Und wenn schon! - Karen-Susan Fessel - E-Book

Und wenn schon! E-Book

Karen-Susan Fessel

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Beschreibung

Wer heißt denn heute noch Manfred? Keiner. Nur ich. Aber Manfred Hannemann hat nicht nur unter seinem altmodischen Namen zu leiden, sondern vor allem darunter, dass er aus einer sehr armen Familie kommt. So arm, dass Manne zum Schwimmunterricht keine neue Badehose bekommt und die seines älteren Bruders Günther anziehen soll - aber das geht natürlich gar nicht. Manne, der Loser? Na, und wenn schon! Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis - endlich im Taschenbuch!

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Seitenzahl: 173

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Karen-Susan Fessel, 1964 in Lübeck geboren, studierte Theaterwissenschaften, Germanistik und Romanistik und arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Dozentin für Schreibseminare. 1999 erschien ihr erstes Kinderbuch Ein Stern namens Mama, das sowohl auf die Bestenliste des Zürcher Kinderbuchpreises »La vache qui lit« als auch auf die Empfehlungsliste des Evangelischen Buchpreises gesetzt wurde. Und wenn schon! wurde für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für Steingesicht, wie weitere ihrer Bücher in viele Sprachen übersetzt und Schullektüre im In- und Ausland, erhielt Karen-Susan Fessel den Taiwan Book Award.

Für ihr künstlerisches Schaffen und ihre sozialen Verdienste wurde Karen-Susan Fessel 202 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

Mehr Bücher und Informationen unter

www.karen-susan-fessel.de

für meinen freund axel

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 1

wer heißt denn heute noch Manfred?

Keiner. Nur ich.

Ist echt nicht gerade der Kracher, der Name. Ich mein, so übel ist er ja eigentlich gar nicht. Ein Name eben, nicht besser oder schlechter als andere Namen auch. An sich jedenfalls. Früher war er sogar mal richtig modern. Gab ziemlich coole Typen, die so geheißen haben, ’n Jagdflieger gab’s mal, der hieß Manfred von Richthofen, und ’n Rennfahrer auch, aber da hab ich den Namen vergessen. War auch was mit von vorm Nachnamen. Alter Adel, die beiden. Genau wie ich. Haha.

Also, früher war mein Name mal richtig modern, aber heute heißt keiner mehr Manfred. Jedenfalls keiner in meinem Alter. Nur so ein paar alte Knacker und ich. Hat Ma dran Schuld. Die wollte unbedingt, dass ich so heiße. Ma hat ’ne Vorliebe für altmodische Namen. Wir heißen nämlich alle so komisch: Werner, Günther, Jochen, Dieter und Manfred. Also echt! Und dann noch Hannemann hintendran.

Kein Wunder, dass ich ständig verarscht und blöd angemacht werd.

Obwohl, alleine am Namen liegt’s ja wohl auch nicht.

»He, Manne! Manne Mannomann, Feigling! Traust du dich nicht, oder was?«

Das ist Finn. Der schon wieder! Ich hab gar nicht gewusst, dass der auch hier ist, am Badesee, aber jetzt kann ich ihn sehen. Er steht da drüben am Steilhang, mit Basti und Timon, und grinst fies zu mir rüber.

»Schnauze!«, schrei ich ihm zu.

»Mannomann! Ist mal wieder hintendran!«

»Ach, leck mich doch!«, brüll ich zurück.

»Hör gar nicht hin«, sagt Amal, schwingt die Arme über den Kopf und springt ab. Fast ohne Spritzer taucht er ins Wasser ein. Amal ist echt gut in Köpper. Ich nicht. Ich steh zitternd in meiner Shorts auf dem Grasbüschel am Uferrand und hab die Arme um meinen Oberkörper geschlungen, weil mir so kalt ist. Oder vielleicht auch, weil ich tatsächlich ein bisschen Angst hab. Schwimmen kann ich, na klar, nicht besonders gut, aber ich kann’s. Ich spring nur nicht gerne ins Wasser von so weit oben.

»Feigling!«, brüllt Finn, und Basti und Timon lachen laut. Ein Stück weiter weg taucht Amal gerade wieder auf. Er schüttelt sich prustend das Wasser aus den Locken, spuckt ’ne halbe Fontäne in die Luft und winkt mir zu.

