Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach mehr als drei Jahrzehnten in Berlin legt Nell ein Sabbatjahr ein und zieht in die norddeutsche Kleinstadt, in der sie ihre Jugend verbracht hat – und in der ihre Mutter heute noch lebt. Aber eigentlich ist Nell auf der Flucht – vor ihrer eigenen Vergangenheit. Ihre große Liebe Irma hat sich nach fast zwölf Jahren überraschend von ihr getrennt, und seitdem hat Nell das Gefühl, dass die Zeit ihrer Mutter bald abläuft, und ihre eigene ebenfalls. Wo soll sie leben, wenn sie alt ist, und mit wem? Vielleicht ist es doch besser, zu den Wurzeln zurückzukehren, in eine Stadt, in der sie kaum jemanden noch kennt, in der sie aber ein Gefühl von Heimat empfindet. Aber die beschauliche Kleinstadt ist von ganz eigenwilligen Persönlichkeiten bevölkert: Nells unorthodoxe Mutter hat kein Interesse daran, umhegt zu werden, Louis, der benachbarte Zimmermann, trägt sein eigenes Geheimnis mit sich herum, und auch Beate, die das Hotel gegenüber leitet, hat noch einiges vor. Als Nell sich mit einer früheren Klassenkameradin einlässt, ist die ersehnte Ruhe wieder dahin. Dann steht auch noch Nells bester schwuler Freund, Jack, vor der Tür, und Nell muss sich entscheiden – gehen oder bleiben?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 608
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
© Querverlag GmbH, Berlin 2020
Erste Auflage März 2020
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung des Gemäldes „Welcome“ von Jan Ros, 2016.
ISBN 978-3-89656-664-5
Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:
Querverlag GmbH
Akazienstraße 25, 10823 Berlin
www.querverlag.de
Sie sah tatsächlich genauso aus. Sie sah genauso aus wie auf dem Foto, das sie Nell vorab in ihrer Mail geschickt hatte. Nur ein wenig blasser wirkte sie, als hätte der Berliner Altweibersommer ihr bereits in den wenigen Stunden ihres Aufenthaltes in dieser Stadt die Pigmente aus der Haut gezogen.
„Guten Tag“, sagte sie und streckte die Hand aus, eine schmale, knochige Hand mit langen, dünnen Fingern, aber einem erstaunlich festen Druck. „Ich bin Aino.“
„Hallo. Komm rein.“ Nell trat zurück und ließ Hector los, der sofort schwanzwedelnd um die Füße der jungen Finnin herumzutänzeln begann und seinen kleinen Kopf so weit nach oben streckte, wie es ihm möglich war. „Das ist Hector, mein Hund.“
„Er sieht ja auch aus wie ein Hund“, sagte Aino in nahezu akzentfreiem Deutsch und bückte sich kurz, um Hector über den Kopf zu streicheln. Hector rannte eifrig vor ins Zimmer, um seine alte Quietscheente zu holen.
Während er die Ente vor Aino auf den Boden warf und sich dann sofort daraufstürzte, ging Nell voraus ins Zimmer, das von der restlichen, langsam schwindenden Morgensonne erhellt war. „Das wäre dann das Zimmer. Hier, vorn neben dem Eingang, ist die Küche, gegenüber das Bad.“ Sie zog für Aino den zweiten Stuhl vom Tisch. „Das ist auch schon alles.“
Aino blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich um. Nach einem Moment wurde Nell klar, dass sie sich nicht setzen würde, und schweigend nahm sie selbst Platz.
Die Sonnenstrahlen reichten genau bis zu den Füßen der jungen Finnin, die in hellen Sneakern einer Marke steckten, die Nell nicht kannte. Aino stand reglos da und sah sich um, ihre Augen wanderten über die karge Einrichtung – den schlichten, großen Holztisch mit seinen zwei Stühlen, das Bett mit dem gelben Überwurf darüber, das kombinierte Kleider- und Bücherregal, welches die gesamte Nische einnahm, Hectors viel zu großes Weidenkörbchen in der Ecke –, dann drehte sie langsam den Kopf und betrachtete die Fensterfront mit dem Balkon davor.
Für einen Moment fühlte sich Nell wieder zurückversetzt in den Tag vor gut einem halben Jahr, als sie selbst die Wohnung zum ersten Mal betreten hatte. Es war ein eisiger Januarmorgen gewesen, die Sonne hatte viel tiefer gestanden als jetzt, es aber gerade noch über das Flachdachgebäude der Schulanlage auf der anderen Seite des Weges geschafft. Ihre Strahlen hatten den leeren Raum mit einem kalten, klaren Licht erhellt, das die Kratzer und Dellen, die der Vormieter auf dem hellen Laminatboden hinterlassen hatte, deutlich zum Vorschein gebracht hatte.
Nell hatte genauso dagestanden wie ihre zukünftige Untermieterin in diesem Augenblick; genau wie sie hatte sie sich umgesehen, den Anblick der fremden Wohnung in sich aufgesogen und versucht, sich selbst darin zu sehen.
Nell war es damals nicht gelungen; als der Angestellte der Hausverwaltung die Balkontür geöffnet und einen Schwall eisiger Winterluft hereingelassen hatte, war sie zusammengezuckt und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, während Hector mit eifrigen Schritten durch den Spalt auf den Balkon hinausgelaufen war und seine kleine Schnauze durch die Belüftungsaussparungen in der Front der Balkonbrüstung gesteckt hatte.
Es war Nell nicht möglich gewesen, sich in dieser kleinen, frisch sanierten Einzimmerwohnung vorzustellen, aber sie hatte sie dennoch genommen und war nur eine Woche später eingezogen.
Jack hatte versucht, sie davon abzuhalten, aber sie hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, als sie ihm von der Wohnung erzählte. Adam, Lise und er hatten ihr beim Umzug geholfen, und die Missbilligung in ihren Gesichtern, als sie die wenigen Möbel und Kisten gemeinsam hineintrugen, hatte Nell zu einer Art trotzigem Aufbegehren verleitet. „Ich finde, die Wohnung passt zu mir!“, hatte sie wider besseres Wissen gesagt, aber Jack hatte den Kopf geschüttelt.
„Sie passt vielleicht zu deiner Situation, aber nicht zu dir“, hatte er erwidert, und Lise hatte böse genickt. Nur Adam hatte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt.
„Hier kann man es eine Weile gut aushalten“, hatte er gesagt, und so war es auch gekommen.
Nell hatte es eine Weile gut ausgehalten. Aber diese Weile war nun vorbei.
Aino drehte sich um, und im Gegenlicht wirkten ihre Augen immer noch erstaunlich hell. „Ja“, sagte sie. „Das ist eine schöne kleine Wohnung.“ Sie ließ ihre Umhängetasche, die sie über der Schulter trug, heruntergleiten und kam zu Nell herüber, um sich auf den freien Stuhl zu setzen, der immer noch dastand, als hätte er auf sie gewartet. „Ich finde sie gut. Hier kann man gut sechs Monate wohnen.“
Nell musste lächeln, aber Aino lächelte nicht zurück. Sie starrte Nell ernst an, aber Nell mochte sie trotzdem.
Hector kam angetrabt und warf seine Ente erneut mit Schwung vor Ainos Füße, und als sie der Ente einen kleinen Schubs gab, stürzte er sich mit einem begeisterten Grunzen erneut darauf und schüttelte sie knurrend unter dem Tisch, über den hinweg Aino und Nell sich immer noch ansahen.
„Hier ist meine Adresse, wenn etwas sein sollte“, sagte Nell und schob Aino einen Zettel zu.
Aino nahm den Zettel und betrachtete ihn. „Gut“, sagte sie. „Bis März, ja?“
„Bis März, genau“, sagte Nell. „Erst mal. Und wenn du möchtest, kannst du gleich hierbleiben. Ich fahre schon heute.“
Nell war kein spontaner Mensch, noch nie gewesen. Schon als Kind hatte sie ihre Tage geplant, sich morgens beim Aufwachen Dinge vorgenommen, die sie erledigen und erleben wollte; insgeheim führte sie jeden Tag aufs Neue eine imaginäre Strichliste, auf der sie mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung abhakte, was sie hatte umsetzen können. Nicht wenige Male war ihr Hang zur Organisation und Strukturierung bei anderen auf Unverständnis und Ärger gestoßen: „Mit dir kann man nichts spontan unternehmen“, hatte Irma oft mürrisch bemerkt, „alles musst du vorher planen. Selbst das Essen! Ich weiß doch heute noch nicht, was ich morgen essen will!“
Nell hingegen wusste meist genau, was sie am nächsten Tag essen wollen würde. Und sie wusste auch gern, wo sie in der folgenden Nacht schlafen würde, wenn sie auf Reisen ging. Manchmal störte sie sich selbst an ihrem Hang zur Planung, der sich mit steigendem Alter zuweilen zum Zwang ausgewachsen hatte, aber eigentlich hatte sie sich gut damit eingerichtet.
Und jetzt brauchte sich Irma ja auch nicht mehr daran zu stören.
An diesem warmen Septembertag aber hatte Nell spontan gehandelt. Sie hatte der verdutzten Aino den Schlüssel überreicht, Hector angeleint und sein Körbchen gegriffen und war gegangen.
Als sie die Autotür zuzog, hatte es einen Moment des Zögerns gegeben, aber sie hatte ihn beiseitegewischt wie eine lästige Haarsträhne und den Motor gestartet.
