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Die Anschaffung eines Hundes mit ungeahnten Folgen: Eine Tragikomödie über Zweibeiner und Vierbeiner, die bis in die Schweiz führt. Bronko ist nicht gerade eine Schönheit, aber darauf kommt es ja schließlich nicht an. Bei ihrer Mutter hat er es auf jeden Fall besser als im Gnadenhof, findet Mai-Britt. So nimmt sie ihn kurzerhand mit. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen, nicht nur für Bronko und die skeptische Mutter, sondern auch für Mai-Britt selbst. Denn dank Bronko steht sie kurz darauf einer außergewöhnlichen Frau gegenüber. Mai-Britt muss sie unbedingt wiedersehen – und begibt sich auf eine turbulente Reise in die Schweiz. Allerdings nicht allein ...
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Für Mama
© Querverlag, Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von Gaby Ahnert
ISBN 978-3-89656-564-8
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Querverlag GmbH
Akazienstraße 25, 10823 Berlin
www.querverlag.de
Der Hirsch starrte mich misstrauisch an, dann legte er den Kopf schief, zog die Oberlippe zurück und entblößte eine Reihe gelber Zähne.
Ich starrte zurück.
Seine Pupillen waren oval. Und noch während ich hinsah, hatte ich den Eindruck, dass sie sich ein wenig weiter zusammenzogen.
„Rüdiger ist heute ein bisschen schlecht gelaunt, glaube ich“, sagte Hermann und wischte sich einen Erdklumpen vom Ärmel. „Aber eigentlich ist er sehr nett. Ein äußerst netter Hirsch.“
„Aha?“ Ich trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Wenn Rüdiger heute schlechte Laune hatte, dann wollte ich ihm dabei nicht zu nahe kommen. „Und was habt ihr sonst noch für Neuzugänge?“
„Willst du mal gucken?“ Hermann wartete meine Antwort nicht ab, sondern schlurfte in seinen schmutzigen Gummistiefeln voran. Mit Heu durchsetzter Matsch quoll unter seinen Sohlen hervor, und ich bemühte mich, Schritt zu halten, ohne auf dem unebenen Boden auszurutschen. Als Kind war ich einmal im Watt gewandert, so ähnlich fühlte es sich jetzt auch an. Nur dass nun keine Muscheln und Krebse aus dem Schlick hervorquollen, sondern Futterreste und Kot unterschiedlichster Konsistenz.
„Wir haben ein neues Schwein, das von einem Viehtransporter gefallen ist, eine übergewichtige Katze, einen Schwan, der nicht mehr fliegen kann, und einen dreibeinigen Hund“, erklärte Hermann und bahnte sich zielstrebig den Weg durch eine Schar gackernder Hühner.
„Den Hund hattet ihr letztes Mal aber auch schon!“, sagte ich und wich einem Hahn aus, der mitten auf dem Weg stehen geblieben war und mich vorwurfsvoll anstarrte.
„Nein, das ist noch ein neuer. Wir haben jetzt zwei dreibeinige Hunde“, sagte Hermann und stieß die Gittertür auf. Ein paar Hühner flogen flügelschlagend auf, und der Hahn hinter mir stieß ein triumphierendes Krähen aus. Als ich die Tür hinter mir ins Schloss drückte und mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass Rüdiger und der Hahn mich weiterhin anstarrten. Rüdiger trat von einem Bein aufs andere, und der Hahn reckte den Hals.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht mochten.
„Schön, dass du mal wieder vorbei kommst“, sagte Hermann und schob mit der Hacke die Haustür hinter sich zu. Draußen quiekte empört ein Ferkel auf, das sich mit neugieriger Schnauze herangewagt hatte. Hermann wies mit einer galanten Geste zur Wohnküche, aus der gleich mehrere fröhlich wedelnde Kleinhunde herbeigerannt kamen. Einer davon, ein schwarz-weiß gefleckter mit derart riesigen Ohren, dass sie fast bis auf den Boden hingen, zog eine Art zweirädrige Kutsche hinter sich her, in der sein eigenes Hinterteil lagerte. Ihm fehlten beide Hinterläufe, aber das tat seiner guten Laune keinen Abbruch, denn er stupste mich mit feuchter Schnauze an und kläffte munter los.
„Still, Apollo“, sagte Hermann gutmütig, stieg aus seinen dreckigen Stiefeln und behände über Apollo und dessen Kollegen hinweg. Ich streifte ebenfalls meine Schuhe ab, ging zaghaft durch die wild durcheinanderspringende Hundeschar und ließ mich schwer atmend auf einen der Holzstühle sinken, die um den großen Tisch herum standen.
Der Tisch war – wie die gesamte Küche – blitzsauber, nur ein Zuckerstreuer und eine Blumenvase mit drei frisch erblühten Pfingstrosen standen darauf.
„Wer ist denn von euch beiden eigentlich die Hausfrau?“, erkundigte ich mich, und Hermann warf mir einen amüsierten Blick zu.
„Na, Gert natürlich, was denkst du denn?“, sagte er zufrieden und schaltete die Kaffeemaschine ein. „Es gibt übrigens frisch gebackenen Rhabarberkuchen nach original niederländischem Hausfrauenrezept. Willst du mal kosten?“
„Och, nein, danke, ich muss ein bisschen … Ich hab zugenommen, glaube ich“, sagte ich unglücklich und zog automatisch den Bauch ein.
Hermann grinste in sich hinein und öffnete die Backofenklappe, um ein Blech mit köstlich duftendem Kuchen herauszuholen. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. „Na, vielleicht doch ein kleines Stückchen?“
„Aber nur ein klitzekleines!“, sagte ich und streichelte Apollo den flachen Schädel. Zum Dank leckte er mir mit seiner winzigen rosa Zunge die Hand, bevor sich einer seiner Kumpel, ein gelblich-struppiger Dackelverschnitt mit nur einem Auge, an seine Stelle vorkämpfte. Ich tätschelte auch ihm den Kopf und spürte, wie sich in meinem Herzen etwas bewegte.
