie uncool, zu fe­minin, viel zu fein. Wie in aller Welt, fragte ich mich manchmal, kann man etwas mit einer Frau ha­ben, die Ballettschuhe trägt?

Sie machte mir auf, lächelte mich an, drehte sich um und sagte im Weggehen: „Ich muß noch was fertigmachen.“ Sonst nichts. Typisch. Und ich, mißtrauisch und fügsam zugleich, schlenderte hinter ihr her, nahm die Flasche Wasser entge­gen, die sie mir aus der Küche reichte, setzte mich ins Wohnzimmer und lehnte den Kopf gegen das Polster des So­fas, während sie im hinteren Teil der Wohnung verschwand.

Ich schloß die Augen und hörte zu, wie sie in ihrer zu einem Fotolabor umfunktionierten Speisekammer kramte, mit Papieren raschelte, Schüsseln leerte, und lang­sam verschwand meine Unruhe. Ich saß da und sog die Stille in mich auf, diese ein­malige Stille, die von den leisen Geräuschen, die Suzannah ver­ur­sachte, nur noch untermalt wurde. Müdigkeit und Hitze flossen aus mir heraus, und nach und nach entspannte ich mich. So sehr, daß ich kaum hörte, wie sie hereinkam. Als ich die Augen öff­nete, legte sie gerade einen Packen Fotopapier in eine Ecke des Zimmers, mitten hin­ein in die übliche Unordnung, mitten hinein zwi­schen Fotos, Papierschnipsel, Objektive, Bild­bände und Kleidungsstücke, die über den glatten Dielenboden verstreut lagen, und dann setzte sie sich mir schräg gegenüber in den großen Sessel und kratzte sich am Ohr, wäh­rend sie mich nachdenklich ansah.

„Kannst du eigentlich richtig mit zehn Fingern tippen?“ fragte sie und schlug die Beine übereinander, indem sie den Knöchel des einen auf das Knie des anderen legte.

Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Meine Gelenke knackten. „Ja. Wieso?“

Sie zuckte die Achseln und sah auf ihren Fuß. „Nur so“, sagte sie. „Ich hab nur gerade daran gedacht. Ich hab mich gefragt, ob du das wohl kannst.“ Sie beugte sich vor, umfaßte ihren Knö­chel mit beiden Händen und betrach­tete ihre Fußsohle.

Ich sah ihr zu. Die Sekunden verstrichen, alles war still, nur das Brummen vorüberfahrender Autos und entferntes Kinderla­chen drangen durch die geöffneten Fenster; ich sah ihr zu, sah zu, wie sie ihre Fußsohlen besah, mit diesem selbstvergessenen Ausdruck im Ge­sicht, friedlich und ruhig, voller Vertrauen, daß ich dasaß und sie ge­währen ließ und daß von mir keine Gefahr drohte. Ich sah ihr zu, und in diesem Moment spürte ich das erste Mal so rein und klar, wie dankbar ich ihr war für dieses Vertrauen, für die Hingabe, mit der sie sich in mei­ner Gegenwart ganz sich selbst überlassen konnte; ich spürte, wie sich mein Herz weitete, und da, in diesem Mo­ment, in diesem winzigen Moment, erkannte ich, daß ich sie liebte.

Es ist immer wieder dieser Moment, an den ich mich erinnere. Mir kommt es vor, als hätte da alles begonnen. Aber so war es nicht, nicht ei­gentlich. Es hat schon vorher begonnen, viel früher, nicht zwei Jahre früher, als ich Suzannah das erste Mal begegnet bin, auch nicht, als ich mich endlich aus der düsteren Enge meines jugendlichen Lebens befreite und nach Berlin ging, sondern noch früher. Vielleicht hat es be­gonnen, als ich klein war, ein kleines Mädchen, als ich das erste Mal Abschied neh­men mußte, als ich vier war und mein Vater starb. Oder noch früher?

Damals, an jenem Sommertag in Suzannahs Wohnung, hatte ich keine Ahnung, welche Tragweite dieser Moment haben, wie sehr sich mein Leben dadurch verändern würde. Aber was ich wußte, was ich ver­stand, als ich dasaß und Suzannah zusah, war, daß etwas begann, etwas Neues und sehr Bedeutsames, und daß dieses Neue untrennbar mit Suzannah und dem, was sie für mich war, verbunden sein würde, und daß ich es wollte, die­ses Neue. Der Weg, der mich bis zu diesem Punkt geführt hatte, war lang und verschlungen, doch er hatte mich hier­hin geführt, und jetzt würde es weitergehen, weiter, sehr weit ir­gendwo hinein, und ich hatte den Verdacht, daß dieses Ir­gendwo mir sehr ge­fallen würde.

Ich mag diesen Ort. Ich bin gerne hier. Paris gefällt mir, diese riesige, immer lebendige Stadt, die im melodi­schen Klang der weichen Sprache schwingt, die ich mittler­weile fast fließend spreche. Mir gefällt meine Wohnung, und mir gefällt die Ein­samkeit darin. Sie füllt die Räume aus, das große sechseckige Zimmer mit den zwei überdimensio­nalen Fenstern, den schmalen, leeren Flur, das Bad und die Küche. Seit mehr als einem halben Jahr lebe ich nun hier in dieser Wohnung, und je­desmal, wenn ich hereinkomme, ist mir, als ob ich nur für ein paar Tage vorbei­schauen würde. Ich habe kaum etwas mitgebracht, als ich ge­kommen bin. Zwei Koffer mit Pa­pieren, Fotos, Bü­chern, Klei­dungsstücken und ein paar Gegen­ständen, von denen ich mich nicht trennen wollte. Gegen­stände wie der Kerzen­leuchter aus Messing, den ich be­sitze, seit ich neunzehn bin. Der kupferne Armreif, den Suzannah mir geschenkt hat. Oder die kleine Kiste aus Holz, die leer herumsteht, weil ich mich nicht ent­scheiden kann, was ich hineintun soll. Und Theos Halsband, nicht jenes, welches er immer getragen hat, sondern eins, das mein Onkel Paul für ihn aus den Staaten mitge­bracht hatte; es ist grün und aus dickem Leder. Ich habe es ihm einmal umge­legt, aber er sah seltsam aus da­mit, ge­schniegelt, es paßte einfach nicht zu ihm. Ich habe es trotzdem aufbewahrt. Ich habe immer ge­dacht, daß ich es noch mal gebrauchen kann, und das denke ich immer noch. Manche Dinge verändern sich nicht.

Als ich hier ankam, hatte ich die Wohnung noch nie gesehen; alles war ohne mein Zutun arrangiert worden: Suzannahs Mutter hatte gehört, daß einer der Tänzer vom Theater nach Amerika ging und seine Wohnung untervermieten wollte; sie hatte ihrer jüngsten Tochter Edna Be­scheid gesagt, und Edna hatte Kontakt zu dem Tänzer aufgenommen, sich die Wohnung angesehen und mich angerufen.

„Sie ist genau das richtige für dich“, sagte Edna, und ihre Stimme klang frisch und nur leicht gedämpft durch die Entfer­nung aus dem Hörer. „Also, ich miete sie jetzt ein­fach. Du mußt sie nehmen. Du mußt! Glaub mir: Sie ist genau das richtige.“

Und so ist es auch. Die Wohnung ist in der Tat genau das richtige für mich. Das Zimmer ist riesig, und wie die ande­ren Räume besitzt es roh verputzte und weiß gestrichene Wände. Wenn ich hineinkomme, sehe ich genau auf das kurze Stück Mauer zwischen den beiden großen Fen­stern. Die Frontwände sind zur Mitte des Zimmers hin ab­gewinkelt, zu ih­ren Seiten knickt der Raum wiederum zu der Wand hin ab, in die die Tür eingelassen ist. Die ungewöhnli­che Form des Zim­mers hat eine beruhigende Wirkung auf mich, ich fühle mich wohlauf­gehoben darin, und es ist groß genug, um meine spär­lichen Habselig­keiten so zu verstauen, daß sie kaum auffallen.