Kurz vor der Autobahnauffahrt hatte Jack angerufen, aber Nell hatte ihn weggedrückt und das Telefon ausgeschaltet. Dann hatte sie den Blinker gesetzt und die steile Kurve zur Auffahrt genommen, und erst, als sie die Stadtautobahn schon lange hinter sich gelassen hatte und das Navigationsgerät die nächste Abzweigung in 297 Kilometern anzeigte, erst da fiel ihr auf, dass ihre Hände sich so stark um das Lenkrad gekrampft hatten, dass die Fingerknöchel weiß hervorragten.
Erst über zwei Stunden später hatte sie angehalten, um Hector hinauszulassen und einen dünnen Kaffee auf einem Autohof zu trinken. Der Kaffee schmeckte schlecht, aber dennoch nach Ungewissheit und damit nach Freiheit.
Nell legte beide Hände um den Becher und den Kopf in den Nacken. Über ihr wölbte sich der strahlend blaue Nachmittagshimmel; nicht eine Wolke war zu sehen. Die bereits abgeernteten Weizenfelder hinter der Tankstelle leuchteten in einem satten Gelb, ein Schwarm Feldsperlinge stob tschilpend auf und flog mit rauschendem Flügelschlag davon. Hector trabte den ausgefahrenen Feldweg entlang und blieb an einem vertrockneten Ginsterbusch stehen, um ausgiebig daran zu riechen.
Für einen winzigen Moment fiel Nell die Angst an, von hinten, unvermittelt, mit Wucht. Was, wenn sie sich falsch entschieden hatte?
Das nächste halbe Jahr erstreckte sich auf einmal vor ihr wie eine Unendlichkeit und zugleich wie ein Nadelöhr, durch das sie hindurchmusste, ohne sehen oder auch nur erahnen zu können, was danach kam.
Nell streckte sich, trank ihren Kaffee aus und rief Hector, der bereitwillig angerannt kam, mit gespitzten Ohren und einem abenteuerlustigen Ausdruck im Gesicht.
Hector lebte, das vermutete Nell zumindest, ausschließlich in der Gegenwart, die damit letztlich zur Unendlichkeit gerann. Manchmal hoffte sie, dass etwas von Hectors Unbekümmertheit auf sie abfärbte. Vielleicht aber konnte sie sich auch einfach dazu entschließen, nicht mehr weiterzudenken als bis zum nächsten Tag.
„Komm, Hector, weiter geht’s!“, sagte sie und zerknüllte den Pappbecher in ihrer Hand.
Hector rannte vor ihr den Weg entlang, auf kurzen Beinen und mit wehenden Ohren, munter und neugierig auf das, was ihn erwartete. Nell schloss die Augen und holte tief Luft. „Weiter geht’s“, sagte sie ein zweites Mal, und diesmal hörte es sich für sie selbst an wie ein Credo.
Sie brauchte länger als sonst für die Fahrt. Kurz vor Hannover geriet sie an einer Baustelle in einen Stau, und als es Nell schließlich gelang, nach einer Dreiviertelstunde, in der sie nur wenige hundert Meter vorangekommen war, von der Autobahn abzufahren, stockte der Verkehr an der nächsten Ampel erneut. Nell ließ die Fenster herunter, auf dem Feld neben der Landstraße zog ein wuchtiger Mähdrescher seine Runden. Staub wirbelte in einer enormen Wolke auf und wurde vom Wind nordwärts geblasen; der Duft des frisch gemähten Feldes wehte herüber und ließ Hector neugierig die Schnauze aus dem Fenster strecken, mit weit geblähten Nasenlöchern.
Die Sonne stand bereits schräg am Himmel; Nell würde spät ankommen, zu spät sicherlich für einen spontanen Besuch. Sie setzte den Blinker, fuhr rechts ran und rief das Hotel an, in dem sie ab dem darauffolgenden Tag ein Zimmer bestellt hatte.
Es war kein Problem, bereits heute anzureisen, und Nell nahm es als gutes Omen. Als es weiterging und Nell die Fenster wieder nach oben gleiten ließ, blieb der Duft nach gemähtem Feld noch lange im Auto hängen.
Die Sonne war gerade untergegangen, als Nell endlich in die Straße im Industriegebiet einbog, in der das Hotel lag. Sie hatte die direkte Ausfahrt von der Bundesstraße verpasst und musste einen Umweg nehmen. Im schwindenden Tageslicht wirkten die geklinkerten Fassaden der Firmengebäude und die Lagerhallen, die sie passierte, grau und stumpf; kein Mensch war zu sehen, nirgendwo brannte Licht, obwohl die Dämmerung bereits eingesetzt hatte.
Das Hotel befand sich in einem schlichten, grauen Betonquader, ein wenig zurückgesetzt von der Straße. Auf die hintere Hälfte war ein zweites Stockwerk aufgesetzt worden, den sauber gemähten Rasen im Vorgarten umrahmte eine niedrige, akkurat gestutzte Buchsbaumhecke, die allerdings leicht angegriffen aussah. Von den Parkplätzen auf der rechten Seite waren drei belegt; während Nell daneben einparkte, registrierte sie die polnischen Aufschriften der beiden Lieferwagen, die einen dunklen Kombi mit Münchener Kennzeichen flankierten.
Handwerker und Geschäftsmänner, die übliche Mischung, die man in einem Hotel in einem Industriegebiet erwarten durfte. Auf der Website aber hatte das Hotel auch Radfahrer gezielt umworben; die kleine Stadt lag an einem stark frequentierten Fernradweg, hatte Nell zu ihrer Überraschung gelesen. Das war ihr neu, aber vielleicht hatte es damals, als sie hier gelebt hatte, noch überhaupt keine Fernradwege gegeben.
Als sie die Autotür öffnete, gingen im selben Moment auf der Straße die Laternen an. Nell ließ Hector heraus und ging um den Wagen herum, um den Kofferraum zu öffnen.
Die Rückbank war umgeklappt; Nell hatte den Stauraum bis auf den letzten Zentimeter ausgenutzt, und jetzt, während sie die gestapelten Taschen und Kisten betrachtete, wurde ihr komisch zumute. Das hier war zwar nicht alles, was sie besaß, aber alles, was ihr etwas bedeutete – bis auf ihr altes, schon recht ramponiertes, aber immer noch funktionstüchtiges Hollandrad, das im Fahrradkeller ihrer Berliner Wohnung stand und hoffentlich keinen Rost ansetzte. Sie hätte es gern mitgenommen, aber es hatte einfach nicht mehr ins Auto gepasst.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Nell fuhr herum. Im Eingang zum Hotel kniete eine rothaarige Frau ihres Alters und hielt Hector die Hand hin, der interessiert, aber wachsam daran schnüffelte. Als Hector keine Anstalten machte, sich streicheln zu lassen, stand sie auf, und Nell war überrascht von ihrer Größe.
„Herzlich willkommen!“, sagte sie und schlug die Hände ineinander, eine erstaunlich altmodische Geste, die Nell nahezu rührte. „Hatten Sie eine gute Anreise? Darf ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?“ Dann erst bemerkte sie die große Anzahl von Gepäckstücken im Kofferraum und verstummte. „Oh!“, sagte sie amüsiert. „Hatten Sie nicht nur für drei Nächte gebucht?“
Nell musste lächeln, während sie ihre kleine Reisetasche herausnahm und den Kofferraum zuschlug. „Ja“, sagte sie. „Aber ich habe noch viel vor.“
Die Rezeptionistin führte Nell mit beschwingten Schritten zu ihrem Zimmer am Ende des langen Ganges, der in einem großen Bogen an nahezu allen anderen Zimmern vorbeiführte. „Zwei weitere Zimmer liegen noch im Obergeschoss“, erklärte sie in betont munterem Tonfall. „Aber die sind sehr klein, die möchten Sie nicht haben. Hier, das wäre dann Ihr Zimmer!“ Sie öffnete die letzte Tür auf dem Gang und ließ Nell den Vortritt. „Wenn Sie etwas brauchen – ich bin noch eine Weile vorn am Empfang und sonst telefonisch erreichbar.“
Das Zimmer war groß und sehr spartanisch möbliert, und Nell wusste sofort, dass sie sich darin wohlfühlen würde. Tisch, Bett und Stuhl, an der Wand ein moderat großer Fernseher. Das Bad hingegen war luxuriös eingerichtet, sogar ein Bidet hatte man in die kleine Nische zwischen Duschkabine und Waschbecken eingebaut.
Vom Tisch aus konnte Nell aus den beiden großen Fenstern hinaus auf eine kleine Gartenanlage sehen, die von einer einzigen Lampe in der Mitte erhellt wurde. Dahinter begrenzten einige Bäume das Grundstück.
Hier würde sie also die nächsten drei Tage verbringen. Das Zimmer, das gesamte Hotel verströmte eine Ruhe, nach der Nell sich, das wurde ihr plötzlich bewusst, als sie die Vorhänge zuzog, seit Wochen gesehnt hatte.
Während Hector noch jede Ecke des Raumes gründlich beschnüffelte, packte sie ihre Tasche aus und benutzte das Bad. Beim Händewaschen sah sie in den Spiegel, aber etwas in ihrem Blick brachte sie dazu, sofort wegzusehen. Stattdessen betrachtete sie ihre Hände, die noch die Bräune des langen, allmählich verklingenden Sommers trugen. Schmutziges, schaumiges Wasser rann in den Ausguss, strudelte hinab. Der Anblick machte sie traurig, und hastig trocknete sie sich ab.
Als sie aus dem Bad kam, überfiel sie die Einsamkeit ohne Vorwarnung. Für einen Moment spürte sie, wie ihr Entschluss und damit ihr gesamtes Vorhaben ins Wanken gerieten, aber dann fasste sie nach dem Türrahmen, und das glatte, weiße Holz unter ihren Fingern wirkte griffig und tröstlich auf sie.
