Bis ich sie finde - Karen-Susan Fessel - E-Book

Bis ich sie finde E-Book

Karen-Susan Fessel

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Beschreibung

Als Uma die blonden Haare und markanten Züge der Schwedin Jane zum ersten Mal erblickt, weiß sie, daß diese Frau etwas in ihr berührt, was sie ihr ganzes Leben lang beschäftigen wird. Jane ist kühl und unnahbar, und sie erschüttert Uma, den Frauenschwarm, in ihren Grundfesten. Uma will etwas, vielleicht alles von Jane, aber Jane weist Uma unmißverständlich zurück. Jane ist anders, besonders. Jane war früher ein Mann. Uma geht zurück nach Berlin, arbeitet als Schuhmacherin beim städtischen Theater und steht im Mittelpunkt von Freunden, Künstlern und Lebenskünstlern. Und sie lebt zusammen mit ihrer Freundin Marianne und ihren beiden Kindern Lucie und Hugo. Aber da ist Jane, die Uma nicht vergessen kann. Wie der rote Wüstenstaub und die eisigen Schneekörner, die auf ihrer Haut brennen, so die Erinnerungen an eine Liebe, die aller Vernunft trotzt. Uma kann nicht anders, auch wenn der Schmerz sie schier zerreißt: Sie sucht Jane, die ihren eigenen Weg geht, und findet eine Antwort. Bis ich sie finde ist die Geschichte einer scheinbar unmöglichen großen Liebe, einer Liebe, die zehn Jahre und 50.000 Kilometer überbrücken und der Hitze des australischen Outbacks wie der Kälte des lappländischen Winters standhalten muß.

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Seitenzahl: 647

Veröffentlichungsjahr: 2002

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Bis ich sie finde ist ein Roman. Das bedeutet, daß Handlung und Personen erfunden sind. Die Örtlichkeiten hingegen entsprechen weitgehend der Wirklichkeit.

© Querverlag GmbH, Berlin 2002

Erste Auflage Februar 2002

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Max Galli

ISBN 3-89656-544-0

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

http://www.querverlag.de

Teil I

Alice Springs, August 1992

Woran ich mich am besten erinnere, das ist der Staub. Roter Staub, überall, in der Luft, sirrend und schwebend. Roter Staub, der das Atmen schwermachte, der sich in dichten Schwaden über die Kühlerhaube legte, zur Windschutzscheibe hinaufkroch und hinter uns aufstob, in einer Wolke aus gebrochenem, rötlich funkelndem Licht, das die gleißende Sonne verdeckte. Staub und Sand, nichts als Staub und Sand um uns herum. Und das Pfeifen des Windes, das unablässige Pfeifen des Windes auf unserem Weg durch die Wüste.

Kate fuhr. Eva saß auf der anderen Seite, und ich in der Mitte, eingeklemmt zwischen Kates knochiger Hüfte und Evas fleischigem Schenkel. Wir waren seit eineinhalb Stunden unterwegs, zuerst auf einer gut ausgebauten Asphaltstraße, dann auf einer holprigen Schotterpiste. Vor einer Weile hatten wir Berge gesehen, eine langgestreckte Bergkette, die sich weit entfernt parallel zur Sandpiste entlangzog, bis sie sich gen Boden senkte und schließlich darin verschwand. Seitdem war nur noch Wüste um uns herum, endlose Wüste. Und Staub, der die Frontscheibe hochkroch und die Sicht versperrte.

„Shit!“ sagte Kate und schaltete die Scheibenwischer ein. Träge kratzten die rissigen Gummis über die Scheibe und hinterließen halbkreisförmige Streifen, die der Fahrtwind im nächsten Moment davonblies.

Zufrieden beugte Kate sich nach vorn. Ihre ausladenden Brüste in der engangliegenden Bluse streiften das Lenkrad. Für einen Moment sah ich die winzige Schweißspur in ihrem Dekolleté aufglänzen, und dann Kates katzenähn­liche Augen, die mich von der Seite musterten.

„Nicht schlecht, was?“ sagte sie in ihrem kehligen Englisch.

Ich mußte lächeln. Kates Augen verengten sich.

„Wann immer du willst, Cowboy. Du mußt nur zugreifen“, raunte sie.

Der Wagen donnerte über ein Schlagloch, und die Schwerkraft zog uns für einen Moment aus unseren Sitzen und drückte uns dann wieder zurück. Eva an meiner anderen Seite schrie erschrocken auf.

„Keine Angst, honey.“ Kate bleckte die Zähne. Der Wagen schlitterte schräg über die Schotterpiste. Mit einem häß­lichen Knirschen spritzten Kieselsteine hoch und knallten gegen die Karosserie. Dann griffen die Räder wieder. „Four-wheel drive, hon. Da passiert so schnell nichts.“

„Four-wheel drive?“ Evas Stimme zitterte leicht.

„Allradantrieb“, erklärte ich.

„Natürlich“, sagte Eva gehässig. „Du weißt mal wieder bestens Bescheid.“

Kate sah kurz zu ihr hinüber, dann gab sie Vollgas. Der Wagen schoß vorwärts, direkt auf ein kleines, sandfarbenes Tier zu, das gerade über die Piste setzte. Lässig ließ Kate das Lenkrad nach rechts und wieder zurück gleiten, und das Tier huschte dicht vorm linken Kotflügel vorbei und zwischen zwei verdorrten, kniehohen Sträuchern davon.

„Ups! Das war knapp!“ Kate lachte vergnügt und zwinkerte mir zu.

Eva atmete hörbar aus.

„Warte nur, bis wir auf die Sandpiste kommen, Schätzchen“, sagte Kate gleichmütig und schaltete einen Gang herunter. „Dann wird es erst richtig lustig.“

Eva preßte die Lippen zusammen und starrte angestrengt in die endlose Weite. Sie und Kate waren wie Katz und Hund. Das war vom ersten Moment an so gewesen, von dem Moment an, als Kate sich im Doppio’s über den Tresen gebeugt und grinsend einen ihrer langen Finger in Evas fleischigen Arm gebohrt hatte. „Soso, und du kommst aus Deutschland und willst der armen alten Sue auf die Nerven gehen, ja? Hast dir über tausend Ecken ihre Adresse besorgt und gedacht, in Alice Springs ist ja sowieso nichts los, die freuen sich, wenn ich da ankomm, ja? Bring ich gleich noch ’ne Freundin mit, die Aussies sind doch so gastfreundlich, stimmt’s?“ Dann hatte sie ihr toupiertes Blondhaar in den Nacken geworfen und schallend gelacht, in diesem rauhen, schrill und zugleich dröhnenden Timbre, und Eva hatte stumm und verbiestert Kates auf und ab hüpfenden Adamsapfel betrachtet. Eva verstand nicht viel Spaß, und sie verstand erst recht keinen Spaß, wenn er mit der Wahrheit jonglierte. Und genau das war Kates Spezialität.

Vor uns verengte sich die Fahrbahn, und Kate trat auf die Bremse. Die Schotterpiste ging in einen unbefestigten Sandweg über, der sich vor uns in der Ferne verlor. Langsam zockelten wir über ein Schlagloch und gleich darauf ein weiteres, und Kate lehnte sich lässig nach hinten und schob einen Arm hinter mir auf die Rücklehne.

„There you go!“ sagte sie befriedigt und gab wieder Gas. Das Lenkrad vibrierte zwischen ihren langen Fingern. „Reise nach Santa Teresa, Teil drei.“

Bei der Erwähnung unseres Reiseziels vergaß Eva ihre Ressentiments. „Hach, ist das spannend! Ein Aborigines-Reservat zu besuchen, zu dem Weiße eigentlich keinen Zutritt haben!“

„Eine Community“, korrigierte Kate. „Nicht Reservat, sondern Community. Ein selbstverwaltetes Gebiet.“

Eva winkte unwirsch ab. „Jaja. Und wir sind wirklich die einzigen Weißen da?“ fragte sie aufgeregt.

„Nein. Liesl ist auch da“, erwiderte Kate trocken. „Und Jane.“

„Jane?“ Seit Eva und ich nach Alice Springs gekommen waren, war von vielen Frauen die Rede gewesen. Aber diesen Namen hatte ich noch nicht gehört.

Kate warf mir einen kurzen Blick zu. „Ganz genau. Jane“, sagte sie und hob die Brauen. Das Sonnenlicht warf glitzernde Reflexe auf ihr blondiertes Haar.

„Wer ist Jane?“

„Jane ist Jane. Jane ist special.“

Eva, ungeduldig wie immer, lenkte uns ab. „Aber sonst dürfen da nur Weiße hin, die mit den Aborigines arbeiten, oder? So Leute wie Liesl?“

Liesl, Sues Mitbewohnerin, arbeitete als Kunsttherapeutin in einem Art-Center für Aborigine-Frauen in Santa Teresa und hatte uns auf einen kurzen Besuch dorthin eingeladen – eine seltene Ehre. Eva hatte sich kaum mehr eingekriegt vor Begeisterung; mir dagegen war Santa Teresa lange nicht so wichtig wie die Aussicht, einen Ausflug mit Kate zu unternehmen, die angeboten hatte, uns hinzufahren.

„Leute, die sich der armen Eingeborenen annehmen, richtig“, sagte Kate und trat wieder energisch aufs Gas. „Die sollten mal lieber mich studieren. Ich bin schließlich auch ein besonders seltenes Exemplar, oder, Cowboy?“

Eva, unempfänglich für Kates Spitzfindigkeiten, sah nach­denklich vor sich hin. „Hoffentlich wirken wir nicht zu touristisch“, sinnierte sie.

