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Die 17-jährige Jenny hat das Leben in Groß Klein bei Rostock satt. Sie will weg von ihrem Stiefvater, der sie nur wegen des Kindergeldes duldet, weg von der Clique, in deren Rollen sie gar nicht zu passen scheint. Sie flieht nach Berlin, genauer gesagt nach Kreuzberg. Im bunten Durcheinander der pulsierenden Großstadt kann sie sich neu erfinden, kann endlich damit anfangen, der Mensch zu werden, der sie in der Provinz niemals hätte sein können. Zunächst lebt Jenny auf der Straße, bis sie Mascha kennen lernt, die ihr eine vorübergehende Bleibe in einem Frauenwohnprojekt anbietet. Hier findet sie erstmals ein Zuhause. Doch über ihre eigene Identität ist sich Jenny noch nicht im Klaren. Als sie in eine betreute Wohngruppe für Jugendliche wechselt, gibt sie sich als Jonny aus. Prompt verliebt sie sich in eine der Mitbewohnerinnen: Carolin, das Mädchen mit den schönen, blauen Augen. Es kommt zum Eklat, als sich Jonny eines Tages mit einem anderen Jungen aus der Gruppe prügelt und ihre weibliche Identität auffliegt. Manchmal melancholisch, manchmal dramatisch, immer spannend und immer waghalsig. Jenny mit O ist die Geschichte einer Reise zu sich selbst und der eigenen, neuen Identität – gegen alle Widerstände und Konventionen und für das Abenteuer Leben.
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2005
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© Querverlag GmbH, Berlin 2005
Erste Auflage September 2005
Dieser Roman entstand mithilfe des Märkischen Stipendiums für Literatur.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von getty images.
ISBN 978-3-89656-546-4
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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin
http://www.querverlag.de
Für Jonny, Bruno, Mario, Tom, Kolja, Mark, Ben und all die anderen Jungs, die mal Mädchen sein mussten … und für alle Mädchen, die eigentlich Jungs sind.
Ich hätte schon viel früher abhauen sollen. Viel früher.
Na ja, bin ich ja auch. Jedenfalls hab ich’s versucht.
Hat bloß nicht ganz so geklappt.
Beim ersten Mal, mit elf, bin ich nur bis Bad Doberan gekommen, dann haben mich die Bullen erwischt und postwendend nach Hause verfrachtet.
Beim zweiten Mal hab ich’s nach Berlin geschafft. Drei Wochen war ich da, drei coole Wochen. Dann bin ich von selber zurück. So cool war es dann doch wieder nicht. Zu viel Hunger, zu viel Dreck und viel zu viel Schiss. Nichts für Jenny, 13, aus Rostock-Groß Klein.
Und vielleicht war es auch gut so. Vielleicht war’s auch gut, dass ich fast siebzehn Jahre gebraucht hab, um den ganzen Schrott hinter mir zu lassen. Und noch ein Jahr länger, um zu kapieren, was mit mir los ist.
Und wer ich eigentlich bin.
Nicht, dass ich das inzwischen so haargenau wüsste. Aber ich weiß jetzt genug, um was daraus zu machen.
Sicher, vielleicht hätte ich schon früher abhauen sollen, aber ich hab’s eben so lange ertragen, bis es echt nicht mehr ging. Und dann war es ein bisschen so wie mit dem Siedepunkt: Wenn man Flüssigkeit lange genug erhitzt, kocht sie irgendwann über. Hab ich irgendwann mal gelernt. Und mir sogar gemerkt.
So war’s auch bei mir: Ich bin übergekocht.
Dabei war ich so cool.
War ich doch, oder?
Jedenfalls meistens.
„Gib mal ’ne Kippe, Alter.“ Ida streckt fordernd die Hand aus, und Jirko stemmt sich neben mir brav aus dem Sand hoch und reicht ihr seine Schachtel. Ida fischt sich gleich zwei Zigaretten heraus, bevor sie sich wieder zu den beiden Typen dreht, die sie seit einer Weile umlagern.
Einen von ihnen kenne ich, den mit der Glatze und dem weißen Lonsdale-Shirt über der Schulter. Robin heißt er, glaube ich. Auf jeden Fall kommt er aus Schmarl, das liegt direkt neben Groß Klein, und bis zu den Ferien ist er da auch in die Hauptschule gegangen. Aber höchstwahrscheinlich wird er in ein paar Tagen gemeinsam mit mir und den meisten anderen aus unserer Klasse zu dem berufsvorbereitenden Schuljahr antanzen, das an unserer Realschule in Groß Klein extra für unseren Jahrgang eingerichtet worden ist. Weil fast keiner aus der Gegend hier eine Lehrstelle gefunden hat, natürlich.
Also sind wir ab Montag wahrscheinlich Klassenkameraden, Robin und ich. Aber das macht ihn mir auch nicht sympathischer.
„Genial heißes Wetter, was?“, fragt Ida und beugt sich vor, um sich von Robin Feuer geben zu lassen. Ihr gebräunter Bauch schimmert im Sonnenlicht, und das Piercing im Nabel glitzert.
Robin hält breit lächelnd sein Feuerzeug hoch. „Hier ist noch was ganz Heißes“, sagt er, und Ida klopft ihm sofort mit den Fingerknöcheln voll vor die Stirn. Muss echt wehtun, aber Robin zuckt nicht mal zusammen. Er glotzt ungerührt auf Idas Bauchnabel und dann hoch zu ihren Titten. Viel davon ist nicht zu sehen. Ida trägt ein pinkfarbenes Top, knackeng. Steht ihr gut.
Kein Wunder. Ida steht alles.
„Was ist denn los?“, fragt Robin und lächelt noch breiter. „Findest du mich etwa nicht scharf oder wie?“ So eine Riesenzahnlücke wie seine hab ich selten gesehen. Ausgeschlagen, hundertprozentig.
„Nerv nicht.“ Ida schnipst die Asche in seine Richtung. „Typen wie du haben die Klappe zu halten, dass das mal klar ist. Ich sag dir schon Bescheid, wenn du mich anbaggern darfst!“
Robin spuckt in den Sand und grunzt verächtlich, aber er ist ganz klar beeindruckt.
Und still ist er auch.
Typisch Ida. So ist sie eben: launisch, rotzfrech und obercool. Die geborene Anführerin und zugleich die absolute Nummer Eins bei den Jungs in der Gegend. Die Kerle reißen sich um sie, und ziemlich oft mit Erfolg. Ida testet die Typen nämlich ganz gern mal. Aber richtig liiert ist sie nie.
„Oder, Jenny?“, fragt sie jetzt mich und bläst den Rauch aus. „Typen wie der hier sollen den Ball schön flach halten, stimmt’s?“
Ich zucke gelangweilt mit den Schultern und sehe an Ida vorbei zu Kathleen und Jessica, die sich neben ihr im Sand räkeln, schon halb betrunken von diesem ekelhaft süßen Wodkagesöff, das sie sich immer reinziehen. Daneben guckt Dörthe mit ihrem üblichen hungrigen Blick zu mir rüber.
„Jen?“, bohrt Ida nach.
„Klar“, sage ich schließlich und lasse Sand durch meine Zehen rieseln. „Stimmt hundertprozentig.“
Robin spuckt erneut in den Sand. Klar, es passt ihm nicht, dass ich auch was zu melden hab. „Ej, dich kenn ich doch“, sagt er angriffslustig und reckt das Kinn vor. „Dein Alter hatte doch früher die Gurkenbude am Bahnhof, oder?“ Er bläst die Backen auf und fängt an, laut zu schmatzen.
Ich erstarre, und Jirko neben mir erstarrt gleich mit. Die anderen sind auch ruhig. Robins dämlicher Freund ist der einzige, der lacht.
Dann schwappt das Adrenalin in mir hoch. „Was hast du gesagt?“, frage ich leise.
Robin reibt sich die braun gebrannte Brust. Das Arschloch sieht total siegessicher aus. „Dass dein Alter die Gurkenbude am Bahnhof gehabt hat“, sagt er grinsend. „Stimmt doch, oder?“
„Na und?“, schnappe ich zurück. „Was soll damit sein?“
„Nichts weiter“, sagt Robin gelassen. „Ich mein ja nur, dass ich dich kenne, ej. Gurk, gurk!“ Er fängt erneut an zu schmatzen, lauter noch als zuvor. „Noch eine!“, schreit er los. „Komm, noch ’ne Gurke!“ Er dreht sich auf den Rücken, strampelt mit den Beinen und stößt seinen Kumpel an. „Schieb sie mir rein, los!“
Sein Kumpel lacht laut, ein hässliches, quietschendes Lachen. Aber das ist leider nicht alles. Auch Ida grinst. Und als sie das sehen, fangen Kathleen und Jessica, die beiden angeschickerten Ziegen, schrill an zu kichern.