Das einzige, was auf­fällt, ist der große Tisch­ mit dem Holzstuhl davor. Wenn ich daran sitze, blicke ich aus dem rechten Fen­ster, wenn ich mich nach hin­ten lehne und den Kopf ein wenig zur Seite drehe, kann ich aus dem an­deren hinaussehen. Falls ich die Vorhänge beisei­te gezogen habe. Was ich oft nicht tue.

Rechts von der Tür liegt die große Matratze, die Edna mir schon in die Wohnung gelegt hatte, als ich ankam. Sie ist dick genug, daß ich nicht friere auf den blanken Holzdielen. Links von der Tür lagern meine Koffer, daneben ein Hau­fen Klei­dungs­stücke. Auf eine ge­wisse Art sieht dieser ver­wühlte Hau­fen sogar ordentlich aus. Alles liegt und steht eben or­dentlich herum.

Das Bad ist klein. Waschbecken und Bade­wanne sind aus weißem Emaille. Die Armaturen sind uralt und messingfarben, ebenso wie die dicken verzierten Füße, auf denen die Wanne steht, und wie die Kette, die an dem Toilet­tenkasten befestigt ist. Das einzige, was neu ist in diesem Raum, das ist der Spie­gel, den Michelle mir vor zwei Monaten angeschleppt hat, we­niger aus Fürsorglichkeit, wie ich vermute, sondern damit sie sich selbst besser be­trachten kann, wenn sie sich zum Ausgehen fer­tigmacht. Sie will unbedingt, daß ich eine Lampe darüber anbringe, sie meint, das Licht aus der Glühbirne an der Decke gäbe nichts her, aber ich weigere mich. Ich will nichts an den Wänden befestigen, nichts installieren, ich will, daß alles hier ein Proviso­rium bleibt. Michelle är­gert sich immer wieder dar­über, aber ich bleibe hart. Sie legt ohne­hin viel zuviel Wert auf ihr Äußeres, finde ich. Dabei ist sie schön, und am besten ge­fällt sie mir, wenn sie ungeschminkt ist. Aber das ist ihre Sache, ich mische mich da nicht ein.

Auch das trägt dazu bei, daß meine Wohnung ein Provisorium bleibt: Es ist nichts an den Wänden, kein Haken, kein Regal, auch in der Küche nicht. Alles, was ich habe, ist in dem großen Schrank verstaut oder liegt in der Spüle, auf dem Holztisch oder den drei Stühlen. Die Wände aber sind frei.

Nein, nicht ganz. In meinem Zimmer, an der Wand links von der Tür, ist ein Nagel. Dort habe ich ein Foto aufgehängt. Nein, nicht Suzannah ist darauf zu sehen. Aber sie hat es ge­macht. Es ist ein Foto von mir, eine Porträtauf­nahme, die mein Ge­sicht im Halbprofil zeigt. Ich sehe mit leicht gesenktem Kopf in die Kamera, meine Haare sind kurz und lie­gen wie Flaum am Kopf an, meine Haut ist faltenlos und glatt. Auf dem Foto sehe ich sehr jung aus, lange Zeit habe ich gedacht, daß Suzannah es nicht richtig entwickelt hat, aber das stimmt nicht; damals habe ich so ausgesehen, sehr jung, viel jünger, als ich es jetzt bin. Das Foto ist etwa sieben Jahre alt, es stammt noch aus unserer Anfangszeit, es stammt noch aus der Zeit vor jener, die begann, nachdem ich Suzannah zusah, wie sie ihre Fußsoh­len betrachtete. Es stammt weit aus der Vergangen­heit, aber ich erkenne mich darin wieder, und ich erkenne auch mein jetziges Ich darin wieder.

Meine Wohnung liegt im dritten Stock eines alten Hauses mit stuckver­zierter Fassade. Die Straße ist ruhig und eng; di­rekt gegenüber kann ich in die Stube eines alten Ehepaares sehen, das jeden Abend damit verbringt, schweigend in den Fernseher zu starren. Schräg gegenüber liegt ein winziger Park, in dem sich abends zuweilen Liebespaare treff­en. Ich brauche nur die Straße hinaufzulaufen, und schon beginnt die leichte Steigung, die sich im Gewirr kleiner Gassen und breiter Straßen hinauf zum Montmartre erhebt. Von außen sieht das Haus wie ein ganz normales Pariser Wohnhaus aus, aber der An­blick täuscht: Innen ist alles verwinkelt und wi­derspricht jeglichen statischen Berechnungen; die Treppe verläuft in un­regelmäßigen Abständen gebo­gen, an unbenutzba­ren Nischen und Wohnungstüren entlang, von denen nicht zwei auf einer Höhe liegen. Es gibt eigentlich keine richtigen Stockwerke, sondern jede Tür liegt ein paar Stufen höher als die vorhergehende. Ich weiß nicht, was der Arch­itekt sich dabei gedacht hat, aber kein Hausbewohner kann in seine Wohnung gelangen, ohne erst ein paar Stufen hinauf- oder hin­untersteigen zu müssen. Auch bei mir ist das so: Wenn ich meine Wohnungstür öffne, muß ich drei Stufen hinaufstei­gen, um den Flur zu erreichen. Man denkt, jetzt hat man es ge­schafft, und dann geht es noch hö­her hinauf – oder wieder tiefer hinunter.

Aber so ist es eben im Leben. So ist es oft.

Vor ein paar Monaten hat eine frühere Arbeitskollegin in Berlin – wir haben beide eine Zeitlang in derselben Kneipe bedient – mir etwas ge­zeigt, wo­rauf sie enorm stolz ist. Mehr noch, es be­deutet ihr so viel, daß sie ihr ganzes Leben damit zubringen will.

Sie schaute mich mit einem bedeutsamen Blick an, der be­sagte, daß sie sich die Entscheidung, es mir zu zeigen, reiflich über­legt hatte, dann sagte sie: „Schau mal!“ und knöpfte ihr Hemd auf. Langsam, dabei den Blick erwar­tungsvoll und zugleich wissend auf mein Gesicht gerichtet, öffnete sie vier Knöpfe und zog das Hemd ein we­nig zur Seite. Darunter trug sie ein schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug „You are lea­ving the American Sector“, wie sie früher, bevor die Mauer fiel, in Mode gewesen wa­ren. Auf dem Rücken steht dieser Satz groß in drei Sprachen un­tereinander, vorne nur in einem kleinen Käst­chen auf der lin­ken Brust. Ihr Finger zeigte genau auf dieses Käst­chen.

„Was?“ fragte ich.

Sie sagte: „Fühl mal“ und drückte meinen Daumen auf die Stelle. Ich dachte, sie wolle mich auf die Be­schaffenheit der gummierten Buchstaben auf­merksam ma­chen, aber dann spürte ich eine schmale, längliche Er­hebung unter dem Hemd.

„Schorf“, bemerkte ich, aber sie schüttelte den Kopf. Auf mein Verlangen hin zog sie das T-Shirt nach unten, um mir eine glatte, vier oder fünf Zen­timeter lange Narbe zu zei­gen, die noch nicht ganz verheilt war. Ich nickte.