„Ach?“ fragte Kate und umkurvte gekonnt ein riesiges Schlagloch. „Und du meinst, du bist keine Touristin? Klar bist du eine. Du bist doch genauso wie all die anderen. Nur daß du nicht mit Schlapphut, rotem Gesicht und ohne Wasserflasche Uluru raufkletterst.“

„Ula was?“

„Uluru. Ayers Rock. Dieser dicke, rote Haufen, den irgendein Supergott vor Millionen von Jahren mitten in die Wüste geschissen hat.“ Kate verdrehte die Augen, und ich unterdrückte mühsam ein Grinsen.

„Also wirklich, Kate, das ist ja geschmacklos“, sagte Eva schockiert und sah konsterniert aus dem Seitenfenster. Ihre rundlichen Wangen erzitterten, als der Wagen holpernd über ein paar kleine Gesteinsbrocken setzte.

„Du bist vielleicht anders angezogen“, nahm Kate das ursprüngliche Thema wieder auf und gab ruckartig Vollgas, und Eva klammerte sich an den Türgriff, als der Wagen kurz­zeitig auf der höckerigen Fahrbahn ins Schleudern geriet. „Und du hast keine Dauerwelle wie die anderen Touristinnen hier, aber an sich bist du genauso. Du bist ja sogar hetero.“ Sie zog das Wort in die Länge, und vor meinem inneren Auge sah ich die Silben sich dehnen und dann wieder zusammenschnellen, als Kate den letzten Vokal ausspie.

Eva sah jetzt stur geradeaus, ihr Mund ein weißer Strich.

Kate warf ihr einen lauernden Blick zu. „Ui!“ sagte sie, so laut, daß Eva erschrocken zusammenzuckte. „Hab ich dich etwa verletzt, hon? Das tuuuut mir aber leid!“

„Ich kann ja auch nichts dafür, daß ich hetero bin“, sagte Eva wütend. „Ich komme mir ja schon völlig …“ Sie suchte krampfhaft nach dem richtigen Wort. „Völlig unnormal vor.“

Kate warf mir ein verschmitztes Grinsen zu. „Verkehrte Welt, was, darling?“ sagte sie zu Eva und wich erneut elegant einem Schlagloch aus. „Müßte doch eigentlich andersrum sein, oder?“ Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte vergnügt. Dann trat sie aufs Gas. „Hey-yoh! Santa Teresa, wir kommen!“

Eva kniff wieder die Lippen zusammen. Den Rest der Fahrt schwieg sie verbissen.

Alice Springs war die Endstation von Evas und meiner gemeinsamen Reise, und ich hatte den Verdacht, daß es auch die Endstation unserer ohnehin nicht sonderlich intensiven Freundschaft sein würde. Über Sydney und Canberra waren wir nach Alice Springs gekommen und von Sue, deren Adresse sich Eva bereits in Berlin auf Umwegen besorgt hatte, mit offenen Armen empfangen worden.

Sue entpuppte sich als quirlige Anthropologin, und, was mir sehr gelegen kam, als zentrales Bindeglied einer schier unüberschaubaren Gruppe von zumeist lesbischen Frauen aller Nationalitäten, die Alice Springs aus den unterschiedlichsten Gründen bevölkerten. Die meisten von ihnen waren in der Tat gastfreundlich und sehr interessiert an neuen Bekanntschaften, und binnen weniger Tage wurden Eva und ich von Einladungen zu Partys, Essen und Ausflügen überhäuft. Eva hatte sich irritiert an Liesl gehängt, eine der wenigen Heterofrauen weit und breit, während ich mich mit Wonne ins gesellige Leben stürzte. Am liebsten hing ich im Doppio’s herum, einem Hippie-Restaurant, und sah amüsiert zu, wie Kate volle Tabletts durch den Raum balancierte und schwungvoll vor den hungrigen Gästen absetzte, nicht ohne mir verschwörerisch zuzublinzeln.

Wir hatten uns auf Anhieb gemocht. Als Sue uns am ersten Abend zu Doppio’s geführt hatte, um uns wie zwei Trophäen ihren zahlreichen Freundinnen zu präsentieren, hatte sich Kate zielstrebig einen Weg durch die dichtgedrängt stehenden Tische und Stühle gebahnt und war vor mir stehengeblieben. Mit einem theatralischen Seufzen hatte sie mir tief in die Augen gesehen. „Auf dich habe ich mein Leben lang gewartet, Cowboy! Ich liebe dunkelhaarige Butches!“ Ihr breiter amerikanischer Slang war einfach köstlich. Ich mußte lachen, und Kate grinste erfreut. Dann hatte sie sich zu Eva gedreht und ihren langen Finger gehoben, und ich sah das verräterische Glitzern in ihren Augen und Evas abweisende Miene und ahnte, was kommen würde. Und so war es dann ja auch gekommen.

Das war vier Tage her. Eva und ich hatten noch eine Woche vor uns, eine Woche in Alice Springs, bevor wir nach Deutschland zurückfliegen mußten. An diesem heißen Nachmittag in der staubigen Wüste erschien mir diese eine Woche noch unendlich lang, so unendlich lang wie die sandige Piste, die sich schnurgerade vor uns erstreckte und weit in der Ferne von Sand und Staub verschluckt wurde, bevor sie den Horizont erreichte. Aber ich irrte mich. Kurz darauf begann die verbleibende Zeit immer schneller und schneller in sich zusammenzuschnurren, wurde knapper und knapper und sollte am Ende nicht reichen. Doch das wußte ich noch nicht, als Kate sich plötzlich vorbeugte und angestrengt durch die Windschutzscheibe spähte.

„Darf ich vorstellen – Santa Teresa.“ Sie zeigte nach vorn, wo ich nach einem Moment eine schemenhafte Kulisse entdeckte, die sich wie eine Fata Morgana allmählich aus dem rötlichen Staub herausschälte. Ich erkannte den undeut­lichen Umriß einer halbverfallenen Hütte und, weiter hinten, ein größeres Gebäude, das in der staubigen Luft zu flimmern schien.

„Da! Ich seh was!“ rief Eva triumphierend und setzte sich kerzengerade hin. Aufgeregt sah sie nach rechts und links.

Wir kamen an einem ausgeschlachteten Autowrack vorbei und passierten die Hütte und ein paar weitere ärmliche Behausungen, die still im diesigen Sonnenlicht lagen. Von den Wänden blätterte der Putz ab, und zerfetzte Jalousien waren schief über die schmutzstarrenden Fenster gezogen, hinter denen sich nichts regte. Als ich zur Seite blickte, sah ich in der Ferne einen alten Mann, der gebückt davonschlurfte, mit hängenden Armen, eine Wollmütze bis über beide Ohren gezogen. Am Straßenrand lag ein gelblicher Hund, flach ausgestreckt, mit aufmerksam erhobenem Kopf. Ein Ohr stand ab, das andere hing ausgefranst zur Seite. Aus schmalen Augen starrte er uns nach, als wir vorbeirollten. Meine Nackenhaare stellten sich auf.

„Dingo?“ fragte ich.

„Bingo“, sagte Kate.

Ein verdreckter weißer Toyota stand auf dem Vorplatz des großen Gebäudes, das wir von weitem gesehen hatten. Kate parkte mit einer rasanten Drehung daneben ein, zog ruckartig die Handbremse an und sprang aus dem Wagen. Noch während Eva die Beifahrertür aufstieß, war Kate bereits die Treppe zur Veranda hinaufgestürmt.

„Juhu!“ schrie sie fröhlich. „Niemand da? Wir sind’s! Wo steckt ihr denn alle?“

Während Eva eilig hinter ihr her die Treppe hinauf­hastete, steckte ich die Hände in die Hosentaschen und sah an der Fassade des Women’s Art Centers hoch. Das Gebäude war offensichtlich erst vor kurzem frisch geweißt worden, und das Dach, anstatt wie in dieser Gegend sonst üblich, nicht mit Wellblech gedeckt, sondern mit roten Schindeln, die in der Sonne glänzten. An die rechte Seite des Hauptgebäudes schloß sich ein langgezogener niedriger Wohnblock mit einem knappen Dutzend Wohnungen an. Die überdachten Eingänge waren von jeweils zwei Fenstern flankiert. Nur eine der Wohnungen wirkte bewohnt. Hinter halbwegs sauberen Fenstern konnte ich einen nachlässig gestapelten Bücherhaufen erkennen.

„Uma!“

Ich drehte mich um. Kate beugte sich über die Veranda­brüstung und winkte mir zu.

„Komm schon! Du sollst doch was sehen für dein Geld!“

„Hab doch gar nichts bezahlt“, brummte ich, während ich die Treppe hochstieg.

„Kommt noch“, sagte Kate, die oben auf mich wartete. „Irgendwie bezahlt man immer. Für alles.“ Ihr Gesicht lag halb im Schatten, und als ich zu ihr aufsah, wirkte sie andro­gyner denn je. Und mehr noch: Für einen Moment verwischten sich ihre Züge; ich konnte sie nicht mehr richtig erkennen. In diesem Moment hätte sie alles sein können: Frau, Mann, halb Mensch, halb – Gott, dachte ich und spürte, wie ein Schauder mich durchfuhr. Dann war es wieder vorbei. Kate lächelte mich an.

„Komm schon, sugar“, sagte sie weich. „Das mußt du gesehen haben.“

Irgendwo in der Nähe heulte ein Hund, ein einsames, trostloses Geräusch. Kate legte mir den Arm um die Schulter und zog mich mit sich durch die offenstehende Tür, hinein in ein ruhiges Halbdunkel.