Ich war mit Hunden aufgewachsen, aber mein Großstadtleben ließ mir keine Zeit für einen eigenen Hund. Meistens schob ich den Gedanken daran erfolgreich beiseite – immerhin war ich praktisch veranlagt, und es war ganz sicher höchst unpraktisch, als Single mit Vollzeitjob einen Hund zu halten. Aber trotzdem, insgeheim sehnte ich mich nach einem vierbeinigen Begleiter. Meinetwegen auch einem Einäugigen mit dermaßen widerwärtigem Mundgeruch, dass es mir den Atem verschlug, so wie jetzt. Ich tätschelte Einauge noch einmal und richtete mich dann wieder auf.
Hermann schnitt gerade ein großes Stück Kuchen ab, schob es auf einen abgestoßenen Porzellanteller und stellte diesen vor mich hin, um dann Becher und Besteck aus dem Küchenschrank zu holen. Die Hunde hatten sich – bis auf Einauge, der hoffnungsvoll unter dem Tisch Platz genommen hatte – wieder auf ihre verschiedenen Ruheplätze begeben, und ich betrachtete meinen alten Schulfreund nachdenklich, während ich den köstlichen Geruch, der vom Kuchen aufstieg und sich mit dem frischen Kaffeeduft mischte, zu ignorieren versuchte.
Hermann hatte sich gut gehalten, und trotz seiner verschmutzten Kleidung wirkte er gepflegt und sauber. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, aber während ich nach der Fachhochschulreife Reißaus genommen und mich aus der flachen Moorlandschaft zu einem Lungerjahr in die Bezirkshauptstadt Osnabrück und von dort über ein abgebrochenes Sozialpädagogikstudium in Dortmund und ein abgeschlossenes Ingenieursstudium in Dresden bis zu meiner Festanstellung im öffentlichen Dienst, Abteilung Bauaufsicht, nach Oldenburg durchgekämpft hatte, war Hermann im Emsland geblieben und hatte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis er seiner großen Liebe Gert begegnet war.
Mit dem Geld, das Gert von seinem kurz zuvor verstorbenen Großvater geerbt hatte, hatten die beiden Männer einen Gnadenhof eröffnet, auf dem sie misshandelte, ausgesetzte und sterbenskranke Tiere betreuten, die anderswo keine Aufnahme mehr fanden. Hermann hatte seine wahre Bestimmung gefunden – ganz im Gegensatz zu mir; aber das gestand ich mir nur ungern ein.
Ich seufzte auf, und Hermann warf mir einen forschenden Blick zu, während er die volle Kaffeekanne zusammen mit zwei Bechern zum Tisch brachte.
„Was führt dich eigentlich her?“, fragte er und goss mir ein. „Nun los, iss schon, du hast doch Appetit, das sehe ich!“
Ich zog den Kuchen zu mir heran und stach die Gabel hinein. „Ich bin auf dem Weg zu meiner Mutter“, sagte ich und schob mir ein großes Kuchenstück in den Mund. „Oh, köstlich!“ Plötzlich wurde mir bewusst, dass mich ein halbes Dutzend Augenpaare äußerst aufmerksam beobachtete, und ich verschluckte mich fast.
„Wie geht es ihr denn?“, erkundigte sich Hermann angelegentlich und schob sich selbst ein großes Kuchenstück in den Mund.
Hermann kannte meine Mutter schon seit unserer Jugendzeit. Und wie alle anderen hatte er meine Mutter grandios gefunden. Sie war, wenn man das so nennen wollte, ein Original – rau, herzlich, laut, fröhlich – und ungemein taktlos dazu.
„Gut“, sagte ich und kaute schneller. „Mittlerweile läuft sie nicht mehr ganz so flott, aber auf dem Fahrrad ist sie immer noch mit Schwung unterwegs.“
„Wie alt ist sie denn?“, fragte Hermann und nahm einen Schluck Kaffee.
„Sie ist jetzt 73.“ Ich bemühte mich, die vorwurfsvollen Blicke der Hundeschar um mich herum zu ignorieren. Besonders bei Apollo fiel es mir schwer, denn er legte die Stirn in so viele Falten, dass er fast wie ein Welpe aussah.
„Ach? 73? Alte Schachtel! Kompliment!“ Hermann aß zwei weitere Stücke Kuchen hintereinander und tätschelte Einauge, der sich jetzt ganz dicht vor seinen Füßen platziert hatte, den Kopf. „Und was macht Millie?“
„Der geht es blendend.“ Ich stach die Gabel wieder in mein Kuchenstück, das schon merklich geschrumpft war.
„Das ist schön. Und der Hund?“
„Zorro? Ach, Zorro ist im November gestorben.“ Ich schaufelte mir noch ein großes Stück Kuchen in den Mund. Meine Güte, schmeckte der köstlich! Es musste toll sein, mit jemandem zusammen zu sein, der so gut kochen und backen konnte wie Gert.
„Aber er war ja auch schon alt, oder?“, fragte Hermann mitfühlend.
„Ja, fünfzehn. Er ist friedlich eingeschlafen, in seinem Körbchen. Wie man es sich nur wünschen kann.“
Hermann nickte zufrieden und schob sich das letzte Kuchenstück in den Mund, um mit einem ordentlichen Schluck Kaffee nachzuspülen. Dann sah er zu mir auf. „Ist deine Mutter jetzt sehr traurig, so ganz ohne Hund?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaube eigentlich, dass sie gut damit klarkommt. Zorro war ja nun wirklich schon sehr alt. Sie sagt, sie sei ganz zufrieden so. Außerdem hat sie ja noch Millie.“ Ich grinste in mich hinein, aber Hermann grinste nicht mit. Stattdessen legte er den Kopf schief.
„Sag mal, Britt, alte Frauen lieben doch kleine Hunde, oder?“
„Kann sein“, sagte ich und warf einen Blick zum Herd hinüber. Die Klappe war wieder geschlossen. „Wieso?“
Hermann sah mich listig an. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. „Warte mal.“ Er ging zur Hintertür, riss sie auf und pfiff durchdringend auf zwei Fingern. „Bronko!“, rief er. „Bronko, komm mal her!“
Durch die offenstehende Tür konnte ich sehen, wie hinten bei den Hühnerställen etwas aufstob, dann war vielstimmiges Gebell zu hören, und ein Fellknäuel kam in die Küche geflitzt. Ein kleines, helles Fellknäuel, das an Hermann hochsprang und sich dann artig zu seinen Füßen setzte, dicht neben Einauge, um anschließend Hermanns Hand mit der Kuchengabel darin zu hypnotisieren. Ich erkannte zwei braune Knopfaugen, eine schwarze Nase und eine Reihe schiefer, durch einen erstaunlichen Unterbiss unvorteilhaft zur Geltung gebrachter Zähne. Mit Sicherheit war dies einer der hässlichsten Hunde, die ich je gesehen hatte. Und einer der kleinsten noch dazu; auf jeden Fall bedeutend kleiner als ein gewöhnlicher Hauskater.