Mein Bauch zieht sich zusammen. Muskeln, sonst nichts.Muskeln in meinem Bauch, die sich von selber bewegen.
Robin strampelt immer noch mit den Beinen und macht wilde Fickbewegungen dazu, und ich richte mich ganz langsam auf.
Ida kommt mir zuvor. „Okay, du Komiker, das reicht jetzt“, sagt sie, immer noch schmunzelnd, und schnipst ihre Kippe direkt an Robins Schädel vorbei in den Sand. „Zieht Leine, ihr beiden. Na los.“
Robin hört auf zu strampeln. Ungläubig lächelnd sieht er Ida an, aber dann kapiert er, dass sie es ernst meint, und sein Lächeln rutscht weg. „Was?“, fragt er und setzt sich auf. „Wieso denn das jetzt?“
„Versuch’s ’n andermal wieder“, sagt Ida und wedelt mit der Hand, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Für heute ist Sense.“
Robin und sein Kumpel werfen sich einen Blick zu. Aber ganz so blöd sind sie dann doch wieder nicht, denn schließlich stehen sie auf und klopfen sich den Sand von den Klamotten.
„Man sieht sich immer zweimal“, knurrt Robin grimmig zum Abschied, aber Ida guckt ihn nicht mal mehr an. Stattdessen blickt sie zu mir.
„Was ’n los? Biste beleidigt?“
Ich sehe schweigend aufs Meer raus. Tief Luft holen, Jenny. Glatt und tiefblau breitet sich die Ostsee vor uns aus. Vorne am Ufer laufen kreischende Kinder durch die Wellen, am Horizont zieht ein Frachter vorbei, und von weit, weit hinten nähert sich eine Fähre.
„Komm schon, Jen. Du musst doch einstecken können. Dafür trainierst du doch, oder?“
Ida spielt auf meine Muskeln an. Irgendwann im Frühjahr hat sie mich dabei erwischt, wie ich am alten Kanal meine Liegestützen gemacht habe. Seither passe ich besser auf, aber was Ida betrifft, ist es natürlich zu spät. Sie sucht sowieso ständig nach irgendwas, womit sie mich provozieren kann, und meistens findet sie’s auch. Ist schon immer so gewesen – wir haben nun mal ein ganz spezielles Verhältnis. Hassliebe, so könnte man’s vielleicht nennen.
„Komm schon, Jen!“, beharrt Ida.
Ich stoße die Luft aus. „Nee“, sage ich. „Ich trainier für Olympia, ist doch wohl klar.“
Jirko, der treue Hund, lacht, Dörthe kichert, und ich lasse mich nach hinten in den heißen Sand fallen.
Eine Weile sagt keiner was. Ich höre das Zischen, mit dem irgendwer ein neues Rigo aufmacht, dann das Klacken von Flasche an Flasche. Dieses widerliche Zuckerzeug. Keine Ahnung, wie man das trinken kann. Und dann noch bei der Hitze!
Ich liege ganz still. Die Augustsonne brennt auf mich herunter, und ganz in der Nähe dudelt ein Ghettoblaster. Sand stiebt auf, als ein paar lachende Kinder vorbeirennen. Um uns herum lagern Leute, Einheimische und Touristen, hauptsächlich Familien, dazwischen Gruppen von Kids in unserem Alter, Paare und Singles. Der ganze Strand ist mit Handtüchern zugepflastert, und von den Strandkörben hinten vor den Dünen steht nicht ein einziger mehr leer, dabei hat die große Urlauberwelle jetzt, Anfang August, gerade erst angefangen.
Für uns aus Meck-Pomm allerdings sind die Ferien schon wieder vorbei. Montag fängt das Schuljahr an. Wenn ich nur daran denke, könnte ich kotzen. Dasselbe Gebäude, dieselben Leute, sogar die meisten Lehrer sind dieselben. Wirklich, zum Kotzen.
Irgendwo tutet eine Schiffshupe. Dreimal lang: Auf Wiedersehen. Nimm mich mit auf die Reise. Alles, nur nicht mehr das hier.
Idas Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken auf. „Geht ihr in den Club heute Abend?“
„Na logisch“, sagt Jessica. „Was denkst ’n du? Ist doch Wochenende.“
„Du auch, Jen?“ Idas Friedensangebot.
Ich spüre Dörthes hoffnungsvollen Blick. Der Club 88 ist nicht gerade mein Fall. Club 88, das heißt schnorren müssen, um saufen zu können, dummes Gequatsche und reihenweise dämliche Typen. Typen wie Robin und Co.
Aber viel Auswahl ist nicht. Warnemünde Strand ist voller Touristen, Groß Klein öde wie nichts, und zu Hause wartet nur Nerv. In die Stadt reinfahren geht auch nicht. Ich habe kein Geld mehr, und beim Schwarzfahren in der S-Bahn bin ich erst letzte Woche erwischt worden. Danach hat’s mal wieder Prügel vom Alten gesetzt.
Also doch Club 88.
„Jenny? He, bist du noch da?“
Ich stütze mich auf die Ellbogen auf. „Mal sehen“, sage ich vage. „Vielleicht komm ich mit.“
Dörthe lächelt glücklich, und Ida nickt zufrieden. Ihre hellen Augen sind wie diese hypermodernen Scheinwerfer, die immer so grellblau strahlen. Wo sie die her hat? Von ihrem versoffenen Alten und der Depri-Mutter bestimmt nicht.
„Ich komm auch mit“, sagt Jirko.
Keiner antwortet darauf. Ich auch nicht. Mache ich nie. Macht keiner bei Jirko.
Ich drehe mich auf die Seite. Direkt vor mir gehen ein paar langbeinige Mädchen in Bikinis vorbei. Die Letzte von ihnen trägt einen echt süßen Hintern mit sich herum, und ich starre ihr nach.
Aber damit bin ich nicht die Einzige. „Ej, die geht ja gar nicht, die Braut! Lecker!“, sagt Jirko bewundernd und pfeift durch die Zähne. Er versucht, seine picklige Hühnerbrust weiter rauszudrücken, aber die Mädchen sind sowieso schon längst an uns vorbei.
Ida beobachtet mich immer noch. „Du guckst wie ’n Kerl, Jen“, sagt sie auf einmal laut.
Jessica gluckst, und Kathleen neben ihr lacht hämisch auf. Dörthe schweigt. Ich brauche sie nicht mal anzusehen, um zu wissen, dass sie knallrot geworden ist.
Plötzlich bin ich total abgenervt. „Ach, fick dich doch!“, sage ich rau, greife nach meinen Schuhen und stehe auf.
„Bis später!“, schreit Ida mir nach.
An der Strandmauer, kurz vor dem Leuchtturm, holt Jirko mich ein. „He, Jenny, warte“, ruft er keuchend. „Ich komme mit!“
Wir gehen, ohne zu reden, wie meistens. Schweigend laufen wir zwischen den Touristenscharen den Alten Strom entlang, bis es nicht mehr weitergeht, dann über die Gleise und die Werftallee runter. Erst auf dem Trampelpfad, der am Dieselmotorenwerk vorbei zum Hafenbecken führt, sieht Jirko mich vorsichtig von der Seite an und zieht die Nase hoch.
„Ist doch egal, mit den Gurken“, sagt er.
Fast muss ich lachen. Die Gurken! Jirko denkt, ich bin immer noch sauer wegen der Gurken! „Schon gut, Jirko“, winke ich ab. „Längst vergessen. Ist schon okay.“
„Wirklich?“
„Na klar.“
„Dann ist ja gut“, sagt Jirko erleichtert.
Wir haben Glück, die Uferböschung am Hafenbecken ist leer. Jirko und ich klettern über einen Haufen zerbrochener Klinker, die irgendwer mal irgendwann hier aufgestapelt hat, setzen uns an den Rand der Kaimauer ins Gras und lassen die Beine baumeln. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Unterwarnow, liegt eine der Skandinavienfähren am Anleger vertäut. Die Bugklappen sind geöffnet, und am Terminal stehen lange Autoschlangen zum Verladen bereit, dahinter die LKW-Reihen. Ich kneife die Augen zusammen, um den Namen oben an der Brücke lesen zu können.