Zuerst sah ich Eva, die sich mit großen Augen über eine langgestreckte Theke beugte, auf der zahlreiche Kunstgegenstände ausgestellt waren. Handbemalte Töpfe und Becher lagerten neben bunten Hemden und Tüchern, alle in der unverwechselbaren Tupftechnik der Aborigines gestaltet. Auch die Bilder an der Wand zeigten denselben, naiv und doch kunstfertig zugleich wirkenden Stil. Ich sah Schlangen und Känguruhs und Beuteltiere mit seltsamen Namen wie Wallabys und Tasmanische Teufel; ich sah bunte Muster und in sich verschlungene Formen, und als ich mich leicht umdrehte, sah ich auch Liesl, die an der Stirnseite des Raumes stand und mir lächelnd zunickte. Ich nickte zurück, und dann, erst dann, fiel mein Blick auf die Frauen, die vor ihr um einen überdimensionalen runden Tisch herum saßen. Es waren sechs oder sieben, große, kräftige Aborigines-Frauen mit dunklen, alterslosen Gesichtern. Jede hatte ein halbfertiges oder gerade erst angefangenes Bild vor sich liegen und eine Art Pinsel in der Hand, aber keine von ihnen rührte sich. Reglos wie Statuen saßen sie da und blickten zu Kate und mir herüber.

„Hallo“, sagte ich, und meine Stimme verlor sich im dichten Schweigen der Frauen, einem Schweigen, so tief wie ein dunkler, undurchdringlicher Wald. Kates Arm um meine Schultern zuckte, und auf einmal war ich dankbar für die Wärme, die er in meinen Nacken ausstrahlte. Ich fröstelte, und um das Frösteln zu verscheuchen, nickte ich den Frauen zu, aber sie reagierten nicht. Mit steinernen Gesichtern sahen sie mich an, Gesichtern, auf denen sich keine Regung abzeichnete, geschweige denn ein Lächeln. Es waren Gesichter, an denen ich rein gar nichts ablesen konnte, kein Erkennen, kein Verstehen, keine Ablehnung, nichts. Ich hätte nicht im geringsten sagen können, was in diesen Frauen wohl vorging, nichts an ihnen vermochte ich einzuschätzen, nicht einmal ihr Alter; für mein Gefühl hätten sie Jahrmillionen alt sein können.

Evas laute Stimme durchbrach das Schweigen. „Was kostet denn dieses Tuch hier?“ rief sie, hob ein buntes Stück Stoff in die Höhe und wedelte damit herum.

„Ich komme, Eva“, sagte Liesl und dann, zu mir gewandt, „schau dich nur um, Uma, du kannst dir ruhig alles ansehen. Die Frauen stört das nicht. Stimmt’s, Cindy?“

Die Frau, die direkt vor ihr saß, eine große, massige Frau mit dichtem, an den Schläfen ergrautem Haarschopf, sah mich ein paar weitere lange Sekunden unbewegt an, dann senkte sie den Kopf und tupfte langsam mit dem Pinsel auf die Leinwand. Nach einem Moment folgten die anderen ihrem Beispiel, und kurz darauf war die bleierne Stille einer ruhigen Betriebsamkeit gewichen.

„Los“, sagte Kate, nahm den Arm von meinen Schultern und klatschte mir auf den Hintern. „Zier dich nicht. Guck dich um, so was siehst du nie wieder.“

Jetzt, wo die Aufmerksamkeit von mir genommen war, entspannte ich mich ein wenig, aber nicht sehr. Unsicher ging ich auf den Tisch zu. Keine der Frauen sah auf, als ich näherkam und vorsichtig hinter ihnen vorbeischlenderte, während Evas und Liesls Stimmen zu mir herüberdrangen.

Erstaunt sah ich, daß es sich bei den Malgeräten, die ich aus der Ferne für Pinsel gehalten hatte, um eine Art Tintenroller handelte, die mit der Spitze voran aufs Papier gedrückt wurden und dabei Farbpunkte hinterließen. In den breiten Fingern der Frauen wirkten sie wie futuristische Spielzeuge, und als ich mich ein wenig vorbeugte und entdeckte, daß die Farbpunkte wie gepinselte Öltupfer aussahen, empfand ich eine vage Enttäuschung. Ich mußte an all die Touristen denken, die sich in den vielen Souvenir­läden um diese handgefertigten Arbeiten rissen; hier saßen diese Frauen und tupften in unendlicher Langsamkeit wie beiläufig Punkt um Punkt aufs Papier, mit modernen Stiften, wie ein Betrug kam es mir vor. Aber natürlich, es war Handarbeit, und doch auch wieder nicht. Ich wußte selbst nicht, was ich davon halten, und noch weniger, was ich von meinen eigenen Gedanken dazu halten sollte.

Plötzlich spürte ich, daß eine der Frauen, vielleicht ein wenig jünger als die anderen, langsam den Kopf hob und mich ansah. Sofort fühlte ich mich unbehaglich. Während ich ihrem reglosen Blick auswich und mich schnell aufrichtete, errötete ich. Noch nie zuvor war ich fremdartigeren Menschen begegnet. Und obwohl ich nicht viel gestikuliere und mich eher ruhig bewege, kam ich mir hysterisch und hektisch vor in ihrer Gegenwart.

Plötzlich stand Eva neben mir, ihr rundliches Gesicht vor Aufregung gerötet. „Toll, oder? Total genial! Und die haben alle eine tiefere Bedeutung, die Bilder, meint Liesl.“ Sie beugte sich vor und grinste breit in die Runde, während sie mit einem ihrer dicklichen Finger auf eins der Bilder zeigte. „Super!“ rief sie auf Englisch, so laut, als wären die schweigenden Frauen allesamt schwerhörig. „Ganz prima! Diese Farben! Und was bedeutet das hier? Ist das eine Ei­dech­se oder was?“

Peinlich berührt wandte ich mich ab und schlenderte zum offenen Fenster hinüber, das auf den Vorplatz hinausging. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Eva fortfuhr, mit schriller Stimme zu jubeln und zu loben, während ich die verlassen wirkende Ansammlung von Hütten betrachtete. Dahinter, in der Ferne, sah ich eine Bewegung in der vor Hitze flimmernden Luft. Nach einem Moment erkannte ich, daß es ein Fahrzeug war, das rasch näherkam und eine Staubwolke hinter sich herzog. Kurz darauf hörte ich Motorengeknatter, unverkennbar von einem Motorrad.

Kate lehnte sich neben mich. Ihre Schulter berührte meine, als sie sich auf den Ellbogen aufstützte. Gemeinsam beobachteten wir, wie das Motorrad näherkam, in einer schwungvollen Kurve auf den staubigen Vorplatz fuhr und hielt. Roter Staub wirbelte auf und hüllte für einen Moment alles in ein unwirkliches rötliches Licht, aus dem sich schließlich eine schemenhafte, hochaufgeschossene Gestalt abzeichnete, die steifbeinig vom Motorrad stieg, sich den Helm abnahm und den Kopf schüttelte. Langes, blondes Haar wirbelte durch die staubgeschwängerte Luft.

Kate gluckste leise. „Jane“, sagte sie zufrieden.

Jane stand einen Moment da, den Helm in der Hand, die langen Beine fest in den sandigen Boden gestemmt, und sah ruhig in die Ferne, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich sah ihr Profil an, die hohe Stirn, die ausgeprägten Wangenknochen und das kantige Kinn, und auf einmal spürte ich mein Herz schlagen, heftig und pochend.

Feiner Staub sank herab und legte sich auf meine Lippen, als ich den Mund öffnete. Jane, wiederholte ich leise und spürte dem Klang ihres Namens nach. Jane. Und ich schmeckte den Staub auf meinen Lippen, für immer und ewig mit ihr verbunden.

Jane. Heute noch ist sie der Staub in der Luft, der sich auf meine Lippen legt, in meine Lungen stiehlt und mich begleitet. Roter Staub, wohin ich auch gehe.

Plötzlich drehte sie den Kopf und blickte zu Kate und mir hoch, und wir sahen uns direkt in die Augen.

Es war, als ob ich in einen Blitz gesehen hätte. Ich schloß die Augen, kniff sie zusammen und machte sie wieder auf. Janes Blick lag immer noch auf mir. Im gleißenden Licht stand sie da und sah zu mir hoch, ihr blondes Haar glitzernd im stetigen Strahlen der Sonne, leicht schimmernd, rötlich vom Staub.

„Hey, Janie-Baby!“ schrie Kate vergnügt.

Statt einer Antwort hob Jane bloß die Brauen und begann sich den Staub von ihrer Jeans und der alten Lederjacke zu klopfen.

„Ich hab dir was mitgebracht“, rief Kate zu ihr hinunter und legte mir den Arm um die Schultern. „’ne richtig klasse Butch, ganz frisch aus Deutschland, hat noch keine hier abgekriegt! Was sagst du dazu!“

Ein schmales Lächeln war auf Janes Lippen, als sie wieder zu uns aufsah. Einen Moment begegneten sich unsere Blicke. Ich versuchte ein Nicken, aber es gelang mir nicht recht. Dann war ihr Lächeln fort.

„Ach, komm schon, Janie. Sag, daß du dich freust!“ kreischte Kate. „So ein richtig leckerer Sonntagsbraten, hmm!“

„Kate, laß doch mal“, murmelte ich verlegen, und Kates Kopf fuhr herum. Ihre grünen Augen blitzten mich an. „Was denn, was denn? Auf einmal so schüchtern? Was ist denn los mit meinem Cowboy?“

„Kate“, sagte Liesl beschwörend hinter uns. „Bitte, sei ein wenig leiser, ja? Die Frauen … Würdest du bitte …“

Im Halbschatten hinter ihr sah ich Eva, die immer noch am Tisch stand und tadelnd den Kopf schüttelte.