„Das ist Bronko“, sagte Hermann und lächelte Bronko an. „Süß, oder?“
Bronko lächelte zurück. Jedenfalls sah es so aus, denn er schob seinen Unterbiss noch weiter nach vorn.
„Oder, Britt?“
„Na ja“, sagte ich. „Na, doch, ja. Eigentlich sind ja alle Hunde süß. Aber dieser ist …“ Mir fehlten die Worte.
Hermann bückte sich und streichelte Bronko, der freudig mit dem Schwanz wedelte. Es war ein Ringelschwanz, genauso einer, wie ihn eigentlich Ferkel trugen, nur mit Fell drauf. Dichtem, blondem Fell.
„Was ist denn da eigentlich drin?“, fragte ich erstaunt. Bronko sah mich erwartungsvoll an, bevor er zu mir herüberstürmte und aufgeregt an mir hochsprang. „Ist ja gut“, sagte ich und streichelte ihm vorsichtig den Kopf. Was für ein grauenhafter Unterbiss! Ob er das Maul überhaupt schließen konnte? Mitleid regte sich in mir.
„Was bei Bronko drin ist? Keine Ahnung. Ich vermute mal, ein Yorkshireterrier und ein französisches Landschwein, irgendwie so was“, sagte Hermann. „Nimmst du ihn für deine Mutter mit?“
„Was?“ Ich starrte ihn entgeistert an. „Für meine Mutter?“
„Na ja“, Hermann zuckte mit den Schultern und rieb sich die Hände an seiner schmutzigen Hose, „du kannst ihn ja auch selbst nehmen. Ich glaube, er mag dich.“
Ich sah zu Bronko hinunter, der hoffnungsvoll zu mir aufsah, während er zaghaft mit seinem Ringelschwanz wedelte. Mir wurde ganz flau im Magen.
„Ich kann keinen Hund nehmen“, sagte ich mit fester Stimme. „Ich muss jeden Tag arbeiten. Das geht nicht.“ Bronko setzte sich auf die Hinterbeine, aber ich konnte sehen, dass er immer noch wedelte. „Und meine Mutter, die will bestimmt keinen Hund mehr.“ Bronko stand wieder auf und wedelte noch wilder. „Das geht nicht, Hermann, wirklich nicht.“
„Nein?“, fragte Hermann.
„Nein. Das geht nicht. Tut mir leid.“
Bronko legte sich hin und ließ den Kopf entmutigt auf die Vorderpfoten fallen. Seine dunklen Augen beobachteten mich aufmerksam.
„Und überhaupt“, sagte ich. „Dieser Hund … ich weiß nicht. Das geht einfach nicht.“
Meine Mutter hatte offenbar im Garten gearbeitet, denn sie stand hinter dem Tor, als ich den Wagen in die Einfahrt lenkte.
„Da bist du ja endlich!“, rief sie und wischte sich über die Stirn. „Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr!“
Ihre laute Stimme war durch die geschlossenen Scheiben hindurch gut zu verstehen. Ich verdrehte die Augen und zog die Handbremse an.
Typisch meine Mutter! Sie war nur selten zu normalen, freundlichen Begrüßungen in der Lage. Schimpfen, zumal lautes Schimpfen, lag ihr einfach mehr. Mit einem matten Gefühl schob ich die Wagentür auf.
„Hallo, Mutter“, sagte ich schwach. „Na, wie geht es?“
Meine Mutter zog einen geblümten Handschuh aus und warf ihn in die Schubkarre. Dann öffnete sie das Gartentor. „Gut, gut. Und dir? Wieso siehst du so zerwühlt aus?“
„Sehe ich zerwühlt aus?“ Ich sah in den Rückspiegel, aber mein Haar war darin nicht zu erkennen. Nur meine Augen, grüne, faltenumkränzte Augen, die einen fast ängstlichen Ausdruck trugen. Im nächsten Moment hörte ich meine Mutter aufschreien.
„Was ist das denn? Nein! So ein hässlicher Hund! Ist das etwa deiner?“ Meine Mutter hatte sich zum Seitenfenster gebückt und betrachtete Bronko, der, von mir unbemerkt, auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Durch die Scheibe hindurch sahen sich die beiden aufmerksam an, meine Mutter mit hochgezogenen Brauen, Bronko mit vorgeschobenem Unterkiefer. Für einen Moment war ich mir nicht sicher, was ich antworten würde. Dann holte ich tief Luft.
„Nein“, sagte ich. „Deiner.“
„Der Hund hat aber zumindest ein freundliches Wesen“, sagte meine Mutter, als wir uns eine Weile später gemeinsam über das Radieschenbeet beugten. „Wenn er schon so beschränkt aussieht.“ Gekonnt rupfte sie vier Radieschen gleichzeitig aus der Erde.
„Er sieht doch nicht beschränkt aus“, sagte ich und warf einen Blick zu Bronko, der ein Stückchen weiter interessiert das Tränende Herz beschnupperte. Sein Ringelschwanz war wachsam erhoben, und die krummen Hinterbeine bohrten sich standfest ins frisch geharkte Beet. „Er hat einfach einen ziemlichen Unterbiss.“
„Ziemlich, ha!“ Meine Mutter lachte auf, warf die Radieschen in ihr Körbchen und rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Das ist untertrieben. Er hat den schlimmsten Unterbiss, den ich je gesehen habe. Kann der überhaupt richtig fressen?“
„Natürlich!“, sagte ich, obwohl ich selbst nicht recht überzeugt davon war. Nachdenklich sah ich wieder zu Bronko, der jetzt die helle Pfingstrose in Augenschein nahm. Was er da roch, schien ihm zu gefallen, denn er hob rasch das Bein und sprenkelte die frisch erblühte Pflanze mit ein paar gelblichen Tröpfchen. „Er … äh … er kann bestimmt richtig fressen. Schließlich sieht er nicht unterernährt aus.“ Ich wedelte mit einer Hand energisch in seine Richtung, aber Bronko sah nicht zu mir her. Stattdessen beschnüffelte er die nächste Pflanze.