„Guck mal, die Prins Joachim.“
„Wo fährt ’n die hin?“, fragt Jirko.
Unzählige Male haben wir hier schon gesessen, aber trotzdem weiß er nie, welche Fähre wohin fährt. Ich dagegen hab den Fahrplan seit Jahren im Kopf.
„Die fährt nach Gedser. Dänemark“, füg ich hinzu. Geographie ist auch nicht so Jirkos Stärke.
Jirko nickt. „Dänemark. Cool“, sagt er und zieht sein Hemd aus. Dann legt er sich auf den Rücken und lässt seinen mageren Körper von der Sonne bescheinen.
Ich betrachte ihn nachdenklich. Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt mag, diesen schmächtigen Typen mit den strähnigen aschgrauen Haaren, den leicht vorstehenden blassgrünen Augen und dem riesigen Adamsapfel, um den ich ihn heimlich beneide. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wie es dazu gekommen ist, dass Jirko sich so eng an mich angeschlossen hat. Irgendwann im Kindergarten hatte er plötzlich neben mir gesessen, und seitdem ist er ständig in meiner Nähe. Jirko, mein Schatten.
Aber ein Freund, ein richtiger Freund ist er für mich ganz bestimmt nicht. Kann er nicht sein, gibt er einfach nicht her. Manchmal nervt er sogar ohne Ende, wenn er mal wieder nichts peilt. Aber im Großen und Ganzen ist Jirko okay. Und er ist mir ähnlicher als die anderen. Weil er eben auch anders ist. Oder vielleicht seinen Platz einfach nicht findet, genau wie ich auch, keine Ahnung.
Von der anderen Seite des Wassers kommt ein Dröhnen, und ich hebe den Kopf. Die Maschinen sind angeworfen worden, dichter Rauch quillt aus den Schornsteinen der Fähre, und das Verladen hat begonnen. Ein Auto nach dem anderen fährt über die ratternden Metallschienen in den Schiffsbauch hinein und verschwindet. Selbst aus der Entfernung meine ich, die Aufregung und Vorfreude in den Gesichtern der Passagiere da drüben zu erkennen, obwohl das gar nicht möglich ist.
Aber ich weiß genau, wie es sich anfühlen würde: Wegfahren. Weg aus Groß Klein. Weg aus Rostock. Aus Deutschland. Weg aus einer Heimat, die für mich keine ist.
Ich weiß einfach, wie sich das anfühlen würde.
Oder wie es sich anfühlen wird. Eines Tages vielleicht.
Jirko liegt neben mir und bewegt sich nicht, während ich still dasitze und zusehe, wie am Ende auch der letzte LKW im Schlund der Fähre verschwindet und die Luken sich schließen. Das mächtige Fahrzeug erzittert. Ein Grollen ist zu hören, das sich rasch verstärkt, dann quillt eine Wolke schwarzen Rauchs aus den Schornsteinen, und der unverkennbare Geruch nach Dieselöl weht zu mir rüber. In einer kaum sichtbaren Bewegung legt die Fähre ab, dreht sich ganz leicht nach links und nimmt rasch an Fahrt auf. Als der riesige Schiffsleib an mir vorüberkommt, lege ich den Kopf in den Nacken.
Oben, auf dem offenen Deck, lehnen die Passagiere dicht an dicht an der Reling. Ein Kind winkt mir zu, und ich hebe die Hand und winke zurück. Und erst, als die Fähre in den engen Seekanal gleitet, der sie ins offene Meer hinausbringt, lasse ich sie wieder sinken.
Neben mir hat Jirko sich aufgesetzt und sieht ebenfalls der Fähre nach. Sein Gesicht ist völlig ausdruckslos.
Komisch ist das. Jedes Mal, wenn wir hier sitzen und die Fähren betrachten, passiert für mich unendlich viel. Aber Jirko sieht immer so aus, als starre er nur vor sich hin.
Vielleicht ist das ja auch so. Und vielleicht ist das auch der Unterschied: Man kann gucken, und man kann etwas sehen.
„He, Kollege“, sage ich schließlich, und Jirko zuckt zusammen. Verlegen kratzt er sich die Brust.
„Wie spät isses denn?“, fragt er verwirrt.
„Gleich Viertel nach sieben.“ Das ist einer der Vorteile, wenn man den Fährenfahrplan kennt: Auf eine Uhr kann ich verzichten.
„Dann geh ich mal los“, erklärt Jirko, langt nach seinem Hemd und guckt in seiner typisch geduckten Art zu mir rüber. „Und du?“
„Ich bleib noch.“
Jirko nickt, und dann gähnt er. „Kannst ja noch mitkommen, was essen“, sagt er.
Das Angebot macht er mir meistens, und manchmal nehm ich auch an, wenn bei mir zu Hause gerade besonders viel Stress angesagt ist. Bei Jirko ist es zwar auch nicht viel besser – seine Eltern zanken sich ständig –, aber immerhin gibt es da meistens was Gutes zu essen.
Und den Stress dort hab ja schließlich nicht ich.
„Kannst gerne mitkommen, echt“, bietet Jirko noch mal an.
Ich schüttele den Kopf. „Nee, danke. ’n andermal gerne.“
„Dann bis später.“ Jirko wuchtet sich hoch. „Du kommst doch in den Club, oder, Jenny?“
„Wahrscheinlich.“
Jirko winkt mir zu und schlendert davon. Ich sehe ihm nach, seiner schmächtigen Gestalt mit den hängenden Schultern und dem komisch schlurfenden Gang, den er sich zugelegt hat, seit er in die Höhe geschossen ist, aber nicht in die Breite.
An der Ecke dreht er sich um und winkt mir ein letztes Mal zu. Dann ist er weg, und ich bin allein.
Ich sitze so lange am Kai, bis auch die Neun-Uhr-Fähre abgelegt hat, die Sonne lange Schatten wirft und das Gras mit Dunkelheit sprenkelt. Dann ziehe ich los.
Auf dem Nachhauseweg komme ich an meiner alten Grundschule vorbei. Früher bin ich dort gern hingegangen. Es hat Spaß gemacht, lesen und schreiben zu lernen, das weiß ich noch. Seitdem gibt es nicht mehr allzu viel in meinem Leben, was Spaß macht. Und um die Grundschule ist jetzt ein drei Meter hoher Gitterzaun drum. Sieht aus wie ein Käfig.
Und das ist es ja auch. Irgendwie.
Wie ganzGroß Klein.
Groß Klein, das sind nur ein paar Straßenzüge mit Plattenbauten, eingeklemmt zwischen Kanalbett, Hafen, Gleisen und dem anschließenden Ortsteil Schmarl.
Und ein paar Würfelhäuser dazu. Würfelhauser sind übrigens ebenfalls Platten, nur kleiner. Und quadratisch gebaut. Gut zum Leute einsperren. Wie sich’s für ’nen ordentlichen Käfig gehört.
Oder vielleicht hab ich den Käfig ja auch nur im Kopf.
Ich gehe die Werftallee weiter runter und an den Platten entlang, zwischen denen ich mich mein ganzes Leben lang rumgetrieben habe. Sonnenverdorrtes Unkraut wuchert zwischen den Blocks, doch die Fassaden selbst sind frisch renoviert und in weiß und hellorange getüncht. Auf ein paar Balkons stehen bunte Sonnenschirme, aber die meisten sind leer. Überall gähnen Fensterscheiben. Wer kann, zieht weg aus Groß Klein.
Meine Mutter und der Alte können jedenfalls nicht. Oder vielleicht wollen sie auch nicht. Keine Ahnung, vielleicht leben sie sogar ganz gern hier. Ich habe sie nicht gefragt. Glaube auch nicht, dass sie mir drauf antworten würden.
Manches hier ist ja auch gar nicht so übel: der Hafen, die Ostsee und die Luft, die nach Meer und Seetang und Dieselöl riecht. Das Rauschen der See bei Nacht, der schrille Klang der Schiffssirenen und das dumpfe Tuten der Nebelhörner. Und schnell weg ist man hier eigentlich auch.
Sieben S-Bahnstationen sind es bis in die Rostocker City, knapp fünf Minuten laufe ich bis zum Hafenbecken hinüber, zehn nach Warnemünde zum Strand. Zweitausendeinhundertundzwölf Meter sind’s genau bis zum Leuchtturm, ich hab es gezählt.