Kate drehte sich um und musterte die unbewegten, dunklen Gesichter der Frauen, die zu uns herübersahen. Sie grinste, hob eine Hand und knickte sie affektiert ab, wobei sie den kleinen Finger nach oben abspreizte. „Okay, girls! Bin schon fast wieder weg. Komm, Uma!“ Und während sie sich vom Fensterbrett abstieß und mich am Ärmel mit sich zerrte, schrie sie über die Schulter nach draußen: „Juhu, Janie, warte auf uns! Wir kommen!“

Dankbar ließ ich mich mitzerren. An der Tür warf ich einen letzten Blick zum Tisch hinüber. Die Frauen sahen jetzt schweigend zu Eva auf, die wieder angefangen hatte, auf sie einzureden, scheinbar völlig unberührt von der mangelnden Reaktion. Nur die Jüngste von ihnen blickte zu mir hinüber. Unter ihrem echsenhaften Blick spürte ich plötzlich ganz deutlich, daß nicht sie fremdartig waren. Ich selbst war es; ich war hier fremd. Ich gehörte nicht hierher, genausowenig wie Eva und Kate und letztendlich auch Liesl. Wir waren Eindringlinge in der Welt dieser Frauen, Eindringlinge, die nur vorgaben, sich anzupassen – Liesl mit ihrer verständnisvollen Art, Eva mit ihrer vorgeblichen Unbefangenheit und ich mit meiner Zurückhaltung. Nur Kate, laut und schrill, war ehrlich und benahm sich unmöglich wie immer.

„Wiedersehen“, sagte ich und räusperte mich, und dann zog Kate mich auch schon durch die Tür.

Von Jane war nichts mehr zu sehen, als wir auf den Vorplatz traten. Aber eine der Türen im Wohnblock neben dem Art-Center stand offen, und Kate griff nach meiner Hand und steuerte zielstrebig darauf zu. Es war die Wohnung mit dem unordentlichen Bücherstapel im Fenster, der mir vorhin aufgefallen war.

„Janie-Baby!“ brüllte sie und zog mich hinter sich her. „Setz schon mal den Kaffee auf, wir kommen!“

Plötzlich hatte ich ein enges Gefühl in der Kehle. „Kate“, sagte ich und stemmte die Hacken fest in den staubigen Boden. „He, Kate, warte mal.“

„Was ist denn?“ Sie blieb stehen und drehte sich erstaunt zu mir um. „Was ist los? Du hast doch nicht etwa Angst? Jane beißt nicht, echt nicht.“ Sie zog ihre säuberlich in Form gezupften Augenbrauen so hoch, daß sie unter ihren struppigen Stirnfransen verschwanden.

„Unsinn“, sagte ich unwirsch, verärgert darüber, daß sie mein Sträuben auf Anhieb richtig interpretiert hatte. „Es ist nur – dein Haar sitzt nicht so richtig.“ Das stimmte sogar. Kates kunstvoll toupierte Mähne stand an der linken Seite wirr vom Kopf ab.

„Ach ja. Gone with the wind.“ Kate griff sich mit beiden Händen ins Haar und zupfte es halbwegs in Form. Ihre grünen Augen funkelten belustigt. „Gut so, Cowboy? Können wir dann?“

„Gut so. Wir können“, sagte ich und gab mir einen Ruck.

Das Reihenhaus bestand aus einem einzigen, spartanisch eingerichteten Zimmer, das sich im hinteren Teil zu einer Kochnische verengte. Dort, mit dem Rücken zu uns, stand Jane und hielt ein Glas unter den laufenden Wasserhahn.

„Ihr wollt doch sowieso keinen Kaffee“, sagte sie, ohne sich zu uns umzudrehen. „Niemand will Kaffee bei dieser Hitze.“

Der Klang ihrer Stimme versetzte mir einen Stich. Sie war rauh, als hätte sich der ewige Wüstensand in ihrer Kehle festgesetzt, und zugleich sprach Jane in einem weichen, ungewöhnlich melodischen Tonfall, mit einem Akzent, den ich nicht einzuordnen wußte. Ich betrachtete ihren kleinen, festen Hintern, die schmalen Hüften und ihre langen Beine mit den sehnigen Oberschenkelmuskeln, die sich unter der zerschlissenen Jeans abzeichneten, als sie das Gewicht verlagerte, und dann sah ich weg. Mit einem schnellen Blick registrierte ich das ungemachte Bett an der Längsseite des Raums, die wenigen Kleidungsstücke in dem schlichten Holzregal daneben und den Tisch vorm Fenster, auf dem Bücher und Papiere kreuz und quer durcheinander lagen.

„Was hast du denn dann anzubieten? Und komm mir nicht mit Leitungswasser, Schätzchen.“ Kate hatte sich neben Jane an die Spüle gelehnt und winkte mir, näherzukommen. Aber ich blieb, wo ich war, dicht bei der Tür. „Bei den ganzen uralten Bleirohren hier, das ist doch die reinste Vergiftung!“

Jane lachte leise, und bei dem Geräusch wurde mir noch wärmer, als mir ohnehin schon war. „Als wenn es darauf noch ankommt, sweetheart. Bei dem Zeug, was wir schlucken.“ Sie drehte sich halb zu Kate um. Die beiden waren gleich groß, ein gutes Stück größer als ich. Dann schwang sich Jane ganz herum und sah zu mir herüber. Ihre Augen waren blau, so hellblau, daß sie fast grau wirkten. Sie nickte mir kaum merklich zu, auf eine ernste, seltsam förmliche Art, und verlegen nickte ich zurück.

„Ich habe nichts anzubieten außer Wasser. Möchtest du?“

Ich wollte antworten, aber mein Mund war plötzlich ganz trocken. Wieder nickte ich.

„Spielverderberin“, brummte Kate, riß die Kühlschranktür auf und spähte neugierig hinein.

Janes kühler Blick lag immer noch auf mir. Ihre Miene war ebenso undurchdringlich wie die der Aborigines-Frauen oben im Art-Center. Vielleicht macht das die Wüste, dachte ich, während ich befangen die Schultern hochzog und mich im gleichen Moment für diese verräterische Geste verwünschte. Vielleicht versteinert hier das Mienenspiel, wenn man länger bleibt. Vielleicht verlernt man hier unweigerlich das Lächeln.

„Ha!“ rief Kate. „Wußte ich’s doch! Du hast doch noch Cola!“ Triumphierend zog sie eine halbleere Colaflasche aus den Tiefen des Kühlschranks, und Jane sah sie ruhig an.

„Die steht da seit mindestens vier Wochen. Ich glaube nicht, daß noch Kohlensäure drin ist, aber bitte, bedien dich.“ Lässig griff sie hinter sich ins Regal, nahm zwei Gläser heraus, von denen sie eins Kate reichte. Das andere füllte sie mit Leitungswasser und hielt es mir wortlos entgegen.

Jetzt konnte ich nicht anders, ich mußte mich von der Stelle bewegen. Auf staksigen Beinen durchquerte ich den Raum. Meine Hand zitterte, als ich Jane das Glas abnahm. Kate beobachtete mich belustigt.

„Sie kann reden, Jane, ehrlich. Sie kann sogar englisch, und das richtig gut“, sagte sie zu Jane. „Ich weiß nicht, was mit meinem Cowboy jetzt los ist. Aber normalerweise sprüht sie nur so vor Charme. Die Frauen in Alice liegen ihr allesamt längst zu Füßen, das kannst du mir glauben.“

„Ich glaube es dir“, sagte Jane nüchtern. Wieder flog ihr kühler, hellblauer Blick über mich hinweg. Ich stürzte das Wasser hinunter und verschluckte mich fast.

„Kann ich mal … äh, kann ich …?“ Vielleicht kamen die Worte so ungeschickt aus mir heraus, weil Kate soeben meine Sprachkenntnisse gelobt hatte. Auf jeden Fall kam ich nicht weiter, aber Jane verstand mich auch so. Sie deutete mit dem Kinn nach rechts, wo eine schmale, offenstehende Tür in ein winziges Badezimmer führte, und ich flüchtete hinein und zog die Tür hinter mir zu. Dunstiges Licht fiel durch ein kleines Fenster und beleuchtete eine schäbige Duschkabine, eine Toilette ohne Deckel und ein zerkratztes, aber sauber geputztes Waschbecken, über dem ein schmales Regal angebracht war. Vorsichtig setzte ich mich auf die Toilettenbrille und preßte eine Hand fest auf mein heftig klopfendes Herz.

Ich wußte nicht, was genau an Jane mich derart aus der Fassung brachte. Ich wußte nur, daß es so war. Während ich verstört die Kosmetika und die Medikamentenfläschchen über dem Waschbecken betrachtete – wie im Rest der Wohnung herrschte auf dem Regal eine ziemliche Unordnung –, lauschte ich Janes und Kates dunklen Stimmen, die gedämpft durch die Tür zu mir hereindrangen. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten, aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, daß ich meine Haltung wiedergewann.

Ich klopfte mir auf die Wangen, schüttelte den Kopf und ließ mir ein paar Sekunden lang Wasser über die Hände rinnen, das trübe und lauwarm aus dem Hahn tröpfelte. Dann drückte ich auf die Toilettenspülung und straffte die Schultern. Im Spiegel sah ich für einen Moment mein Ebenbild. Seit ich in Australien war, hatte ich ein paar Pfund abgenommen, aber das stand mir nicht schlecht. Mein Gesicht wirkte schmaler, und die Schatten unter den Augen paßten gut zu meinen nach hinten gestrichenen dunklen Haaren und gaben mir einen verwegenen Anstrich, wie ich fand. Jetzt mußte ich mich nur noch entsprechend verhalten. Ich holte tief Luft und öffnete die Tür.