„Aber beschränkt“, stellte meine Mutter fest und richtete sich stöhnend auf. „Und außerdem sieht er aus wie eine Sie. Bist du sicher, dass das überhaupt ein Rüde ist?“
Bronko blickte zu uns herüber und wedelte halbherzig, dann widmete er sich wieder den Blumen.
„Natürlich ist es ein Rüde. Guck doch mal, er hebt gerade das Bein.“
Meine Mutter sah hoch. „An meiner Pfingstrose!“, sagte sie missbilligend. „Das ist ja das Letzte. Und mickrig ist er auch.“
„Ja“, sagte ich mürrisch. „Na und? Dann ist er eben mickrig.“
„Ich meine ja nur! Du brauchst nicht immer gleich beleidigt zu sein, wenn ich auch mal was sage.“ Meine Mutter sah mich vorwurfsvoll an. Über ihrer Stirn prangte ein brauner Dreckstreifen, durch den sich gerade ein Schweißtropfen seinen Weg hinunter auf die Nase zu bahnen versuchte.
„Ich bin doch gar nicht beleidigt!“
„Bist du wohl!“ Meine Mutter nickte nachdrücklich und fuhr sich erneut mit dem Handrücken über die Stirn. Der Dreckstreifen vergrößerte sich ungefähr um die Hälfte.
„Bin ich überhaupt gar nicht!“ Ich holte tief Luft und sah zum Himmel auf. Die Maisonne schien unbekümmert auf uns herunter, ein weicher Luftzug rauschte in den angrenzenden Birken, und aus der Krone einer windschiefen Kiefer schmetterte ein Zilpzalp seinen eintönigen Gesang.
Warum hatte ich in dreiundvierzig Jahren immer noch nicht gelernt, mich nicht über die Hartnäckigkeit meiner Mutter zu ärgern? Andere Leute konnten so etwas doch auch.
„Bist du wohl!“, stellte meine Mutter abschließend fest und marschierte zum Hintereingang. Bronko sah überrascht hoch, dann hopste er über den Bodendecker und rannte ihr mit wedelndem Ringelschwanz hinterher.
„Verräter“, murmelte ich und beugte mich beleidigt wieder über das Beet.
Als ich kurz darauf mit einem Schwung Radieschen in die Küche kam, stand meine Mutter bereits an der Arbeitsplatte und schnitt Tomaten klein. Bronko saß zu ihren Füßen und blickte hoffnungsvoll zu ihr auf.
„Radieschen hab ich schon genug“, sagte meine Mutter und zog einen Salatkopf zu sich heran. „Kannst du mal den Tisch decken?“
„Du hast doch gesagt, ich soll noch welche holen.“ Kopfschüttelnd legte ich die Radieschen neben die Spüle und wandte mich zum Küchenschrank.
„Ja, aber jetzt brauche ich doch keine mehr. Die großen Teller bitte, nicht die kleinen.“
Ich streckte meiner Mutter hinter ihrem Rücken die Zunge heraus und nahm zwei große Teller und dazu passende Schüsseln aus dem Schrank.
„Und Schüsseln, bitte.“
„Weiß ich doch.“ Missmutig kniff ich die Lippen zusammen und stellte das Geschirr auf den Tisch. Tischdecken hatte seit frühester Kindheit zu meinen Aufgaben gehört, und ich beherrschte es mittlerweile meiner Meinung nach vollkommen.
„Na, weiß man ja nicht. Kann ja sein, dass du es vergessen hast. Machst du dir in Oldenburg eigentlich auch manchmal selbst einen Salat?“
Ich verdrehte die Augen. „Mutter. Ja, ich mache mir in Oldenburg auch manchmal selbst einen Salat. Ich mache mir auch manchmal ein vollwertiges Gericht, stell dir vor!“
Meine Mutter musste grinsen. „Ich meine ja nur. Das weiß man ja nicht. Ich bin ja nicht da, ich bin ja hier.“
„Zum Glück“, sagte ich und musste auch grinsen. „Das wäre ja nicht auszuhalten.“
Meine Mutter kicherte vergnügt, dann kam sie mit der vollen Salatschüssel zum Tisch, stellte sie in die Mitte und setzte sich hin. „So, jetzt hab ich Hunger. Ich esse jetzt.“
„Ich auch“, sagte ich und wollte mich eben dazusetzen, als mein Blick auf Bronko fiel. Er hatte die Vorderpfoten erhoben und sich auf die Hinterbeine gestellt, in der vergeblichen Hoffnung, auf den Tisch blicken zu können. „Der Hund macht Männchen!“, stellte ich erstaunt fest und stand wieder auf.
„Na, immerhin kann er was“, sagte meine Mutter lakonisch und begann, sich Salat aufzufüllen. „Wahrscheinlich hat sie Hunger.“
„Er! Es ist ein Rüde.“
„Mag sein. Aber trotzdem hat er Hunger.“
Erst jetzt drangen ihre Worte mir ins Bewusstsein. „Mist! Er hat vorhin eine Kleinigkeit bekommen, aber ich hab gar nichts für ihn zu fressen mitgebracht!“
„Das ist schlecht“, sagte meine Mutter ungerührt und lud sich noch einen großen Löffel voll Salat auf. „Wenn man sich einen Hund zulegt, muss man ihn ja auch füttern.“
„Es ist nicht mein Hund, es ist deiner!“, sagte ich und sah mich hilflos in der Küche um. „Hast du noch Hundekekse übrig? Von Zorro vielleicht? Du wirfst doch nie was weg!“
Bronko legte den Kopf schief und setzte sich wieder hin. Sein hungriger Blick schnitt mir ins Herz.
Meine Mutter nahm eine Gabelvoll Salat, kaute genüsslich und schluckte. Dann sah sie mich listig an. „Ich werfe sehr wohl Dinge weg. Aber ganz zufällig habe ich noch eine Schachtel mit Hundekeksen übrig. Falls mal Hundebesuch kommt, so wie jetzt. Im Vorraum auf dem obersten Regal.“
Bronko kam mit und beobachtete mit wachsamem Blick, wie ich mich streckte und mühsam auf dem obersten Regal im Vorraum herumtastete, bis ich die Schachtel mit Hundekeksen fand und nach vorne zog. Schon immer hatte ich mich darüber geärgert, dass meine Mutter dieses für mich einen Tick zu hoch angebrachte Regal als angestammten Platz für das Hundefutter auserkoren hatte. Entgegen der Tatsache, dass die meisten Kinder ihre Eltern meist an Körpergröße überragten, war ich sechs Zentimeter kleiner geraten als meine Mutter.