Mit Hector im Schlepptau ging sie den langen Gang zurück zur Rezeption, die jetzt im Dunkeln lag und abgeschlossen war. Vor dem Eingang zog sie sich eine eiskalte Flasche Bier aus dem laut surrenden Automaten, öffnete sie, nahm einen Schluck und dann sofort einen zweiten. Das Bier schmeckte ihr nicht, aber das störte sie nicht.
Mit der Flasche in der Hand trat sie hinaus. Mittlerweile war es fast ganz dunkel geworden, nur ein heller Lichtschein weit hinten im Westen zog sich den Horizont entlang. Kein Luftzug war zu spüren, die Bäume jenseits der Straße standen reglos in der immer noch warmen Abendluft. In der nur vom gelegentlichen Geräusch eines in der Ferne vorbeifahrenden Autos durchbrochenen Stille spürte Nell, wie ein Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Nach dem Lärm der Großstadt, dem ständigen Verkehrsrauschen und Dröhnen des Motors während der langen Fahrt war die Ruhe weich und wohltuend wie ein Kissen, auf das sie nach langer Reise den Kopf bettete.
Nell sah sich um. Zur Rechten ragte das dunkle Dach eines Hauses über einer wildwuchernden Hecke hervor, links, hinter einem hohen Maschendrahtzaun, waren gestapelte Dachplatten und andere Bauteile zu sehen. Gegenüber, auf der anderen Seite der gepflasterten Straße, die beidseits von einem schmalen Grasstreifen begrenzt war, lag ein altes Backsteingebäude mit einem großen, zweiflügeligen Tor, das nicht ganz geschlossen schien. Rechts schloss sich ein zweistöckiger, geduckter Anbau mit zwei schmutzig wirkenden Fenstern an, über dessen Tür ein selbst gezimmertes Schild den Namen der Firma verkündete: Benningsen und Sohn.
Benningsen und sein Sohn waren offenbar Tischler oder Zimmerleute, denn auf dem Grundstück lagerten Holzplatten, Bretter und Balken, teils mit Plane abgedeckt. Weiter hinten erkannte Nell schemenhaft einen amerikanisch anmutenden Wohnwagen mit abgerundetem Dach.
Nell rief Hector und machte sich auf den Weg. Langsam schlenderte sie an den parkenden Autos vorbei, überquerte die Straße und blieb einen Moment vor der Tischlerei stehen. Die rechte Schiebetür stand tatsächlich einen Spalt breit offen, obwohl kein Licht brannte.
So was gab es nur in der Provinz. Nur in abgelegenen Gegenden blieben Türen unverschlossen und Lagerhallen über Nacht offen.
Nell trank ihr Bier mit einem großen Zug aus und stellte die Flasche ab, um sie nachher auf dem Rückweg wieder mitzunehmen.
Sie wusste nicht, ob es ihr gefiel, dass außer dem gelegentlichen Geräusch eines entfernt vorbeifahrenden Autos nichts zu hören war, dass weit und breit niemand zu sehen war, dass die Dunkelheit die Einzelheiten ihrer Umgebung verschlang und über das Land glitt wie ein Tuch, das erst der nahende Morgen wieder beiseitezuziehen imstande war.
Aber sie hatte all das selbst gewählt, und jetzt, während sie mit langsamen Schritten die schmale Straße entlangging, auf die nächste Kreuzung zu, auf der eine altersschwache Straßenlaterne orangefarbenes Licht spendete, jetzt mischte sich eine tiefsitzende Unsicherheit mit Furcht und Aufregung zugleich.
Das Beste würde sein, wenn es ihr gelang, aus all diesen Zutaten Neugier zu mischen.
An die Tischlerei schloss sich ein nachlässig umzäuntes Gelände an, auf dem mehrere Container und verschiedenste Bauteile gelagert wurden, soweit Nell in der Dunkelheit erkennen konnte. Dahinter verlief sich ein schmaler Trampelpfad in der Dunkelheit, entlang einer rissigen Mauer, die zu einer Speditionsfirma gehörte.
Langsam schlenderte Nell an der Außenwand des Firmengebäudes entlang, bis sie die Straßenecke erreichte. Links von ihr ragte das große Wohnhaus, das an das Hotelgelände angrenzte, in die Höhe. Sämtliche Jalousien waren heruntergelassen, kein Lichtschein drang hindurch, aber über der massiven Holztür leuchtete eine rustikale Lampe. Eine große Motte versuchte sich vergeblich den Weg ins Innere zu erkämpfen und landete, noch während Nell hinsah, entkräftet auf dem Boden, um sich nach einem Moment zu einem neuen Versuch aufzumachen.
Nell ließ den Blick über die menschenleere Kreuzung schweifen, die auf der anderen Straßenseite von mannshohen Gitterzäunen zu beiden Seiten begrenzt war. Am linken verwies ein wie handgemalt aussehendes Schild auf eine Behindertenwerkstatt, hinter dem Zaun auf der rechten Straßenseite warteten zwei lange Reihen von Gebrauchtwagen. Nell zog die Schultern hoch und drehte sich langsam zur Seite.
Direkt vor ihr, ein wenig von der Straße zurückgesetzt und mit einem kleinen, gepflegten Vorgarten versehen, stand das Haus, das sie sich in den letzten Wochen unzählige Male im Internet angesehen hatte: ein dreistöckiges Backsteingebäude mit einem schlichten Krüppelwalmdach. Hinter dem Fenster darunter brannte Licht, im Obergeschoss war alles dunkel, aber auch im Erdgeschoss waren hinter den Vorhängen der großen Fenster Lichter zu erkennen. Das Leuchtschild, das links neben der Haustür in der Wand verankert war, warf einen warmen Schein über den Vorgarten; über dem weißen V auf rotem Grund wand sich die Schlange um den Äskulapstab.
Nell rief Hector, der immer noch hinten am Feldweg herumschnupperte, zu sich, dann trat sie aus dem Schatten der Hauswand hinaus ins Licht, um die Aufschrift neben der Tafel auf dem Eingang entziffern zu können.
Im selben Moment öffnete sich die Tür von innen, warmes Licht erhellte die Schwelle und die beiden Stufen zum Vorgarten hinunter, und eine kleine, alte Frau lugte mit misstrauischem Blick hinaus. „Die Praxis ist geschlossen“, sagte sie nach einem raschen Blick auf Hector. „Doktor Rohde praktiziert nicht mehr. Sie müssten sich an den tierärztlichen Notdienst wenden, denn Doktor Radowicz hat jetzt natürlich auch nicht mehr auf. Es ist ja schon nach neun!“
Ihre helle Stimme zerschnitt die spätsommerliche Abendstille derart klar und laut, dass Nell zusammengezuckt war. Auch Hector wich zurück und starrte die alte Frau überrascht an. Dann musste Nell lächeln.
„Danke“, sagte sie. „Aber ich habe mir das Haus einfach nur angesehen.“
Die alte Frau kniff die Augen zusammen, und Nell wurde bewusst, wie seltsam sich ihre Erklärung anhören musste.
„Also, ich habe die Wohnung im Dachgeschoss gemietet“, fügte sie hinzu.
Ein Anflug von Ratlosigkeit flog über das Gesicht der alten Frau, und sie trat einen Schritt zurück. „Die Wohnung im Dachgeschoss? Die ist aber noch nicht fertig“, sagte sie. „Da sind noch die Handwerker drin!“
„Ich habe sie auch erst zum 1. Oktober gemietet“, sagte Nell. „In drei Tagen.“
Hinten, an der großen Querstraße, war ein Lieferwagen aufgetaucht und näherte sich ihnen, um direkt an der Kreuzung abzubremsen und in die Seitenstraße, die zum Hotel führte, einzubiegen. Im Vorbeifahren erkannte Nell ein polnisches Kennzeichen, der Fahrer sah neugierig zu ihnen hinaus und nickte knapp. Nell nickte zurück und sah wieder zu der alten Frau hinüber, die sie immer noch ratlos und misstrauisch zugleich beäugte.
„Ja, und was machen Sie dann hier mitten in der Nacht auf der Straße?“, fragte sie schließlich.
Nell spürte, wie ein Lachreiz in ihr aufstieg, den sie rasch wieder unterdrückte. „Ich werde die nächsten drei Tage hier vorn im Hotel übernachten und mache gerade einen Abendspaziergang“, erklärte sie. „Und da kam ich gerade hier so vorbei …“
Die alte Frau legte den Kopf schief, warf noch einen Blick zu Hector, der mittlerweile ausgiebig an den halbverwelkten Stiefmütterchen im Vorgarten roch, dann hob sie die Hand. „Warten Sie mal“, sagte sie und trat in die Diele zurück.
Nell stand unschlüssig da, während vom Hotelvorplatz Türenklappen zu hören war und dann gedämpfte Männerstimmen, ein Lachen, ein Ruf. Irgendwo in der Ferne fing ein großer Hund an zu bellen, und Hector zuckte zusammen, hob eine Pfote und spitzte die Ohren.