Jane stand immer noch an die Spüle gelehnt da, aber Kate war verschwunden.

Verunsichert machte ich ein paar Schritte und blieb dann einfach stehen. „Wo ist denn Kate?“ fragte ich und versuchte, beiläufig zu klingen. Jane trank einen Schluck Wasser und betrachtete mich über den Rand ihres Glases hinweg.

„Sie sieht sich mein Motorrad kurz an. Der Motor stottert.“

„Ich wußte gar nicht, daß sie sich mit Motorrädern auskennt“, sagte ich und fand gleich darauf, daß das allzu vertraulich klang. Immerhin kannte ich Kate erst seit drei Tagen.

Jane schwieg. Sie stellte ihr Glas ab, verschränkte die Arme vor der Brust und sah an mir vorbei aus der offenstehenden Tür.

Ich steckte die Hände tief in die Taschen meiner Jeans und zog die Schultern hoch. „Wohnst du allein hier? Ich meine, hier in dem Wohnblock?“

Jane sah mich kurz an, dann blickte sie wieder zur Tür. „Ja“, sagte sie knapp.

„Und du arbeitest hier?“

„Ja“, sagte sie wieder.

„Als was?“

Diesmal blieb ihr Blick ein wenig länger auf mir haften. „Ich bin Soziologin.“

Das sagte mir nicht sonderlich viel. Trotzdem nickte ich lässig, so als wüßte ich bestens über ihr Fachgebiet Bescheid. „Und da arbeitest du also hier mit Aborigines.“

Sie nickte. Ich sah sie auffordernd an, aber sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie vor, dem noch etwas hinzuzufügen. Ganz im Gegenteil, sie wirkte vollkommen desinteressiert. Als wäre ich ein Möbelstück, das man ihr kurz ins Zimmer gestellt hatte, um es gleich wieder abzuholen.

Auf einmal wurde ich wütend. Ihre Art, mich zu behandeln, verletzte meinen Stolz. Sie konnte mir doch wohl eine Frage stellen, irgendeine, wenn schon nicht aus Interesse, dann zumindest aus Höflichkeit.

Aber sie tat es nicht. Gleichgültig, ohne mich weiter zu beachten, stand sie mit vor der Brust verschränkten Armen da und sah an mir vorbei aus der Tür in die staubgeschwängerte Hitze hinaus.

„Und du wohnst hier allein?“ fragte ich, und die Frage kam aggressiver heraus, als ich beabsichtigt hatte. Aber es wirkte. Jane drehte den Kopf und sah mich an. Ich hatte den Eindruck, daß sie lächelte, ganz leicht nur, und nur für einen Moment, und Hitze stieg in mir auf, ob vor Wut oder Erregung, konnte ich selbst nicht entscheiden.

„Stimmt genau“, sagte Jane in ihrem weichen Tonfall und sah mir direkt in die Augen. Ich fühlte mich wie paralysiert, und das Schlimmste war, daß Jane das ganz genau zu wissen schien. Hilflos hing ich in ihrem hellblauen Blick fest. Ein Strom begann zwischen uns zu fließen, aber Jane schnitt ihn ab, indem sie abrupt wegsah.

„Entschuldige mich“, sagte sie und stieß sich von der Spüle ab. „Ich hab noch was zu erledigen.“ Und dann ging sie einfach hinaus. Als sie an mir vorbeikam, stieg mir ihr Duft in die Nase, ein Duft nach Hitze und Staub und etwas Mildem, Leichtem, Unbekanntem. Ihr Duft. Dann war Jane fort, und mit ihr dieser Duft.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf und schloß für einen Moment die Augen, um mich zu besinnen. Als ich sie wieder öffnete, stand Kate in der Tür und grinste mich an.

„Na, Cowboy, hat sie dich stehengelassen wie bestellt und nicht abgeholt?“

„Ganz genau.“ Unmutig drängte ich mich an ihr vorbei. Das helle Licht draußen blendete mich, und ich blinzelte in die schräg stehende Sonne. Kate lachte hinter mir. „So ist sie eben. Hab dir doch gesagt – Jane ist special.“

„Allerdings“, sagte ich. Verstohlen sah ich mich um, aber Jane war nirgends zu entdecken.

„Tja, die siehst du so schnell nicht wieder“, sagte Kate. „Wenn Jane erst mal weg ist, taucht sie so schnell nicht wieder auf.“

„Du scheinst sie ja ziemlich gut zu kennen.“

„Oh ja!“ sagte Kate zufrieden. „Immerhin sind wir vom gleichen Stamm.“

Ich kam nicht dazu, sie zu fragen, wie sie das meinte, denn in diesem Moment schritten Liesl und Eva die Treppe vom Center hinunter und direkt auf uns zu. Eva hatte sich ihr neuerworbenes Seidentuch um den Hals gewunden, hielt ein zusammengerolltes Bild in der Hand und sah aus wie einem Touristenprospekt entsprungen.

„Sieh da, unsere Anti-Touristin!“ sagte Kate hinter mir, und dann, laut, zu den beiden: „Kann’s wieder losgehen?“

Mit leuchtenden Augen schwenkte Eva das Bild. „Toll war das, oder? Also echt irre, die Frauen. So eine Ausstrahlung!“ Ihre feisten Wangen waren vor Aufregung gerötet, und obwohl ich mich mehr denn je fragte, was in aller Welt mich eigentlich dazu gebracht hatte, ausgerechnet mit ihr zu verreisen, fand ich sie plötzlich herzerfrischend natürlich und naiv.

„Ja“, sagte ich, „wirklich toll.“

Eva strahlte entzückt, und Kate klatschte mit einem süffisanten Grinsen in die Hände. „Auf geht’s. Ich muß schließlich noch arbeiten. Also Liesl, bleibt es dabei? Morgen Essen bei dir und Sue?“

„Ja“, sagte Liesl mit ihrer sanften Stimme und streckte mir die Hand hin. „War schön, daß ihr da wart.“ Sie starrte mir intensiv in die Augen, wie es so ihre Art war, und ich drückte ihre schlaffe Hand und ließ sie schnell wieder los.

„Danke für die Einladung. Und – grüß Jane noch mal von mir. Richte ihr meinen herzlichen Dank für das Wasser aus, ja?“

„Mach ich, natürlich“, sagte Liesl verständnisvoll.

Kate grinste breit. „Wenn du schon dabei bist, dann sag Jane gleich noch, daß ihr Vergaser neu eingestellt werden muß. Sie soll am Donnerstag, wenn sie in der Stadt ist, an der Tankstelle vorbeifahren.“

Und dann sah sie mich verschwörerisch an. „Donnerstag!“ flötete sie mit gespitzten Lippen. „Dohonnerstag, hast du gehört?“

„Ja doch“, sagte ich grimmig. „Ich hab es gehört, Kate.“

„Dohohonnerstag!“ trillerte Kate und tänzelte in Richtung Auto davon. Beim Anblick ihrer durch die Gegend wedelnden langen Gliedmaßen konnte ich einfach nicht anders; ich mußte lachen.

Eva und Liesl sahen sich verwundert an, dann zuckte Eva mit den Schultern und seufzte. „Also, ihr beide – ich weiß nicht. Ihr seid irgendwie komisch. Euch muß man auch erst mal verstehen.“

„Ach, weißt du, das muß man vielleicht auch gar nicht“, sagte ich und lächelte sie versöhnlich an. „Das muß man auch gar nicht.“

Als wir losfuhren, sah ich mich noch einmal um. Von Jane war weit und breit nichts zu sehen. Das Dorf lag still und schweigend in der schwächer werdenden Sonne. Das einzige, was sich bewegte, war Liesl, die neben Janes Motorrad stand und uns zum Abschied nachwinkte. Als wir die letzte Hütte passierten, trat Kate voll aufs Gas und schaltete hoch. Roter Staub wirbelte hinter uns auf und verdeckte mir die Sicht, und ich drehte mich wieder nach vorne.

„Hey-yoh!“ brüllte Kate und beugte sich vor. „Here we go! Alice, wir kommen!“

Als ich am nächsten Nachmittag im Doppio’s auftauchte, fegte Kate gerade mit vier Tellern in jeder Hand mitten durch die vollbesetzten Tischreihen.

„Hi, Cowboy! Ich komm gleich zu dir! Kannst dich schon mal ausziehen!“ rief sie anzüglich und warf mir einen Kußmund zu. Ich schob mich in die Bank an der Kopfseite des Tresens und bestellte eine Cola bei Lisa, die dabei war, die dampfende Geschirrspülmaschine auszuräumen. Ohne inne­zuhalten, nahm sie mit einer Hand eine Büchse aus dem Kühlfach und ließ sie quer über den Tresen zu mir hinüberschlittern, während sie mit der anderen Hand weiter Gläser ins Regal stellte.

„Prost!“ sagte sie in akzentfreiem Deutsch und sah mich erwartungsvoll an. Ihr rundes, trotz der geschlitzten Augen eher orientalisch wirkendes Gesicht mit dem kleinen, perfekt geschminkten Schmollmund verzog sich zu einem stolzen Lächeln, als ich anerkennend den Daumen hob. Dann rief einer der thailändischen Köche aus der Durchreiche nach ihr, und Lisa trippelte eilig hinüber. Ihr kleiner Hintern wippte bei jedem Schritt, und ihr dunkles, glattes Haar schwang in einer Welle herum, als sie sich kurz nach mir umsah. Ich riß die Büchse auf und trank einen Schluck eiskalte Cola. Dann legte ich erschöpft das Kinn auf die verschränkten Arme und sah mich um.

