Bismarck - Hans-Christof Kraus - E-Book

Bismarck E-Book

Hans-Christof Kraus

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Beschreibung

Kein anderer Staatsmann des 19. Jahrhunderts hat seine Epoche so tiefgreifend geprägt wie Bismarck. Prägnant und facettenreich porträtiert Hans-Christof Kraus nicht nur den Politiker, sondern auch den Menschen mit all seinen Lichtund Schattenseiten. Otto von Bismarck (1815–1898) zählt bis heute zu den faszinierendsten und zugleich umstrittensten Gestalten der deutschen und europäischen Geschichte: Doch wer war dieser Mann eigentlich? Was hat er erreicht, worin liegt seine Größe? Aber auch: Was hat er falsch gemacht, und was bleibt am Ende von ihm und von der Zeit, der er seinen Stempel aufgedrückt hat? Souverän und ausgewogen urteilend geht Hans-Christof Kraus diesen und anderen Fragen nach. Kenntnisreich und spannend schildert er das Leben und die politische Karriere einer fast gescheiterten Existenz, die schließlich das Deutsche Reich gründete. Ausführlich zeigt der Autor aber auch die Kehrseite der politischen Größe Bismarcks, und gibt jenen politischen Gegenspielern ihre Stimme wieder, die durch Bismarcks selbst forcierten Nachruhm in der Geschichtsschreibung lange unterschätzt wurden.

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Hans-Christof Kraus

BISMARCK

Größe – Grenzen – Leistungen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © akg-images

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94861-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10771-5

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

FRANK-LOTHAR KROLL

in freundschaftlicher und kollegialer Verbundenheit

INHALT

I. Persönlichkeit

II. Größe

III. Grenzen

IV. Leistungen

Anhang

I.PERSÖNLICHKEIT

Vergangene Größe

Wie denkt und spricht man heute über die politischen Größen der Vergangenheit, über die sprichwörtlichen »großen Männer«, die nach früherer Auffassung »die Geschichte machen«? Das hängt, wird man hier einwenden müssen, in erster Linie von der jeweiligen politischen Kultur eines Landes oder eines Volkes ab. Wer es etwa wagen wollte, sich in den Vereinigten Staaten öffentlich geringschätzig über die berühmten »Founding Fathers« der USA oder über bestimmte Präsidenten wie Abraham Lincoln und Franklin D. Roosevelt zu äußern, müsste hierfür schon sehr gute Gründe haben – ebenso derjenige, der es sich in Großbritannien oder Frankreich erlaubte, die Integrität eines der großen englischen Nationalhelden, wie Horatio Nelson oder Winston Churchill, oder einen der französischen Heroen von Napoleon bis Charles de Gaulle in Zweifel zu ziehen.

In Deutschland ist dies, aus allzu bekannten Gründen, etwas anders. Nur manche Persönlichkeiten der jüngsten Vergangenheit erscheinen hier, jedenfalls bis auf Weiteres, öffentlich unangreifbar – und das, obwohl sie zu Zeiten ihrer politischen Wirksamkeit hochumstritten waren und scharfe Anfeindungen erfuhren. Das trifft auf die drei prägenden Nachkriegskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu: Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl – Denkmäler ihrer selbst und von vielen heutigen Zeitgenossen immer noch verehrt. Fällt in diesem Zusammenhang der Blick zurück auf den, mit dem die Reihe der deutschen Kanzler begann, Otto von Bismarck, dann ist zu bemerken, dass wohl keinem anderen deutschen Politiker so viel Verehrung entgegengebracht wurde wie gerade ihm; hiervon zeugen bis heute die in die Hunderte gehenden Bismarckdenkmäler und Bismarcktürme sowie die noch zahlreicheren Straßen und Plätze, die nach ihm, dem »eisernen Kanzler« der Deutschen, wie man einst sagte, benannt worden sind.

Doch im Bewusstsein der gegenwärtig lebenden, besonders der jüngeren Deutschen ist zwei Jahrhunderte nach Bismarcks Geburt von seinem einstigen Ruhm, von seiner früheren Verehrung offenkundig nicht mehr viel übrig. Das kann zwei Gründe haben: Zum einen mag es sich um einen mehr oder weniger »natürlichen« Prozess der sukzessiven und unaufhaltsamen Entstehung eines neuen Zeitbewusstseins handeln: Ältere Zeitschichten der Erinnerung versinken, je weiter sie zurückliegen, im Dämmerlicht und schließlich in der Nacht des allgemeinen Bewusstseins. Erinnern sich viele Deutsche an Bismarck also nicht mehr, weil sein Wirken, seine »Zeit« schon zu weit in der Vergangenheit liegen? Aber dann müsste ja auch – blicken wir noch einmal auf das amerikanische Beispiel – die Erinnerung an Lincoln und erst recht an die Gründerväter vergangen und vergessen sein, was nun allerdings ganz und gar nicht der Fall ist.

Erst auf den zweiten Blick wird der Unterschied deutlich: Die »Founding Fathers« und Lincoln gehören, obwohl ihr Wirken inzwischen mehr als zwei Jahrhunderte zurückliegt, zu den prägenden Persönlichkeiten der amerikanischen Nation, deren Denken und Handeln, deren zentrale Entscheidungen (die Loslösung vom britischen Mutterland im 18. Jahrhundert ebenso wie der Entschluss zum Bürgerkrieg gegen den Süden und zur Beendigung der Sklaverei) das Land und die Menschen bis heute fast unmittelbar prägen. Die amerikanische Verfassung ist bis zur Gegenwart mit nur wenigen Änderungen exakt dieselbe, die vor mehr als zwei Jahrhunderten die Gründerväter dem jungen Staat gaben. Die politische Legitimation des amerikanischen Verfassungsstaates gründet sich im Kern immer noch auf das Werk, auf die Taten und Worte dieser Männer, und genau deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass Lincolns berühmte Worte aus seiner »Gettysburg Address« über die Regierung »des Volkes, durch das Volk und für das Volk« als Grundprinzip der amerikanischen Demokratie bis heute sprichwörtlich geblieben sind.