„Rasier­messer?“

„Nein“, sagte sie, und ihre Mund­winkel sanken vor Stolz ein wenig nach unten, „Skal­pell. Lea ist die erste Frau, von der ich mich habe schneiden las­sen.“ Ich nickte erneut, aber da in­teressierte es mich schon nicht mehr.

Ich konnte ih­ren Stolz, ihr Gefühl, eine extrem bedeu­tungsvolle Erfahrung gemacht zu haben und am eigenen Leibe sichtbar für alle le­bendige Ewigkeit zu tragen, erken­nen, bestätigen, so­gar mit­fühlen, aber es in­teressierte mich nicht. Es er­schien mir wie ein ver­schwommenes Relikt aus meiner eige­nen Vergangen­heit, wenngleich ich diese Erfahrung gar nicht ge­macht habe. Es hätte passieren können, viel­leicht, wenn es wichtig gewesen wäre. Dinge, die hätten pas­sieren können, und Dinge, die ge­schehen sind, gleichen sich im Rückblick aneinander an, so daß es keinen Unterschied mehr macht, ob oder ob es nicht ge­schehen ist. Alles, was ich mir mit Suz­annah hätte vorstellen können, ist ge­schehen. Ich trage unge­heuer viel mit mir herum. Manchmal, wenn ich zufäl­lig mein lächelndes Spiegelbild in ei­ner Schaufensterscheibe entdecke, sehe ich mich, wie ich Su­zannah an­gelächelt habe. Frü­her habe ich mich nie so gese­hen. Aber sie hat mich so ge­sehen.

Was ich am meisten vermisse? Das ist eine dieser Fragen, die ich am liebsten auf die Müll­halde der menschlichen Sprache werfen würde. Am meisten vermissen … läßt sich das je so klar be­antworten? Am meisten gibt es nicht. Es gibt nur viel, viel und noch mal viel. Dennoch stelle ich mir diese Frage selbst im­mer wieder. Ich war glücklich mit ihr.

Sie hat mir gutgetan, sie war gut mit mir. Natürlich war ich ihr nah, so nah, wie Liebende sich sein können. So nah, wie Men­schen sich sein können? Das heißt nicht viel, denn ich weiß, daß man sich, egal wie groß die Liebe ist, nie sehr nahe sein kann. Am nächsten war ich ihr in jenen Momen­ten, wenn ich in ihre Armbeuge ge­kuschelt dalag, nackt und warm, oder wenn ich meine Wange an ihre legte, mein Gesicht an ih­rem Hals vergrub und ihren Duft tief einatmete, ganz tief, bis nichts mehr in meine Lungen hin­einging. Dann hielt ich den Atem an und lauschte auf mein Herz, in der Gewißheit, daß mit jedem Pochen aus meinen Lungen Sauerstoff in mein Blut transpor­tiert wird, Sauerstoff aus der Luft, die nur aus Suzan­nahs Duft besteht, Sauerstoff, der durch mein Blut in mein Herz und da hindurch ge­tragen wird. So habe ich immer wieder einen Teil von Suzannah in mei­nem Herzen getragen. Wie kann es größere Nähe geben?

Diese erste Nacht. Diese erste Nacht, die wir miteinander ver­bracht haben. Ich muß immer wieder daran denken. Jetzt, aus dem Abstand der Jahre heraus, von diesem immer noch fremden Ort aus kann ich sehen, wie sich schon in jener Nacht die Fä­den zwischen uns ver­dichteten, jene Fäden, die mit der Zeit zu einem fest verwobenen Seil wurden, das uns eng und stark an­einander binden sollte. Alles war bereits da, in dieser ersten Nacht – die Nähe, die Angst, das Glück und auch die Trauer. Es war alles da.

Wir saßen uns an dem runden Holztisch gegenüber, von dem die Reste unserer Mahl­zeit schon abgeräumt waren, und schwiegen, zum erstenmal in den vergangenen vier Stunden. Mir war heiß, das T-Shirt klebte mir am Rücken, und meine Hände zitterten leicht. Ich hoffte, daß sie es nicht sah; ich war oh­nehin schon verlegen genug. Sie drückte ihre Ziga­rette im Aschen­becher aus, der bis an den Rand gefüllt war mit den unzähli­gen Kippen, die wir gemeinsam geraucht hat­ten, blickte auf und sagte: „Gehen wir?“

Ich nickte, unfähig, einen Ton hervorzubringen, und stand et­was zu hastig auf, so hastig, daß mein Stuhl ins Wackeln geriet und ich ihn nur mit einer schnellen Bewegung festhal­ten konnte. Ich wurde rot, einen Moment fühlte ich mich haltlos, der Situation nicht gewachsen, eine namen­lose Angst schoß in mir auf, ich spürte, wie sich meine Finger um die Stuhllehne krampften. Feucht waren sie und ir­gendwie taub, das ge­schnitzte Muster der Lehne preßte sich schmerzhaft in meine Handflächen, ich bekam keine Luft; nein, dachte ich, nein, das geht nicht, ich kann das nicht, laß es sein, das hier ist ge­fährlich; ich schloß die Augen, versuchte, mich zu sammeln, und als ich sie wieder öffnete, sah ich di­rekt in Suzannahs Gesicht, in ihre dunkelgrün schimmernden Au­gen, die mich eindring­lich und doch auch un­aufdringlich mu­sterten. Ich sah das leichte, ruhige Lächeln, das sich um ihre Lippen kräu­selte, und im näch­sten Augenblick fing ich mich wieder. Sie stand mir ge­genüber, in der für sie ty­pischen, vollkommen entspannten Haltung, die Schultern gerade und die Arme loc­ker herabhän­gend, und sah mich an. Gequält verzog ich die Lippen, ihr Lä­cheln vertiefte sich, und dann sah sie zur Seite, zur Bar, wo der Kell­ner, der gerade bei uns abkassiert hatte, damit be­schäftigt war, un­sere Rech­nung in die Kasse einzutippen. Ich betrachtete Su­zannahs Profil, und ich wußte, daß ich nicht da­vonlaufen würde, weil es gar nicht mehr ging.

Ich hatte sie einen Tag zuvor kennengelernt. Es war August; natürlich weiß ich das genaue Datum, ich habe das nicht ver­gessen, es war der 14. August. Damals dachte ich noch, daß aus mir eine halbwegs pas­sable Zeichnerin werden würde, und an diesem Tag sollte ich erstmals Gelegenheit bekommen, meine Arbeiten dem Redakteur einer ziemlich bekannten Illu­strierten vorzustellen. Sowohl Dennis, mein Mitbewohner, als auch mein Onkel Paul hatten mich seit Monaten gedrängt, etwas in dieser Hinsicht zu un­ternehmen. Sie waren meine andauernde Stu­benhockerei leid und wohl auch die nicht versiegen wollende Aneinanderreihung von mehr oder minder ausgearbeiteten Zeichnungen, die sie im­mer wie­der beurteilen sollten. Paul hatte mir eines Tages eine Li­ste von Zeitschrif­tenverlagen auf den Schreibtisch geknallt. „Entweder du rufst jetzt überall an und versuchst, einen Vor­stellungstermin zu bekom­men, oder du ver­brennst deine Sachen und redest nie wieder davon, daß du Zeichnerin werden willst.“