Das Doppio’s war eines der beliebtesten Restaurants in Alice Springs, zumindest bei jungen Leuten und den zahlreichen Esoterikern, die die Stadt bevölkerten. Das Essen, hauptsächlich asiatische Kost, war gut und billig, die Bedienung flott und geschickt und der Umgangston locker, wenn auch für manch zartbesaitete Seelen sicher gewöhnungsbedürftig. Selbst hier, auf der anderen Seite des Raumes, war Kates forsche Stimme deutlich zu hören.

„Nummer 36, Laksa mit Shrimps, drei Dollar vierzig, Nummer 49, Chicken Curry, vier Dollar sechzig, macht zusammen acht. Mit ordentlich Trinkgeld sind’s zehn. Komm schon, honey, rück raus damit, meine Fans stehen schon Schlange dahinten.“

Belustigt sah ich zu, wie der Gast, ein rotgesichtiger Rucksackreisender in Aborigines-Hemd und Birkenstock-Latschen, in seinem Lederbeutel kramte und Kate schließlich ein paar Scheine in die fordernd ausgestreckte Hand drückte.

„Danke, Schätzchen! Und guten Appetit, die Herrschaften!“ brüllte sie, nahm ihr Tablett und eilte zum nächsten Tisch. Nachdem sie auch dort abkassiert hatte, kam sie mit langen Schritten auf mich zu und stieß mir ihren spitzen Ellbogen in die Seite.

„Rutsch mal ein Stück, darling. Oder soll ich auf deinen Schoß? Das geht aber nicht, ich hab heut kein Höschen an.“ Ich rutschte ein Stück, und Kate ließ sich aufatmend neben mich fallen. „Puh!“ stöhnte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Warum die Leute immer soviel essen müssen, ist mir ein Rätsel. Kommen hierher, gaffen alles und jeden an, als ob es hier sonst was zu sehen gäbe, fressen sich die Wampe voll und hauen wieder ab. Wenn sie wenigstens hübsch aussehen würden!“ Angewidert be­trachtete sie drei verschwitzte junge Männer am Nachbartisch, die gierig gewaltige Currygerichte in sich hineinschaufelten. Dann sah sie mich an, und ihre grünen Augen verengten sich herausfordernd. „Na ja, aber dafür hab ich jetzt ja dich. Wie geht es dir denn heute? Was hast du so getrieben?“

„Och“, sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Bin nur ein bißchen rumgelaufen und hab gegafft. Gab aber nicht viel zu sehen, wenn ich ehrlich bin.“

Kate guckte verdutzt, dann fing sie an zu grinsen. „Uh, sieh an, ein richtiger Schlaumeier hier!“ grölte sie und schlug mir mit ihrer großen Hand aufs Knie. Als ich zusammenzuckte, schlug sie gleich noch einmal zu. „’tschuldigung“, sagte sie mit heuchlerischem Augenaufschlag. „Manchmal gehen mit mir einfach die Kräfte durch. Kommt von früher, weißt du, da kann ich nichts gegen machen. Das ist einfach der Mann in mir, der seinen Tribut fordert, verstehst du.“ Sie winkte Lisa, die soeben in der Küchentür erschienen war, einen dampfenden Teller in der Hand. „He, Lisa! Ich mach jetzt mal Pause. Zehn Minuten, okay?“

Lisa nickte, drehte sich zur Küche und rief in scharfem Befehlston etwas auf thailändisch. Kurz darauf kam ein schmaler, asiatisch aussehender Junge herausgeschossen, nahm ihr den Teller ab und eilte damit zu einem der Tische.

Kate griff nach der Wasserflasche, die Lisa ihr hingeschoben hatte, und nahm einen großen Schluck. Dann drehte sie sich wieder zu mir. „Und, was treibt unsere Anti-Touristin?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist vielleicht mit Sue unterwegs.“ Ich hatte Eva den ganzen Tag über nicht gesehen und, wenn ich ehrlich war, auch nicht vermißt. Wir kannten uns zwar schon lange, waren aber nicht sonderlich eng befreundet und hatten uns zu der gemeinsamen Reise eher aus praktischen Gründen als aus gegenseitiger Zuneigung entschlossen. Es war kein Fehler gewesen, es hatte einfach gepaßt; aber dennoch – nach dreieinhalb Wochen waren wir beide froh über jede Minute, die wir ohne die andere verbrachten.

„Keine große Liebe zwischen euch beiden, nicht wahr?“ erkundigte sich Kate neugierig.

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete Lisa, die geschäftig verschiedene Getränke eingoß und auf einem Tablett bereitstellte. Als sie merkte, daß ich sie ansah, warf sie mir ein kurzes, strahlendes Lächeln zu und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.

„Gefällt sie dir?“ fragte Kate lauernd und trommelte gleichzeitig mit ihren langen Fingern auf den Tresen, so daß ich nicht umhin konnte zu grinsen.

„Ich mag sie“, sagte ich amüsiert. „Und du?“

„Lisa? Oh nein, honey, das wäre doch Inzest!“ sagte Kate lachend und schüttelte so vehement den Kopf, daß ihre blonden Haare mir ins Gesicht flogen. „Lisa und ich, wir sind doch Schwestern.“

„Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“

„In Washington D.C. Stell dir vor, uns hat der gleiche Doktor umgepolt. Doc Bernhardt mit den flinken Fingern und dem scharfen Skalpell. Unser aller Übervater, der Mösenmacher für alle armen, verunstalteten Ich-möchte-so-gern-eine-Frau-sein-bitte-helfen-Sie-mir, die schon anderswo irgendwelchen Stümpern unters Messer geraten sind.“ Kate lachte, aber in ihren Augen war Bitterkeit. „So was schweißt zusammen.“

Ich versuchte mir einen Moment eine jüngere Kate und eine jüngere Lisa vorzustellen, mit männlichen Körpern und Gesten, aber es gelang mir nicht richtig. Nur ihre Augen konnte ich sehen, Kates grüne, hell blitzende und Lisas dunkle, brennende Augen, und die Angst darin, versteckt hinter aufgezwungener Härte. Im Laufe der Jahre waren aus dieser Angst Mißtrauen und Sarkasmus geworden.

„Daddy Doc Bernhardt hat uns zu Schwestern gemacht, Lisa und mich“, sagte Kate neben mir. „Wir mußten uns eine neue Familie suchen. Weißt du, hon, jeder braucht eine Familie. Meine ist Lisa.“

Ich nickte; ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Kate schob eine Hand auf mein Knie und sah mich schräg von der Seite an. „Nur nicht trübsinnig werden, Schätzchen. Jedenfalls stehe ich nicht auf kleine asiatische Bräute, sondern auf dunkelhaarige, gutaussehende Butches. Nach solchen bin ich richtig verrückt.“ Bei den letzten Worten ließ sie ihre Stimme in einen tiefen Bariton absinken und kniff mich zärtlich ins Knie. „Und du stehst auf große Blonde, nicht wahr?“

Ich lächelte, aber als ich ihren bohrenden Blick sah, begriff ich, daß sie nicht sich selber gemeint hatte. Schlagartig wurde mir heiß. Hastig nahm ich einen Schluck von meiner Cola, aber Kate ließ mich nicht aus den Augen.

„Große Blonde“, insistierte sie.

Ich nickte vage und sah unbeteiligt über die Tischreihen hinweg.

„Große Blonde mit Motorrädern.“

„Ach, das muß nicht unbedingt sein. Und wenn, dann reicht eins“, sagte ich.

Kate kniff mich so fest ins Knie, daß es weh tat.

„Okay, okay“, sagte ich und hob ergeben die Hände. „Ich geb’s zu.“

„Große blonde Transen mit Motorrädern“, sagte Kate und lächelte triumphierend.

„Was?“ Ich starrte sie an. Mir war plötzlich ganz schummerig.

„Wie, was?“ Kates Lächeln fiel in sich zusammen, und sie ließ mein Knie los. „Oh, Baby, sorry – ich dachte, du weißt das.“

Ich trank meine Cola aus und setzte die leere Büchse mit einem harten Knall auf dem Tresen ab. Lisa sah mit hochgezogenen Brauen zu mir herüber, und ich versuchte ein Lächeln, das mir nicht richtig gelang. Bei Lisa hatte ich es gemerkt, zwar erst auf den zweiten Blick, aber trotzdem, ich hatte es gemerkt. Bei Kate hatte ich es sofort gesehen. Wieso nicht bei Jane? Wieso hatte mich Kate erst drauf stoßen müssen? Und warum, verdammt, hatte sie mich überhaupt drauf gestoßen?

Kate seufzte gequält, und ich sah sie an. Plötzlich sah ich die Ähnlichkeiten zwischen ihr und Jane: den hochaufgeschossenen Körper, die großen, kräftigen Hände, die sehnigen Muskeln. Es paßte; alles paßte zusammen. Vom gleichen Stamm – das war es also. Janes lange Beine fielen mir ein, ihr fester, kleiner Hintern, die sehnigen Oberschenkelmuskeln, die sich unter ihrer Jeans abgezeichnet hatten, als sie das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert hatte.