Das ist es also nicht: Die Erinnerung an Bismarck, den ersten deutschen Kanzler, ist nicht etwa deshalb verblasst, weil seine Lebenszeit vor mehr als einhundert Jahren endete und damit dem Bewusstsein der Mitlebenden längst entschwunden ist. Dabei war die Erinnerung an Bismarck noch vor zwei bis drei Generationen überaus lebendig – im norddeutsch-protestantischen Milieu sicher noch stärker als in bestimmten katholisch geprägten Regionen West- und Süddeutschlands. Bismarcks Memoiren waren einst fast so etwas wie ein »Kultbuch« des deutschen Bürgertums; die Gedanken und Erinnerungen, in Riesenauflagen gedruckt, fehlten in kaum einem deutschen Bücherregal und wurden auch von denen gelesen, die sich mit vielen Aspekten, vor allem der Innenpolitik des einstigen Kanzlers, nicht identifizieren konnten. Die berühmten Eingangsworte der Bismarck’schen Erinnerungen (»Als normales Produkt unsres staatlichen Unterrichts verließ ich 1832 die Schule als Pantheist …«1) konnten Generationen deutscher Bildungsbürger auswendig hersagen, ganz abgesehen von den gängigen Verballhornungen populärer Bismarck-Zitate, wie etwa: »Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt«, eine Äußerung in einer Reichstagsrede aus dem Jahr 1888, von der fast stets die Fortsetzung unterschlagen wurde: »… und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt«.2

Es ist wohl etwas anderes: Der zweite und eigentliche Grund für das starke Zurücktreten der Erinnerung an Bismarck im kollektiven Gedächtnis der Deutschen muss zuerst und vor allem in den Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in den hiermit verbundenen tiefen Brüchen in unserer historischen Entwicklung gesehen werden. Hierzu gehören nicht nur die bekannten politischen Systemwechsel und inneren Zäsuren, die mit den Jahreszahlen 1918, 1933, 1945, 1949 und 1990 bezeichnet werden, sondern auch die damit einhergehenden diversen Mentalitätsveränderungen. Der Zwang zum »Umlernen«, zur Neuorientierung, zur Etablierung jeweils neuer »Geschichtsbilder« oder auch zur Rehabilitierung bestimmter zu Unrecht vergessener oder ignorierter Traditionen (etwa der des Jahres 1848) bestimmte das historische Bewusstsein der Deutschen im 20. Jahrhundert nachhaltig. Hinzu kam der nur ideologisch erklärbare propagandistische Missbrauch, der während des Nationalsozialismus mit der Erinnerung an Bismarck betrieben wurde und der etwa in jener fatalen konstruierten politischen »Ahnenreihe« gipfelte, die angeblich von Friedrich dem Großen über Bismarck und Hindenburg bis zu Hitler führte.

Nicht nur die Wandlungen, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts im politischen Bewusstsein der Deutschen vollzogen, sondern auch ein Wechsel der Perspektive innerhalb der historischen Zunft selbst führten zur Abkehr von der Besinnung auf die Größen der Vergangenheit. Indem man sich der drängenden Frage zuwandte, wie es zu der eben nicht mehr nur militärischen und politischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe von 1945 hatte kommen können, gerieten die längerfristigen geschichtlichen Strukturen und Prozesse in den Blick. Das Interesse richtete sich nun neben den politischen auch verstärkt auf die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt hatten. Bismarck als Mensch und Politiker musste dabei notwendigerweise zurücktreten, weil sein Handeln, aus diesem Blickwinkel betrachtet, eher als ein Reagieren denn ein Agieren innerhalb großer säkularer Bewegungen erschien, die von dem Einzelnen nur noch in sehr begrenzter Weise gelenkt und bestimmt werden konnten.

Es ist an der Zeit, sich dem Gegenstand »Bismarck« etwas gelassener zu nähern. Nachdem die hagiographische Verehrung dieses Mannes heute endgültig vorbei ist (man denke an den verwahrlosten Zustand des Hamburger Bismarck-Denkmals), sollten auch die Anstrengungen zur Verteufelung oder Dämonisierung des ersten deutschen Kanzlers eigentlich der Vergangenheit angehören. Bismarck war weder »Übervater« und »deutscher Heros« noch »Dämon der Deutschen«, sondern zuerst einmal ein Mensch, eine Persönlichkeit, ein Mann mit Begabungen und Fehlern, mit hoher Intelligenz und Charakterstärke, aber auch mit einer Neigung zu kleinlicher Rachsucht, der in seinem privaten wie öffentlichen Leben die gesamte Gefühlsskala von heißer Liebe bis zu abgrundtiefem Hass durchlaufen hat – und dessen unbestreitbare Größe dennoch nicht in Frage gestellt werden kann.

Frühe Prägungen

Beginnen wir also mit einem Blick auf die frühe Entwicklung des Menschen Otto Eduard Leopold von Bismarck, der als zweites Kind seiner Eltern am 1. April 1815 auf dem Gut Schönhausen in der Altmark geboren wurde. Die Familie war sehr alt, sie gehörte zum altmärkischen Uradel und besaß demgemäß einen für Außenstehende nur schwer nachvollziehbaren Stolz – durchaus auch gegenüber den Hohenzollern. Denen wiederum waren die Bismarcks in der Vergangenheit nicht nur positiv aufgefallen: Gerade die altmärkischen Vasallen seien, hatte schon Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1722 in einer an seinen Nachfolger gerichteten »Instruktion« (in charakteristischer Orthographie) erklärt, »schlimme ungehorsame leutte, die dar nichts mit guhten tun, sondern … rechte leicht fertige leutte gegen Ihren Landesherren sein. Mein lieber Successor mus sie den Daum auf die augen halten und mit Ihnen nicht guht umbgehen, den sie gahr zu leichtfertige gemüther unter sie seien. … Die Schullenburgische, Alvenslehbensche, Bismarck familien sein die vornehmste und schlimmeste.«3