Das hat schon was, sicher. Aber mir reicht’s nicht.
An der Ecke Groß-Kleiner Allee biege ich nach links ab. Bis hierhin hat’s die Sanierungswut der Stadtplaner noch nicht geschafft. Zwei abrissreife Platten stehen noch auf der Wiese, die Türen mit Brettern vernagelt, über und über mit Graffiti bemalt. Und davor ein paar schmutzig braune Würfelhäuser, mit rissigen Fassaden und bröckelndem Putz. Die allerdings sind bewohnt. Unter anderem von meiner wundervollen Familie.
Und von mir leider auch.
Oben stell ich mit einem Blick fest, dass der Alte nicht da ist. Seine Treter liegen nicht im Flur rum, und seine nervige Nörgelstimme ist auch nicht zu hören. Dafür aber Kindergeschrei.
Im Wohnzimmer zanken sich Timo und Janina auf der Couch um die Fernbedienung, und im Fernseher plärrt eine Zeichentrickfigur. In der Küche sitzt meine Mutter und tratscht mit ihrer besten Freundin Yvonn, als ich mich lautlos vorbeischleiche. Vor ihnen auf dem Tisch stehen zwei lippenstiftverschmierte Kaffeetassen, und dichter Zigarettenqualm wabert durch die Luft.
Sven liegt in unserem Zimmer in Shorts und Turnschuhen auf dem Bett und blättert ’ne fleckige Zeitschrift durch. Als ich reinkomme, verzieht er das Gesicht. „Mann ej, kann man hier nie mal allein sein?“
„Genau das frag ich mich auch schon seit Jahren“, sage ich und steige über einen Haufen dreckiger Klamotten zum Kleiderschrank rüber. Ich ziehe die klemmende Tür auf. Meine neue Cargo, die ich erst gestern frisch gewaschen ins unterste Fach gelegt hab, ist weg. Ich drehe mich zu Sven.
„Wo ist meine Hose?“
„Was für ’ne Hose?“
„Die neue. Wo ist die?“
Sven weiß genau, welche ich meine, aber er antwortet nicht. Stattdessen guckt er mich mit seinen stechenden Augen ausdruckslos an. Zum tausendsten Mal wundere ich mich darüber, dass ein Ekelpaket wie Sven so dermaßen gut aussehen kann. Aber das ist bei seinem Alten genauso gewesen. Sven kommt ganz nach ihm.
Das Schlimme ist nur, er ist auch genauso unangenehm.
„Also? Wo ist meine Hose?“
Sven verzieht höhnisch die Mundwinkel und zuckt mit den Achseln.
Mit zwei Schritten bin ich am Bett, drehe ihm einen Arm auf den Rücken und drücke seinen Kopf tief in die Matratze.
„Au, ej, du brutale Sau, lass mich los!“ Sven wehrt sich, aber ich hab ihn bestens im Klammergriff. Mein tägliches Muskeltraining macht sich mal wieder bezahlt.
„Los jetzt, du Penner. Wo ist meine Cargo?“
„Au!“ Sven verdreht den Hals, um mich ansehen zu können, und mein Gesichtsausdruck überzeugt ihn offenbar, doch lieber klein beizugeben. „Da, auf dem Boden“, keucht er.
Sein sehniger Körper ist glitschig, und ich kann seinen Schweiß riechen. Männerschweiß, kein Kinderschweiß mehr. Vierzehn Jahre alt und riecht schon wie ein ausgewachsener Typ. Bald ist er genauso stark wie ich. Und irgendwann wahrscheinlich noch stärker. Bei dem Gedanken wird mir jetzt schon ganz schlecht.
Ich gucke zum Kleiderhaufen vor dem Bett. Ganz unten entdecke ich tatsächlich einen dunkelgrünen Zipfel, der ganz nach meiner Cargo aussieht. Ich verdrehe Sven noch einmal extra den Arm, dann lasse ich ihn los und stehe auf.
„Blöde Fotze!“ Sven versucht nach mir zu treten, aber er trifft nicht.
Ich fische die Cargo aus dem Kleiderhaufen. Bis auf einen kleinen Schmutzfleck unten am Bein scheint sie sauber zu sein. Wortlos werfe ich sie mir über die Schulter, ziehe eins von Timos Jungsunterhemden, ein frisches T-Shirt und Socken aus dem Schrank und greife an meinen Mädchenslips vorbei nach einer von Svens Boxershorts. Dann seh ich zu Sven, der mich die ganze Zeit aus schmalen Augen beobachtet.
„Wenn du die Cargo noch einmal anziehst, mach ich dich platt“, sage ich ruhig. „Und das meine ich ernst.“
„Die steht mir viel besser als dir“, blafft Sven gehässig zurück. „Und überhaupt, zieh du doch mal lieber ein Kleid an und nicht immer so Säcke. Sieht doch Scheiße aus bei ’ner Braut.“
„Ach, halt doch die Klappe! Das geht dich sowieso einen Dreck an, Kleiner.“
Sven lacht nur höhnisch, dann dreht er sich auf den Bauch und schlägt sein zerfleddertes Heft wieder auf. Beim Rausgehen sehe ich, dass es ein Porno ist.
Im Bad muss ich eine ganze Weile suchen, bis ich ein sauberes Handtuch finde. Dann dusche ich, so schnell es geht, und klatsche mir den letzten Rest Gel in die Haare. Sie liegen trotzdem nicht, aber egal. Ich will los. Keine Minute länger hier bleiben als nötig.
Timo und Janina zanken sich immer noch im Wohnzimmer, aber jetzt hat sich die keifende Stimme meiner Mutter darübergelagert. „Immer dieser Mist mit der Glotze!“, brüllt sie. „Jetzt guckt ihr das hier und basta!“
Ich nutze die Gelegenheit und mache einen schnellen Abstecher in die Küche. Yvonn sitzt allein am Tisch und raucht. Neben den Kaffeetassen stehen jetzt eine Flasche Sekt und zwei halb leere Gläser.
„Tagchen, Yvonn.“
Yvonn balanciert ihre hochtoupierte Frisur in meine Richtung und starrt mich aus geröteten Augen an. Ich drücke mich an ihr vorbei zum Kühlschrank. Ein Rest angetrockneter Milchreis steht drin, aber da hab ich keinen Appetit drauf. Den Teller mit Koteletts und Kartoffeln rühre ich gar nicht erst an. Für mich ist der garantiert nicht bestimmt.
„Na, Jenny?“, lallt Yvonn hinter mir. „Wie ist ’n das mit dir, haste eigentlich ’n Freund inzwischen?“
Ich brauche gar nicht zu antworten. Das übernimmt meine Mutter, die gerade die Küche betritt. „Die?“, fragt sie verächtlich und lässt sich auf ihren Stuhl fallen. „Die doch nicht. Ist doch selber ’n halber Junge, siehste doch. Wer will denn so eine schon haben?“ Sie fährt sich durch ihre rausgewachsene Dauerwelle und greift nach ihren Kippen. „Lass bloß den Teller stehen!“, fährt sie mich an. „Der ist für Vati, weißte ja wohl.“
Ich klappe die Kühlschranktür wortlos wieder zu, beuge mich über die Spüle und drehe den Wasserhahn auf. In großen Schlucken trinke ich, um meinen knurrenden Magen zu besänftigen.
Als ich fertig bin, starren Yvonn und meine Mutter mich beide an, Yvonn neugierig, meine Mutter missbilligend. Die mürrischen Falten um ihren Mund sehen wie eingewachsen aus.
Ich kann mich kaum erinnern, wann meine Mutter mich das letzte Mal anders angesehen hat, freundlich zum Beispiel. Vielleicht vor fünf oder sechs Jahren. Bevor Janina zur Welt kam. Muttis kleine Prinzessin.
„Tschüss dann“, sage ich und schiebe mich aus der Küche.
„Ja, tschüss“, sagt Yvonn.
„Wo willst’n du überhaupt hin?“, fragt meine Mutter.