»Komm!«, ruft er. »Das Wasser ist super!«

»Komm!«, äfft Finn ihn nach. »Na, komm schon, du Niete!

Die Fische beißen dich nicht, ist eh nichts an dir dran!«

Ich seh zu Amal, der mich angrinst, und geh vorsichtig einen Schritt nach hinten, ohne auf Finns wieherndes Lachen zu hören. Dann kletter ich den Abhang wieder runter, bis unten zum Ufer, wo die Wellen gegen den Sand lecken.

»Ich fass es nicht!«, schreit Basti. »Der traut sich nicht zu springen, der Penner!«

Vorsichtig stecke ich einen Fuß rein. Das Wasser ist wirklich super, nicht zu warm und nicht zu kalt, genau richtig. Ich beiß die Zähne zusammen und geh einfach los. Als ich bis zur Brust drinstehe, lasse ich mich nach vorne fallen. Das Letzte, was ich höre, bevor ich untertauche, ist Finns höhnische Stimme:

»Oh Mannomann!«, brüllt er. »Maaaanfred, du Penner!«

Als wir aus dem Wasser kommen, sind die anderen weg. Nur gut so, finde ich. Amal natürlich auch.

»Finn ist echt ein Fiesling«, sagt er und trocknet sich ab. »Voll die Bestrafung, dass wir den jetzt wieder jeden Tag sehen müssen.«

»Aber hallo«, sage ich. Seit letztem Jahr schon sind Finn und die anderen mit uns in einer Klasse. Basti und Timon gehen ja noch irgendwie, jedenfalls, wenn sie nicht mit Finn zusammen sind, aber Finn nervt total. Der schiebt einen Spruch nach dem anderen, und mich hat er besonders auf dem Kieker.

»Einfach nicht hinhören. Musst einfach nicht hinhören, was der quatscht.« Amal wirft die nasse Badehose über den Lenker von seinem Fahrrad und zieht sein T-Shirt über. »Interessiert doch auch gar nicht, was Finn zu sagen hat. Oder?«

Amals Augen sind braun, mit kleinen goldenen Sprenkeln drin, die in der Sonne glitzern, als er mich ansieht. Wie er so dasteht und die letzten Tropfen aus seinen dunklen Locken schüttelt, fällt mir wieder ein, was Maike neulich auf dem Pausenhof gesagt hat: »Voll süß ist der«, hat sie zu Sarah gesagt, als ich gerade vorbeikam. »Der einzige gute Junge aus unserer Klasse. Die andern sind doch alle blöd. Aber Amal, der hat ein voll süßes Lachen, und dem seine Locken sind richtig niedlich.« Dann hat sie mich gesehen und sofort war sie still. Und dann hat sie die Nase gerümpft und mir die Zunge rausgestreckt. Manche Mädchen sind einfach bescheuert.

Amal guckt auf seine Uhr. »Ich muss los. Ist schon halb sieben.«

»Wollen wir nicht noch eben unten an der Radde ’n Wettrennen machen?«, frag ich, aber Amal schüttelt den Kopf.

»Nee, meine Mutter schlachtet mich, wenn ich Viertel vor nicht da bin. Kennst doch Bea.«

Bea, Amals Mutter, ist zwar ziemlich locker drauf, aber zu spät kommen ist bei ihr nicht drin. Da wird sie stinkig. »Du hast alle Freiheiten, Amal, aber ’ne Verabredung ist ’ne Verabredung. Zum Abendbrot bist du pünktlich und basta.« Amal hält sich lieber dran. Würde ich auch, an seiner Stelle. Aber muss ich ja nicht. Bei mir guckt keiner groß drauf, wann ich komm.

»Ciao, Amigo, bis morgen früh im feindlichen Lager«, sagt Amal und schwingt sich auf sein Rad.

»Zieh Leine.« Ich steck mir mein zusammengerolltes Handtuch hinten in die Shorts, die mächtig durchhängt, weil sie so nass ist. Badehose hab ich keine, macht aber nichts. Die Shorts tut’s ja auch. Als ich hochguck, ist Amal schon weg. Ich fahr auch. Ich hab Hunger.