Ich glaube, im Grunde war niemand, ich selbst eingeschlos­sen, wirk­lich davon überzeugt, daß ich es mit meinem neuent­deckten Talent zu etwas bringen würde, aber einen Versuch schien es mir wert. Und so kam es, daß ich an diesem heißen Sommertag mit meiner Zeichenmappe unterm Arm vor dem Ver­lagsgebäude stand und zögerte, die Treppe hinaufzugehen. Dort oben, hinter den weiß gestrichenen Holz­türen, saß der erste fremde Mensch, der meine Zeichnungen zu Gesicht bekom­men würde, und von seinem Urteil hing einiges für mich ab. Ich wußte ge­nau, daß seine Einschätzung mehr bedeutete als die erste in einer lan­gen Reihe von kommenden; ich wußte, daß ich nicht genug En­ergie haben würde – und auch nicht genug Ehrgeiz –, um mein Glück immer wieder aufs neue zu versuchen. Es war verdammt gut möglich, daß ich, wenn dieser Redakteur meine Zeichnungen für schlecht befand, die Mappe zuklappen und für alle Zei­ten in der hintersten Ecke meines Schrankes begraben würde. So war es kein Wun­der, daß ich, als ich endlich die Treppe hinaufstieg, am liebsten wieder um­gekehrt wäre; und weil das nicht ging, weil mein Stolz das nicht zuließ, schleppte ich mich also hin­auf, und da­bei kam es mir vor, als ob ich rück­wärts ginge, so als seien Ge­wichte an meinen Fersen befe­stigt, die meine Füße unweiger­lich wieder nach hinten zogen, wenn ich sie vorwärts setzte.

Drinnen empfing mich eine wohltuende Kühle. Dunkel gemu­s­ter­ter Tep­pich bedeckte den Boden der weißgestrichenen Halle, von der rechts und links Türen abgingen. An den Wänden hin­gen großformatige Bil­derrahmen, die ausgewählte Titelbilder aus den letzten zwei Jahren zur Schau stellten. Es gab keinen Empfangstresen, dafür aber prangte an der Tür ganz rechts ein Messingschild mit der Aufschrift „Anmeldung“. Ich holte tief Luft, klopfte an und trat ein. Eine Blondine mittleren Al­ters mit einer goldgeränderten Brille, die bedrohlich weit vorne auf ihrer Nasenspitze saß, blickte lächelnd von ihrem Schreib­tisch auf. Das Lächeln zerbröckelte allerdings leicht, als sie mich näher in Augen­schein nahm.

„Ja bitte?“

Ich nannte meinen Namen, erklärte mein Anliegen und blickte betont gleichgültig aus dem Fenster, während sie mit spitzen Fingern einen Knopf auf ihrer Gegensprechanlage drückte und mit zuckersüßer Stimme hineinsprach. Ohne hinzusehen, wußte ich, daß sie mich abschätzend musterte. Ich hatte mich extra fein­gemacht und mir auf Dennis’ An­raten hin eins seiner tau­benblauen Jacketts ausgeliehen. Aber da waren immer noch meine ausgetretenen Cowboystiefel, die zer­rissene, wenngleich saubere Jeans und meine viel zu kurzen Haare, und als die Se­kretärin ihr Gespräch beendet hatte und ich wieder zu ihr hinsah, war mir klar, daß ich, wenn es nach ihr gegangen wäre, auf dem schnellsten Wege wieder hätte verschwinden sollen. So aber setzte sie erneut ein brü­chiges Lächeln auf und bat mich zu warten, bis der Herr Schuhmacher mich her­einbitten würde.

Draußen ließ ich mich benommen auf einen der umherstehenden Freischwinger fallen und trommelte ungeduldig auf meiner Mappe herum. Was versprach ich mir eigentlich von diesem Vorstel­lungsgespräch? Wollte ich wirklich ernsthaft versuchen, mich in einem Metier zu etablieren, in dem sich andere, weitaus fähigere Leute gegenseitig auf die Füße traten? Ich hatte noch nicht einmal eine Kunsthochschule be­sucht, ge­schweige denn irgend etwas veröffentlicht, von ein paar Co­mics in meiner alten Schülerzeitung einmal abgese­hen. Alles, was ich vorzuweisen hatte, waren ein paar Zeich­nungen und eine seit genau vier Monaten bestehende Begeiste­rung, mich eingehend mit Bleistift und Radiergummi zu be­schäftigen. Ich saß da und fühlte, wie mir der Mut sank, wie jene Unbeständigkeit, die mich seit Jahren durchs Le­ben trieb, von mir Besitz ergriff, da öffnete sich eine der Holztüren, und eine Frau trat heraus. Und augen­blicklich vergaß ich alles, worüber ich mir gerade noch Gedanken ge­macht hatte.

„Ja“, rief sie nach hinten in den Raum hinein, „ich melde mich, wenn ich zurück bin, aber diesmal wäre ich Ihnen dank­bar, wenn Sie mir die Andrucke schneller zuschicken würden. Bis dann!“ Ihre Stimme war angenehm dunkel und leicht krat­zig, so als wäre sie kürzlich heiser gewesen und hätte sich noch nicht ganz davon erholt. Sie zog die Tür zu und setzte sich in Be­wegung, wobei die Fototasche, die ihr von der Schulter hing, schwer hin und her baumelte. Ich starrte sie unverhohlen an. Vielleicht war es ihr Ge­sicht, des­sen scharfgeschnittene Züge auf auf­regende Weise mit den schmalen, aber weich geschwun­genen Lippen in Kontrast stan­den, vielleicht waren es ihre lässi­gen Bewegungen, vielleicht war es auch ein­fach ihre ganze Ausstrahlung, die einer weltge­wandten, ener­gischen und ir­gendwie geheimnisvollen Frau An­fang Dreißig; auf jeden Fall war ich fasziniert. Im Vorbeigehen warf sie mir einen kurzen Blick zu, und etwas in meinen Augen mußte sie alarmiert ha­ben, denn an der Tür hielt sie inne, drehte sich langsam um und kam zurück.

Unmittelbar vor mir blieb sie stehen, und ich sah zu ihr auf. Plötzlich war ich mir der Schäbigkeit meines Auf­zugs nur zu deutlich bewußt, und liebend gern hätte ich meine alte, abge­schabte Mappe, die Jörn, Pauls Freund, ge­stern für mich her­ausgekramt hatte, gegen eine neue, ordent­liche ausgetauscht.

„Entschuldige, wenn ich dich einfach anspreche“, sagte sie und fuhr sich mit einer Hand durch ihr schulterlanges Haar, „aber viel­leicht hast du Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu ge­hen?“

Vor Überraschung blieb mir die Sprache weg. „Ich kann nicht“, brachte ich nach ei­nem Moment mühsam hervor.

Sie blieb abwartend stehen und sah mich an. Das war eine ih­rer her­ausstechenden Charaktereigenschaften, wie ich später noch feststellen sollte: Sie wartete immer solange ab, bis ich mich von selbst er­klärte.

„Ich hab einen Termin“, fügte ich schließlich hinzu. Unter ihrem durchdringenden Blick, der nicht die Spur eines Lä­chelns zeigte, schoß mir das Blut ins Gesicht.

„Und danach?“

„Danach hab ich Zeit, also, ich …“ Ich fing an zu stottern. End­lich lächelte sie.

„Wenn du Lust hast“, sagte sie und schulterte ihre Fo­totasche noch mal, „schräg gegenüber ist ein Café, da bin ich die nächste Stunde über zu finden.“

Die Tür hinter ihr ging auf, und ein grauhaariger, aber noch recht junger Mann schaute heraus.

„Frau Liersch?“

„Ja!“ Eilig sprang ich auf. Sie grinste mich an.

„Viel Glück“, sagte sie, drehte sich um und ging. Und ich rannte hastig auf die Tür zu, so hastig, daß ich fast über meine eigenen Füße gestolpert wäre.