Und Bismarck selbst, der diese erst später im Wortlaut veröffentlichten Formulierungen des »Soldatenkönigs« noch gar nicht kannte, konnte durchaus – vor allem dann, wenn es Konflikte mit dem König gab – die alten Vorbehalte gegenüber dem Herrscherhaus aktivieren. »Wie gerne ginge ich«, bemerkte er einmal im September 1870 zu seinem publizistischen Adlatus, dem Journalisten und Schriftsteller Moritz Busch: »Ich habe Freude am Landleben, an Wald und Natur«, um sogleich die rhetorische Frage anzufügen, warum er sich, »wenn es nicht göttliches Gebot ist«, denn ausgerechnet »diesen Hohenzollern« unterordnen solle? »Es ist eine schwäbische Familie, die nicht besser ist als meine, und die mich dann gar nichts angeht«.4 – »Nicht besser als meine« – das bedeutete natürlich einen im Milieu des Adels stets wichtigen Hinweis auf das Alter und die Präsenz der Familie in einer bestimmten Region. In dieser Hinsicht konnten es die Hohenzollern, die, aus dem Schwäbischen und Fränkischen kommend, erst im 15. Jahrhundert die Herrschaft über die Mark Brandenburg ergriffen hatten, tatsächlich mit den Bismarcks nicht aufnehmen.

Die Verwurzelung im heimischen Adel bildete stets ein konstitutives Element von Bismarcks Selbstverständnis. Das begann schon mit den Realitäten und Gewohnheiten des täglichen Lebens einer solchen ländlichen Adelsfamilie in jener Zeit. Einer von Bismarcks Biographen, Ernst Engelberg, hat auf die unmittelbare Präsenz traditioneller Artefakte verwiesen: »Die Hinterlassenschaften in Gestalt von Gutshäusern, Möbeln, Ahnenbildern und Grabsteinen, Dorfkirchen unter gutsherrlichem Patronat, Urkunden und schriftlichen Zeugnissen aller Art vermittelten die feudalen Ursprünge in Fülle.« Hinzu kam die zumeist mündlich überlieferte und entsprechend ausgeschmückte Familientradition, die mit ihrer »merkwürdigen Mischung von Legendärem und Authentischem … in der Vorstellung der Adligen über Wert und Abfolge ihres Geschlechts noch lange Zeit eine große Rolle«5 spielte. Der Ahnherr der ursprünglich aus Stendal stammenden Familie, Klaus von Bismarck, war einst im 14. Jahrhundert noch von den damals hier herrschenden Wittelsbachern mit Schloss Burgstall belehnt worden, später war die Familie nach Schönhausen übergesiedelt, wo auch Otto von Bismarck geboren wurde.

Bismarcks Urgroßvater und Großvater hatten Friedrich dem Großen als Offiziere gedient, worauf man in der Familie besonders stolz war; ersterer war 1742 gefallen, der zweite war, nachdem er in den Schlachten von Kolin, Leuthen und Hochkirch mitgefochten hatte, 1752 schwer verwundet aus dem militärischen Dienst ausgeschieden. Auch der Vater, Ferdinand von Bismarck (1771–1845), hatte seine Laufbahn, der Familientradition entsprechend, als Soldat und Offizier begonnen. Schon als zwölfjähriger Junker war er in die Armee eingetreten, hatte jedoch nach den ersten Feldzügen, an denen er teilnehmen musste, 1794 den Abschied erbeten und erhalten. Etwas weicher – und wohl auch bequemer – als seine Vorfahren, zog er es vor, sich auf seine Landgüter und ins Familienleben zurückzuziehen.

Wiederum ganz anders die Mutter und deren Familie: Wilhelmine Louise Mencken (1789–1839), die 1806, erst siebzehnjährig, den doppelt so alten märkischen Landjunker und ehemaligen Offizier Ferdinand von Bismarck heiratete, entstammte einer bürgerlichen Familie – eine solche Mischehe war Anfang des 19. Jahrhunderts zwar nicht mehr vollkommen ungewöhnlich, jedoch immer noch eher unüblich. Immerhin gehörten die ursprünglich aus Leipzig stammenden Menckens zu den angesehensten Berliner Bürger- und Beamtenfamilien. Bismarcks Großvater mütterlicherseits, der von seiner Tochter Wilhelmine bewunderte und verehrte Anastasius Ludwig Mencken, hatte seit Friedrich dem Großen drei preußischen Königen als Kabinettssekretär und später als Kabinettsrat gedient und war gegen Ende seines Lebens (er starb 1801) sogar zu einem gewissen politischen Einfluss gelangt. Mencken repräsentierte genau »jenen Typ des gebildeten, weltläufigen, amts- und lebenserfahrenen Beamten, wie ihn die absolute Monarchie in ihrer Spätzeit vornehmlich in Mitteleuropa hervorgebracht und wie er Prestige und Einfluß der Beamtenschaft in diesem Raum für ein ganzes Jahrhundert begründet hat«.6

Es ist im Grunde diese merkwürdige Mischung, die Bismarcks Selbstverständnis als Politiker und hoher Staatsbeamter seines Landes einerseits, als Angehöriger einer alten Adelsfamilie und passionierter Gutsherr andererseits geprägt hat. Vor einem ernsthaften Einstieg ins Berufsleben schreckte er als junger Mann zunächst zurück, um sich dem junkerlichen Landleben zu widmen, doch reichte ihm dies nach wenigen Jahren nicht mehr. Nachdem er jedoch in die Politik gegangen war und als Diplomat zuerst in Frankfurt am Main beim Deutschen Bund, später als Gesandter in Sankt Petersburg und Paris für seinen König und seine Regierung tätig war, sehnte er sich oft genug nach der ländlichen Idylle Hinterpommerns oder der Altmark zurück. Und wenn er sich in seinen späteren Jahren – bereits als Reichskanzler und weltbekannter Staatsmann – manchmal wochen-, ja zuweilen monatelang auf seine Landsitze in Varzin und Friedrichsruh zurückzog, dann durchaus nicht nur, wie er offiziell verlauten ließ, aus Gründen der Schonung seiner Gesundheit, sondern auch deshalb, weil er sich zwischen der aufreibenden, an strenge Formen gebundenen hohen Politik und der im eigentlichen Sinne erdhaften, land- und bodengebundenen, in diesem Sinne »freien« Existenz eines preußischen Landadligen hin- und hergerissen fühlte. Auch das kann sicherlich als ein Spezifikum seiner Existenz als Mensch und Politiker angesehen werden.