Auf der Straße vom See in die Stadt sind so ein paar Huckel, zur Verkehrsberuhigung, damit die Leute langsam fahren. Aber ich geh hier immer auf Vollgas. Wenn ich mich ganz nach vorne beuge, die Arme steif mache und richtig gut Anlauf nehme, komm ich glatt zweieinhalb Meter weit durch die Luft. Amal mit seiner alten Hollandgurke muss da immer passen, aber mein BMX-Rad hält das aus. Auch wenn’s nicht danach aussieht. Irgendwann schaff ich mal vier, garantiert.

Ich bretter über die drei Huckel hinweg, voll der Überflieger. Beim vierten kommt mir ein Auto entgegen. Ich kann gerade noch ausweichen, aber der Fahrer muss trotzdem hart in die Bremsen. Er guckt total sauer. Ich streck ihm die Zunge raus und steige in die Pedale. Der kommt mir eh nicht hinterher, und da, wo ich langfahr, schon gar nicht.

Vor der Kossenmühle biege ich rechts ab und fahr im Stehen den kleinen Pfad neben dem Bach, der Radde, entlang. Die Brombeerbüsche sind höher als ich und schon leer gepflückt, aber die Hagebutten ein Stückchen weiter hängen noch alle dran. Hier mach ich sonst mit Amal Wettrennen, immer die Radde entlang bis zur Holzbrücke, da rüber und auf der anderen Seite wieder zurück. Macht totalen Spaß, außer wenn da welche rumlaufen und meckern, Muttis mit Kinderwagen oder Leute mit Hunden. Kommt leider oft vor.

Einen Moment überleg ich, ob ich mal kurz über die Holzbrücke fahren soll, das macht immer so ein irres Geräusch, so ein ganz lautes Rumpeln. Oder vielleicht die Kruppstraße hoch, am Haus von Greta vorbei. Aber dann fahre ich doch geradeaus weiter, den kleinen Weg bis zur Jahnstraße unten am Stadion. Mit einem Satz bin ich auf der Straße, und dann kann ich schon unser Haus sehen. Klein und irgendwie schrumpelig steht es da, auf der anderen Seite der Ausfallstraße, die zur Bundesstraße 70 hochführt, wo es nach Holland geht und zum Meer und überhaupt überallhin. Irgendwann stell ich mich mal dahin und halt den Daumen raus, wie Bea, Amals Mutter, das früher immer gemacht hat. Und dann nimmt mich einer mit und dann fahr ich da hoch, auf die B 70 und los, irgendwohin. Irgendwann mach ich das mal.

Die Gartenpforte ist offen, wie immer. Ich rausch durch, um die Hausecke rum und spring ab. Werner sitzt auf der Hintertreppe und raucht.

»Hej, Werner.« Ich lass mein Rad gegen die Mauer fallen.

»Nimm deine Karre da weg«, sagt Werner statt einer Begrüßung.

Ich tu so, als hätte ich nichts gehört, aber Werner hält mich am Bein fest, als ich vorbeiwill. »Tu die Karre da weg, ej.«

»Mann«, maul ich vor mich hin, aber ich stell mein Fahrrad doch lieber an den nächstbesten Baum. Ich hab keine Lust zu riskieren, dass es im Gebüsch landet. Und damit muss man rechnen, wenn Werner genervt ist. Und das ist er meistens, seit er vom Bund wieder zurück ist.

»Siehste«, sagt er. »Geht doch, du Arsch.«

Drinnen läuft die Glotze, wie immer. Ich bieg gleich rechts ab, zur Waschküche, Shorts aus, aber zu spät. Ma hat mich aus der Küche gesehen.

»Manfred!«, schreit sie. »Die Hosen! Spinnst du?«

»Zieh sie schon aus!«, ruf ich zurück, aber sie kommt mir hinterher. Da hab ich die Shorts schon aus und meine Jogging halb an. Ma hat Wasser in den Beinen, die kann nicht so schnell.

»Hab ich schon tausendmal gesagt, nimm ’ne trockene mit!

Du holst dir den Tod! Wenn ich dich noch einmal so seh!«

»Schon gut, Ma!«, sag ich, aber so schnell regt sie sich nicht ab.