„Noch raus.“
Meine Mutter seufzt und zündet sich eine neue Zigarette an. „Ach“, murrt sie und wedelt mit einer Hand, „ist sowieso egal. Du machst doch sowieso, was du willst. Sieh zu, dass du wegkommst.“
Timo steht im Flur, die Fernbedienung in der Hand. „Jenny, kannst du das heilemachen?“, fragt er hoffnungsvoll und streckt mir den Apparat entgegen. Das Tastenfeld scheint innerhalb des Gehäuses verrutscht zu sein. Sieht nicht nach einer Sache von zwei Minuten aus. Ich zögere. Für Timo würde ich es ja machen. Er ist der Einzige von der ganzen Bande hier, den ich echt gern hab. Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Glaub ich zumindest.
Aber dann denke ich an meine Mutter und den Alten, der bestimmt bald nach Hause kommt, und ich schüttele den Kopf. „Keine Zeit. Ich muss los.“
Enttäuscht kratzt sich Timo seinen struppigen Schopf. „Och, gehst du schon wieder?“
Janina kommt aus dem Wohnzimmer gelaufen, mit verheultem Gesicht. „Timo hat die kaputtgemacht“, jammert sie. „Hat sie mir weggenommen und kaputtgemacht!“
„Gar nicht wahr, das warst du selber!“, schreit Timo zurück. Janina boxt ihm auf den Arm, und Timo greift nach einer ihrer rosafarbenen Haarschleifen und zerrt heftig daran. Janina kreischt auf, in der Küche fängt meine Mutter an zu schimpfen, und ich seh lieber zu, dass ich verschwinde.
Der Club 88 liegt in Lichtenhagen, und Lichtenhagen wiederum liegt genau gegenüber von Groß Klein, nur durch die Stadtautobahn und die Eisenbahnschienen getrennt. Einmal quer über die Gleise, dann über die Autobahn, ein Stückchen die Straße hoch, und schon bin ich da. Ist der kürzeste Weg, wenn auch ein bisschen gefährlich.
Schon von weitem sehe ich den Pulk Leute, der draußen vorm Eingang abhängt. Ein paar Touristen, die sich aus Warnemünde hierher verirrt haben, sind auch dabei, aber hauptsächlich gammelt das übliche Aufgebot von bulligen Lichtenhagener Jungs und den dazugehörigen Mädchen in der warmen Abendluft und spart sich den Eintritt. Auf den Parkbänken rechts hocken ein paar Glatzen und saufen Dosenbier, links, gleich neben dem Parkplatz, lehnen Ida und die anderen an einer Mauer. Ein paar Jungs stehen um sie rum, quatschen und schieben ’nen Coolen.
Jedes Wochenende das gleiche Bild: kichernde Mädchen und mackrige Typen. Manchmal frag ich mich wirklich, was eigentlich dran ist an den Kerlen. Gar nicht so einfach zu erkennen.
Und trotzdem guck ich mir gern an, wie sie sich bewegen.
„He, Jenny!“ Jirko sitzt auf der Mauer und winkt mir freudig mit seiner Bierdose. Ich schlender zu ihm und den anderen hinüber. Eigentlich bin ich ganz gut drauf, aber meine Laune sinkt schlagartig, als ich sehe, wer bei der Truppe noch abhängt: der bescheuerte Robin vom Strand und sein Kumpel. Ich begrüße alle mit Handschlag, nur die beiden nicht, ist ja klar.
„Cool, dass du da bist“, sagt Kathleen. Jessica lächelt an ihrer Breezerflasche vorbei, Ida taxiert mich stumm, und Dörthes Händedruck ist mal wieder viel zu weich.
„Wusstest du, dass die beiden hier ab Montag auch mit in der Schule dabei sind?“, fragt Jessica und deutet auf Robin und seinen Kumpel.
„Was du nicht sagst.“ Im Umdrehen bemerke ich Kathleens halb verächtlichen, halb bedauernden Blick. Sie ist die Einzige von uns, die einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Montag muss sie in einer Bäckerei drüben in Lichtenhagen Dorf antreten, Kuchen verkaufen und Brötchen eintüten. Nicht für 100.000 Euro würde ich mit ihr tauschen.
Ich lehne mich neben Jirko, schnappe mir seine Bierdose und nehme einen kräftigen Schluck.
Jirko klopft auf seinen Rucksack. „Kannste behalten. Ich hab reichlich dabei.“
„Im Lotto gewonnen?“
„Nö. Mein Alter ist spendabel. Hat mal wieder ’n paar Touristen geschnappt.“
Jirkos Vater ist Kaufhausdetektiv in der City. Für jeden Dieb, den er auf frischer Tat ertappt, bekommt er eine Prämie. Manche allerdings, vor allem Touristen, kaufen sich frei. Geld haben sie immer dabei, sie klauen aus Spaß. So was ist mir ja ein völliges Rätsel.
„Danke, Kumpel.“ Ich proste ihm zu.
„Aber gerne“, sagt Jirko und lächelt breit. Er hat sich fein gemacht, jedenfalls so, wie er es hinkriegt. Das bedeutet gekämmte Haare und ein sauberes weißes T-Shirt. Weil es viel zu groß ist, sieht er noch mickriger damit aus als ohnehin schon.
Die anderen quatschen. Uninteressantes Zeug, über irgend’ne Tussi, die irgend’nen Typ betrogen hat und wie der ihr dann eine gescheuert hat und dann Ärger mit ihrem Typ gekriegt hat und so weiter, das Übliche eben. Als ich tief einatme, kann ich ganz schwach das Meer riechen, mit einem Hauch von Dieselöl darin. Plötzlich habe ich Fernweh. Einfach nur weg sein, das wär’s. Ganz egal wo.
Vom Eingang zum Club kommen laute Stimmen. Drei Typen sind gerade dabei, sich mit dem Türsteher anzulegen. Gerade mal zehn Uhr vorbei und noch nicht mal richtig dunkel, und der erste Stress ist schon im Gange. Noch während ich rübersehe, holt einer von den Dreien aus, aber der Türsteher ist schneller. Der Typ kassiert ’nen sauberen Kinnhaken, kippt fast um, fängt sich wieder. Seine Kumpels grölen los, er springt wieder auf den Türsteher zu, aber der hat schon Verstärkung von drinnen, und gleich darauf ist die Prügelei auch schon wieder vorbei. Die drei Typen verziehen sich, und der Türsteher stellt sich breitbeinig hin und verschränkt die Arme, als wär nichts gewesen.
Ich kenne den schon, seit ich hier auflaufe, seit zwei Jahren oder so. Ein knallharter Kerl. Mich lässt er nie umsonst rein. Ida allerdings immer.
Wahrscheinlich durfte er mal ran oder so. Mann, Ida.
Langsam trinke ich mein Bier aus und nehme von Jirko ein zweites. Ida und die anderen beschließen, ’nen Blick in den Club zu werfen.
„Kommste mit rein?“, fragt Ida.
Ich schüttele den Kopf. „Nö. Keinen Bock.“
„Aber ich!“ Jirko rutscht von der Mauer. „Passt du auf meinen Rucksack auf, Jenny?“
„Hab ich dich etwa gefragt, Schatten?“, fragt Ida höhnisch.
Jirko lacht blöd, aber er schließt sich den anderen trotzdem ungerührt an. Er schert sich nie groß drum, wie er behandelt wird. ’ne andere Wahl hat er allerdings sowieso nicht. Stillhalten und drüber wegsehen. Funktioniert ja auch.
Dörthe bleibt neben mir stehen. „Warum kommste denn nicht mit rein?“
„Keinen Bock, hab ich doch gesagt.“
Sie durchschaut mich natürlich. „Ich hab Geld dabei“, sagt sie. „Ich zahl dir den Eintritt. Komm doch mit rein!“
„Nee, lass mal.“
Dörthe lehnt sich neben mir an die Mauer und sieht mich vorsichtig an, mit hochgezogenen Schultern. „Jenny? Wie geht’s dir eigentlich?“
Ich trinke einen Schluck Bier. „Was fragst ’n du? Wir haben uns doch gerade heute Nachmittag gesehen.“
Dörthes dunkle Locken zittern, als sie den Kopf leicht auf die Seite legt. „Ich frag einfach nur. Du bist so zu in letzter Zeit, ich krieg gar nichts mehr von dir mit.“
„Vielleicht will ich das so“, sage ich.
Dörthes Augen werden noch größer. „Warum bist du eigentlich immer so komisch zu mir?“, fragt sie leise. „Seit wir … du weißt schon.“
Ich trinke noch einen Schluck Bier und sehe zum Eingang hinüber. Die anderen sind schon drin, nur Ida steht noch mit dem Türsteher zusammen. Ich erkenne das Lächeln, das sie ihm zuwirft. Idas typisches Baggerlächeln, breit und verschlagen.