Um dies zu verstehen, muss man sich auch noch einmal seinen Eltern zuwenden. Als die erst siebzehnjährige Wilhelmine Mencken den fünfunddreißig Jahre alten, bislang nicht durch besondere Gaben oder auffallenden Eifer hervorgetretenen Landadligen Ferdinand von Bismarck heiratete, scheint seitens der jungen Frau eine Menge Ehrgeiz im Spiel gewesen zu sein. Dass sie ihrem Mann geistig und intellektuell überlegen war, ist ebenso überliefert wie ihr Bestreben, den gesellschaftlichen Aufstieg der eigenen Familie voranzutreiben. Aufgrund der politischen Stellung ihres Vaters hatte sie in ihrer Jugend Zutritt zum Berliner Hof gehabt, und sie hoffte nun auf eine Karriere ihrer Söhne im Staatsdienst, nachdem ihr Mann, den sie in ihrer Ehe zweifellos dominierte, leider allen Ehrgeiz vermissen ließ. Nachdem sie sich (mit offenbar sehr geringem Erfolg) zuerst an der Verwaltung der Bismarck’schen Güter in Schönhausen und Kniephof versuchte hatte, zog die Familie im Jahr 1822 endgültig nach Berlin, wo man eine Wohnung im Zentrum und in Schlossnähe, am Opernplatz, mietete. Die Vermutung liegt zumindest nicht fern, dass die inzwischen dreiunddreißig Jahre alte Junkersgattin bürgerlicher Herkunft das eintönige Landleben satt hatte und stattdessen in Berlin ihre gesellschaftliche Stellung erneuern und festigen sowie die Ausbildung ihrer beiden Söhne vorantreiben wollte.

Das Verhältnis zu ihren drei Kindern – dem 1810 geborenen Bernhard, Otto (geboren 1815) und der später (1827) geborenen Malwine – war jedoch wenig erfreulich. Denn Wilhelmine galt als gefühlskalt und unmütterlich, und wenn man den Erinnerungen trauen darf, die eine Cousine Bismarcks hinterlassen hat, dann empfanden schon ihre Verwandten und jene, die sie näher kannten, sie als »Fischnatur«, jedenfalls als »eine kalte, sich wenig an die Menschen um sie her anschließende Frau. Irgendeiner herzlichen Äußerung gegen einen von uns wüßte ich mich nicht zu erinnern. Anders Onkel Ferdinand! Der hatte für uns immer ein freundliches Wort oder einen heiteren Scherz, besonders wenn Otto und ich auf seinen Knien ritten. Wilhelmine Bismarck … war viel elend und dann teilnahmslos. … Allgemein sagte man, sie mache sich selbst durch Nervosität das Leben schwer und mehr noch ihrem Mann und den Kindern.«7

Vergeblicher Ehrgeiz, enttäuschte Hoffnungen und Verbitterung scheinen Wilhelmines Leben im Lauf der Jahre zunehmend verdüstert zu haben. Als sie 1839 an den Folgen eines Krebsleidens starb, war sie erst neunundvierzig Jahre alt.

Dass ihr zweiter Sohn Otto als Kind unter ihr litt, verwundert unter diesen Umständen nicht. Bekanntester Ausdruck hierfür ist ein Brief Bismarcks aus dem Jahr 1847 an seine Braut, der in seiner Schonungslosigkeit auf den ersten Blick erschreckend wirkt, weshalb dieser Text in den älteren Briefsammlungen nur gekürzt abgedruckt wurde (erst seit 1968 ist die vollständige Fassung bekannt): »Meine Mutter war eine schöne Frau, die äußre Pracht liebte, von hellem lebhaften Verstande, aber wenig von dem, was der Berliner Gemüth nennt. Sie wollte, daß ich viel lernen und viel werden sollte, und es schien mir oft, daß sie hart, kalt gegen mich sei. Als kleines Kind haßte ich sie, später hinterging ich sie mit Falschheit und Erfolg. Was eine Mutter dem Kind werth ist, lernt man erst, wenn es zu spät, wenn sie todt ist; die mittelmäßigste Mutterliebe, mit allen Beimischungen mütterlicher Selbstsucht, ist doch ein Riese gegen alle kindliche Liebe. Ich habe mich vielleicht nirgends schwerer versündigt als gegen meine Eltern, gegen meine Mutter über alles.«8

An dieser Stelle wird die doppelt problematische Beziehung zu seiner Mutter erkennbar: Der durchaus verständliche kindliche Hass gegen sie ruft nach ihrem frühen Tod wiederum belastende Schuldgefühle hervor; diesem seelischen Druck hat Bismarck später nur durch seine im Ganzen ausgesprochen glückliche Ehe entkommen können. Dem entspricht, dass er auch seinem Vater im Grunde nur wenig Achtung, wenn auch stärkere Zuneigung entgegenbrachte: »Meinen Vater liebte ich wirklich«, heißt es im schon zitierten Bekenntnisbrief an die Braut, »und wenn ich nicht bei ihm war, faßte ich Vorsätze, die wenig Stand hielten; denn wie oft habe ich seine wirklich maßlos uninterressirte gutmüthige Zärtlichkeit für mich mit Kälte und Verdrossenheit gelohnt. Und doch kann ich die Behauptung nicht zurücknehmen, daß ich ihm gut war im Grunde meiner Seele.«9

Gleichwohl scheint Bismarck nicht imstande gewesen zu sein, seinem trägen und in jeder Hinsicht ehrgeizlosen, mit zunehmendem Alter einem wohl angeborenen Phlegma verfallenden Vater wirkliche Achtung entgegenzubringen; das von dem Kind Otto vermutlich ersehnte männliche Vorbild konnte Ferdinand von Bismarck nicht bieten.