Herr Schuhmacher blickte mir mit hochgezogenen Augen­brauen entge­gen, und ich glaube, in diesem Moment war es schon fast ent­schieden. Alles war entschieden in diesem Mo­ment.

Er sah sich meine Zeichnungen gar nicht richtig an. Zügig blät­terte er eine nach der anderen um, nur manchmal verweilte sein Blick etwas länger, und währenddessen fragte er mich langsam aus. „Und bisher haben Sie …“

Ich schwieg, weil ich nicht wußte, was ich darauf antworten sollte. Unter meinem Hintern machte der glatte Ledersitz ein quietschendes Geräusch, als ich unbehaglich ein Stück nach vorn rutschte.

„Äh … was hatten Sie bisher noch gleich gearbeitet?“ setzte er noch einmal an.

„In der Gastronomie.“

„Ah ja.“ Seine Miene war undurchdringlich.

Das Rascheln der Blätter erfüllte den Raum. Ich sah aus dem Fenster, hinter dem sich zwei schlanke, zarte Birken in ei­ner leichten Sommer­brise wiegten, und ich fragte mich, ob diese Frau wirklich auf mich warten würde.

Der Redakteur klappte meine Mappe zu und legte seine gefal­teten Hände darauf. Die Geste hatte etwas Abschließendes, und noch bevor er den Mund aufmachte, wußte ich, was er sa­gen würde, und auch, daß es mich gar nicht mehr interes­sierte.

„Tja, Frau Liersch, ich kann Ihnen nicht viel Hoffnung ma­chen. Sie sehen ja, wir haben eine sehr begrenzte Auswahl an Illustrationsmög­lichkeiten jeden Monat. Und es gibt natür­lich auch schon andere Illu­stratoren, die für uns tätig sind. Aber Ihre Zeichnungen haben durchaus etwas Vielver­sprechendes, und ich würde vorschlagen, wir verbleiben so, daß ich Sie anrufe, wenn sich etwas ergibt.“

Kurz darauf stand ich wieder in der Halle. Herr Schuh­macher hatte mich artig hinauskomplimentiert, und noch bevor die Tür hinter mir zugefallen war, hatte ich ihn bereits wieder vergessen. Na­türlich wußte ich da noch nicht, daß sein Gerede nicht nur leeres Geschwätz gewesen war; nein, ein paar Wochen später hörte ich tatsächlich von ihm, er rief mich an und gab mir einen Auf­trag für eine Zeichnung, die Illustration einer Umfrage. Es sollte der einzige Auftrag sein, den ich je erhalten würde. Aber an diesem 14. August, als ich da in der Halle stand, mit durchgeschwitz­tem Hemd und ver­strubbeltem Haar, berührte mich die Frage meiner zeichneri­schen Laufbahn schon gar nicht mehr sonderlich. Was mich be­rührte, war der Gedanke an diese Frau mit den dunklen, zurückge­worfenen Haaren, diese unglaublich schöne Frau, die, wenn sie es sich nicht anders überlegt hatte, im Café schräg gegenüber auf mich wartete.

Ich wollte nicht hierbleiben, in der Halle, wo jeden Moment die Sekretärin oder, schlimmer, der Redakteur die Tür öf­fnen konnte. Aber ich wollte auch noch nicht in das Café gehen. Ich war einfach noch nicht bereit dazu. Das ein­zige, was mir einfiel, war schließlich, mein Jackett auszu­ziehen und tief durchzuatmen. Augenblicklich fühlte ich mich wohler. Ich zog mein T-Shirt ein Stück weit aus dem Bund meiner Jeans, at­mete noch einmal tief durch und trat ins Freie.

Die grelle Sonne traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte ver­gessen, wie heiß es war, und die trockene Luft schien sich bei jedem Atemzug tief in meine Lungen zu brennen. Un­ablässig donnerten Autos und Lastwagen auf der vierspurigen Straße vor­über, Motorräder knatterten dröhnend Auspuffgase in den Himmel, und die Fußgänger liefen, ge­drängt von dem Wunsch, der Hitze zu entkommen, eilig vor­bei. Schräg gegenüber, von aus­gedörrten Rosenbüschen eingerahmt, die in qua­derförmigen Beton­kästen ihr Dasein fristeten, lag das Café. Die rot-­weiß gestreifte Markise war voll ausge­fahren, und an den klei­nen weißen Plastiktischen drängelten sich die Gäste. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und sah hinüber. Sie war nicht da. Einen Mo­ment überlegte ich, ob ich mich davonma­chen sollte, aber dann siegte meine Neu­gier. Ich wartete eine Lücke im fließenden Verkehr ab, rannte über die Straße und trat in das schattige Dunkel des Cafés.

Sie saß an einem der hinteren Tische und betrachtete konzen­triert und mit einem selbstvergessenen Ausdruck im Gesicht ein paar Fotos, die sie vor sich ausgebreitet hatte. Ich stand still da und ließ ihren An­blick auf mich wirken. Sie wäre mir auch an jedem anderen Ort der Welt aufgefallen, und das lag nicht nur an der Art, wie sie leicht vornübergebeugt dasaß: die lan­gen Beine in den verblichenen Cordho­sen über­einanderge­schlagen, einen Ellbogen auf dem Tisch aufge­stützt, rührte sie mit einer Hand in ihrem Kaffee, mit der anderen fuhr sie sich nachdenklich durchs Haar. Der Moment währte nur kurz, denn im nächsten Augenblick hob sie den Kopf und sah direkt zu mir herüber, und ich setzte mich in Bewegung und ging langsam auf sie zu, wobei mir das laute Klacken meiner Ab­sätze auf den glatten Fliesen nur zu deutlich be­wußt war.

„Hallo“, sagte sie und machte eine einladende Geste mit der Hand. „Setz dich. Das ging ja schnell.“

Ich zuckte mit den Schultern und ließ mich auf dem Stuhl ihr gegen­über nieder. Plötzlich fragte ich mich, worüber wir spre­chen sollten. Ich für meinen Teil hatte nicht das Ge­fühl, in der Lage zu sein, ir­gendwelche Belanglosigkeiten austauschen zu können.

Aber dazu kam es auch gar nicht. „Ich hoffe, ich hab dich nicht all­zusehr überfallen“, sagte sie und schob die Fotos zu einem Haufen zusammen. „Es ist nicht unbedingt meine Art“, sie blickte zu mir auf und hob die Augenbrauen, „aber es hat mich einfach so überkommen.“ Sie sah mich abwartend an, und als ich mit den Schultern zuckte, begann sie zu grinsen. „Was möchtest du trinken?“

„Eine Cola, bitte.“ Ich wich ihrem Blick aus, und während sie beim Kellner, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, bestellte, betrachtete ich unauffällig das oberste Foto auf dem Haufen. Es zeigte eine Gruppe dunkelhäutiger Kinder beim Baden in einem Fluß.

„Atlanta“, sagte sie.

Ertappt lehnte ich mich zurück und tastete nach meinem Jac­kett. In der Innentasche fand ich meinen Tabak, zog ihn hervor und öffnete das Päckchen.

„Nur zu“, sie hörte nicht auf, mich zu mustern, „du kannst sie dir gerne ansehen.“

„Vielleicht später.“ Ich spürte, wie ich unter den Achseln zu schwitzen begann. Verlegen drehte ich mir eine Zigarette. Immer noch spürte ich ihren forschenden Blick auf mir.

Sie schnalzte leise mit der Zunge, lehnte sich ebenfalls zu­rück und zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Westentasche. Es war eine von diesen Westen aus grobem Stoff, auf denen Un­mengen von Ta­schen aufgenäht sind, so eine, wie sie Foto­grafen im Fernsehen tragen.