Kann sein, dass ich mich geirrt hab. Vielleicht war er ja doch noch nicht dran. Aber Chancen darauf hat er, so viel ist klar.
„Jenny.“ Dörthes Tonfall ist bittend.
Im Frühjahr sind wir heimlich ein paar Mal miteinander in der Kiste gewesen, vier oder fünf Mal. Vielleicht auch öfter, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Dörthe mich seitdem andauernd mit diesem hungrigen, bittenden Blick ansieht.
Das macht mich bekloppt. Ich kann’s einfach nicht ab, wenn sie mich so ansieht. Als wär ich ihr was schuldig.
„Ich bin nicht gemein“, sage ich. „Ich bin einfach so.“
Dörthe verzieht unzufrieden die Lippen, aber zumindest bohrt sie nicht weiter nach. „Darf ich mal trinken?“, fragt sie stattdessen.
Widerwillig reiche ich ihr meine Dose, nicht etwa, weil ich nicht gern teile, sondern weil es mir vorkommt, als würde sie sich so doch noch irgendwas von mir abholen. Dabei will ich ihr nichts mehr geben. Ich bin einfach nicht in sie verknallt. Ich finde sie noch nicht mal mehr süß.
Das mit uns ist eben einfach passiert. Ich könnte gar nicht richtig sagen, warum. Vielleicht, weil’s Frühling war. Und die Gelegenheit günstig.
Und vielleicht, weil ich heiß war auf Sex mit ’nem Mädchen.
Als Dörthe mir die Dose zurückreichen will, winke ich ab und nehm mir ’ne neue aus Jirkos Rucksack. Das ist okay, vier Stück sind noch drin. Schweigend stehen wir nebeneinander und sehen zu, wie der Platz vorm Club sich immer mehr füllt. Ein Auto nach dem anderen fährt vor und entlädt noch mehr vergnügungs- oder auch streitsüchtige Typen und ihre Bräute, und aus allen Ecken kommen weitere Leute. Samstagabend in Lichtenhagen eben, völlig normal. Außer dem Club 88 gibt’s hier nicht viel. In der Innenstadt ist das natürlich was anderes. Aber wer will schon immer ganz in die Stadt rein? In der Nähe saufen ist besser.
„Na, ihr Turteltäubchen?“ Plötzlich steht Ida neben uns. Ihr wissender Blick fliegt von mir zu Dörthe und wieder zurück. Jessica und Kathleen sind nicht in Sicht, aber Jirko, Robin und sein Kumpel sind auch mit rausgekommen. Und noch einer, ein Großer, Älterer mit Seitenscheitel und eng zusammenstehenden Augen.
„Habt ihr noch irgendwas Brauchbares auf Lager?“, fragt Ida und lässt sich von Robin Feuer geben. „Irgendwas, womit man diesen beschissenen Abend besser rumkriegt?“
„Nur mich“, sage ich.
Die Typen lachen höhnisch. Ida sieht mich aus schmalen Augen an, dann lächelt sie langsam. Ich gucke lieber weg, bevor sie einen dämlichen Spruch schieben kann. Bei Ida weiß man ja nie.
Jirko schwingt sich neben mir auf die Mauer und greift seinen Rucksack. „Ich hab noch was“, ruft er. „Bier!“
„Dann reich mal rüber, Alter.“ Der Große reißt Jirko den Rucksack aus der Hand und langt hinein. Eine Dose reicht er Robin, eine zweite dessen Kumpel, und sich selbst schiebt er eine in den Hosenbund. Dann öffnet er die vierte und letzte mit einem lauten Zischen und trinkt sie in einem Zug halb leer. Grinsend wirft er Jirko den leeren Rucksack zurück.
Jirko kneift die Lippen zusammen, aber er sagt nichts.
Ich gebe ihm meine halb volle Dose. „Nett“, sage ich laut. „Echt nett, ej.“
Ida lacht. Der Große glotzt mich an.
„Was?“, fragt er.
Ich hebe die Stimme. „Echt nett von dir.“
Der Große trinkt gluckernd sein Bier aus. Dann knüllt er die Dose zusammen und schmeißt sie sich über die Schulter. „Wie meinst ’n das?“, fragt er lauernd.
„Nett, dass du das ganze Bier abgeräumt hast. Dazu hat mein Kumpel es ja auch mitgebracht“, sage ich und spüre, wie Dörthe neben mir zusammenzuckt.
Der Große starrt mich mit seinen komischen Augen an, dann lächelt er und zeigt dabei eine Menge schlecht gewarteter Zähne. „Richtig. Das siehst du völlig richtig, Kleine.“
„Na, dann is’ ja gut.“ Ich atme möglichst lautlos und möglichst tief ein.
Der Große starrt mich immer noch an. „Willst du Stunk, Kleine?“
„Nö“, sage ich. „Eigentlich nicht.“
„Dann ist es ja gut“, sagt der Große, und es ist, als ob alle zugleich ausatmen, Jirko, Dörthe und ich, und sogar Ida.
Normalerweise geh ich Auseinandersetzungen nie aus dem Weg. Wer mich nervt, muss damit rechnen, dass ich ihm eine verpasse.
Aber der Große ist kein geeigneter Gegner. Einfach zu groß. Und zu fies. Was immer er draufhaben mag, ich will’s gar nicht wissen.
Jirko zündet sich eine Fluppe an, Ida und Dörthe stecken die Köpfe zusammen und tuscheln, um dann gemeinsam zu kichern, und Robin und sein Kumpel saufen gemeinschaftlich Jirkos Bier aus. Robins Blick streift mich kurz. Er kann mich genauso wenig ab wie ich ihn, das ist nicht zu übersehen.
Der Große rülpst noch einmal. „Guck mal, Bongos“, sagt er plötzlich. Ich folge seinem Blick zur anderen Straßenseite, wo zwei Schwarze in Sportklamotten und Basecaps vorbeigehen. „He, Bongos!“, schreit der Große, und dann stellt er sich breitbeinig hin, schwenkt die Arme wie ein Gorilla hin und her und versucht ein Affengeheul.
Die beiden Schwarzen sehen sich verstohlen um und legen einen Zahn zu, aber das nützt nicht mehr viel. Ein paar von den anderen, die weiter hinten rumhängen, haben sie auch gesehen und fallen in das Geheule mit ein, und im nächsten Moment schallt ein ohrenbetäubendes Geschnatter und Geschrei durch die Straße. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Die beiden Schwarzen rennen fluchtartig los, und das Geschnatter und Geheule verwandelt sich in ein vielstimmiges, hässliches Lachen, als sie um die Ecke verschwunden sind. Ich beiße die Zähne zusammen. Manchmal frag ich mich wirklich, wie ich diese ganze Scheiße hier überhaupt aushalte. Und schon so lange ausgehalten habe.
„Haste gesehen, wie die gerannt sind? Wie die Hasen, ej“, grinst Robin und greift Ida übermütig an den Arsch. Ein richtig blöder Anfängerfehler, aber das merkt er nicht gleich. Ida lässt ihm das natürlich nicht durchgehen.
„Fass mich nicht an“, sagt sie rau und stößt ihn zurück. „Gib mir lieber ’ne Zichte.“
„Hab nur noch eine.“ Robin lächelt Ida breit an und hält seine brennende Zigarette so dicht vor ihr Gesicht, dass er ihr fast die Nase versengt. Ida zuckt zusammen, und im nächsten Moment ist ihr Lächeln wie weggewischt.
„Leck mich!“, zischt sie sauer. „Fick dich ins Knie, du Sack, du!“
Robin hört nicht auf sie. Unter dem beifälligen Gelächter seines Kumpels hält er Ida die Kippe erneut dicht vors Gesicht.
Ich bin nicht gerade der totale Ida-Fan, aber ich hab was dagegen, wie dieser Arsch sie behandelt. „Lass sie in Frieden, du Penner“, sage ich und rutsche von der Mauer. „Haste nicht gehört, was sie gesagt hat?“
Robin dreht sich schwankend zu mir um. Erst jetzt merke ich, dass er ganz schön besoffen ist. „Was willst du denn?“, knurrt er mich an. „Was bist ’n du überhaupt für eine, ej?“
„Kann dir doch egal sein“, sage ich. „Lass sie einfach in Frieden, okay?“
Jetzt lachen alle drei, Robin, sein Kumpel, der Große.