»Wenn ich dich noch einmal so seh!«, schreit sie, und dann macht sie den Mund zu und verzieht ihn ganz komisch. Das kenn ich, kann sein, dass sie gleich losheult. Wetten, sie hat was getrunken.

»Du kannst doch nicht mit nassen Hosen rumfahren, Junge, das geht nicht«, sagt sie mit zittriger Stimme und wischt sich über die Augen. »Du holst dir den Tod!«

»Nee, mach ich nicht mehr.« Ich werf die nassen Shorts über die Leinen, die quer über Werners Pritsche in der Ecke gespannt sind. Ma kommt zu mir rüber und schlingt die Arme um mich und drückt mich an ihre Brust, so fest, dass ich fast keine Luft krieg. Aber ich lass sie.

»Mein Kleiner«, flüstert sie in mein Haar. »Mein Kleiner!«

Ich kann den Schnaps in ihrem Atem riechen. Einen Moment lang drückt sie mich noch fester an sich, dann lässt sie mich los und geht in die Küche zurück.

Ich schnapp mir ein T-Shirt und geh hinterher. Eigentlich hab ich es ganz gern, wenn Ma mich so drückt. Aber ich bin immer froh, wenn’s keiner mitkriegt. Sonst hagelt’s dämliche Sprüche, und auf die kann ich verzichten.

Pa sitzt vor der Glotze, vor sich ein halb leeres Schnapsglas und seine Pillen. Günni und Dieter hängen neben ihm ab. Keiner von ihnen hebt den Kopf, als ich reinkomme. Aus der Glotze kommt lautes Gekicher und dann ein Gong. Irgendein Quiz ist dran. Sieht Pa am liebsten. So viele Quizsendungen, wie der schon geguckt hat, müsste er längst alle Fragen beantworten können. Früher hat er ja auch immer mitgeraten, aber jetzt schon lange nicht mehr. Jetzt guckt er nur noch zu. In der Küche sitzt Ma wieder am Tisch und strickt. Vor ihr steht die Schnapsflasche und ein winziges Glas.

»Ist Brot da?«, frag ich.

»Im Brotfach«, sagt sie und dreht den Kopf, damit sie an mir vorbei zum Fernseher gucken kann. Seit ich denken kann, sitzt Ma hier in der Küche und Pa im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Fernseher ist genau so aufgestellt, dass sie ihn beide gut im Blick haben. Wenn man woanders sitzt, kann man nicht so gut gucken. Dieter und Jochen maulen manchmal deswegen rum, aber der Fernseher bleibt da, wo er steht. Ich glaub, das ist die einzige Sache, wo Pa den Daumen draufhat, zusammen mit Ma natürlich. Aber die Glotze ist sowieso wohl die einzige Sache, für die Pa sich überhaupt noch interessiert.

Ich mach mir ein Brot mit Käse und eins mit Quark, und dann ess ich, an den Kühlschrank gelehnt. So ess ich meistens, jedenfalls abends.

Die Stricknadeln klappern, und das rote Wollknäuel auf dem Tisch zuckt unruhig hin und her, während der Faden sich blitzschnell abrollt. Mas geschwollene Finger bewegen sich so flink, dass ich gar nicht erkennen kann, was genau sie eigentlich tun. Jedes Mal wieder wunder ich mich darüber – dass Ma mit ihren kaputten Fingern so unglaublich schnell stricken kann. Sie hat früher im Schlachthof gearbeitet, Fleisch gewaschen und so. Davon sind ihre Finger völlig kaputt.

»Wo ist denn Jochen?«, frag ich, aber Ma gibt keine Antwort.

Sie starrt gebannt in den Fernseher, wo irgendein blasser Sparkassentyp gerade eine Frage beantworten soll.

»Wo ist Jochen?«, frag ich noch mal, aber Ma schüttelt nur unwirsch den Kopf.

»Psch!«, zischt sie und ich geb’s auf. Ist sowieso Quatsch, das zu fragen. Ma weiß eh nicht, wo er steckt, und von den anderen garantiert auch keiner. Höchstens Werner, aber der ist mir zu mies drauf.

Der Sparkassentyp sagt irgendwas, und eine jaulende Hupe ertönt. Ma seufzt und drüben im Wohnzimmer schüttelt Dieter den Kopf.