„Du bist Fotografin“, stellte ich fest.

„Ist nicht zu übersehen, wie?“ Sie lachte. „Ja. In der Haupt­sache ma­che ich Reisereportagen. Wie findest du Schuhma­cher?“

Überrumpelt sah ich auf und direkt in ihre Augen. Sie waren grün, ein erstaunlich dunkles Grün, so dunkel, daß es fast ins Blaue tendierte, und im hellen Licht der Nachmittags­sonne er­kannte ich die kleinen goldenen Sprenkel in der Iris.

„Ganz in Ordnung“, sagte ich langsam. „Aber irgendwie hat er etwas Schleimiges.“

„Das liegt an der Art, wie er sich immer leise räuspert, be­vor er zum Sprechen ansetzt.“ Sie beugte sich vor, um mir Feuer zu geben, und unsere Finger berührten sich flüchtig. Ein Schauer durchlief mich, und ich hatte Mühe, mich auf das zu konzen­trieren, was sie gesagt hatte. Vorhin war mir das gar nicht auf­gefallen, aber jetzt, wo sie es er­wähnte, fiel mir wieder ein, wie jeder Satz, den Schuh­macher hervorge­bracht hatte, von ei­nem leisen Räuspern eingeleitet wurde, so als müßte er immer erst einen Kloß im Hals herunterschlucken, bevor er sprechen konnte. Ich grinste.

„Stimmt. Gut beobachtet.“

Sie lachte amüsiert und leckte sich leicht mit der Zunge über die Oberlippe, und ich spürte, wie mir der Schweiß aus­brach.

Der Kellner brachte meine Cola. Sie schmeckte abgestanden, aber das war mir egal. Gierig trank ich in großen Schlucken, und dabei hatte ich das Gefühl, um ein Haar vor dem Verdur­sten gerettet worden zu sein.

„Ich habe mich gar nicht vorgestellt“, sagte sie, wieder ernst ge­worden. „Ich bin Suzannah Hugo.“

Ich verstand ihren Namen nicht auf Anhieb. Sie mußte das er­wartet haben, denn sie lächelte verschmitzt und erklärte: „Suzannah vorne mit S, in der Mitte mit Z und hinten mit H. Und Hugo wie der französische Schriftsteller, falls dir das was sagt.“

„Bist du Französin?“

„Ja. Aber ich bin als Kind viel in Deutschland gewesen. Meine Mutter ist Deutsche.“ Sie streckte eine Hand über den Tisch, und ich sah verdutzt darauf nie­der, bevor ich meine eigene hineinlegte.

„Thea … Liersch.“ Es war lange her, daß ich mich bei einem privaten Anlaß mit Vor- und Zunamen vor­gestellt hatte.

„Ganz schön förmlich, wie?“ Sie hielt immer noch meine Hand, und die Berührung mit ihrer kühlen, glatten Haut verursachte ein leises Krib­beln in meinem Bauch.

„Allerdings“, sagte ich. Wir sahen uns in die Augen, und nach einem Moment ließ sie meine Hand los und fuhr sich wie­der durchs Haar.

„Na ja, das kann man ja ändern. Am besten fangen wir gleich damit an.“ Sie lächelte, und ich lächelte zurück.

Und es änderte sich wirklich. Es dauerte nicht lange, da wa­ren wir in ein angeregtes Gespräch vertieft. Ich erfuhr, daß sie neunundzwanzig war, ursprünglich aus Paris kam, seit einem Jahr in Bremen wohnte und vorhatte, in Kürze nach Berlin zu ziehen. Und sie erfuhr, daß ich mich mit Gelegenheitsjobs durch­schlug und daß meine Karriere als Zeichne­rin soeben of­fensichtlich beendet worden war, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Während die Sonne lang­sam sank und der Feier­abendverkehr zu- und wieder abnahm, während sich die Ti­sche um uns herum leerten und wieder von neuen Gästen in Be­schlag genommen wurden, redeten und redeten wir, und jedes­mal, wenn wir uns in die Augen sa­hen – und das ge­schah immer häufiger –, ver­dichtete sich in mir die Gewißheit, daß ich dabei war, eine ganz außergewöhnliche Bekanntschaft zu ma­chen. In jeder Hinsicht außerge­wöhnlich.

Schließlich sah ich mir tatsächlich ihre Fotos an. Ich be­trachtete Landschaften, in denen ich nie ge­wesen war, und Menschen, die ich nie kennenlernen würde, und dabei lauschte ich ihrer rauhen Stimme, die von Situa­tionen und Begebenheiten er­zählte. Ich sah ihren Fingern zu, wie sie auf die eine oder andere Stelle tippten und mit wei­chen Bewegungen über das glatte Papier strichen. Am Ende überwand ich sogar meine Scheu und zeigte ihr meine Mappe, und ich genoß es, ihren zurückhaltenden Kommentaren zu folgen, aus denen nur zu deutlich hervorging, daß sie meine Arbeit nicht schlecht, aber auch nicht gerade umwerfend fand.

Irgendwann schlug sie meine Mappe zu und sah auf ihre Arm­banduhr.

„Oh, ich muß gehen. Ich habe eine Verabredung.“

Sie begann ihre Sachen zusammenzuräumen, dann hielt sie inne.

„Thea. Würdest du morgen mit mir essen gehen?“

„Ja“, sagte ich, viel zu schnell.

„Gegen acht? Ich könnte dich abholen. Bis dahin überlege ich mir was. Oder hast du einen Wunsch?“

„Nein.“

„Und wo finde ich dich?“

Ich dachte kurz nach. Schließlich schrieb ich ihr Pauls Adresse und Te­lefonnummer auf.

Sie musterte den Zettel und sah fragend zu mir auf. „Paul?“

„Das ist mein Onkel. Wenn was ist, kannst du mich dort am be­sten erreichen. Ich stehe morgen um acht vor der Tür.“

Sie wollte etwas sagen, aber dann schien sie es sich anders zu über­legen. Sie sah mich an, und wenn ich bis dahin noch einen Zweifel gehabt hatte, in welcher Hinsicht sie sich ei­gentlich für mich interes­sierte, dann wurde er in diesem Mo­ment endgültig ausgeräumt. Es ist schwer, so etwas zu be­schreiben: den plötz­lichen Moment der Er­kenntnis, daß es beiden um das gleiche geht, das instinktive Begrei­fen, aus einem Spiel mit lauter un­bekannten Faktoren auf einmal in eine ernsthafte Gleichung hin­übergeglitten zu sein. Sie sah mich eine ganze Weile an, und dann begann sie langsam zu lä­cheln. Ich lächelte zurück.

Draußen verabschiedeten wir uns hastig voneinander. Es war, als ob das milde Licht der Abendsonne uns beide verlegen machte.

„Bis morgen“, sagte sie. Ich nickte, und dann dreh­ten wir uns gleichzeitig um und gingen schnell in entge­gengesetzte Richtun­gen davon. Hinter der nächsten Straßenecke hielt ich an und at­mete tief aus. Die Luft hatte sich ein wenig abgekühlt, und ich blieb eine ganze Weile stehen, reglos, mit wackeli­gen Knien und vor An­spannung leicht verkrampften Muskeln. Ich fühlte mich benom­men und unwirklich. Das Blut schoß mit rasender Geschwindig­keit durch meine Adern, und mein Herz schlug schnell und kraft­voll.