„Doktor?“, rief die alte Frau im Innern des Hauses. „Doktor, kommen Sie mal?“
Etwas in Nells Magen zog sich schmerzhaft zusammen und entkrampfte sich wieder. Das hatte sie nicht beabsichtigt, sie hatte ihren zukünftigen Vermieter nicht aus seiner Abendruhe aufschrecken wollen, sie hatte Zeit, tagelang Zeit, sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen, sie hatte es in Ruhe angehen lassen, nichts überstürzen wollen. Ihre Abreise war überstürzt genug gewesen, aber vielleicht gehörte das dazu, vielleicht gehörte es zu einer großen Veränderung dazu, dass nichts, nicht einmal die kleinen Wege und Gänge, einem gewohnten Rhythmus, einer vorausgedachten Planung folgten. Aino hatte ihre Wohnung betreten, und von da an war alles anders gewesen.
Oder vielleicht war schon länger alles anders, vielleicht schon, seit sie den Entschluss gefasst hatte, nicht nur den Entschluss zu gehen, sondern schon vorher, schon, seit sie sich entschieden hatte, ihre Wohnung zu verlassen, die Wohnung, in der sie fast dreißig Jahre gelebt hatte, mit anderen, mit Irving, dann allein, später mit Irma.
„Guten Abend?“ Der Gruß, zu einer Frage formuliert, riss Nell aus ihren Überlegungen. Die Haustür war weit geöffnet, ein großer, alter Mann mit grauem Haar stand auf der Schwelle und sah sie an. Er füllte den Rahmen nahezu aus, und Nell registrierte erstaunt, wie gerade er sich hielt, so gerade und aufrecht, wie sie es äußerst selten bei alten Menschen gesehen hatte. Er trug die klassische Kleidung eines gepflegten älteren Mannes: ein gestreiftes Hemd mit einer Strickjacke im Zopfmuster darüber, Cordhosen, Pantoffeln. Hinter ihm lugte seine Haushälterin – jedenfalls nahm Nell an, dass es seine Haushälterin war – neugierig zu Nell hinaus.
„Guten Abend“, sagte Nell. „Ich wollte nicht stören, tut mir leid, ich kam nur …“ Sie holte tief Luft und setzte neu an. „Ich bin Nell Gubitz“, sagte sie. „Ihre neue Mieterin.“
Ein sehr schmales, kaum merkliches Lächeln zog über die Züge des alten Mannes, dann nickte er. „Frau Gubitz“, sagte er. „Natürlich. Treten Sie ein!“
Im Flur roch es zart nach Bohnerwachs, obwohl der Boden mit Fliesen ausgelegt war. Zur Rechten verwies das gleiche Schild wie draußen neben der Eingangstür zu den Behandlungsräumen, am Ende des Flurs führte eine Treppe ins Obergeschoss. Nell folgte Doktor Rohde, der mit leicht gebeugtem Rücken vor ihr herging, durch eine Art Vorzimmer in seine Privatgemächer, die aus einem geräumigen Wohnzimmer und einer bis an die Decke mit Bücherregalen versehenen Bibliothek bestanden.
An das Wohnzimmer schloss sich ein Esszimmer an, dahinter lag die Küche, in der sich Doktor Rohdes Haushälterin bereits zu schaffen machte.
Es roch nach alten Holzmöbeln und schweren Teppichen, ein Geruch, der verschwommene Erinnerungen in Nell wachrief, Erinnerungen an vergangene gemütliche Stunden mit ihren längst verstorbenen Großeltern. Ein Gefühl der Heimeligkeit überkam sie, aber dann rief sie sich zur Ordnung. Es war schließlich nur ein Geruch, der diese Gefühle in ihr weckte. Und Erinnerungen konnten auch trügen.
Nell nahm in dem Sessel Platz, den Doktor Rohde ihr mit einem Nicken zugedacht hatte, und rief Hector zu sich, der sich widerwillig zu ihren Füßen setzte.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Doktor Rohde, der stehengeblieben war. „Ein Wasser? Einen Tee? Oder darf es ein Grappa sein?“
Nell zögerte überrascht, aber dann fiel ihr Blick auf den kleinen Beistelltisch, auf dem ein halbvolles Cognacglas stand, und sie lächelte. „Gern einen Grappa, wenn es keine Umstände macht.“
Doktor Rohde zog die Brauen hoch und nahm eine Flasche und ein weiteres Glas aus der Vitrine an der Stirnseite des Zimmers, über der eine Reihe von gerahmten Hundeporträts hing. „Alles macht Umstände“, sagte er trocken. „Aber das ist ja auch nicht das Schlechteste. Was täten wir Menschen, wenn es keine Umstände gäbe?“
„Soll ich eine Kleinigkeit zu knabbern bringen?“, rief seine Haushälterin aus der Küche. Hector spitzte die Ohren. Nell hatte gar nicht gewusst, dass er diese Wörter kannte.
Doktor Rohde sah Nell auffordernd an, aber sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke, für mich nicht!“, rief sie in Richtung Küche und erntete ein leises Grummeln. Dann war das Geklapper von Geschirr zu hören und das Geräusch von Schubladen, die geöffnet und wieder geschlossen wurden.
„Danke, Lotte!“, sagte Doktor Rohde laut und wandte sich dann wieder Nell zu. „Sehen Sie mir meine Küchenphilosophie nach“, sagte er, während er erst ihr und dann sich selbst einschenkte und die Flasche abstellte. „Alte Leute halten gern große Reden. Auch im Kleinen.“ Er lächelte in sich hinein. „Das ist das senile Redebedürfnis. Und das Bedürfnis, die Jungen an seinen im langen Leben angehäuften Weisheiten teilhaben zu lassen. Leider ist damit der moderne Begriff der Teilhabe nicht im Mindesten gemeint. Dabei würde das die Sachlage doch deutlich vereinfachen. Alte Leute gibt es schließlich im Überfluss.“ Er seufzte, als er sich mit einem Ächzen in den Sessel gegenüber setzte und nach seinem Glas griff. „Sehen Sie, das war der Beweis. Seniler Redefluss. Zum Wohl!“
Nell hob ihr Glas und nippte daran. Sie trank nie Grappa oder andere Spirituosen, aber dieser hier schmeckte ihr ausgezeichnet. Scharf und fruchtig rann er ihre Kehle hinunter, und für einen Moment musste sie ein Husten unterdrücken.
Doktor Rohde beobachtete sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, dann beugte er sich vor und lockte Hector zu sich, der sofort die Seiten wechselte und sich an Doktor Rohdes Beine schmiegte, um sich von seinen langen, knochigen Fingern streicheln zu lassen. „Du Feiner“, sagte er zu Hector. „Ein ganz Feiner bist du. Und du hast Glück, würde Hugo noch leben, dann müsstest du jetzt angebunden vor der Tür warten, bis dein Frauchen und ich die Flasche geleert hätten.“
„Hugo?“, fragte Nell und nahm noch einen Schluck.
„Mein letzter Münsterländer. Er ist vorvergangenes Jahr dahingeschieden. Und jetzt bin ich einfach zu alt für einen neuen Gesellen.“
„Du hattest dein ganzes Leben lang genug Hunde um dich herum, Frido!“, rief seine Haushälterin aus der Küche. „Irgendwann ist es auch mal gut!“
Doktor Rohde zuckte mit den Schultern und sah Nell an. „Sie weiß einfach Bescheid“, sagte er und lächelte verschmitzt.
Nell lächelte zurück, leicht irritiert darüber, dass die Haushälterin Doktor Rohde mit einem Mal duzte. Sie war sich nicht sicher, ob sie schon jemals ein längeres Gespräch mit einem so alten Menschen geführt hatte. Sie schätzte ihr Gegenüber auf weit über achtzig, vielleicht sogar noch älter. Aber zumindest geistig war er noch voll auf der Höhe.
„Sie haben ja in Ihrer Bewerbung geschrieben, dass Sie die Wohnung zunächst für ein halbes Jahr mieten möchten“, sagte Doktor Rohde und nahm sein Glas in seine beiden von Altersflecken übersäten Hände. „Darf ich fragen, was Sie denn ausgerechnet in diese kleine Stadt führt?“
„Meine Mutter lebt hier“, sagte Nell, als wäre das eine ausreichende Erklärung. „Seit ungefähr drei Jahren wieder.“
„Wieder?“
„Ja. Wir haben hier schon zusammen eine Zeitlang gewohnt, als ich noch zur Schule ging. Dann sind wir fortgezogen, und vor drei Jahren ist sie zurückgekommen.“ Nell zuckte mit den Schultern. „Offenbar hat es ihr hier besser gefallen, als ich wusste.“
Doktor Rohde nickte nachdenklich, und plötzlich wurde Nell bewusst, dass die geschäftigen Geräusche aus der Küche verstummt waren. Dann setzten sie wieder ein.
„Und darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ Dr. Rohde hob fragend die Flasche. Nell hielt ihm ihr Glas hin, und er schenkte erneut ein.
Nell trank einen weiteren Schluck, um Zeit zu gewinnen. „Ich arbeite im Katasteramt, als Vermessungstechnikerin“, sagte sie, und wieder einmal wunderte sie sich darüber, wie fremd der Beruf in ihren eigenen Ohren immer noch klang, obwohl sie ihn schon seit über zwanzig Jahren ausübte. Nahezu jeder, dem sie davon erzählte, war überrascht über ihren Beruf und fand, dass er nicht zu ihr passte; ihr selbst ging es anders, aber sie hatte zunehmend weniger Lust, sich dazu zu erklären.
Doktor Rohde nickte und schwieg einen Moment, aber er fragte nicht weiter nach. Stattdessen hob er sein Glas, und beide nippten erneut an ihrem Grappa.