Und noch ein weiteres belastendes Faktum kam hinzu, denn der junge Otto wurde bereits mit sechs Jahren aus dem Haus in eine neu gegründete Schule gegeben, die »Plamannsche Lehranstalt«, in der die Zöglinge nach den neuen pädagogischen Grundsätzen Johann Heinrich Pestalozzis unterrichtet werden sollten. Dessen Ideen scheinen dort aber nur in eher eingeschränktem Maße angewandt worden zu sein; noch Jahrzehnte später, im April 1878, beklagte sich Bismarck gegenüber einem engen Mitarbeiter über die dortige harte Erziehung; eben sie sei für das »schroffe, empfindliche Element« in seinem Charakter hauptsächlich verantwortlich, das ihn stets veranlasst habe, »sich gegen erlittene Unbilden scharf zu wehren. Mit sechs Jahren sei er in jenes Institut gekommen, wo die Lehrer demagogische Turner gewesen seien, welche den Adel haßten, und mit Hieben und Püffen, anstatt mit Worten und Verweisen, erzogen hätten. So seien die Kinder Morgens mit Rapierstößen [mit dem Degen; H.-C. K.], welche blaue Flecken gaben, geweckt worden, weil es den Lehrern zu langweilig gewesen sei, es auf andere Weise zu tun.«

Die Eltern hätten ihn dieser ausgesprochen unerquicklichen Anstalt überlassen, fügte er hinzu, weil seiner »schöngeistigen Mutter … Kindererziehung unbequem gewesen« sei; »sie habe sich früh davon losgesagt, wenigstens in ihren Gefühlen«.10 Seine spätere – sicher in starkem Maße auch durch die beruflichen Belastungen der hohen Politik hervorgerufene – Neigung zu Gereiztheit und Nervosität hat Bismarck also noch als dreiundsechzigjähriger Mann als direkte Folge eigener kindlicher Leiderfahrungen – heute würde man eher sagen: Traumatisierungen – gedeutet. Den Eltern scheint er die frühe Abschiebung in solch ein regelrechtes Kindergefängnis wohl lebenslang nicht verziehen zu haben.

Der amerikanische Bismarck-Biograph Otto Pflanze hat spätere Charakterzüge auch noch des berühmten und einflussreichen Politikers Bismarck hiermit in Zusammenhang gebracht. Pflanzes psychoanalytische Deutung erscheint – so problematisch vorschnelles Psychologisieren eines Biographen auch sein mag – in diesem Fall überzeugend.11 Denkt man an Bismarcks spätere, sich gerade im Verlauf der 1870er-Jahre noch verschärfende Gesundheitsprobleme, an sein extremes, vielfach zu Gefräßigkeit neigendes Essverhalten, an seine Hypochondrie, Schlaflosigkeit und die hierdurch hervorgerufene Gereiztheit und Nervosität im Umgang mit anderen, dann liegt die Vermutung nahe, dass sich der ältere Bismarck mit seiner Völlerei »für die emotionalen Entbehrungen seiner Kindheit«12 entschädigte und dass die hieraus entstandenen jahrelangen schweren Gesundheitsprobleme im Kern ebenfalls auf jene frühkindlichen Erfahrungen zurückzuführen sind. Es wirkt fast rührend, wenn man liest, auf welche Weise der junge Arzt Ernst Schweninger, der den alten Kanzler ab 1883 endlich erfolgreich behandelte, seinen Patienten wenigstens von einigen seiner schlimmsten Leiden, vor allem von der fast völligen Schlaflosigkeit, kurieren konnte – eben indem er den Mutterersatz simulierte: Nachdem er dem Kanzler einige Tropfen Baldrian gegeben hatte, habe er sich, so die Erinnerung des Arztes, im Lehnstuhl an Bismarcks Bett gesetzt und eine seiner Hände genommen – »wie die Mutter bei einem unruhigen Kind«.13 Als der Kanzler am Morgen erwachte, saß Schweninger noch immer dort, und Bismarck wollte nicht glauben, dass er tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Seitdem vertraute er dem Arzt ohne Einschränkung.

Diese Erinnerungen vermitteln einen recht tiefen Einblick in die charakterliche Entwicklung des jungen Bismarck. Und sie zeigen zugleich, warum später der Politiker Bismarck seine Gegner immer dann mit besonderer Erbitterung verfolgte, wenn es sich um vermeintliche oder wirkliche abtrünnige alte Freunde, Weggefährten oder gar um Verwandte handelte. Als viele Angehörige der hinterpommerschen Adelskreise, in deren Umfeld sich sein eigener politischer Aufstieg einst vollzogen hatte, ihm in den 1870er-Jahren die Gefolgschaft aufkündigten und in der von Bismarck einst mitbegründeten konservativen Kreuzzeitung eine Protestadresse gegen den Kanzler veröffentlichten und als auch sein eigener langjähriger Förderer, der uralte Ernst Ludwig von Gerlach, öffentlich deutliche Kritik an der Bismarck’schen Innen- und Kirchenpolitik übte, da reagierte der Kanzler mit einer Gereiztheit und Schärfe, die über sein gewöhnliches Verhalten hinausging. Man wird Pflanzes Deutung dieser Vorgänge zustimmen müssen: »In psychoanalytischer Beleuchtung verrät Bismarcks Verhalten während der siebziger Jahre, daß der Bruch mit so vielen alten Freunden und Standesgenossen ihm schwer zu schaffen machte. Deren Ablehnung riß ein in ferner Vergangenheit erlittenes Trauma wieder auf, kränkte ihn so sehr, daß seine Gesundheit darunter litt, und nötigte ihn, am heimischen Herd und an der heimischen Tafel die nahrhaften Tröstungen zu suchen, deren sein verletztes Selbstgefühl bedurfte.«14

Die Kindheitserlebnisse verfolgten ihn also ein Leben lang und lassen bestimmte spätere Verhaltensmuster seines privaten wie seines politischen Handelns letztlich in einem anderen Licht erscheinen.