»Mann, ist der behindert!«

Günni guckt zu ihm rüber und dann schüttelt er auch seinen Kopf. »Behindert!«, sagt er. »Total behindert. Nicht, Dieter?«

»Klappe«, sagt Dieter stinkig. Er hat sein gelbes Nike-T-Shirt an und sein Basecap, das rote vom Baumarkt. Das Teil trägt er ständig, manchmal sogar im Bett.

»Krieg ich noch einen, Agnes?«, ruft Pa vom Sofa, und Ma schiebt ihren Stuhl zurück und steht schwerfällig auf.

»Aber nur einen, den letzten«, sagt sie und schlurft zu ihm rüber. »Denk an deine Pillen.«

»Is schon wieder so weit?«, fragt Pa und guckt zu ihr hoch.

»Nee«, sagt Ma und schenkt sein Schnapsglas voll. »Erst wieder um zehn. Bisschen musst du noch warten.«

Pas Schultern sinken in sich zusammen, als er das Schnapsglas anguckt, es hochhebt und einen Schluck davon nimmt. Seine Augen sind ganz wässrig und sehen müde aus, so, als würde er jeden Moment einschlafen. Aber das macht er ja nicht. Ganz im Gegenteil. Pa schläft fast nie. Er kann nicht schlafen, er liegt immer nur da und denkt nach und hat Kopfweh. Deshalb kriegt er ja auch die Pillen, seit ein paar Jahren. Schlafen kann er zwar immer noch nicht, aber wenigstens rastet er jetzt nicht mehr aus und tobt rum und heult dann tagelang Rotz und Wasser.

Ich schieb mir den Rest vom Brot in den Mund und guck aus dem Fenster. Draußen rattert ein Laster vorbei und drüben, am Stadion, kommt ’ne Gruppe Jungs aus dem Eingang gelaufen, die Fußballschuhe über der Schulter. Basti ist auch dabei und einer, den ich aus der Kruppstraße kenn. Sie stehen da und quatschen und lachen und dann hebt Basti plötzlich den Kopf und guckt rüber. Ich drück mich schnell an die Seite. Als ich vorsichtig am Schrank vorbeiguck, kann ich sehen, wie Basti mit dem Finger auf unser Haus zeigt und irgendwas ruft, und die anderen lachen. Sogar der aus der Kruppstraße lacht. Arschlöcher, denk ich.

Ma sitzt schon wieder am Tisch und strickt, und Pa und Dieter stieren in die Glotze. Nur Günni nicht. Günni starrt an die Decke und murmelt was vor sich hin.

Dann sagt er es laut: »Total behindert, oder, Dieter?«

»Alles klar, Günni«, sagt Dieter abgenervt und rammt Günni den Ellbogen in die Seite. »Und jetzt halt endlich die Klappe.« Günni reibt sich die Seite und grinst vor sich hin.

Ich guck aus dem Fenster. Die Jungs stehen immer noch vorm Stadion und glotzen kichernd zu uns rüber.

»Ich geh noch mal raus«, sag ich.

»Pscht!«, zischt Ma.

Ich stoß mich vom Kühlschrank ab und verzieh mich nach draußen.

Werner sitzt nicht mehr auf der Hintertreppe und mein Fahrrad ist auch weg. Ich werd sofort so sauer wie selten, aber es nutzt nichts: Die Kiste ist nicht mehr da.

Trotzdem such ich ’ne Weile rum, neben dem Anbau, wo ein Haufen Schrott liegt, im Gestrüpp neben der Pforte und sogar zwischen den Brennnesseln guck ich nach. Ums ganze Haus stehen massig Brennnesseln. Überhaupt, der Garten ist total verwildert und voller Unkraut, nur der Weg hintenrum und der kleine Platz vor der Hintertreppe sind noch frei. Vorne im Vorgarten reichen die Brennnesseln sogar bis zum Fensterbrett hoch. Müsste man echt mal wieder schneiden, denk ich, während ich ein paar Stängel auseinander trete

und nach meinem Rad Ausschau halte. Fehlanzeige natürlich. Aber wer von uns hat da schon Lust zu, Brennnesseln schneiden? Und außerdem haben wir eh kein Werkzeug dafür. Vorigen Sommer, als ich mal Langeweile hatte, hab ich es mit ’ner Schere versucht, aber bald aufgegeben. Seitdem wuchert das Zeug, wie es will. Die Nachbarn, Nyhuis, meckern immer mal wieder deswegen, aber uns ist es egal. Mit denen liegen wir sowieso ständig im Clinch.