Dann setzte Doktor Rohde sein Glas mit einem leisen Klirren auf dem tönernen Untersetzer ab. „Leider kann ich Sie nicht nach oben führen“, sagte er und verzog seine schmalen Lippen zu einem fast bedauernden Lächeln. „Die Wohnung ist noch nicht fertig. Aber selbst wenn sie es wäre, ginge es nicht. Meine Beine machen das nicht mehr mit. Vom Rücken ganz zu schweigen. Aber in dem Fall könnte ich ja meine Schwester bitten.“
„Ihre Schwester?“, fragte Nell verdutzt.
Doktor Rohde beobachtete ihre Miene sehr genau. Dann beugte er sich wieder vor und kraulte Hector, der sich mittlerweile zu seinen Füßen zusammengerollt hatte, erneute zwischen den Ohren. „Ja, die emsige mithörende Küchenfee dort hinten ist meine Schwester. Sie haben sicher gedacht, sie sei meine Haushälterin. Daran hat sie selbst Schuld. Sie war lange Jahre tatsächlich Haushälterin, allerdings nicht bei mir, sondern bei einer Fürstenfamilie im Märkischen Land. Seitdem ist sie der Meinung, dass gewisse Standards einzuhalten sind. Unter anderem die, dass man einen Doktor in unmittelbarer Nähe seiner Wirkungsräume grundsätzlich als Doktor anzusprechen und damit auch zu siezen hat.“
„Das gilt also auch für ehemalige Wirkungsräume“, sagte Nell und lächelte in ihr Glas. Plötzlich spürte sie die Wirkung des Grappas, ein leichtes, schwebendes Gefühl, das ihr ausnehmend gut gefiel.
Doktor Rohde lächelte ebenfalls. In einer Art stillem Einvernehmen sahen sie sich über ihre Gläser hinweg an.
„Sind Sie von hier?“, fragte sie. Die Frage war einfach so in ihr aufgetaucht, und sie hatte sie ausgesprochen, ohne es vorgehabt zu haben.
Für einen Moment stand sie zwischen ihnen im Raum. Nell hörte Doktor Rohdes Schwester in der Küche schnaufen, dann schob sie sich in die Küchentür, bevor ihr Bruder antworten konnte.
„Nein“, sagte sie in energischem Tonfall. „Wir stammen aus Masuren. Aus Rosengarten.“
Nell drehte sich zu ihr um. Doktor Rohdes Schwester hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Aus der Nähe von Rastenburg!“, fügte sie hinzu und nickte zur Bekräftigung. Ihr Gesicht, ihre ganze Haltung verriet eine lang gehegte Bitterkeit und Angriffslust, die Nell für einen Moment sprachlos machte.
Dann sprang Doktor Rohde ein. „Nur, dass wir Rosengarten vor über siebzig Jahren verlassen haben und nie wieder dorthin zurückgekehrt sind“, sagte er ruhig.
„Doch!“, rief seine Schwester aufgebracht. „Vorletztes Jahr!“
Sie und ihr Bruder sahen sich an, und plötzlich lag eine Stimmung im Raum, die Nell nur schwer zu deuten vermochte. Zorn, Trauer, Entbehrung schienen sich zu einem Wust aus Gefühlen zusammenzuballen und die Luft zu verdichten. Nell sah zu Hector hinunter, der den Kopf gehoben hatte und sie aufmerksam anblickte, als spürte auch er den Missklang, der zwischen den alten Geschwistern schwebte.
Doktor Rohdes Schwester wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab – vorhin hatte sie die noch nicht getragen, stellte Nell fest – und sah Nell mit nahezu vorwurfsvollem Gesichtsausdruck an. „Vorletztes Jahr haben wir eine Reise nach Masuren unternommen“, erklärte sie. „Und wir haben fast nichts mehr wiedererkannt, alles ist so heruntergekommen!“
Ihr Bruder wiegte den Kopf. „Einiges, ja“, sagte er bedächtig. „Aber es ist auch sehr viel schön renoviert worden. Nur ist Rosengarten eben nicht mehr das Rosengarten, das wir in Erinnerung haben. Das ist vorbei.“
Seine Schwester schnaubte erneut und schüttelte den Kopf mit den kurzen, weißen Haaren. „Pah! Vorbei! Es ist immer noch unsere Heimat. Und bald fahren wir wieder hin, das hast du versprochen, Frido. So, ich nehme jetzt auch einen Sherry und dann gehe ich zu Bett!“, fügte sie trotzig hinzu und verschwand in der Küche.
Ihr Bruder sah Nell mit hochgezogenen Brauen an, dann stand er auf und ging zur Vitrine herüber, um ein weiteres Glas und eine Flasche Sherry herauszuholen. An seinen steifen Bewegungen erkannte Nell, dass er Schmerzen haben musste, im Rücken vermutlich. Schnell sprang sie auf.
„Ich gehe dann besser“, sagte sie und wog ihr leeres Glas unsicher in der Hand. „Wo soll ich das abstellen? In der Küche?“
„Ach was, nein!“, wehrte Doktor Rohde ab. „Und Sie müssen jetzt kurz noch bleiben, bis meine Schwester ihren Sherry hatte, sonst ziehen Sie sich ihren ewigen Ärger auf sich.“
„Das möchte ich natürlich auf keinen Fall“, sagte Nell und setzte sich wieder hin. Hector, der ebenfalls aufgesprungen war, kam zu ihr und legte sich eng an ihre Füße, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet, wie er es nur machte, wenn er bereits in Aufbruchstimmung war.
Doktor Rohde nahm ebenfalls wieder Platz, nachdem er seiner Schwester das gefüllte Glas hingestellt hatte, und nach einer langen, schweigsamen Minute kam sie dazu, nun ohne Schürze, und setzte sich in den dritten Sessel.
Im Sitzen wirkte sie sehr klein, und die vielen Falten, die ihr rundliches Gesicht überzogen, waren deutlich zu erkennen, und während Nell ihr erneut gefülltes Glas hob und sie alle drei sich zunickten und dann tranken, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie in Zukunft mit diesen beiden sehr alten Menschen zusammenleben würde, zwar in getrennten Wohnungen, aber in einem Haus.
Unwillkürlich musste sie lächeln. „Vielen Dank, dass ich bei Ihnen wohnen darf!“, sagte sie. „Auf eine gute Nachbarschaft!“
„Nun, eher auf ein gutes Miteinander, was?“, fragte Doktor Rohde und lächelte ebenfalls. Seine Schwester aber sah immer noch leicht grimmig drein.
„Nun denn“, sagte sie und trank, und das war das Letzte, was sie an diesem Abend von sich gab.
Als Nell kurz darauf ging, nickte sie nur, und Nell konnte den Blick aus ihren sehr hellen Augen nicht deuten. Doktor Rohde brachte sie zur Tür, verabschiedete sie freundlich und sah ihr noch so lange hinterher, bis sie um die Ecke gebogen war. Dort blieb sie stehen und lauschte, und erst nach einer ganzen Weile hörte sie, wie die Haustür leise ins Schloss gedrückt wurde.
Auf dem Hotelflur begegnete sie einem anderen Gast, in dem sie den Fahrer des polnischen Transporters zu erkennen glaubte. Geduckt schlich er in ausgetretenen Latschen an ihr vorbei und erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Nicken, bevor er einen ängstlichen Bogen um Hector schlug.
In ihrem Zimmer zog Nell die Vorhänge zu, aber dann riss sie sie wieder weit auf und löschte das Licht, um einen Moment vor dem Fenster stehen zu bleiben.
Die Gartenanlage lag im Dunkeln, aber weiter hinten, hinter den Bäumen am Grundstücksrand, leuchtete eine Straßenlampe und beschien ein graues Stück Straße mit dem angrenzenden Grünstreifen.
Nell stand reglos da und betrachtete die Dunkelheit vor ihrem Fenster, langsam schälten sich einzelne Formen heraus: ein Strauch vor dem Fenster, der kleine Früchte – vielleicht Hagebutten – zu tragen schien, eine gemauerte Wand, die offenbar zur Garage gehörte, ein Gartenzaun aus Draht, ein ins Schloss gedrücktes Tor.
Welche Lebenswege Doktor Rohde und seine Schwester wohl hierher, an diesen abgelegenen Ort, geführt hatten? Ob sie sich hier heimisch fühlten oder immer noch, nach Jahren, Jahrzehnten, fremd? Auf eine Art, dachte Nell mit einem Gefühl der Verwunderung, beschäftigte die beiden offenbar das gleiche Thema wie sie selbst.
Über ihr waren Schritte zu hören, schnelle, leicht stampfende Schritte, dann eine Art Seufzen und ein Knarren.
Jemand hatte sich zu Bett begeben, und Nell holte tief Luft und zog die Vorhänge wieder zu.
Irma zieht die Vorhänge beiseite und öffnet die Fenster so weit, wie es nur geht. Dann atmet sie tief ein und bleibt eine Weile so stehen, die Hände auf dem Fensterbrett abgestützt, mit geraden Schultern, ein Bein angewinkelt, den Fuß um die Wade geschlungen. Nell betrachtet ihren kräftigen Rücken und die kaum vorhandene Taille; sie kennt Irma nicht gut genug, um zu wissen, wie ihr der eigene Körper gefällt. Aber ihr gefällt er, sogar sehr. Irma ist kräftig und schmal zugleich, eine seltene Kombination; sie wirkt, als hätte sie jahrelang Leistungssport betrieben und wäre nun dabei, langsam abzutrainieren.
Vielleicht liegt Nell auch vollkommen falsch, aber das ist ihr egal. Sie weiß sehr wohl, dass sie Irma mit einem verklärten Blick betrachtet, und als Irma sich plötzlich umdreht und sie ansieht, weiß sie auch, dass auch Irma darum weiß.