Andererseits, das musste ich zugeben, hatte ich noch nie einen Hocker zu Hilfe gezogen, was ein Leichtes gewesen wäre. Aber ich hatte schließlich auch meinen Stolz.
Bronko atmete tief ein und machte einen steifen Hals, als ich die Packung aufriss und ihm einen der Kekse in Knochenform herunterreichte. Er schnupperte daran, dann nahm er ihn vorsichtig ins Maul und trug ihn davon. Ich schob die Schachtel wieder an ihren Platz und ging in die Küche zurück, wo meine Mutter sich soeben die zweite Portion Salat auflud. Bronko lag zu ihren Füßen und biss krachend in seinen Keks.
„Warum gibst du ihm denn kein Nassfutter?“, erkundigte sich meine Mutter und zeigte zur Besteckschublade. „Und reichst du mir mal ein Messer und die Butter? Ich kann jetzt nicht mehr aufstehen, ich sitze schon.“
Ich seufzte innerlich, gab ihr das Messer und die Butterschale, dann setzte ich mich hin und zog die Salatschüssel zu mir heran. „Weil ich kein Nassfutter habe, Mutter, das hatte ich doch schon gesagt!“
„Aber ich hab noch welches. Steht oben im Regal, hinter den Keksen.“ Meine Mutter schob sich eine weitere Gabel Salat in den Mund und lächelte mich fröhlich an.
Ich kniff die Augen zusammen und starrte sie an.
Sie lächelte zurück.
„Mutter. Wieso sagst du das denn nicht gleich? Jetzt muss ich noch mal aufstehen.“
„Na ja, du hattest aber nur nach Keksen gefragt, nicht nach Nassfutter. Und außerdem dachte ich, du hast die Dose schon gesehen. Schließlich steht sie ja gleich bei den Keksen.“
Ich verzichtete darauf, sie auf die Tatsache hinzuweisen, dass ich nicht großgewachsen genug war, um auf das Regal hinaufsehen zu können. Stattdessen beschloss ich, dass Bronko noch ein wenig warten konnte, bis er eine vollwertige Mahlzeit bekam. Schließlich hatte er noch genug mit seinem Keks zu tun.
Ich füllte ein wenig von dem Salat auf, den meine Mutter übriggelassen hatte – viel war es nicht, aber das kannte ich ja schon, bei Salat musste man immer schnell sein, wenn meine Mutter in der Nähe war, er gehörte zu ihren Leibgerichten, wie allerdings viele andere Speisen auch –, und nahm die erste Gabelvoll. „Köstlich“, sagte ich mit vollem Mund.
Im nächsten Moment spürte ich ein seltsames Kratzen an meiner Hüfte. Erschrocken sprang ich vom Stuhl hoch und verschluckte mich fast an meinem Salat. Meine Mutter schrie auf, und auch aus meiner Kehle kam ein schriller, ungewöhnlich heiserer Schrei, der in ein krächzendes Husten überging. Sofort traten mir die Tränen in die Augen, und es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Als ich hinuntersah, entdeckte ich Bronko, der mit unschuldigem Blick zu mir aufsah.
„Was war das denn?“, fragte ich empört und setzte mich vorsichtig wieder hin. Bronko antwortete nicht. Stattdessen sprang er am Stuhl hoch und kratzte mit beiden Pfoten wieselflink an meinem Hüftspeck. „Bronko! Lass das! Das ist meine Problemzone!“
Meine Mutter kicherte. Als ich sie ansah, versuchte sie sich das Lachen zu verkneifen, aber es gelang ihr wie üblich nur schlecht. „Der Hund hat wohl immer noch Hunger“, sagte sie erheitert. „Er hätte sicher gern etwas Nassfutter.“
„Mutter. Du bist unmöglich. Und außerdem“, ich zog den Moment genussvoll in die Länge, um meine Rache schön auszukosten, „und außerdem hast du Dreck auf der Stirn.“
„Besser als Dreck am Stecken.“ Meine Mutter lächelte vergnügt und zog die Salatschüssel wieder zu sich hinüber. „Ich weiß nicht“, sagte sie und nahm das Salatbesteck angriffslustig in beide Hände. „Irgendwie gefällt mir der Hund. Sie hat Charakter und weiß, was sie will. Du jedenfalls willst ja keinen Salat mehr, oder?“ Und damit füllte sie sich den Rest auf ihren Teller. „Und danach“, sagte sie zufrieden, „danach will ich spielen!“
Meine Mutter und ich hatten ein Ritual, seit Jahren schon: Wenn ich sie besuchte, aßen wir gemeinsam, danach wurde Phase 10 gespielt, unser Lieblings-Kartenspiel. Das dauerte ungefähr eine Stunde, und anschließend begaben wir uns zur Ruhe – meine Mutter in ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoss, ich in meinem alten Kinderzimmer in der oberen Etage.
Mein Zimmer dort oben sah immer noch so aus wie zu der Zeit, als ich ausgezogen war – das Mobiliar war dasselbe wie damals geblieben: ein schmales Bett an der rechten Wand, vor dem Fenster der alte Flötotto-Schreibtisch mit der schweren, gusseisernen Lampe darauf, links der Kleiderschrank, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte.
Die Matratze auf meinem Bett war ausgetauscht, und die Wände waren erst ein Jahr zuvor neu gestrichen worden. Aber vorm Bett lag immer noch derselbe alte Flickenteppich, auf den ich schon als Kind meine nackten Füße beim Aufstehen gestellt hatte, und immer noch verströmte abends derselbe von meiner Mutter genähte Lampenschirm wohlige Behaglichkeit in dem Raum, in dem man sich kaum um sich selbst drehen konnte. Das Zimmer, mehr eine Dachkammer denn ein richtiger Wohnraum, war winzig, das aber galt für das gesamte Haus.