„Lass sie einfach in Frieden!“, äfft der Große mich nach. Ich hör gar nicht hin. Seine fiese Stimme gleitet genauso an mir ab wie Dörthes beruhigende Hand auf meinem Arm und das Funkeln in Idas Augen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Jirko die Hände zu Fäusten geballt hatte. Aber mit ihm ist nicht zu rechnen. Schon gar nicht, wenn er getrunken hat. Wenn Jirko säuft, wird er zum absoluten Weichei.
Mich dagegen macht Alk aggressiv. Auf Alk prügel ich mich. Oder mach sonst irgend’nen Scheiß. Einmal, mit dreizehn, hab ich meinen Ellenbogen in eine Fensterscheibe gedonnert. Einfach so, im Vorbeigehen, mit besoffenem Kopf. Die Narbe habe ich heute noch.
Die drei Saftsäcke lachen immer noch fies. „Zwitter“, sagt Robin gehässig und spuckt vor mir aus. „Gurkenzwitter.“ Und dann beginnt er zu schmatzen.
Ich denke gar nicht erst nach. Ich bin zwar nicht besoffen, aber trotzdem hol ich aus und hau ihm voll eine runter. Das Klatschen schallt laut durch die Luft.
Einen Moment lang starrt Robin mich verblüfft an, dann hebt er wie in Zeitlupe die Hand und hält sich die Wange. „Scheiße“, murmelt er. „Scheiße, die hat mir eine gescheuert!“ Erst jetzt macht er Anstalten, auf mich loszugehen, aber erstaunlicherweise hält der Große ihn zurück.
„Lass“, sagt er, „komm, lass. Ist doch nur ’ne dämliche Braut.“ Seine Augen glitzern gefährlich. Eine Hand drückt er auf Robins Brustkorb, die andere streckt er mir entgegen, die Handfläche auffordernd nach oben gedreht.
Ich weiß, was das bedeutet. Entweder ich mache die Biege, oder es gibt richtigen Stress.
Ich rutsche von der Mauer. „Leckt mich doch alle“, sage ich laut und geh los, an der ganzen Horde vorbei. Ich sehe niemanden an.
Und keiner hält mich zurück.
Diesmal nehme ich den Weg durch die Unterführung. Ich hab Magenschmerzen vor Wut, und meine Beine zittern. An der Bahnunterführung trete ich mit voller Wucht gegen das Fußgängerschild neben dem Eingang. Es scheppert gewaltig, und die Hälfte des Schildes knickt nach hinten ab. Ein alter Mann, der oben auf dem Gehweg seinen Hund zu einer mitternächtlichen Runde ausführt, sieht erschrocken zu mir herunter, aber ich werfe ihm nur einen wütenden Blick zu und laufe weiter.
Warum in aller Welt gebe ich mich nur immer wieder mit Ida und den anderen ab? Warum latsche ich mit in den Club, warum zieh ich mir den ganzen Scheiß überhaupt noch rein?
Ich weiß die Antwort natürlich selbst. Sie ist ja auch ganz einfach: Es gibt niemanden anders. Nicht in Groß Klein. Entweder hänge ich mit den anderen zusammen, oder ich bleibe allein.
Und ich bin zwar gerne allein, aber eben nicht immer.
In der Unterführung riecht es wie üblich nach Pisse. Ich leg einen Zahn zu und bin schon fast am Ausgang angelangt, als ich jemanden hinter mir höre. Alarmiert dreh ich mich um.
Aber es ist wieder nur Jirko, der auf mich zurennt. Jirko, mein Schatten. Sein leerer Rucksack baumelt ihm von der Schulter, und sein T-Shirt ist verrutscht.
Ich drehe mich wieder um und gehe weiter. Nach ein paar Schritten hat Jirko mich eingeholt.
„He, Jen“, keucht er, „das war voll krass, ej.“
„Was?“, frage ich grimmig und biege nach links ab, in Richtung Kai. Nach dem Mief in der Unterführung riecht die Luft hier draußen gleich doppelt so frisch.
„Na, wie du dem eine gescheuert hast.“ Jirko boxt in die Luft. „Wumm!“, sagt er begeistert und hickst. Er hat eindeutig einen im Kahn.
Ich stecke die Hände tief in meine Hosentaschen. In den Platten, die neben uns in den nächtlichen Himmel ragen, ist fast alles dunkel. Nur vereinzelt brennen noch Lichter, die meisten ganz oben. So ist das meistens: Nur oben brennt Licht. Eigentlich komisch.
„Echt der Hammer“, sagt Jirko zufrieden, und dann peilt er fragend zu mir rüber. „Wohin gehst ’n du? Wollen wir zum Kai?“
„Nee“, wehre ich ab, aber nur, weil er es vorgeschlagen hat. Heute Abend nervt er mich einfach. Seine Anhänglichkeit, sein dummes Gequatsche. Dass er mir ständig nachläuft.
„Zum Strand?“, fragt er. „Ej, lass uns doch zum Strand! Ich besorg noch ein paar Bier, und wir hauen uns in den Sand da, was hältste davon?“
„Nee“, blaffe ich ihn an. Die Idee ist mir zwar auch schon gekommen, aber jetzt will ich nicht mehr. Ich will gar nichts so richtig. Angewidert kicke ich eine zerknüllte Milchtüte aus dem Weg, und dann steuere ich den nächstbesten Grünstreifen am Straßenrand an und haue mich ins ungemähte Gras.
Jirko beugt sich vorsichtig runter und sucht den Grünstreifen ab. „Is hier auch keine Hundekacke?“
„Mann, Jirko, hab dich nicht so.“
Jirko zuckt mit den Schultern und pflanzt sich neben mich. „Komm, ich hol noch was Bier“, schlägt er vor.
„Nee, danke. Mir reicht’s“, sage ich und verschränke die Arme vor meinen Knien.
„Was willst ’n du jetzt machen?“, fragt Jirko und hickst wieder. Verlegen hält er sich die Hand vor den Mund.
„Erst mal einfach hier sitzen“, sage ich.
Jirko sieht mich an. Auf einmal verändert sich sein Gesichtsausdruck. Plötzlich wirkt er ernst, dann fängt er an zu lächeln, und noch während ich mich frage, was dieses seltsame Lächeln bedeuten mag, noch währenddessen streckt Jirko die Hand aus und legt sie auf meinen Arm. Verblüfft sehe ich zu, wie seine Finger sich auf meiner nackten Haut bewegen. Und erst nach einem Moment kapiere ich, was er da eigentlich macht.
Er streichelt mich.
Jirko, die Null, Jirko, mein ewiger Schatten, baggert mich an.
„Sag mal, was soll ’n das jetzt hier werden?“, frage ich.
Jirko hält einen Moment inne, dann fährt sein Finger noch weiter meinen Arm hinauf. „Jenny, du bist echt das hübscheste Mädchen weit und breit“, sagt er. „Ich find dich echt cool, weißt du das?“
Ich kann’s gar nicht glauben. Aber er scheint es tatsächlich ernst zu meinen, der Idiot. „Sag mal, tickst du noch richtig?“, frage ich langsam. „Spinnst du jetzt total?“
Jirko schüttelt den Kopf. Seine leicht hervorstehenden Augen glänzen, als hätte er Fieber. „Nö“, sagt er. „Nö, das mein ich wirklich, ej, Jen.“
Vielleicht ist es einfach der letzte Rest Wut von vorhin; vielleicht gilt der Schlag eigentlich gar nicht ihm, sondern Robin, dem Großen, vielleicht sogar Ida, aber es ist auch egal. Auf jeden Fall hat Jirko im nächsten Moment eine so fette Ohrfeige sitzen, dass der Knall von der Plattenwand widerhallt. Und dann bin ich auch schon auf den Füßen.
Ausnahmsweise kommt Jirko mir dieses Mal nicht hinterher.
Ist auch besser so. Wirklich.
Erst an der Ecke Groß-Kleiner Allee halte ich an. Die Straßen sind leer. Kein Auto fährt, niemand ist unterwegs. Ich sehe rüber zu unserem Würfel. Im dritten Stock links sind zwei Fenster erleuchtet. So spät noch Licht heißt, dass der Alte und meine Mutter noch feiern, und das spar ich mir lieber gleich.
Einen Moment lang überlege ich, doch noch zum Strand zu laufen, aber irgendwie ist mir die Lust dazu jetzt völlig vergangen.