„Was ist, willst du nicht mal gucken, wie das Ganze hier bei Tageslicht aussieht?“
Nell schiebt sich aus dem Bett und landet auf den nackten Fußsohlen. Einen Moment erschrickt sie; sie hat nicht aufgepasst, Tiffy liegt oft direkt neben dem Bett. Aber dann wird ihr klar, dass Tiffy nicht mehr da ist, nicht hier und nirgendwo sonst. Kein Hund mehr, auf den sie aufpassen, um den sie sich kümmern muss.
Nur sie und Irma, hier an der Ostsee, zum ersten Mal verreist, sie beide, nur sie und das Meer da draußen vor dem Fenster und ein schmaler Streifen Strand, über den der Wind tost.
Irma und sie. Sie und Irma, ein frisches Paar. Sind sie ein Paar? Irma ist zurückhaltend in dieser Hinsicht, sie sagt nichts, nichts über Gefühle, nichts über das, was war, und auch nichts über das, was sein könnte. Nell wünscht sich mehr, wünscht sich viel, vier Wochen sind es jetzt, vier Wochen, eine winzige Zeitspanne, auf ein ganzes Leben gerechnet, auf die Jahre und Jahrzehnte, die bereits hinter ihnen beiden liegen.
Schade, dass ich dich so spät kennengelernt habe, hat Nell einmal gesagt, Irma hat nur die Brauen gehoben.
Jetzt sieht sie ihr mit schmalen Augen entgegen, ein Katzenblick, oder besser: ein Tierblick, denkt sie zum wiederholten Mal, unergründlich, grün, wunderschön.
Und auch ein wenig zum Fürchten.
Irma, das ahnt Nell bereits, Irma trägt Abgründe in sich. Jeder Mensch trägt Abgründe in sich, aber Irmas Abgründe scheinen ihr unergründlich. Auf eine Art wirkt sie stets ein wenig unberechenbar, als lauerte in ihr etwas Ungezähmtes, Unbehaustes. Nell weiß nicht, ob sie damit im Grunde zurechtkommen wird, aber sie will es zumindest versuchen.
Der Energieschub, das Feuer der auflodernden Gefühle geben ihr dabei Rückhalt und Antrieb; auch wenn ihr bewusst ist, dass Selbstüberschätzung alle frisch Verliebten beflügelt. Es ist eine Beigabe, die über die ersten Monate trägt, selten länger.
Aber sie will es versuchen.
Ihr Herz pocht, als sie auf Irma zugeht und sie umarmt, nackte Brust auf nackter Brust, Wade an Wade, Irmas Fuß, der sich jetzt um Nells Wade schlängelt, ihre knochige Hüfte an Nells Bauch, Irmas Mund an ihrer Wange, an ihrem Ohr: „Vielleicht doch lieber wieder ins Bett?“
Nell lacht, glücklich, spürt Irmas Arme um sich, ihre nackte Haut, weich, ihre Finger mäandern über Nells Rücken, und über ihre Schulter hinweg sieht sie das Meer, die Ostsee. Leicht bewegt, tiefblau und klar liegt sie da, die Sonne wirft Lichtreflexe auf die sich zart brechenden Wellen. Nell weiß, dass die Ruhe nur trügerisch ist, aber dennoch will sie daran glauben: an ein ruhiges, stilles Meer, das sie ebenso zart umarmen würde wie Irma in diesem Moment.
Und weil sie daran glauben will, schließt sie die Augen und atmet tief ein.
Hector knurrte, und schlagartig war Nell hellwach. Als sie die Augen aufschlug, brauchte sie einen Moment, um sich zurechtzufinden, aber dann hörte sie ein Knarren vor der Tür. Hector knurrte erneut, und auf einmal wusste Nell wieder, wo sie sich befand. Und was sie hierhergeführt hatte.
Sie drehte sich zur Seite und betrachtete Hector, der sich in der Nacht auf das Fußende des Bettes gestohlen und dort zu einem Kringel zusammengerollt hatte. Er sah sie mit gespitzten Ohren an, während er lauschte, und Nell musste lächeln.
„Hector“, sagte sie leise. „Wir sind in einem Hotel. Hier wird weder geknurrt noch gebellt.“
Hector nahm das als Aufforderung, sie zu begrüßen, und kam wedelnd auf sie zugekrochen. Nell streichelte ihn einen Moment, dann setzte sie sich auf und schlug die Decke zurück.
Beim Frühstück saß sie allein im hellen, schlicht, aber elegant möblierten Frühstücksraum. Die Rezeptionistin begrüßte sie und Hector nahezu überschwänglich und zählte ihr die verschiedenen Eierspeisen auf, zwischen denen sie wählen konnte, und Nell entschied sich für ein Spiegelei.
Zu Hause hätte sie sich das nie gemacht, dachte sie, aber dann, während sie ein Brötchen aus dem überraschend üppig gefüllten Korb auf dem Buffet nahm, geriet sie ins Schwimmen. Zuhause. Das gab es nicht mehr, nicht mehr und noch nicht wieder, oder doch?
Für einen Augenblick war sie es leid, sich darum Gedanken zu machen, und so war sie froh, als die Rezeptionistin mit beschwingtem Schritt erneut auf sie zutrat, um ihr die Funktionsweise der Kaffeemaschine zu erklären.
Ihre Neugier, ihr Wunsch zu erfahren, was Nell hergeführt hatte, war deutlich spürbar, aber Nell war nicht nach Plaudern zumute.
„Sie sind nicht der einzige Gast, falls Sie das denken“, sagte die Rezeptionistin und lächelte breit. „Die anderen Gäste sind alle schon außer Haus. Also, das Spiegelei nature kommt sofort.“
Plötzlich wurde Nell klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war. Sie hatte es vermieden, aufs Handy zu sehen; es hatte sie einige Anstrengung gekostet, bereits gestern Abend.
Aber als sie es jetzt aus der Tasche zog und kurz in der Hand wog, bevor sie es einschaltete, wusste sie, dass es sich gelohnt hatte.
Das Display zeigte die Uhrzeit an, zehn Uhr und acht Minuten.
Und drei Mails, acht Anrufe und elf WhatsApp-Nachrichten.
Nell seufzte und schaltete es wieder aus.
Irgendwann, bald sogar, würde sie sich damit befassen müssen. Aber jetzt noch nicht.
Eine gute Stunde später machte sie sich auf den Weg. Warmes Licht fiel durch das dichte Blätterwerk der Eichen vor dem Hotel, die Autos darunter waren von Läusesaft verklebt. Es hatte aufgeklart, und jetzt, kurz vor Mittag, stand die Sonne strahlend am wolkenlosen Himmel.
Mit schnellen Schritten ging Nell die Straße hinunter. An der Ecke warf sie einen Blick auf Doktor Rohdes Haus; die Fenster ihrer zukünftigen Wohnung standen offen, ein Maler war gerade dabei, die Rahmen zu streichen. Hinter ihm war ein Schemen zu sehen; Doktor Rohdes Schwester vielleicht, Nell konnte sich bestens vorstellen, wie sie mit strenger Miene die Arbeiten überwachte.
Hinter dem Autohaus lag ein Baumarkt, von zwei Parkplatzanlagen flankiert, dahinter ein Streifen dichten Mischwaldes. Als Nell in die schattige Kühle eintauchte, atmete sie tief ein und sog den Duft von gehäckseltem Mais und feuchtem Laub in sich ein.
Hector lief fröhlich ihr voraus den Straßenrand entlang und dann, als der Wald zurückwich, den Feldweg hinauf, der zwischen einer Pferdekoppel und einer kleinen Tannenschonung zu einer niedrigen Anhöhe führte. Dort oben blieb Nell kurz stehen.
Als Jugendliche hatte sie diesen Weg nie genommen. In den wenigen Jahren, die sie hier gelebt hatte, hatte sie die Gegend eingehend erkundet, zu Fuß und mit dem Rad endlose Touren und Wanderungen unternommen, in dem halbherzigen Versuch, sich die Stadt und ihre Umgebung anzueignen, Fuß zu fassen, sich vertraut und damit heimisch zu machen.
Es war ihr nur bedingt gelungen. Vielleicht hatte sie einfach nicht genug Zeit dafür gehabt.
Diese flache Landschaft aber, die sich vor ihr ausbreitete, hatte sie damals nicht entdeckt. Bis zum Fluss, der weit hinten durch sein von Deichen flankiertes Bett wogte, erstreckten sich teils gemähte Felder, Äcker und Wiesen, von schmalen Wegen und einer nur schwach befahrenen Landstraße durchschnitten. Die Septembersonne strahlte viel zu warm auf die ausgedörrten Gräser und Sträucher hinunter. Für einen Moment bereute Nell, nicht den Wagen genommen zu haben. Sie würde mindestens eine Dreiviertelstunde brauchen, im klaren Licht der Sonne, die sich angesichts des nahenden Herbsts noch einmal zu voller Strahlkraft aufgeschwungen zu haben schien.
Nells Handy klingelte, und ohne hinzusehen, fasste sie in ihren Rucksack und wies den Anruf ab. Dann folgte sie Hector.
Ihre Mutter saß nicht in ihrem Fernsehsessel und auch nicht am Schreibtisch. Die verglaste Terrassentür war verschlossen, und Nell schob Hector, der ungeduldig auf der Fußmatte stand und heftig wedelte, ein wenig beiseite, legte das Gesicht an die Scheibe und beide Hände darum. Der Flur verlor sich im Dunkeln, ihre Mutter hatte offenbar wieder die Jalousie in der Küche heruntergelassen.