Unten wiederum gab es hinter der Küche einen Vorratsraum und daneben ein puppenstubenartiges Wohnzimmer, in das genau ein Sofa, ein Sessel und eine Anrichte passen, daneben lagen das Miniatur-Badezimmer und das Schlafzimmer meiner Mutter, welches kaum mehr Platz zu bieten hatte. Ein kleiner Flur verband die Räume, der sich allerdings den wenigen Platz mit der steilen Stiege teilen musste, die zum Obergeschoss hinaufführte. Gegenüber meinem Zimmer befand sich sein Gegenstück, das zur anderen Hausseite blickte; dort hatten früher meine beiden älteren Brüder und noch früher meine Großtante gewohnt.
Ich fragte mich oft, warum in aller Welt man früher derart kleine Häuser gebaut hatte. Alles in allem umfasste das Haus meiner Mutter vielleicht gerade einmal knapp achtzig Quadratmeter. Wie meine Eltern in früheren Zeiten hier zusammen mit meiner Großmutter und deren Schwester gehaust hatten, war mir ein Rätsel.
Aber anscheinend gelang es ganz gut, denn immerhin kamen in rascher Folge erst meine beiden Brüder und dann auch ich zur Welt. Parallel zur Geburt meiner Brüder starben erst meine Großtante und dann meine Großmutter, sodass sich die Zahl der Hausbewohner in überschaubaren Grenzen hielt. Allerdings wurde das Gefüge stets durch mehrere Tiere aufgelockert, die bei uns Einzug hielten – immer hatten wir mindestens eine Katze und einen Hund, gelegentlich aber auch noch andere tierische Mitbewohner.
Ich streckte mich auf dem Bett aus und verschränkte die Hände vor der Brust. Von unten hörte ich meine Mutter etwas vor sich hinmurmeln. Wahrscheinlich saß sie, wie meist in der Mittagszeit, auf ihrem Bett und häkelte etwas und las dabei. Langsam breitete sich eine angenehme Schläfrigkeit in mir aus. Ich schloss die Augen.
Eine attraktive Blondine beugte sich über mich und lächelte mich an. „Na, müde? Soll ich dich ein wenig munter machen?“ Sie griff hinter sich, zog eine Klangschale hinter ihrem Rücken hervor und einen Klöppel aus ihrem Dekolleté und schwang ihn wild durch die Luft. Ihr Lächeln verwandelte sich in ein fieses Grinsen, als der Klöppel mit Wucht auf der Klangschale auftraf. Ein ohrenbetäubender Gongschlag ertönte, und ich schrie auf.
Unten bellte Bronko einmal laut auf.
„Britt?“, rief meine Mutter beunruhigt zu mir hoch. Im nächsten Moment ertönte wieder der Gongschlag, und ich sah mich hysterisch um.
„Brittchen? Was ist denn los?“
Endlich entdeckte ich mein Handy unter dem Bett, fischte es keuchend hervor und schaltete den Wecker aus, bevor der Gongschlag erneut ertönen konnte.
Bronko bellte ein zweites Mal.
„Britt?“
„Jaha!“, brüllte ich. „Das war nur mein Handy!“
Warum in aller Welt hatte ich eigentlich diesem schrecklichen Gong zugestimmt? Tibetan Bell hieß der Weckton. Ida, meine beste Freundin und ihres Zeichens Technikexpertin, hatte ihn mir neulich eingestellt. Ein schwerer Fehler, wie mir seitdem klar geworden war. Die Blondine mit ihrem Gong war mir nämlich nicht zum ersten Mal erschienen.
Nur leider wusste ich nicht, wie man den Klingelton änderte. In Sachen Handys und Computer war ich wie mit Blindheit geschlagen.
Und ich fürchtete, nicht nur in diesen Belangen. Noch schlimmer stand es um mich, was das Flirten anging. Da stellte ich mich grundsätzlich an wie das letzte Bauerntrampel: entweder ungemein schüchtern oder aber vollkommen taktlos.
So eine attraktive Blondine würde sicherlich beide Varianten nicht sonderlich ansprechend finden.
Ich seufzte tief auf und ließ mich in mein Kissen zurücksinken. Im selben Augenblick klingelte das Handy in meiner Hand schrill auf.
Klingelton Nostalgia. Matt hob ich das Handy in Sichtweite und hielt es nach einem Blick aufs Display ans Ohr. „Hallo, Ida!“
„Na? Wie geht es? Bist du schon bei deiner Mutter? Wie war es bei Hermann? Steht die Bude noch?“
„Ida“, sagte ich und schloss wieder die Augen, „du wolltest dir doch angewöhnen, immer nur eine Frage auf einmal zu stellen.“
Ida lachte. „Ja, aber das dauert immer so lange. Und du antwortest sowieso immer nur auf jede dritte. Ach, ist doch egal. Sag mal, ich wollte was ganz anderes wissen – was hast du eigentlich übernächstes Wochenende vor? Am Samstag?“
„Weiß ich noch nicht. Wieso?“
„Weil ich mit dir ausgehen will. Am Samstag ist eine Lesung. Im Frauenclub.“
„O Gott, eine Lesung. Da schlaf ich doch sowieso gleich ein.“
Ida stöhnte. „Nein, wirst du nicht! Du wirst interessiert da sitzen, ganz aufmerksam zuhören und hinterher kluge Fragen stellen.“
„Dir?“
„Nein“, sagte Ida, „der Autorin. Und alle werden dich dann ansehen und denken: Wer ist denn diese gut aussehende, kluge Person? Ist sie schon liiert? Oder habe ich eventuell eine Chance?“
„Ja, sicher, Ida, ganz bestimmt. Findest du nicht, dass du langsam mal mit deinen Verkuppelungsversuchen aufhören solltest? Ida, wir sind Anfang vierzig. Da ist die Chance, dass man noch auf die große Liebe trifft, geringer, als dass man mit dem Flugzeug abstürzt.“
„Wo hast du denn diesen Unsinn schon wieder her?“
„Aus dem Internet. Da erfährt man allerlei Wissenswertes.“ Ich hatte die Information natürlich nicht aus dem Netz, sondern letzte Woche beim Zahnarzt im Wartezimmer in der Gala gelesen. Aber das brauchte ich Ida ja nicht unbedingt auf die Nase zu binden.