Jetzt war ich es, die seufzte. „Also, Jane ist also auch …“

„Genau, Cowboy. Sie ist! Genauso wie ich und wie Lisa. Das gleiche Kaliber. Nur etwas … feiner. Irgendwie gelungener.“ Kate kicherte, und ihr scharfes Gesicht mit der großen Nase verzog sich zu einer amüsierten Grimasse. Dann wurde sie wieder ernst und sah mich aufmerksam von der Seite an. „Und nun?“

„Nichts“, sagte ich und bedeutete Lisa, mir noch eine Cola zu bringen. „Es ist nur – ich bin ein bißchen verwirrt. Weil ich nicht von selbst drauf gekommen bin.“

„Tja, weißt du, ehrlich gesagt, das ist doch das Beste an der ganzen Sache“, sagte Kate und grinste traurig.

Nach einem Moment begriff ich: Ihr würde das niemals passieren. Kates Vergangenheit war nicht zu verbergen. Sie trug sie sichtbar mit sich herum.

Als Lisa mit meiner Cola kam, beugte Kate sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lisa nickte lächelnd, griff ziel­sicher drei Schnapsgläser hinter sich aus dem Regal, zog eine Flasche unter der Theke hervor und schenkte uns ein.

„Prost!“ sagte sie stolz.

Bis zum Essen bei Sue und Liesl war es noch ein wenig hin, und so schlenderte ich in der rasch einsetzenden Dämmerung gemächlich durch die Innenstadt, nachdem ich das Doppio’s verlassen hatte. Die Hitze des Tages war bereits abgeflaut, und nach den Stunden in der klimaanlagengekühlten Luft des Restaurants spürte ich die wohlige Wärme draußen angenehm auf meiner Haut. In den reißbrettförmig angeordneten Einkaufsstraßen mit den vielen kleinen Geschäften und Cafés liefen zahlreiche Touristen herum, in der Überzahl jüngere Leute mit langen Haaren, bunten Klamotten und staunenden Augen. Alice Springs’ Ruf als magischer Ort zog hauptsächlich Esoterik-Fans an, die mit Ehrfurcht im Blick lächelnd umherliefen und zu erwarten schienen, daß sich an jeder Ecke spirituelle oder gar göttliche Kräfte in Gestalt eines Wunders offenbarten, sofern man nur genau genug hinsah.

Ich zweifelte nicht daran, daß Alice Springs tatsächlich ein magischer Ort war – schon als ich aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte ich diese ganz besondere, eigenartig gespannte Atmosphäre gespürt, die genauso unverrückbar über dem Land lag wie das unglaublich strahlende Licht und die reine Luft –, aber Wunder hatte ich noch keine gesehen. Es sei denn, man bezeichnete die Anwesenheit der einheimischen Aborigines als Wunder, und insgeheim neigte ich längst zu dieser Ansicht. Nach jahrhundertelanger Verfolgung waren sie immer noch da, trotz allmählich voranschreitender Zerstörung ihres Lebensraumes und der epidemischen Verbreitung von Alkoholismus und Krankheiten, gegen die ihr Immunsystem nicht im geringsten gerüstet war. Immer noch waren sie da, lebten in einigermaßen stabilen Familien- und Stammesverbänden und setzten sogar Kinder in diese ihnen so feindlich gesonnene Welt.

Vom gleichen Stamm – ich sah Janes Gesicht vor mir, während ich langsam die Straße entlangging, ihr klares Gesicht mit den scharfen Zügen, ihre hellblauen Augen, ihren ernsten, reglosen Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte eine andere Jane vor mir auf, der Mensch, der sie einmal gewesen sein mochte, eine verschwommene Erinnerung an ein jungenhaftes Lächeln und die Unbeholfenheit langer Beine. Dann verschwand dieses Bild, und ich sah wieder Janes Augen vor mir. Hellblaue Augen, kühl wie eine plötzliche Brise am offenen Meer, die einen zittern läßt.

Ich merkte, daß ich die Hände in meinen Hosentaschen zu Fäusten geballt hatte. Langsam entspannte ich meine Finger und bog von der Parsons Street zum ausgetrockneten Flußbett des Todd River ein, das sich mitten durch die Stadt zog. In der Zwischenzeit war es fast vollständig dunkel geworden. Ein paar mächtige Eukalyptusbäume streckten vom Flußbett ihr weitverzweigtes Geäst in den nachtblauen Himmel, an dem unzählige Sterne leuchteten.

Als ich meinen Blick wieder nach unten gleiten ließ, bemerkte ich eine Bewegung im Flußbett, ein Stück weit von mir entfernt. Ich blieb stehen und sah angestrengt in das Dunkel zwischen den Bäumen. Nach einem Moment konnte ich ein paar Schemen ausmachen, schattenhafte Gestalten, die sich langsam bewegten. Dann loderte eine Flamme auf; ein Feuer wurde entzündet, das flackernd verlosch und gleich darauf wieder hell aufflammte. Jetzt sah ich noch mehr Gestalten, einige hockten im Kreis, andere standen still da, unbeweglich zwischen den Bäumen. Es waren Aborigines-Männer, die sich im Flußbett versammelten, um dort gemeinschaftlich zu saufen. Sue hatte mir davon erzählt. Ich hörte das Knistern des Feuers bis zu mir her­über, als die Flammen hoch aufzüngelten. Eine tiefe Stimme rief etwas, gleich darauf begann einer der Männer zu singen, ruhige, düstere Töne, die mir einen Schauder den Rücken hinunterjagten. Der Gesang brach ab, und ein rauhes Lachen schwebte durch die Dunkelheit.

Unvermittelt mußte ich an meinen Vater denken, an seinen hager gewordenen Körper und sein knochiges Gesicht. Als junger Mann hatte er gut ausgesehen, freundlich und offen, mit klaren blauen Augen, die er Markus und mir vererbt hatte. Aber in den letzten Jahren, seit das Alter seinen früher so geradegereckten, langen Körper unerbittlich nach unten zog, hatte das Gesicht meines Vaters zusehends einen mürrischen Ausdruck angenommen. Ich sah ihn vor mir, wie er brummend durch die Zimmer seiner Wohnung ging und aus dem Wohnzimmerfenster in den Wald hinunterstarrte, der sich dunkel und dicht unterhalb des Hanges ausbreitete und in der Ferne mit dem düsteren Herbsthimmel verschmolz. Mein Vater war Förster gewesen, der Wald dort unten über Jahrzehnte hinweg sein Reich. Davon geblieben waren ihm nur mehr der Anblick und der alte, rheumatische Dackel, der den größten Teil des Tages in seinem Lieblingssessel verschlief. Der Wald war das Land meines Vaters gewesen, so wie die Wüste das Land dieser Männer im Flußbett war, die ich jetzt aus sicherem Abstand betrachtete. Ich stand mit verschränkten Armen da, sah zu ihren dunklen Schatten hinüber und fragte mich, wann ich meinen Vater das letzte Mal hatte lachen sehen.

Und dann dachte ich wieder an Jane, die mit diesen fremden Menschen dort drüben zusammenlebte, weit draußen in der Wüste, in einer schäbigen Baracke, durch deren Ritzen der allgegenwärtige Staub drang. Warum? Was bewog sie dazu?

Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Direkt über mir leuchtete das Kreuz des Südens. Ich spürte deutlich, wie allein ich war. Es fühlte sich gut an, richtig gut. Für einen Moment schloß ich die Augen, dann setzte ich mich in Bewegung. Langsam wurde es Zeit.

Als Jane am nächsten Nachmittag endlich mit ihrer Yamaha in die Auffahrt zur Tankstelle einbog, hatte ich schon über eine Stunde unter dem schattenspendenden Eukalyptusbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehockt. Ein alter Aborigine, der eben vorbeischlurfte, wandte den Kopf und betrachtete mich ausdruckslos, als ich mich hastig hinter den Stamm zurückzog, dann trottete er weiter. Mit klopfendem Herzen beobachtete ich, wie Jane von ihrem Motorrad stieg, den Helm abnahm und ihre langen Haare schüttelte, bevor sie mit weit ausholenden Schritten auf die Tankstelle zuging. Ich wartete ab, bis sie im Innern verschwunden war. Dann schlenderte ich hinüber.

Jane hob nur eine Augenbraue, als sie zurückkam und mich entdeckte. Aber ich sah das winzige Zucken um ihren Mund.

„Hi“, sagte ich und legte eine Hand auf den Motorradsattel. „Ich kam gerade vorbei und hab gedacht, die Maschine kenn ich doch irgendwoher.“

Jane nickte. „Gutes Gedächtnis. Hallo.“ Sie griff an mir vorbei nach dem Lenker und bedeutete mir mit einer knappen Drehung des Kopfes, aus dem Weg zu gehen. „Entschuldige“, sagte sie über die Schulter hinweg, klappte den Ständer hoch und begann das Motorrad in Richtung der Werkstatt zu schieben, die in einem kleinen Verschlag neben der Tankstelle untergebracht war. Lässig ging ich neben ihr her.

„Ist was kaputt?“

Jane wandte den Kopf und sah mich an. „Der Vergaser ist nicht in Ordnung. Aber ich denke, das weißt du, oder nicht?“

Sie hatte mich durchschaut, na gut. Doch so leicht gab ich nicht auf.

„Ach, richtig, Kate hat so was erwähnt“, sagte ich achselzuckend. Jane sah mich noch einen Moment an, dann schob sie das Motorrad kopfschüttelnd in die Werkstatt hinein, stellte es ab und besprach sich kurz mit einem jungen Mann in ölverschmiertem Overall, der sie für meinen Geschmack ziemlich aufdringlich anstarrte. Ich konnte sehen, wie er anerkennend Janes Hintern musterte, als sie wieder herauskam.

„Du bist ja immer noch da.“ Sie blinzelte gegen die Sonne an, und als ihre hellblauen Augen sich auf mich richteten, konnte ich für einen Moment kaum atmen. Erst jetzt, aus der Nähe, sah ich, wie lang ihre fein geschwungenen Wimpern waren. Feiner Staub schien auf ihnen zu liegen, rötlicher Staub, Staub aus der Wüste.