Hector wedelte noch heftiger und wuffte leicht. Dann fiel Licht in den Flur, und Nells Mutter trat daraus hervor, mit schaukelnden Bewegungen, leicht zur Seite geneigt. Als das Nachmittagslicht sie erhellte, erkannte Nell ihren grimmigen Gesichtsausdruck und musste lächeln.
Hector schlug mit einer Pfote gegen das Glas, Nells Mutter blickte auf und für einen Moment noch grimmiger drein, bevor sie den Hund erkannte und ihre Miene sich aufhellte.
„Du wolltest doch erst morgen kommen!“, rief sie, während sie die Tür aufschloss. „Hallo, kleiner Dicker du! Komm, wir holen dir ein Frolic.“ Ohne Nell weiter zu begrüßen, machte sie kehrt und ging in die Küche zurück, mit dem wedelnden Hector im Gefolge.
Nell atmete tief durch, dann folgte sie den beiden. „Mama“, sagte sie. „Hallo.“
Ihre Mutter warf Hector zwei kleine Hundekekse hin und ließ sich widerwillig von ihrer Tochter umarmen. Dann betrachtete sie Nell skeptisch. „Wolltest du nicht erst heute Abend kommen?“
Nell nickte. „Ja. Aber ich bin ganz spontan gestern schon losgefahren.“
„Spontan!“, sagte ihre Mutter kopfschüttelnd. „Du bist doch sonst auch nicht spontan.“
Sofort stieg der altbekannte Ärger in Nell hoch. Ihre Mutter war auf eine ganz spezielle, harmlos daherkommende Art gnadenlos. Es gelang ihr stets aufs Neue, Nell ihre Fehler und Unzulänglichkeiten vorzuhalten, in einem Nebensatz, einem wie beiläufig hingeworfenen Kommentar, einem Achselzucken.
„Ich hab schon Mittag gegessen“, sagte ihre Mutter mit einem ärgerlichen Unterton. „Ich wusste ja nicht, dass du jetzt kommst. Aber wir können einen Kaffee trinken.“ Sie machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, ohne Nells Antwort abzuwarten. Nell setzte sich an den schmalen Küchentisch, stützte das Kinn in die Hände und sah ihrer Mutter zu, wie sie das Kaffeepulver und Wasser einfüllte. Gehen konnte sie zusehends schlechter, aber flinke Hände besaß sie immer noch.
„Und, wie lange bleibst du?“, fragte ihre Mutter.
„Weiß ich noch nicht genau.“
Ihre Mutter warf ihr einen kurzen Blick zu. „Wie, du weißt es noch nicht? Du weißt doch sonst immer genau, wie lange du bleibst!“
„Ja, aber jetzt weiß ich es eben noch nicht“, sagte Nell und spürte, wie ein Schauer ihr den Rücken hinunterlief. Ein Schauer der Aufregung, des geheimen Kitzels, wie früher als Kind, wenn sie versucht hatte, ein Geheimnis für sich zu behalten. Meist allerdings vergebens. „Du, Mama, kennst du eigentlich den ehemaligen Tierarzt hier, oben im Industriegebiet, Doktor Rohde?“
„Nein“, sagte ihre Mutter. „Wozu brauche ich einen Tierarzt? Ich hab doch gar keine Tiere.“
„Vielleicht von früher?“
Die Kaffeemaschine gluckste, und ein aromatischer Duft nach frischem Kaffee breitete sich in der Küche aus. Nells Mutter holte eine Dose Kondensmilch aus dem Schrank und kramte dann in der Besteckschublade herum. „Nein. Früher hatten wir doch auch keine Haustiere, als wir hier gewohnt haben.“
„Na ja, vielleicht kennst du ihn auch so. Ihr müsstet fast gleich alt sein.“
Ihre Mutter hob den Kopf und sah sie misstrauisch an. „Wieso überhaupt? Willst du mich verkuppeln? Mir kommt kein Mann mehr ins Haus, das ist klar wie Kloßbrühe.“ Endlich fand sie, was sie gesucht hatte. Mit dem alten Dosenlocher, den Nell schon aus ihrer Kindheit kannte, öffnete sie die Kondensmilch und warf den Locher zurück in die Schublade. „Komm!“, sagte sie. „Trag du das Tablett für deine alte Mutter. Wenn du Kekse willst, musst du sie selber suchen, irgendwo oben im Schrank sind noch welche.“ Und damit verließ sie die Küche.
Nell schüttelte den Kopf, dann nahm sie das Tablett hoch und folgte ihr.
Ihre Mutter hatte sich draußen auf der Bank niedergelassen und sah mit einem gnädigen Gesichtsausdruck zu, wie Hector die Umgebung der Terrasse beschnüffelte. „Also, ich muss morgen um zehn beim Zahnarzt sein“, sagte sie und nahm mit einem Nicken die gefüllte Kaffeetasse entgegen, die Nell ihr reichte. „Da bringst du mich dann ja hin.“
„Klar“, sagte Nell und nippte an ihrem Kaffee. Er war viel zu dünn, aber das kannte sie schon. Ihre Mutter hatte irgendwann in den vergangenen Jahren aufgehört, Kaffee zu trinken, und damit verlernt, den vernünftigen Kaffee zu kochen, auf den Nell sich bei früheren Besuchen immer gefreut hatte.
„Deshalb bist du ja auch hier, nicht wahr?“ Ihre Mutter starrte sie mit einem eigentümlich eindringlichen Blick an. Für einen Moment hatte Nell den Eindruck, dass sie Bescheid wusste.
Aber das konnte nicht sein.
Niemand wusste Bescheid über ihre Pläne.
Noch nicht mal Nell selbst.
„Und wie lange dauert das dann?“, fragte Nell und nippte erneut an ihrem Kaffee. Er war wirklich kaum genießbar. Unwillkürlich schüttelte sie sich und stellte die Tasse ab.
„Keine Ahnung“, sagte ihre Mutter. „Zwei Stunden vielleicht? Was ist denn? Schmeckt der Kaffee nicht, oder was?“
Nell zögerte, dann nickte sie. „Mama, der Kaffee ist wirklich grauenhaft. Viel zu dünn.“
Ihre Mutter sah sie böse an, dann musste sie lachen. „Weißt du was, dann koche ich dir einfach keinen mehr und fertig“, sagte sie, sichtlich zufrieden mit ihrem plötzlichen Entschluss. „Dann kann die blöde Maschine auch endlich weg. Die hab ich nur wegen dir noch.“
„Na, dann weg mit der blöden Maschine“, sagte Nell und musste ebenfalls lachen.
„Dann lass uns jetzt in die Stadt fahren und etwas essen gehen“, sagte ihre Mutter und streckte sich. „Wer weiß, ob ich das mit den neuen Zähnen noch kann.“
„Aber natürlich!“, sagte Nell. „Deswegen kriegst du sie doch.“
„Ja, aber man weiß ja nie.“ Ihre Mutter machte Anstalten, sich aus ihrem Stuhl hochzuhieven, und Nell nahm die beiden Tassen und kippte den Kaffee einfach auf den vom langen Sommer ausgedörrten Rasen neben der Terrasse. Dann fiel ihr etwas ein.
„Mama, ich bin zu Fuß hergekommen.“
„Was, aus Berlin?“ Ihre Mutter sah sie ungläubig an.
„Nein, natürlich nicht. Vom Hotel.“
„Warum das denn?“
„Ich hatte Lust dazu.“
„Irgendwie“, sagte ihre Mutter und schob den Stuhl an den Tisch, „irgendwie bist du komisch, Nell. Aber das ist ja nichts Neues.“
„Nell, wo bist du?“
Die Stimme ihrer Mutter klingt nur bruchstückhaft an ihr Ohr. Der Wind ist so stark, dass er die Silben davontreibt. Nell macht sich ganz klein und hofft, dass der tosende Wind ihre Mutter davon abhalten wird, nach ihr zu suchen. Ihre Mutter hasst den Wind. Ihr Vater auch. Nell ahnt, dass sie nicht mehr lange hierbleiben werden, ihre Eltern werden es nicht länger hier aushalten. Dass sie hier überhaupt schon so lange leben, ist wie ein Wunder.
Aber Nell liebt diesen Ort. Den Wind, das Meer hinter den Deichen, seine graue, wilde Farbe, die weißen Schaumkronen, die Eiseskälte, die im Herbst und Winter in jede Ritze des kleinen Hauses dringt, in dem sie Unterschlupf gefunden haben.
„Nell!“, ruft ihre Mutter, jetzt noch lauter. „Komm!“ Ihre Stimme ist wie ein Peitschenschlag, aber Nell denkt nicht daran, ihr zu folgen. Stattdessen kauert sie sich noch tiefer in die Ecke hinter der Mülltonne. Nell ist klein und schmal, sie passt genau in den Spalt zwischen Wand und Tonne, und der schale, süßliche Geruch, der ab und an zu ihr hinweht, stört sie nicht.
Kein Mensch ist mehr auf der Straße, alle sind sie in ihren Häusern verschwunden, auch Tobi und Thade, die ihren Müttern im Gegensatz zu Nell gehorcht haben.
Dann knallt die Tür, und Nell ist fast frei. Sie zwängt sich aus dem Spalt heraus und läuft geduckt die Deichstraße entlang. Ihr kurzes Haar fliegt hoch, als führen Finger hindurch. Nell öffnet den Mund, der Wind fliegt hinein und zerrt ihre Wangen auseinander, ein lustiges Gefühl, das Nell zum Lachen bringt. Mit weit geöffneten Armen läuft sie die Straße hinunter, vorbei an den niedrig geduckten Häusern, hinter deren Butzenscheiben warmes Licht scheint, über den Hafenvorplatz, zwischen den laut klirrenden Fahnenmasten hindurch, die schmale Treppe hinauf, an deren Geländer sie sich festhalten muss, so stark ist der Wind.