„Man ja, aber nicht du“, sagte Ida. „Du brauchst mir überhaupt nichts zu erzählen. Das hast du wahrscheinlich aus der Brigitte. Oder der intouch.“
„Der was?“
„Der intouch. Ach, Britt, vergiss es. Ist auch egal. Jedenfalls, ich besorg dir eine Karte.“
„Wer liest denn da überhaupt?“
„Den Namen hab ich vergessen“, sagte Ida. „Aber die soll gut sein.“
„Aha.“
„Na ja, sieh zu, dass du dann rechtzeitig bei mir bist. Wir müssen um halb sieben los. Anja kommt auch mit.“
„Aha.“
„Gott, jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, weil ich eine Liebschaft habe und du nicht“, sagte Ida grimmig. „Mein Gott, ich tu doch mein Bestes!“
Ich verdrehte die Augen. „Das ist es ja, Ida! Lass es einfach sein. Es ist doch zwecklos. Und ich will überhaupt keine Liebhaberin! Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und habe mich in meinem Singledasein bestens eingerichtet. Ich hab einen guten Job, liebe Freunde und Freundinnen und eine schöne Wohnung. Also?“
„Also!“, sagte Ida triumphierend. „Und das reicht ja nicht! Na, dann überlass ich dich mal den Klauen deiner Mutter. Sieh zu, dass sie dich nicht wieder allzu sehr dominiert!“ Sie kicherte.
„Okay“, sagte ich ergeben. „Ich sehe zu.“
„Gibt es denn sonst noch was Neues?“, fragte Ida besänftigt.
„Ich hab meiner Mutter einen Hund mitgebracht.“
Ida schwieg einen Moment.
„Du hast was?“, fragte sie dann.
„Ich hab ihr von Hermann einen Hund mitgebracht.“
Ida lachte. „Und, will sie ihn?“
„Ich hoffe“, sagte ich. „Weil, ich will ihn nicht. So schlimm, wie er aussieht, jagt er nämlich jede potenzielle Liebhaberin sofort in die Flucht.“
„Siehst du“, sagte Ida befriedigt. „Du willst doch eine! Tschüs, Britti, ich muss jetzt los. Bis spätestens nächsten Samstag dann. Der Hund dürfte übrigens auch mit zur Lesung. Es geht nämlich um Hunde in dem Buch. Um Hunde und Frauen. Und vielleicht guckt der Hund ja klüger als du.“ Sie kicherte und legte auf.
Ich ließ das Handy auf meine Brust sinken und schüttelte den Kopf, so gut das im Liegen ging.
„Britt?“, rief meine Mutter von unten. „Mit wem redest du da?“
„Ich hab telefoniert!“
„Mit wem denn?“
Ich seufzte, setzte mich auf und schwang die Beine über die Bettkante. An ein Mittagsschläfchen war ohnehin nicht mehr zu denken. Da konnte ich mir genauso gut einen Kaffee kochen.
Eine Lesung, puh! Was Ida sich immer so ausdachte. Sie wusste genau, dass ich nicht las. Jedenfalls nicht viel. Eigentlich nur Fachzeitschriften und … na ja, die Gala, zum Beispiel, im Wartezimmer beim Zahnarzt oder so.
Ich kramte meine bequeme Landkleidung aus dem Schrank, die ich immer gern bei den Besuchen bei meiner Mutter trug – ein altes, verwaschenes T-Shirt mit Harley-Davidson-Aufdruck und abgetragene Jogginghosen, die ich vor Jahren ausrangiert und hier deponiert hatte –, setzte den Kaffee an und lugte bei meiner Mutter ins Zimmer. Wie erwartet saß sie in ihrem Bett und häkelte, während sie gleichzeitig ab und zu in einem Buch blätterte.
Bronko lag wie ein Bettvorleger mit nach hinten und vorn ausgestreckten Beinen auf dem Flickenteppich, der schon seit meiner Kindheit das Schlafzimmer meiner Eltern zierte. Als er mich sah, hob er den Kopf und wedelte kurz mit seinem Ringelschwanz, dann ließ er die Schnauze wieder auf seine Vorderpfoten sinken und rülpste.
„Tsss!“, brummte ich tadelnd. „Willst du auch einen Kaffee, Mutter?“
Meine Mutter nickte. „Ja, natürlich“, sagte sie trocken und blätterte um. „Ich wundere mich schon, warum der noch nicht fertig ist.“
Ich schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Bronko blieb liegen. Irgendwie versetzte mir das einen leichten Stich. Ich meine, hatte ich ihn nicht vor sieben Stunden eigenhändig aus seinem temporären Zuhause erlöst, auf dem Beifahrersitz deponiert, zärtlich gestreichelt und mit feinsten Filetstreifchen, die ich rasch noch beim örtlichen Metzger erstanden hatte, gefüttert? Und schon kümmerte ich ihn keinen Deut mehr? „Hunde sind doof“, murmelte ich vor mich hin und goss Kaffee in zwei große Becher. „Und Ida ist auch doof.“
Eine Lesung!
Ich brachte meine Mutter, die kaum von ihrem Buch aufsah, ihren Kaffee und würdigte Bronko dabei keines Blickes. Aus dem Augenwinkel sah ich jedoch, dass er mit seinem Ringelschwanz wedelte. „Was liest du da eigentlich?“, fragte ich säuerlich.
„Ein Buch von Margot Käßmann“, sagte meine Mutter und schlürfte an ihrem Kaffee. „Aber das interessiert dich ja sowieso nicht. Du liest ja nicht gern.“
Verärgert starrte ich aus dem Fenster. Ja, meine Mutter las gern; meine Brüder waren ebenfalls Leseratten, jedenfalls in ihrer Jugendzeit. Warum ich mich nun wiederum nicht dafür hatte erwärmen können, blieb mir selbst ein Rätsel.
Draußen wölbte sich der strahlende Maihimmel über den windschiefern Kiefern, zu ihren Füßen streckte sich knallroter und leuchtend gelber Fingerhut in die Höhe. Auf dem Wiesenstück rechts daneben machte ich eine Bewegung aus. Ich ließ meinen Kaffeebecher, den ich eben an den Mund gehoben hatte, wieder sinken. „Millie!“, rief ich. „Ach, Mensch, Millie! Die hab ich ja ganz vergessen! Wie geht es ihr denn?“
„Prima“, sagte meine Mutter, ohne aufzusehen. „Kannst ihr ja mal guten Tag sagen. Und nimmst du bitte die leere Schüssel hier mit?“ Sie reichte mir eine Porzellanschale, in der noch ein kleines Bröckchen lag, das ich sofort erkannte.