Also zum Hafenbecken. Ich drehe mich um und gehe los. Der Himmel über mir ist dunkel bewölkt, der Mond ist nicht zu sehen, noch nicht mal ein einziger Stern. Lustlos trotte ich an der Grundschule mit ihrem hohen Zaun vorbei. Rechts und links tauchen die ersten verdorrten Grasbüschel auf, dann kommt die Brücke über den Kanal in Sicht. Erstaunt bleibe ich stehen.
Auf dem Brückengeländer sitzt jemand. Das Licht der letzten Straßenlampe reicht nicht ganz bis zu der Gestalt, aber ich erkenne sie trotzdem.
Ida. Die Gestalt da drüben ist Ida.
Einen Moment bewegt sich keine von uns. Dann geh ich zu ihr hinüber.
„Na endlich“, sagt Ida und gleitet vom Geländer herunter. „Mann, das hat ja gedauert!“
Ich bin immer noch so überrascht, dass ich kein Wort rausbringe. Dann kocht wieder die Wut in mir hoch. Immerhin hab ich Ida den Stress von vorhin zu verdanken.
„Kannste mir mal erklären, wieso du eigentlich immer so komische Typen anschleppst?“, fahre ich sie an.
Ida hebt eine Hand. „He, ganz cool bleiben, ja?“
„Was willst du überhaupt?“ Ich kann nicht cool bleiben. Jetzt nicht mehr. Nicht an diesem beschissenen Tag! „Wieso hockst du hier rum und bumst nicht mit Robin? Das wolltest du doch eigentlich, oder?“
„Im Moment nicht.“ Ida kommt näher. Ihr vertrautes Gesicht mit den langen Wimpern über den hellblauen Augen ist jetzt ganz dicht vor meinem. „Bleib doch mal cool“, sagt sie sanft.
Es ist wie ein Reflex: Ich stoße sie zurück, und Ida fasst nach meinem Arm und zieht mich zu sich heran, und im nächsten Moment sind wir auch schon in ein Gerangel verwickelt. Ida zerrt an meinen Klamotten, und ich versuche, sie von mir zu schubsen, aber es gelingt mir nicht richtig. Sie ist stärker, als ich gedacht hab. Und wehtun will ich ihr auch nicht.
Ida greift mit beiden Händen in den Kragen meines T-Shirts und bringt ihr Gesicht wieder dicht vor meines. Ihre Augen glitzern im Halbdunkel. „Ej, raffst du überhaupt gar nichts, oder was?“, zischt sie, und dann presst sie plötzlich ihre Lippen auf meine. Völlig überrumpelt weiche ich zurück und verliere den Halt, und wir stürzen zusammen die kleine Böschung runter auf die Wiese und kollern weiter, immer noch in unseren wilden Kampf verstrickt.
Ida?, denke ich verwundert, während ich sie von mir zu schieben versuche und sie mich gleichzeitig festhält. Ida, die keine Gelegenheit auslässt, mich zu provozieren, die mich oft genug zur Weißglut gebracht und zu Tode genervt hat?
Im nächsten Moment ist Idas Zunge in meinem Mund, ihre Hände schieben sich unter mein Hemd, und tausend Blitze zucken über meine Haut, den Rücken hoch und wieder hinunter, bis in meinen Bauch hinein und noch tiefer. Überrumpelt schnappe ich nach Luft. Ida leckt mir über die Wange.
„Na, überrascht?“, flüstert sie, und ihr Atem fährt in mein Ohr und von dort aus in Wellen durch meinen ganzen Körper. Ich fange an zu zittern, und um das Zittern zu beherrschen, umklammere ich Ida so fest, wie ich nur kann. Sie stößt die Luft aus und sieht mir einen Moment lang scharf ins Gesicht. „Na, zeig mir doch mal, wie stark du wirklich bist“, sagt sie leise.
Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass sie das Gleiche schon zigmal zu zig Typen gesagt hatte, in genau dieser Situation, aber jetzt, in diesem Moment, kümmert es mich nicht die Bohne.
Stattdessen macht es mich an. Und deshalb drehe ich Ida mit Schwung auf den Rücken, greife nach ihrem Top und ziehe es ihr mit einem Ruck über den Kopf.
Idas Brüste leuchten in der Dunkelheit. Ich habe sie schon oft gesehen, am Strand, wenn Ida sich umgezogen hat, in der Umkleidekabine beim Sport in der Schule. Sie sind verdammt hübsch, das hab ich schon immer gefunden.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich Idas Brüste sehe. Aber es ist das erste Mal, dass ich sie berühren werde.
Ida lacht mich herausfordernd an. „Na, was ist?“
Ich weiß zwar nicht recht, was hier jetzt gespielt wird. Aber kneifen werd ich bestimmt nicht.
Ich beuge mich vor. Gleichzeitig stemmt Ida sich hoch, und im nächsten Moment küssen wir uns.
Ida schmeckt gut. Und sie fühlt sich auch gut an.
Verdammt gut sogar.
Später liegen wir nebeneinander, immer noch schwer atmend. Der Himmel über uns hat aufgeklart, eine schmale Mondsichel hängt dort oben, und Sterne sind auch jede Menge zu sehen. Weit im Osten zieht schon die Dämmerung auf.
Ich trage noch meine Cargo und mein viel zu enges Unterhemd, aber Ida ist vollkommen nackt. Ihre feuchtschimmernde Haut glänzt im Mondlicht, als sie sich zu mir dreht.
„Haste mal ’ne Kippe für mich?“, fragt sie.
Ich hebe den Arsch an und hole eine plattgedrückte Zigarettenschachtel hervor. Ida lächelt, als ich ihr eine ziemlich mitgenommene Zigarette reiche und ihr Feuer gebe.
„Also stimmt’s doch“, sagt sie und stützt einen Ellenbogen auf.
„Was?“, frage ich. Meine Stimme klingt heiser. Und zittrig.
Und viel zu weich.
„Du bist ’ne Lesbe.“ Ida bläst einen langen Rauchstrahl in die Nachtluft und sieht ihm nachdenklich hinterher.
Einen Moment zögere ich. Aber ich habe einfach keine Lust, ihr irgendwas zu erklären. Schon gar nicht etwas, das für mich selbst schon zu schwierig zu verstehen ist. „Denk, was du willst“, sage ich, lege mich auf den Rücken und verschränke die Hände in meinem Nacken.
„Ich weiß das von Dörthe“, sagt Ida leise und beobachtet mein Gesicht.
Ich zucke mit den Schultern, soweit das im Liegen geht. Ida nimmt einen letzten Zug, dann wirft sie ihre Kippe in hohem Bogen davon und schmiegt sich an mich.
„Dein Unterhemd ist ja ganz schön eng“, flüstert sie in mein Ohr.
„Ich weiß“, sage ich, ohne mich zu rühren. Ida küsst meinen Hals. Ihre Lippen sind weich. Und sehr warm.
Aber mir ist plötzlich ganz kalt.
Gleich wird Ida aufstehen und gehen, und danach wird alles wie vorher sein und dann doch wieder nicht. Auf jeden Fall habe ich jetzt ein weiteres Geheimnis zu tragen, eine weitere Last. Wetten, Ida will, dass keiner davon erfährt?
Ein paar Herzschläge wartet Ida ab, dann rollt sie sich von mir weg und steht auf. Schweigend sehe ich zu, wie sie ihre Klamotten zusammensucht und sich anzieht. Schließlich kniet sie sich noch einmal neben mir hin. „Das bleibt ja wohl unter uns, klar?“, fragt sie und versenkt ihre hellblauen Augen in meine.
„Klar“, antworte ich ruhig. „Klar, keine Sorge.“
Ida sieht mich noch einen Moment an, dann küsst sie mich ein letztes Mal auf die Lippen und steht endgültig auf. „Kommst du nicht mit?“, fragt sie, und ich kann ein winziges Zögern in ihrer Stimme hören. Und irgendwie bin ich froh darüber.
„Nein“, sage ich. „Nein. Ich bleibe noch hier.“
„Also dann. Schlaf gut, wo auch immer.“ Ida zieht ihr Top gerade, winkt mir zu und verschwindet in der Dunkelheit. Ein paar Augenblicke später höre ich ihre Stimme vom Ende der Wiese.
„Jenny?“, ruft sie zu mir herüber. „Das war übrigens echt ziemlich heiß!“
„Ja“, flüstere ich. „Fand ich auch. Echt ziemlich heiß.“