Vor ihr tost die Nordsee, rau und wild. Die Boote an ihren Anlegern klappern und winden sich unruhig, wie ungezähmte Pferde. Es ist laut, so laut!
Nell liebt das: den Wind, den Lärm, den er macht, über den ihre Mutter klagt und den ihr Vater nur mit verzerrter Miene erträgt. An Tagen wie diesen sitzt er meist stundenlang in seiner Kammer, den Kopf in den Armen verborgen, und wartet darauf, dass der Wind sich legt.
Nell darf die Kammer nicht betreten, wenn er unterwegs ist, das hat er ihr strengstens verboten. Überall, wo sie bisher gewohnt haben, hat ihr Vater so einen Raum für sich eingerichtet – einen Verschlag unter der Treppe, eine Dachkammer, ein halbes Zimmer neben der Küche. Darin ist nie viel: ein kleiner Tisch, auf dem ein Stift und Notizbücher liegen, ein Stuhl, ein verschlossener Koffer. Nell weiß nicht, was ihr Vater in diesem Raum macht, aber sie weiß, dass er ihn braucht.
Und sie braucht den Wind, den tosenden Wind. Sie breitet einen Arm aus, stellt die Füße weit auseinander. Eine Bö fährt ihr in den Rücken, stößt sie nach vorn, aber Nell hält dagegen.
Nie, nie, nie will sie hier wegziehen. Gischt fliegt ihr ins Gesicht, nach Salz und Tang schmeckende Gischt, und über ihr lacht eine Sturmmöwe, schräg im Wind liegend, starrt sie auf Nell hinunter, bevor sie sich davontragen lässt.
Weit hinten ist jetzt ein rosafarbener Schein am Horizont zu sehen, der die nahende Dunkelheit ankündigt. Nell steigt ein Glucksen in die Kehle, das ihren ganzen Leib durchdringt.
Langsam lässt sie das Geländer los, vorsichtig tastend. Stemmt die Füße noch fester in den Boden. Keine Stadt, kein Dorf, kein Ort ist so gut wie dieser, keiner der vielen Orte, an denen sie bislang gelebt haben. Keiner.
Nell hebt die Arme, der Wind zerrt an ihren Ärmeln, schubst sie nach vorn, aber sie lacht, lacht laut in den tosenden Wind hinein.
Jetzt ist sie frei.
Bis eine Hand ihren Arm packt und sie zurückzieht. „Nell!“, brüllt ihre Mutter. „Los jetzt, komm!“
Und sie zerrt Nell die Stufen hinunter, schwer atmend. Starrt sie an, mit einer Mischung aus Ärger, Entrüstung, Liebe und Angst. „Kind!“, sagt sie laut in den Wind. „Kind, du bist komisch. Komm jetzt!“
Tobi und Thade. Nell hatte lange nicht mehr an die beiden gedacht. Besonders an Tobi. Von ihm erinnert sie nur noch das weißblonde Haar und sein meckerndes Lachen. Thade: ebenfalls blond, ruhiger als Tobi. Thade hatte immer erst nachgedacht, bevor er etwas sagte, und wenn er unsicher war, hatte sein Finger das auffällig rote Blutmal nachgezogen, das von seinem linken Ohr hinunter zum Mundwinkel führte.
Thade war ihr damals auf Schritt und Tritt gefolgt, immer in ihrem Schatten, anders als Tobi, der immer vorneweg gelaufen war und Unfug ausgeheckt hatte. Was wohl aus Thade geworden war?
„Mama, warum seid ihr damals eigentlich überhaupt nach Neuharlingersiel gezogen?“, fragte Nell, während sie neben ihrer Mutter herging. Ihre Mutter schob ihren Rollator in zackigem Tempo vor sich her; Hector an seiner Leine hatte sichtlich Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren.
„Wieso, wie kommst du denn jetzt darauf?“ Nells Mutter warf ihr einen verblüfften Seitenblick zu. „Hoffentlich hat der Italiener auch auf.“ Sie umkurvte geschickt einen Huckel auf dem Gehweg, und Nell zog Hector voran.
„Du und Papa, ihr habt beide das Meer gefürchtet und den Wind gehasst. Warum sind wir dahingezogen?“
„Das Meer gefürchtet!“ Ihre Mutter schnaubte entrüstet. „Ich habe das Meer noch nie gefürchtet. Und ich bin immer gern baden gegangen!“
„Aber nur im Schwimmbad. Oder wenn es warm und heiß war, am Sandstrand.“
„Na und?“ Ihre Mutter schnaubte erneut und grüßte eine ältere Dame, die ihnen, ebenfalls mit einem Rollator, entgegenkam. Dahinter liefen zwei Männer in Businesskleidung. Einer von ihnen kam Nell bekannt vor, aber er war zu schnell vorbei, als dass sie ihn richtig hätte erkennen können.
„Ihr habt beide das Meer und den Wind nicht sonderlich leiden können“, versuchte es Nell mit einer ein wenig abgeschwächten Version. „Warum sind wir dorthin gezogen? Und ihr dann später noch mal?“
Aber ihre Mutter, hartnäckig wie meist, ging nicht darauf ein. „Deinem Vater hat es dort gefallen“, sagte sie und seufzte erleichtert. „O ja, er hat es dort gemocht. Komm, wir setzen uns draußen hin, in den Schatten.“ Sie steuerte so rasch auf den freien Tisch hinten in der Ecke zu, dass Nell nicht hinterherkam.
Hector leistete Widerstand und beschnupperte ausgiebig die Hecke zwischen Terrasse und Straße. Nell stand in ungelenker und unbequemer Pose da, halb auf der Straße, halb auf der Terrasse, einen Arm von der Leine nach hinten gezogen, und sah ihrer Mutter zu, die sich mit zufriedener Miene am Tisch niederließ. Die anderen Tische waren alle besetzt, nahezu jeder einzelne Gast starrte Nell an.
„Guten Appetit!“, sagte sie laut, und die meisten Augenpaare richteten sich wieder auf die Mahlzeiten, Getränke oder die Gegenüber. Nur eine blondierte Frau in Nells Alter starrte sie weiterhin unverhohlen an, mit dem gierigen Gesichtsausdruck eines Menschen, der zu wenig erlebt und deshalb jede ungewöhnliche Situation förmlich in sich aufsaugt.
Endlich hatte Hector Erbarmen und trottete willig hinter Nell her zum Tisch, an dem Nells Mutter bereits die Karte inspizierte, die ein lustlos dreinblickender Kellner ihr hingelegt hatte.
„Ich nehme die Gnocchi mit Gorgonzolasoße“, sagte Nells Mutter und reichte Nell die Karte weiter. „Und eine Cola light. Warum willst du denn eigentlich diese alten Kamellen wieder aufwärmen? Das ist doch Jahrzehnte her!“
„Weil es jetzt noch geht“, sagte Nell und blickte in die Karte. Von früheren Besuchen hier wusste sie noch, dass die Pizzen wagenradgroß, aber selten durchgebacken serviert wurden. Außerdem hatte sie gar keinen richtigen Hunger. „Ich nehme die Bruschetta.“
„Das macht doch nicht satt!“
„Mich schon. Und Mama, Papa hat es dort nicht gefallen, das brauchst du mir nicht zu erzählen. Sonst wäre das doch dann am Ende dort nicht passiert.“
Ihre Mutter sah sie nicht an. „Doch“, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. „Gerade deswegen ist es dort passiert.“
Nell schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Und dir hat es dort auch nicht gefallen. Nur mir! Warum …“
„Dir hat es doch überall gefallen“, unterbrach ihre Mutter sie. „Du warst eben ein sehr neugieriges Kind.“
Nell hob die Brauen. „Das meinst du nicht ernst!“
„Aber doch! Du warst sehr neugierig. Das bist du doch immer noch. Du willst ständig alles Mögliche wissen. Jetzt zum Beispiel. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung mehr, warum wir nach Neuharlingersiel gezogen sind. Das ist Jahrzehnte her, das muss ich auch gar nicht mehr wissen. Vermutlich hat dein Vater dort gearbeitet. Oder ja, stimmt, er hat dort gearbeitet, jetzt fällt es mir wieder ein!“ Triumphierend sah sie Nell an.
Nell seufzte innerlich. „Ach ja, auf einmal?“
„Ja. Das war ja schließlich ein Seebad, Neuharlingersiel. Da hat er wahrscheinlich einen Brunnen gebaut. Es sollte ja als Nordseeheilbad anerkannt werden, aber da waren wir schon wieder weg.“
Nells Vater hatte Trinkbrunnen entworfen, zumeist für Heilbäder, und deren Bau beaufsichtigt. Wie er dazu gekommen war, lag im Dunkeln. Er hatte es Nell nie richtig erklärt, allerdings hatte sie auch nie wirklich danach gefragt. Erst jetzt, wo es seit Langem zu spät dafür war, hätte sie gern mehr darüber gewusst.
Aber auch ihre Mutter konnte ihr dazu nicht viel sagen. Irgendwie war Nells Vater zu dieser Tätigkeit gekommen, hatte sich die nötigen Kenntnisse vermutlich selbst beigebracht, Beziehungen geknüpft und sich einen Ruf erarbeitet, der ihm und seiner kleinen Familie ein zwar unsicheres, aber ausreichendes Einkommen verschaffte.