Unruhige Anfänge

Wenn der junge Otto von Bismarck – so die berühmten Anfangsworte seiner Memoiren – im Jahr 1832 die Schule »als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts« verließ, und zwar nach eigener Formulierung »als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei«15, dann war dafür nicht nur der Einfluss liberaler, adelskritischer Lehrer verantwortlich, sondern wohl auch sein eigenes Bestreben, sich auch mit ostentativer »radikaler« Gesinnung von dem als belastend empfundenen Elternhaus, überhaupt von seiner Herkunftswelt abzusetzen, sich in gewisser Weise »abzunabeln«. Herausragende oder wenigstens überzeugende Leistungen konnte er jedenfalls nicht aufweisen; nach dem Abgang von der Plamannschen Lehranstalt hatte er seit 1827 das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und ab 1830 das namhafte Graue Kloster in Berlin besucht, wo er im April 1832 das Abitur ablegte. Die Prüfungskommission des Gymnasiums entließ ihren Zögling mit einem Zeugnis, in dem es hieß, der Fleiß des Absolventen sei »zuweilen unterbrochen« gewesen, »auch fehlte seinem Schulbesuche unausgesetzte Regelmäßigkeit«. Immerhin besitze er »im Deutschen … eine sehr erfreuliche Gewandtheit«, dazu habe er »von den neueren Sprachen … die französische und englische Sprache mit besonderem Erfolge betrieben«, während er in den Fächern Geographie und Geschichte lediglich über »ein befriedigendes Maaß von Kenntnissen«16 verfüge.

Auf diese Weise vorbereitet, ging Bismarck im Sommersemester 1832 an die Universität Göttingen, um »Jura und Cameralia« zu studieren, wie es im Abiturzeugnis hieß. Der junge Student mietete sich in einem kleinen Häuschen am Stadtwall ein und begann auch sofort, die Annehmlichkeiten der neugewonnenen Freiheit und des Studentenlebens in vollen Zügen zu genießen; natürlich wurde er, den Bräuchen der Zeit entsprechend, Mitglied einer Verbindung: der Landsmannschaft »Hanovera«, die er der Burschenschaft, bei der er zuerst hospitiert hatte, vorzog. Die schlagende Verbindung, zu deren Mitgliedern in erster Linie Angehörige alter hannoverscher Adels- und Beamtenfamilien zählten, das studentische Imponiergehabe, das Leben zwischen Kneipe und Paukboden sagten ihm eine Zeitlang zu; mit seinem riesigen Hund erregte Bismarck bald Aufsehen, focht mehr als ein Duell aus, landete im Karzer und wurde in einschlägigen Kreisen bald als mächtiger Trinker bekannt. Das akademische Studium an der im damaligen Deutschland hoch angesehenen und auch international berühmten Universität, die einiges zu bieten hatte, scheint ihn recht schnell gelangweilt zu haben. Das Bedenklichste aber war: Der junge Mann häufte innerhalb nur kurzer Zeit erhebliche Schulden an.

Zum Wintersemester 1833/34 wechselte Bismarck nach Berlin, wo er sich, wohl auch unter dem Eindruck zunehmender strenger Ermahnungen seitens der Eltern, jetzt etwas intensiver seinen akademischen Studien widmete. Langsam begann er sich auch Gedanken über seine berufliche Zukunft zu machen; die mütterlichen Hoffnungen auf eine Beamtenkarriere der Söhne scheinen hierbei immer noch eine Rolle gespielt zu haben. Vielleicht musste Bismarck sich auch deshalb schon bald am Riemen reißen, weil es mittlerweile mit dem Vater zu schweren Auseinandersetzungen wegen der inzwischen angehäuften Schulden des Studenten gekommen war; schon im Herbst 1833 hatte er einem Studienfreund über »sehr unangenehme Szenen zwischen mir und meinem Alten …, der sich weigert, meine Schulden zu bezahlen«, berichtet; im Übrigen bringe er, heißt es dort weiter, noch immer einen nicht geringen Teil seiner Zeit »bei meiner alten Freundin der Flasche zu; des Abends betrage ich mich im ersten Range der Oper so flegelhaft als möglich«.17 Als er sich eineinhalb Jahre später in Berlin auf seine Prüfungen vorzubereiten begann, schien ihm – vielleicht eher aus eigener Vorliebe denn den Wünschen der Mutter entsprechend – die diplomatische Laufbahn am attraktivsten zu sein.

Zunächst ließ sich alles überraschend gut an. Als er im Juni 1836 in Aachen, wo er im folgenden Jahr als Regierungsreferendar tätig sein sollte, sein erstes Staatsexamen abzulegen hatte, waren die Prüfer des Lobes voll: »Durchgängig zeigte Candidat eine vorzügliche Urtheilskraft, Schnelligkeit im Auffassen der ihm vorgelegten Fragen und Gewandtheit im mündlichen Ausdruck«, vermerkt das Prüfungsprotokoll, in dem es weiter heißt: »… da auch die vom Candidaten gelieferten schriftlichen Ausarbeitungen eine sehr günstige Censur erlangt haben, geht das einstimmige Urtheil der … Prüfungscommission dahin, daß der Kammergerichts-Auscultator Leopold Eduard Otto von Bismarck für sehr gut befähigt zu achten ist, um zum Regierungsreferendariat befördert zu werden«.18 Dieses Zeugnis schien durchaus keine schlechte Voraussetzung für den baldigen Beginn einer Beamtenkarriere zu sein – doch ein Jahr darauf ging das Temperament des jungen Referendars mit diesem durch. Nach vielen Monaten eintönigen Verwaltungsdienstes im damals offenbar wenig aufregenden Aachen verliebte er sich in eine junge Engländerin mit dem klingenden Namen Isabella Loraine-Smith, Tochter eines wohlhabenden Landpfarrers, die sich zusammen mit ihrer Familie und Entourage auf Deutschlandreise befand.

Der verliebte junge Mann nahm Urlaub, fuhr Isabella nach Wiesbaden nach, schloss sich der Reisegesellschaft an und reiste anschließend mehrere Monate, bis Ende Oktober – das Ende der eigenen Urlaubszeit nicht achtend –, durch Deutschland, bis er endlich von seiner neuen britischen »Familie«, die als nächstes Ziel München im Blick hatte, Abschied nehmen musste – letztlich nur aufgrund von Passproblemen (in Bayern ließ man ihn nicht einreisen). Bismarck, der bereits in Briefen an seine Freunde recht großspurig von Verlobung gesprochen und gar für den kommenden Frühling eine Eheschließung »mit einer jungen Brittin von blondem Haar und seltener Schönheit«19 in Leicestershire angekündigt hatte, musste Ende des Jahres recht kleinlaut vom Scheitern seiner kurzen Verbindung berichten, die in der Tat, wie treffend gesagt wurde, wohl »mehr ein Ausbrechen aus einer zunehmend als unerträglich empfundenen Lebenssituation gewesen ist als eine wirkliche große Leidenschaft, mehr Anlaß als Ursache«.20 Dass ihm in einer Beurteilung seiner Vorgesetzten schon im April 1837 attestiert worden war, er werde sich ungeachtet seiner Fähigkeiten künftig »noch mehr an gewissenhafte Pünktlichkeit und die strenge Ordnung des Dienstes gewöhnen müssen«21, spricht Bände.