In dieser Nacht schlief ich schlecht; immer wieder wachte ich auf und sah ihr Gesicht vor mir, und als ich am Morgen er­wachte, wußte ich undeutlich, daß ich von ihr geträumt hatte. Irgend­wie schlug ich mich durch den Tag, bemüht, cool zu bleiben, aber es gelang mir nicht. Ich besuchte Dennis auf der Arbeit, ging bei meiner besten Freundin Dörthe vorbei und auf einen Sprung ins Swing, aber ich war nicht in der Lage, mich auf irgend etwas oder je­manden zu konzentrieren. Die Stimmen und Gesichter rauschten an mir vorbei, der Boden, auf dem ich stand oder ging, schien nachzugeben und immerzu zu beben, und ich war heilfroh, als die Sonne endlich ihren langsamen Abstieg zum Horizont begann. Um sechs ging ich zu Paul, wo ich nie­manden außer Theo antraf, der schwanzwedelnd an mir hoch­sprang. Ich du­schte lange und so heiß, wie es ging, dann zog ich mich an und nahm Theo mit auf einen kleinen Spaziergang durch den nahe­gelegenen Park, und dann war es endlich acht Uhr.

Ich hatte kaum zwei Minuten vor dem Haus gestanden, als ein klappriger cremefarbener Citroën um die Ecke bog und vor dem Haus hielt. Suzannah beugte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf, und meine Beine begannen zu zittern. Sie schien genauso nervös zu sein wie ich, denn sie sah mich nur kurz an und dann wieder zur Seite, gab Gas, kaum daß ich die Tür geschlossen hatte, sah mich wieder an, und dann ließ sie die Kupplung zu schnell kommen. Das Ge­triebe knirschte vernehmlich, der Wagen hustete und stotterte und blieb mit einem gewaltigen Ruck mitten auf der Straße stehen. Hinter uns hupte ein wü­tender Taxifahrer, aber Su­zannah reagierte nicht. Sie drehte sich zu mir um und betrach­tete mich in aller Ruhe. Langsam ließ sie ihren Blick über mein Gesicht schweifen, und dann sagte sie: „Du bist also wirklich gekommen.“

„Du ja auch.“

Sie fing an zu lächeln, und ich grinste zurück. Das Taxi rauschte in einem rasanten Bogen an uns vorbei. Und Suzannah startete den Wagen erneut und fuhr los.

Die Zeit verging wie im Fluge. Stunde um Stunde saßen wir uns gegenüber, aßen, sprachen, sahen uns an; jeder ihrer Blicke war wie ein Streicheln, ihre Stimme wie ein Bett, auf dem ich ruhte, jedes ihrer Worte wie ein Anker, den sie mir zuwarf, ich hielt ihn fest und warf ihn zurück, und als wir aufbrachen, war un­ter all der Aufregung, all dem Begehren ein Gefühl der Nähe und Verbundenheit gewachsen, das mich beruhigte und zugleich zutiefst erschreckte.

In den vergangenen Stunden hatte es geregnet, und ein feiner Nebel hing in der Luft. Diesmal würgte Suzannah den Wagen nicht ab. Schweigend fuh­ren wir die kaum belebten Straßen entlang und lauschten dem satten Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt. Als wir die Yorckbrücken passierten, legte ich den Kopf in den Nacken und sah durch das Seitenfenster in den fahlen Himmel, den die mächtigen Brücken­pfeiler in ungleichmäßige Rechtecke zerrissen.

Die Bautzener Straße ist eine ruhige Seitenstraße, die zwi­schen den Yorckbrücken und der Monumentenbrücke an den S-Bahn­gleisen entlangführt. Auf der rechten Seite erhebt sich eine lange Reihe von vierstöckigen Mietshäusern; gegenüber verläuft eine niedrige Mauer, in die in unregelmäßigen Ab­ständen Tore ein­gelassen sind, die zu verschiedenen Hand­werksbetrieben und Werkstätten führen. Aus verschmutzten Laternen fiel schwaches Licht auf den verlassenen Bürger­steig, als wir aus dem Wagen stiegen. Ich fühlte mich benommen und unwirklich. Suzannah schloß ab und kam um die Kühlerhaube herum zu mir.

„Es ist nicht besonders komfortabel bei mir“, sagte sie und steckte die Hände in die Hosentaschen. Langsam gingen wir nebenein­ander her. Ich hätte sie gerne berührt, aber ich traute mich nicht. Unsere Schultern waren einen halben Meter voneinander ent­fernt, ein halber Meter, ange­füllt mit Fremdheit, Distanz und Begehren.

„Es ist eine Art Kelleratelier, das einem Freund von mir gehört. Wenn ich hier bin, schlafe ich dort. Karl ist ein ziemlich un­ordentlicher Typ; ich hoffe, das stört dich nicht.“ Sie blieb vor einer Holztür zu ebener Erde stehen, von der grüner Lack in dicken Schichten abblätterte. Auf der rechten Seite hing neben einem durch ein verrostetes Gitter geschützten Fenster ein windschie­fer Briefkasten, der mehrfach aufgebro­chen worden war, den vielen Dellen und Kratzern nach zu urteilen. Das Türschloß sah aus, als wäre es seit Ewigkeiten nicht benutzt worden.

„Nett“, sagte ich.

„Wart’s ab, bis du drinnen bist.“ Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, und mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür.

Es dauerte einen Moment, bis Suzannah den Lichtschalter fand. Ein Geruch nach Farbe, Terpentin und Staub hing schwer in der Luft. Fahles Licht fiel aus einer nackten Glühbirne an der Decke. Wir standen auf einer kleinen Plattform, von der drei Stufen nach unten in einen quadratischen Raum führten. Neu­gierig sah ich mich um. Über den gesamten Holzfußbo­den ver­streut lagen Kleidungsstücke, Werkzeuge und Zeitschriften. Un­ter dem Fenster stapelten sich Unmengen von Fotos, Papieren, Kamerazubehör, Schreibzeug und anderen Materialien auf einer einfachen Holzplatte von überdimensionalen Aus­maßen. An den Wänden, von denen der Putz abbröckelte, hin­gen Fotos in verschiedenen Größen, deren Ecken sich nach außen wölb­ten. Zu meiner Rech­ten, im Schatten eines verbogenen Regals, dessen Bretter unter der Last der achtlos hineingestopften Kleidungsstücke gefährlich durch­hingen, lag eine schmale Ma­tratze auf dem Fußboden. Eine dunkelrote Wolldecke war sorg­sam darüber gebreitet. Am Kopfende stand eine altmodische schwarze Ledertasche mit silbernen Schnallen. Dane­ben war eine morsche Holztür in die Wand eingelassen.

Vorsichtig folgte ich Suzannah dorthin. Der kleine Raum dahin­ter diente offensichtlich als Küche, links lehnte neben einem uralten Kühlschrank ein wackeliger Spültisch an einen ziemlich verdreckten Gasherd, rechts waren zu meiner Überra­schung eine Reihe blitz­sauberer Chrombecken an der Wand be­festigt.

„Unser Labor“, erklärte Suzannah. „Für Schwarzweiß-Entwick­lungen.“

„Das machst du selber?“

Sie schmunzelte. „Ja, für gewöhnlich schon. Du kennst dich da­mit nicht aus, oder?“

„Nein. Ich kann gerade mal eine Polaroid-Kamera bedienen, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht mal, wie ich da einen Film einlegen soll.“

Unschlüssig blieb ich stehen. Suzannah griff nach oben und schaltete eine Lampe ein, die über den Becken hing. Ein lei­ses Summen ertönte, und die Küche wurde in ein rötliches Licht getaucht. Schlagartig begann ich zu schwitzen. Das Gefühl der Ruhe, das mich, seit wir das Restaurant verlassen hatten, be­gleitet hatte, war verflogen, und ich wußte auch warum. Wir würden mitein­ander schlafen, wir waren kurz da­vor, und ich hatte Angst. Weil sie mir so sehr gefiel.