„Na ja, ich dachte“, sagte ich, als ich mich wieder gefangen hatte, „ich dachte, ich könnte dich zu einem Kaffee einladen.“ Ich versuchte ein charmantes Lächeln, das sie glatt zu übersehen schien.

„Wer will denn schon Kaffee bei dieser Hitze?“

„Niemand“, sagte ich und grinste verlegen. „Natürlich, niemand will Kaffee. Aber vielleicht eine Cola?“

Jane zog eine Sonnenbrille aus ihrer Brusttasche, setzte sie auf und sah mich wieder an. Statt ihrer Augen sah ich jetzt mein monströs verzerrtes Gesicht in ihren verspiegelten Gläsern, und plötzlich mußte ich lachen.

Janes Miene blieb unbewegt. Sie wartete, bis ich mich beruhigt hatte, was nicht lange dauerte. „Na gut“, sagte sie dann. „Okay. Gehen wir was trinken.“

Schweigend gingen wir einen Block nebeneinander her zum Zella’s. Jane hob überrascht die Brauen, als ich ihr die Tür aufhielt.

„Nicht ins Doppio’s?“ erkundigte sie sich, und wieder hatte ich den Eindruck, daß sie mich genau durchschaute. In der Tat hatte Kate mir das Zella’s empfohlen, weil es eines der wenigen Cafés in Alice ohne Restaurantbetrieb war und von daher etwas ruhiger zu sein versprach.

„Obwohl ich ja liebend gerne zusehen würde, wenn ihr zwei Königskinder euch begegnet“, hatte Kate mit treuherzigem Augenaufschlag geflötet. „Aber nun ja, ich will dem jungen Glück nicht im Wege stehen.“ Ich hatte ihr einen Vogel gezeigt, aber natürlich war ich ihr äußerst verbunden. Schließlich hatte ich es ihr zu verdanken, daß ich wußte, wo und wann Jane auftauchen würde.

Das Zella’s lag ein wenig versteckt in einer Seitenstraße mit Blick auf den ausgetrockneten Todd River. Es war tatsächlich bei weitem nicht so überfüllt wie die anderen Cafés in Alice. Ein paar erschöpfte Touristenpärchen saßen vor ihren Getränken und starrten schweigend aufs Flußbett hinaus, und hinterm Tresen hockte ein übergewichtiger Jüngling und las in einem japanischen Comic.

Jane steuerte zielstrebig auf den nächstbesten Tisch zu, setzte sich hin und schlug ihre langen Beine übereinander. „Ich nehme ein Wasser“, erklärte sie und sah zu mir auf.

„Kommt sofort, Madam“, sagte ich und ging zum Tresen hinüber. Als ich mit zwei Wasserflaschen zurückkam und eine mit einer galanten Verbeugung vor ihr abstellte, sah ich das erste Mal an diesem Tag ein winziges Lächeln auf ihrem Gesicht aufblitzen.

Ich zog meinen Stuhl zurück, setzte mich und hob meine Flasche. Schweigend tranken wir und beobachteten uns dabei. Jedenfalls ich beobachtete sie. Was unter ihren verspiegelten Brillengläsern vor sich ging, konnte ich nicht erkennen.

Jane stellte ihre Flasche mit einem Knall auf dem Tisch ab und wischte sich ein wenig Staub von ihren Jeans. Fasziniert sah ich zu, wie ihre langgliedrigen Finger mit einer beiläufigen Geste über den verschlissenen Stoff strichen.

Jane hob den Kopf. „So, jetzt trinken wir also etwas zusammen. Darf ich fragen, was du eigentlich von mir willst? Und sag jetzt nicht, du möchtest mich näher kennenlernen.“

Genau das hatte ich vorgehabt. Schweigend sah ich sie an. Sie warf mir einen kurzen, prüfenden Blick zu und drehte dann den Kopf weg. Nicht nur ein bißchen, sondern ganz und gar, überaus demonstrativ, so demonstrativ, daß es mich zum Lachen reizte. Ich verbarg mein Grinsen hinter der Hand.

„Lach nicht“, sagte Jane, ohne mich anzusehen.

„Ich lache ja gar nicht.“ Ich bemühte mich, ernst zu bleiben, aber es fiel mir schwer. Als sie mich wieder ansah, war ich immer noch damit beschäftigt, mein Grinsen zu unterdrücken.

Jane hob die Brauen, bis sie über dem Rand ihrer Sonnenbrille sichtbar wurden. Nach einem Moment mußte sie ebenfalls lächeln.

„Vielleicht hilft es“, sagte ich, „wenn du die Brille abnimmst.“

Wortlos nahm sie ihre Sonnenbrille ab und legte sie zwischen uns auf den Tisch. Ihr strenger Blick bewirkte zwar, daß mein Grinsen verflog, aber dafür starrte ich sie jetzt hingerissen an. Sie war so wahnsinnig schön.

„Hattest du eigentlich vor, dich mit mir zu unterhalten, oder wolltest du mich nur anstarren?“ fragte Jane plötzlich in fließendem Deutsch.

„Ja“, sagte ich verdutzt. „Äh, ich meine, nein. Das heißt … also, ich würde mich gerne mit dir unterhalten … Aber wieso kannst du deutsch?“

Jetzt lächelte Jane wirklich. „Meine Mutter war Deutsche“, sagte sie, weicher als zuvor. „Und ich habe eine Weile in Wien studiert.“

„Und woher kommst du ursprünglich?“

„Ich bin aus Schweden.“

Daher rührte also ihr weicher, fast singender Tonfall, der mir schon im Englischen aufgefallen war. Sie sprach deutsch mit schwedischer Sprachfärbung und einem leichten österreichischen Akzent; eine ungewöhnliche Mischung, die ich zauberhaft fand.

„In Schweden war ich noch nie“, sagte ich.

„Ach nein?“

„Nein.“ Unter Janes leicht spöttischem Blick fühlte ich mich sofort unbehaglich. „Und wie lange bist du schon in Australien?“

„Seit knapp eineinhalb Jahren.“ Jane zog ihre Jeansjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Darunter trug sie ein weißes T-Shirt. Ich versuchte, nicht auf ihre Brüste zu starren, die sich deutlich darunter abzeichneten.

„Die ganze Zeit in Santa Teresa?“

Jane nickte.

„Was machst du denn dort eigentlich genau?“

„Ich habe einen Forschungsauftrag, zur Vorbereitung meiner Habilitation.“

„Habilitation?“

„Die Lehrberechtigung an der Universität, oder auch Professur. Mein Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Familienstrukturen unter extremen Rahmenbedingungen, sowohl klimatisch als auch von der Bevölkerungsdichte her gesehen. Hitze, Kälte und Einsamkeit ist das Thema.“

„Oh. Hm, ja, das ist sicher spannend“, sagte ich, weniger beeindruckt von Janes akademischer Laufbahn als von der Tatsache, daß sie sogar derart komplizierte Dinge in perfektem Deutsch ausdrücken konnte.

Jane nickte und trank ihr Wasser aus. Eine feuchte Spur blieb auf ihrer Oberlippe zurück, und ich konnte nur schwer den Blick davon abwenden. Schnell trank ich mein eigenes Wasser ebenfalls aus.

„Wie lange dauert es noch, bis du damit fertig bist?“

Jane zuckte mit den Schultern. „Vielleicht noch ein Jahr“, sagte sie vage.

„Und danach?“

„Mal sehen“, sagte sie. „Vielleicht wieder New York, vielleicht Schweden.“

„Kannst du dir vorstellen, ganz hier zu bleiben?“

Sie schwieg und sah auf ihre Brille herab. „Eigentlich“, antwortete sie nach einer Weile, „eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Das hier ist nicht mein Land. Meine Heimat. Und wird es nie werden.“

„Warum nicht?“

Jane dachte eine Weile nach, und ich sah ihr dabei zu. „Ich sehne mich nach der Kälte“, sagte sie schließlich langsam. „Am meisten sehne ich mich nach der Kälte. Manche Dinge sind hier wie in Schweden, nur anders … anders gefärbt.“ Sie zog die Nase kraus, vermutlich wegen ihrer etwas unbeholfenen Wortwahl, dann fuhr sie fort: „Die Leere. Die Stille. Oder diese ganz bestimmte Ruhe, die die Tiere ausstrahlen. Tiere, die den Menschen nicht als ständige Bedrohung erleben. Weißt du, in Lappland hüpfen die Schneehasen völlig unbefangen herum, und hier unten die Känguruhs. Alles ist irgendwie gleich, es sieht nur anders aus.“ Sie lächelte leicht und sah mit schiefgelegtem Kopf zu mir herüber. Zum ersten Mal fielen mir die winzigen Grübchen rechts und links neben ihren Mundwinkeln auf, und ein heißes Gefühl von Sehnsucht stieg in mir auf. Ich mußte mich sehr zusammenreißen, um mich nicht über den Tisch zu beugen und sie zu berühren, die Grübchen in ihrer Wange, ihren Mund, ihre Hand, egal was. Ich wollte sie einfach so gerne berühren.

„Und außerdem“, sagte Jane abschließend, „gehören wir nicht hierher. Wir Weißen, meine ich, oder zumindest wir weißen Europäer. Dieses Land ist nicht unseres. Dieses Land gehört, wenn überhaupt, den Aborigines. Und wir sind hier nicht erwünscht. Und damit meine ich nicht etwa, daß die Einwohner uns hier nicht haben wollen. Sondern das Land selbst. Die Wüste. Wenn du verstehst, was ich meine.“