Noch einmal versuchte Bismarck, in Potsdam in den Referendardienst zurückzukehren, was man ihm trotz seiner Aachener Eskapaden wohl auch ermöglicht hätte, doch als er schließlich seinen Militärdienst ableisten musste, nutzte er diese Gelegenheit, um sich endgültig von seinem über mehrere Jahre angestrebten Berufsziel zu verabschieden. Im Sommer 1838 kam es zur Aussprache mit der bereits kranken Mutter (sie starb ein halbes Jahr später), in deren Verlauf er ihr nach einem Bericht des Vaters sein Herz aufschloss und ihr offenbarte, »welchen Ekel er für die ganze Beschäftigung bei der Regierung hätte, daß er dadurch sein Leben ganz überdrüssig wäre [sic], und wenn er sich fast sein ganzes Leben gequält hätte, dann würde er vielleicht zuletzt Präsident mit 2000 Taler Einkommen, von Lebensglück wäre aber nie etwas zu hoffen«.22 Er erbot sich sogar, die Leitung einer Zuckerfabrikation zu übernehmen, welche die Familie eventuell auf dem Gut Kniephof einrichten wollte. Wie die Mutter reagierte, ist nicht bekannt, doch die Dinge blieben offenkundig nicht sehr lange in der Schwebe, und nachdem Wilhelmine von Bismarck am 1. Januar 1849 ihrem Leiden erlegen war, konnten Bismarck und sein Bruder Bernhard, den es ebenfalls vom ungeliebten Beamtenberuf fort aufs Land zog, mit dem Einverständnis des Vaters die Leitung zweier Familiengüter übernehmen.

Erst später, im bereits zitierten Brief an die Braut aus dem Jahr 1847, offenbarte er das eigentliche Motiv für sein Handeln: seine Schulden. Bismarck hatte, als er im Sommer 1837 seiner Angebeteten Isabella Loraine-Smith nach Wiesbaden nachgereist war, dort am Spieltisch tatsächlich ein kleines Vermögen – mehr als 1700 Taler – verspielt.23 Die Summe war – zuzüglich weiterer noch in der Potsdamer Zeit angehäufter Spielschulden – offenbar derart hoch, dass er sie dem Vater nicht bekennen mochte »und zu deren ehrenvoller Abwicklung«, wie er später zugab, »keinen Ausweg sah, als den ein selbständiges Vermögen zu erwerben«.24 Und das war mit dem üblicherweise sehr schmalen preußischen Beamtengehalt nicht möglich. Insofern blieb letzten Endes nur das Landleben übrig, und Bismarck setzte sich denn auch, wie er später einem Studienfreund schrieb, »mit der vollen Unwissenheit eines schriftgelehrten Stadtkindes in eine sehr ausgedehnte und verwickelte Wirtschaft« – gemeint ist das von ihm übernommene Familiengut Kniephof bei Naugard in Hinterpommern. »Ich fand mich hinein, rettete den größten Theil meines zu erwartenden Vermögens, und die Beschäftigung gefiel mir … wegen ihrer Unabhängigkeit; ich habe nie Vorgesetzte vertragen können …«25

So blieb er vorerst auf dem, wie man damals sagte, »platten Lande« sitzen, meist einem merkwürdigen seelischen Schwebezustand ausgeliefert, schwankend zwischen Depression und mäßiger Zufriedenheit mit seinem Schicksal, mit dem er sich langsam abzufinden begann. Er sitze »hier, unverheirathet, sehr einsam, 29 Jahre alt«, berichtete er in einem berühmten (wegen seiner stilistischen Brillanz später viel zitierten) Brief an einen Studienfreund über sein Kniephofer Dasein, »… ohne besondere Theilnahme. … Des Vormittags bin ich verdrieslich, nach Tische allen milden Gefühlen zugänglich. Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern, und bei Letzteren erfreue ich mich einigen Ansehens, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, mich zu jeder Zeit wie ein Mensch kleide, und dabei ein Stück Wild mit der Accuratesse eines Metzgers zerwirke, ruhig und dreist reite, ganz schwere Cigarren rauche und meine Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinke«.26

Diese Eigenschaften trugen dazu bei, dass er bald weit über die Grenzen des heimatlichen pommerschen Landkreises hinaus nur noch als der »tolle Bismarck« bekannt war. Doch drei Dinge waren es, die ihn schon bald aus seinem bequemen ländlichen Dämmerdasein, in dem er sich nach einigen Jahren scheinbar leidlich eingerichtet hatte, herausreißen sollten: eine Frau, der Glaube – und die Politik.

Ehe und Familie

Der in Kniephof in Pommern Landwirtschaft treibende dreißigjährige Junker hatte, ob er wollte oder nicht, die gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen, die von der adligen Nachbarschaft erwartet wurden. Gerade unter dem Eindruck der seit mehr als einem halben Jahrhundert akuten revolutionären Bedrohung rückte der ländliche Adel näher zusammen; aber natürlich galt es auch, verwandtschaftliche Beziehungen und Nachbarschaften zu pflegen, den in dieser Schicht nun einmal eher begrenzten Heiratsmarkt in Gang zu halten und auch politische Verbindungen zu unterhalten und zu festigen; Preußen verfügte seit 1823 über Provinzialstände, in denen der Landadel (neben den Vertretern der Stadtbürger und der selbständigen Bauern) über eine eigene »Kurie« verfügte, deren Zusammensetzung die Adligen bestimmten. Viel hatten diese Provinzialstände im Rahmen des bestehenden politischen Systems nicht zu sagen; sie konnten nichts entscheiden, sondern durften lediglich Rat geben. Aber immerhin barg diese Institution gewisse Möglichkeiten einer Weiterentwicklung, etwa was die Zusammenfassung der einzelnen Stände zu einer gesamtstaatlichen ständischen Delegiertenvertretung betraf. Und hierüber wurde auch auf dem Lande diskutiert.