Suzannah öffnete den Kühlschrank auf und holte zwei Bierfla­schen heraus.

„Möchtest du ein Bier?“

Ich nickte. Sie öffnete beide Flaschen und reichte mir eine. Ich nahm sie und hielt mich daran fest. Die Flasche war eiskalt.

Suzannah drückte die Kühlschranktür mit dem Absatz zu und lehnte sich dagegen. In dem rötlichen Licht sah sie unwirk­lich aus, so unwirklich, wie ich mich fühlte.

„Auf uns“, sagte sie leise und hob ihr Bier. Nach einem Moment tat ich es ihr gleich. Über unsere Flaschen hinweg sa­hen wir uns an. Langsam ließ ich meinen Blick über ihr Gesicht wandern, von den Augen hoch zur Stirn, auf der sich bereits die ersten Ansätze jener Fal­ten zeigten, die sich mit den Jahren immer mehr vertiefen würden, über die hohen Wangen­knochen bis hinunter zu ihrem energischen Kinn, über die fein geformten Lippen und die ge­rade geschnittene Nase wieder hinauf zu ihren Augen, die mich immer noch unverwandt ansa­hen. Jeden Zentimeter Haut, jeden Flecken ihres Gesichts prägte ich mir ein, und wenn es einen Knopf gegeben hätte, mit dem ich mir ihren Anblick tief in die Netzhaut hätte einbrennen können, so hätte ich ihn in diesem Moment gedrückt. Denn plötzlich fürchtete ich, sie nach dieser Nacht nie wie­derzusehen. Ich wußte bereits, daß ich mehr von ihr wollte. Mehr, als ich mir vorstellen konnte, und mehr, als ich in die­sem Augen­blick zu glauben bereit war. Als mir aufging, in welchen Di­mensionen ich da gerade dachte, setzte ich hastig die Fla­sche an die Lippen und trank. Eiskalt und würzig rann mir das Bier die Kehle hinunter in meinen aufgewühlten Magen.

Suzannah streckte einen Arm aus und legte mir die Hand um den Nacken. Einfach so. Und ich bewegte mich, wie von Schnü­ren gezogen, auf sie zu. Sie legte ihre Arme um mich; ich stellte meine Flasche irgendwo hinter ihrem Rücken ab, mit halbem Ohr hörte ich, wie sie umfiel und das Bier leise gluc­kernd hinauslief, aber das störte mich nicht. Ich zog Suzannah fest an mich, spürte mit meinen Fingern ihre Rückenmuskeln, die sich dehnten und wie­der zu­sammenzogen, als sie mich noch enger an sich preßte. Ich roch den süßen und herben Duft nach Hitze und Schweiß, und dann küßte ich ih­ren Hals, ließ meine Lippen über die zarte Haut gleiten, über ihre Wange hinauf bis zu ih­rem Ohr. Sie fühlte sich unglaublich weich an, so weich, daß mir schwach in den Knien wurde, und dann drehte sie ihren Kopf zu mir, und nach einem Mo­ment, nach einem kurzen Moment des Zögerns küßten wir uns. Und ich versank in ihrem Mund.

Es ist nie wirklich einfach beim ersten Mal, nicht, wenn man verliebt ist. Die Vorstellung, die Liebe, die frisch ent­flammte Liebe befähige uns zu einem perfekten Liebeserlebnis, bei dem jeder Handgriff, jede Berührung stimmt, bei dem es kein Zögern, keine Unsicherheit, keine Angst gibt, sie ist eine Mär. Es ist immer ein Wandern auf unsicherem Weg, und jedes Stoc­ken, jedes Verharren wird zu einem Stein, über den man zu stolpern droht und es so man­ches Mal auch tut. Und warum sollte es auch anders sein? Der Mensch, den man so sehnlich begehrt und endlich in den Armen hält, ist einem fremd, seine Vorlieben und Wünsche sind einem unbekannt, sein Körper hat Be­rührungen erfahren – und gemocht oder als unangenehm emp­funden –, die wir nicht im geringsten erahnen können. Und so ist immer eine Art zarter Unbeholfenheit dabei in jeder ersten Nacht. Und so war es auch mit Suzannah.

Wie im Fieber fühlte ich mich, als wir, Arme und Beine fest inein­ander verschlungen, die paar Schritte von der Küche zum Bett taumelten. Mir war heiß, meine Kleider kleb­ten mir am Leibe, und die Luft schien aus warmfeuchtem Nebel zu beste­hen, der bei jedem Atemzug sirrend durch meine Kehle zischte. Es gab einiges Gerangel, als wir, behindert durch die rote Wolldecke, in der sich unsere Beine verfangen hatten, versuch­ten, uns gegenseitig auszuziehen. Meine Finger verhakten sich in ihren Gürtelschlaufen, und als sie mir das Hemd über den Kopf zog, wurde mein Ohr unsanft nach oben ge­quetscht. Wir sprachen kein Wort, und ich glaube, ihr Ge­sicht, gerötet von der Hitze und Aufregung, spiegelte den­selben ernsthaften, er­regten und auch ein wenig ängstlichen Ausdruck wider wie meins.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir endlich nackt waren, und die ganze Zeit über hörte ich ihren Atem, leise zunächst, dann immer heftiger, bis er sich zu einem Stöhnen verstärkte. Ich sog ihren Duft in mich ein, spürte ihren Körper, der sich straff und fest in seiner wei­chen Hülle aus zarter Haut auf und an mir bewegte, und unser Schweiß vermischte sich und machte uns rutschig und glatt. Und dann saß sie auf mir, ihre kleinen runden Brüste reck­ten sich vorwärts, aus halbge­schlossenen Augen sah sie auf mich hinab, und endlich wich der Ernst aus ihren Zügen, sie lächelte, lächelte mich an, „Thea“, sagte sie, „langsam, mach langsam“, und noch während sie sprach, während ich zu­sah, wie ein Tropfen Schweiß ihre Schläfe hinunterlief, am Kinn entlang und von dort aus auf meinen Bauch fiel, während ich zusah, wie ihre Schultern sich spannten, wie sie ihren Kopf zurückwarf und ihre Hüften nach vorn gleiten ließ, währenddessen schob ich meine Hand sanft unter ihren Hintern, zwischen ihr Fleisch und meins, und langsam, langsam ertastete ich feuchte Haut und Locken und Lippen, glitt wei­ter und weiter, und einen Moment verharrte ich, sie warf den Kopf herum, sah mich an, ihre dunklen Augen loderten auf, und dann war ich in ihr.

Nach und nach nahm ich die Außenwelt wieder war. Immer noch brannte die Glühbirne an der Decke und warf ihr fahles Licht in den Raum. Der Kühlschrank schnaufte und verstummte dann. Sie lag matt und heiß neben mir, einen Arm über meine Brust gelegt, ihr Kinn nur einen Fingerbreit von meiner Schulter entfernt. Ich spürte mein Herz klopfen, immer noch schnell. Als sie sprach, war ich fast erschrocken, so sehr war ich in meiner eigenen Welt versunken.

„Nimm mich in den Arm“, flüsterte sie. Ich sah sie an. Ihre Augen waren schwer, trunken von satter Lust, und als ich mich halb zu ihr drehte und meine Arme um sie legte, schmiegte sie sich an mich und seufzte auf. Ich konnte ihr Lächeln an meiner Wange spüren. „Thea“, sagte sie leise. Und dann schlief sie ein.