Dabei hatten wir früher sogar mal ein kleines Gemüsebeet. Hat sich Pa drum gekümmert. Aber die Zeiten sind echt lange vorbei.

Im Vorgarten nachzugucken spar ich mir. Die Jungs drüben brauchen mich wirklich nicht dabei zu sehen, wie ich zwischen den Brennnesseln rumhüpfe. Und die Kiste ist eh weg, Werner ist damit ab. Macht er manchmal, obwohl ich ihn immer voll anschrei deswegen.

Als ich durch die Gartenpforte zockel, schmeißt drüben auf der anderen Seite der Radde gerade einer seine Flaschen in den Altglascontainer. Dahinter brettern die letzten Autos vom Supermarkt-Parkplatz. Einen Moment weiß ich nicht, wohin ich soll. Wenn Amal noch in der Kruppstraße wohnen würde, dann könnt ich zu ihm. Bockmist ist das. Geh ich halt zum Bahndamm.

Ich lauf über die Brücke, quer übern Parkplatz und hinter der Tanke entlang zum Damm hoch. Es ist immer noch ziemlich warm und es riecht nach Sonne und heißem Asphalt, der langsam abkühlt. Ab und zu weht ein Windstoß den Müll hoch, der auf dem Parkplatz rumliegt, Papierreste, Plastiktüten und Fetzen von Karton. Ich kick eine Bierdose zur Seite, nehm Anlauf und renne den Hang hoch. Hier, zwischen den Bäumen, ist es viel kühler, aber mir macht das nichts aus. Ich frier selten. Obwohl ich so dünn bin.

Hier oben liegt auch jede Menge Müll. Ich frag mich immer, wie der dahin kommt, hab hier noch nie jemanden getroffen. Deshalb ist das ja auch einer meiner Lieblingsplätze: Hier hab ich meine Ruhe und alles im Blick, den Supermarkt, den Parkplatz, die Tanke und, wenn ich noch weiter geh, sogar den Schießstand. Der liegt am hinteren Ende vom Parkplatz und gehört zu ’nem Schützenverein. Vorne ist das Clubhaus und hinten, hinter ’nem Zaun und mit Stacheldraht gesichert, der Schießstand. Voll die Festung, das Ganze, vorne das Haus, rechts und links Bäume und Zäune und hinten der Bahndamm. Aber vom Hang aus kann man halt reingucken.

Jetzt aber ist keiner da, alles verrammelt und zu. Überhaupt ist nichts mehr los. Die letzten Kunden vom Supermarkt sind weg. Der Parkplatz ist leer, und auf der anderen Seite vom Hang, beim Biobauern, ist auch tote Hose. Der Sportplatz vom Gymnasium daneben liegt wie ausgestorben in der untergehenden Sonne.

Ich steh ein bisschen dumm rum und guck mir den Müll an. Manchmal liegt was Gutes da, ’ne Pfandflasche oder sogar ein Geldstück. Aber heut hab ich kein Glück.

Plötzlich hör ich ein Brausen, von weiter weg, das sich rasch nähert. Aus dem Stand sprinte ich vor, bis dahin, wo der Hang auf den Bahndamm trifft. Kurz vor den Schienen halte ich an, stell die Beine breit auseinander, geh leicht in die Knie. Sicherer Stand ist alles, sagt Jochen immer.

Und dann kommt es auch schon: ein Ungetüm mit dunkler Schnauze, pfeifend im Wind, mit ratternden Rädern und heulender Hupe, die direkt vor mir loskreischt. Wetten, der Lokführer hat mich gesehen, wetten, die ist für mich? Mann, ist die laut!

Der Fahrtwind wirft mich fast um, zieht an meiner Hose, an meinem T-Shirt. Aber ich steh wie ein Baum, na logisch! Und ich muss lachen, ich lache gegen den Wind an, gegen das Rumpeln und Rattern der Räder und die schrill kreischende Hupe. Und dann schrei ich, so laut, wie ich kann. Mich kann eh keiner hören. Nicht bei dem Lärm!