„Waren da Frolics drin?“
Meine Mutter nickte. „Die schmecken ihr gut.“
„Ihm, Mutter. Du hast ihm doch wohl nicht die ganze Schüssel gegeben?“
Meine Mutter sah vergrätzt auf. „Er hatte Hunger!“
„Aber er ist winzig! Und er hat doch schon gefressen! Eine ganze Riesenportion Hundekekse!“
„Sie haben ihm geschmeckt“, wiederholte meine Mutter und widmete sich wieder ihrem Buch. „Nimm ihn doch mit raus zu Millie. Aber pass auf, dass Bronko sie nicht beißt.“
„Pöh!“, murrte ich. „Der kommt doch sowieso nicht mit.“ Ich trank meinen letzten Schluck Kaffee und ging aus dem Zimmer. In der Küche griff ich zwei Mohrrüben aus der Schale, die immer dort bereitlagen. Als ich die Tür zum Garten öffnete, hörte ich hinter mir leise Pfoten über den Boden trappeln. Ich drehte mich um. Bronko sah zu mir auf und wedelte leicht. Auf seiner Schnauze schien ein verhaltenes Grinsen zu liegen.
„Du hast einen wirklich grässlichen Unterbiss“, sagte ich ernst.
Bronko wedelte etwas heftiger. Ich seufzte.
„Wenn du unbedingt mit willst, na, bitte. Aber wehe, du beißt Millie. Dann beiß ich dich auch.“
Draußen war eine milde Brise aufgekommen, und die Silberpappeln zu beiden Seiten des Gartens umrahmten meine Schritte mit sanftem Rauschen. Bronko trabte hinter mir her zum Drahtzaun, den mein Vater vor einem guten Vierteljahrhundert eigenhändig gebaut hatte und der in der Zwischenzeit mehrfach ausgebessert und geflickt worden war. Dahinter lag eine sanft ansteigende Wiese von der Größe eines halben Fußballfeldes, die am oberen Ende von einer buschbewachsenen Böschung begrenzt war, auf der eine Gruppe Kiefern Wind und Wetter trotzte. Noch nie war eine der Kiefern umgefallen, und ich hoffte, wenn es eines Tages doch passieren sollte, dann zur stürmischen Herbstzeit, wenn Millie sich schon in ihr Winterquartier hinter Herrn Gärtners Häuschen zurückgezogen hatte.
Jetzt aber stand Millie mit ordentlich zusammengestellten Beinen in der Mitte der Wiese und kaute gemütlich an einem Grasbüschel. Sie hatte mir das Hinterteil zugekehrt, und ihr kleiner, schmaler, mit einer mickrigen Quaste bewehrter Schwanz wedelte friedlich vor sich hin. Als ich an den Zaun trat, wandte sie den Kopf, schlug ihre Ohren nach hinten und warf mir einen gnädigen Blick zu.
„Hallo, Millie! Na, altes Haus, wie steht es so?“ Ich hielt ihr die Mohrrüben über den Zaun hin.
Millie ließ sich nicht stören. Entspannt kaute sie zu Ende, schluckte, stieß eine Art Rülpsen aus und wendete gemächlich, um dann lässig auf mich zuzuschreiten. Ihre seelenvollen dunklen Augen hielten mich fest im Blick, und wieder einmal spürte ich, wie mir das Herz aufging. Noch bevor sie den Gartenzaun erreicht hatte, spitzte sie die Lippen und zog mir die Mohrrüben sanft aus der Hand. Ich sah zu, wie sie die beiden Rüben genüsslich kauend verschlang, wobei mir das laute Knurpsen ein wohliges Schaudern über den Rücken jagte. Als sie fertig war und erneut entspannt rülpste, streckte ich die Hand aus und legte sie auf Millies bebende Nüstern.
Zu meinen Füßen wich Bronko ängstlich zurück und stieß eine Art ersticktes Knurren aus. Millie sah zu ihm herunter und senkte langsam den Kopf, um ihn genauer zu betrachten. Ihre hübschen, braun bepelzten Ohren, die ich besonders an ihr liebte, weil sie mich stets an einen Hasen erinnerten, umspielten ihren Kopf, und Bronko versteckte sich sicherheitshalber hinter meinen Beinen, als Millie ein leises Schnauben von sich gab. „Na, altes Mädchen?“, fragte ich und streichelte noch einmal die hellen Flecken auf ihrer Schnauze. „Alles gut bei dir? Das ist nur Bronko, der neue Hund von meiner Mutter. Keine Angst, der tut dir nichts!“
Millie schnaubte erneut. Sanft blies sie mir ihren warmen Atem in die Handfläche, die ich schützend vor ihre Nüstern gehalten hatte.
„Ach, Millie“, sagte ich und tätschelte ihr den Kopf. „Wie schade, dass du nicht bei mir leben kannst. Ich hätte dich zu gern als Mitbewohnerin. Irgendwie machst du mir immer gute Laune.“
Millie schlug die Ohren nach hinten und drehte sich leicht zur Seite. Bronko hinter meinen Beinen gab ein dezentes Knurren von sich, dann lief er wedelnd auf Herrn Gärtner zu, Millies Besitzer, der jetzt auf der rechten Zaunseite aufgetaucht wer. Ein breites Lächeln zog über sein wettergegerbtes Gesicht, als er mir grüßend zunickte.
„Hallo, hallo, mal wieder zu Besuch bei der Frau Mutter, wat?“
„Muss ja“, sagte ich. Herr Gärtner nickte zufrieden, nahm seinen speckigen Cordhut ab und strich sich über das wenige Haar, das ihm noch auf seinem Schädel verblieben war.
„Und, geit dat wohl in der großen Stadt?“
„Bestens, bestens.“
„Dat is man fein. Und wer ist das?“ Er sah zu Bronko hinunter, der sich hinter meine Füße gesetzt hatte und vorsichtig zu Herrn Gärtner aufsah.
„Bronko. Der neue Hund meiner Mutter.“
„Oha“, sagte Herr Gärtner. Er sah kein bisschen verwundert aus. Das war eine seiner hervorstechenden Charaktereigenschaften. Herr Gärtner ließ sich so gut wie nie aus der Ruhe bringen. Nur wenn meine Mutter auftauchte, wurde er nervös. „Och. Der sieht ja gefährlich aus! Dat er man Millie nicht beißt!“