In Hinterpommern hatten sich seit den 1820er-Jahren in bestimmten Adelskreisen fromme Zirkel gebildet, die der neupietistischen »Erweckungsbewegung« in Preußen zuzurechnen waren. Hier war man besonders fromm, besuchte nicht nur regelmäßig die Gottesdienste, sondern traf sich auch zu Bibelstunden und frommen Konventikeln, mied den Alkohol sowie die – sonst auf dem Lande überaus beliebte – Jagd und besuchte auch weder Tanzgesellschaften noch Theateraufführungen. Historisch-politische Erfahrungen des Adels schlugen sich in dieser Hinwendung zu einer neuen »erweckten« Frömmigkeit nieder, vor allem die Erinnerung an die Revolutions- und Kriegszeit seit 1789, an die Katastrophe Preußens im Vierten Koalitionskrieg 1806/07, auch an die Befreiungskriege gegen Napoleon von 1813 bis 1815, deren Auswirkungen und Folgen von manchen Angehörigen dieser Schichten als eine »Strafe Gottes« für früher begangene Sünden, vor allem für die Abwendung vom traditionellen Christentum im Zeichen von Aufklärung und Vernunftglauben, begriffen wurden. Politisch war man hier natürlich streng konservativ und königstreu gesinnt.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende der Befreiungskriege bildeten zwei damals noch junge Rittergutsbesitzer, Adolf Ferdinand von Thadden und Ernst Senfft von Pilsach, den Kern eines sich bald erweiternden Kreises religiös »erweckter« Adelsfamilien. Hinzu kamen neben Alexander von Below und Heinrich von Puttkammer bald auch zwei jüngere Landjunker, Hans Hugo von Kleist-Retzow und Thaddens künftiger Schwiegersohn, Moritz von Blankenburg. Wichtig für die politischen Verbindungen dieses Kreises nach Berlin wurde der enge verwandtschaftliche und persönliche Kontakt der Gruppe um Thadden zu seinem Schwager, dem Juristen und späteren Oberlandesgerichtspräsidenten Ernst Ludwig von Gerlach und dessen Bruder Leopold, einem engen persönlichen Freund und späteren Generaladjutanten des damaligen Kronprinzen und ab 1840 regierenden Königs Friedrich Wilhelm IV. Sie alle hatten ihre Güter in den hinterpommerschen Kreisen Belgard, Greifenberg und Naugard; man hielt untereinander engen Kontakt und traf sich häufig zu Gebet, Choralgesang und frommen Gottesdiensten, die gemeinsam mit dem Gesinde abgehalten wurden. Das Zentrum bildete das Gut der Thaddens in Trieglaff.27

Wohl über seinen Jugendfreund Moritz von Blanckenburg gelang es Bismarck, zunächst gesellschaftlichen, später auch engeren persönlichen Zugang zu diesem »Kreis protestantischer Spartaner«28, wie er einmal ironisch, aber nicht unzutreffend genannt worden ist, zu finden. Und er fand hier noch mehr als nur neue Freunde und Gesinnungsgenossen – nämlich auch eine Lebensgefährtin. Diejenige, auf die er es wohl zuerst abgesehen hatte, Adolf von Thaddens ebenso kluge wie schöne Tochter Marie, war allerdings bereits vergeben und mit Moritz von Blanckenburg verlobt, den sie bald darauf heiratete. Im Einvernehmen mit ihrem Verlobten arrangierte Marie die Begegnung Bismarcks mit einer ihrer Freundinnen, Johanna von Puttkammer, deren Vater bereits seit Langem dem frommen Adelszirkel um die Thaddens angehörte. Die eher zurückhaltende, gleichwohl unverbildet-natürliche Johanna konnte zwar weder intellektuell noch äußerlich mit Marie mithalten, dafür verfügte sie über eine Glaubens- und Charakterstärke, die Bismarck imponierte. Hinzu kam ein gehöriges Maß an Nüchternheit und gesundem Menschenverstand, das sehr bald schon anziehend auf ihn wirkte. Doch erst nachdem er seine ihn lange quälenden Glaubenszweifel, seinen »Pantheismus«, wie er es nannte, überwunden und – unter dem Einfluss seiner neuen Freunde – zum Glauben zurückgefunden hatte, konnte Bismarck es überhaupt wagen, bei Heinrich von Puttkammer um die Hand seiner Tochter Johanna anzuhalten. Denn noch immer haftete ihm im Kreis des pommerschen Adels der Ruf des törichten, leichtsinnigen und zudem hoch verschuldeten »tollen Bismarck« an; der fromme Landjunker von Puttkammer dürfte also gerade von diesem Bewerber um die Hand seines einzigen Kindes alles andere als begeistert gewesen sein.

Tatsächlich ist der lange Brautwerbebrief, den Bismarck kurz vor Weihnachten 1846 an Puttkammer schrieb, ein Schlüsseldokument seiner Biographie, sehr sorgfältig, wie immer stilsicher formuliert und natürlich genau auf die Grundgesinnung sowie die Empfänglichkeit des Adressaten berechnet29 – insofern fraglos, wie treffend gesagt wurde, »ein diplomatisches Meisterwerk«.30 Darüber hinaus entblößte sich Bismarck hier in einer auch für ihn selbst ganz ungewohnten Weise und bot seinem zukünftigen Schwiegervater einen Einblick in die Entwicklung seiner Gedanken und seines Seelenzustandes, den er in dieser Form vorher wohl noch niemandem gewährt hatte. Aber er wusste um seinen noch immer schlechten Ruf und musste bestrebt sein, dem Adressaten durch radikale Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zu imponieren. Wenn er um die Hand von Puttkammers Tochter anhalte, könne er dem Vater, wie er gleich zu Anfang einräumt, keine Bürgschaft für die Zukunft geben; Puttkammer müsse in seinem Fall »durch Vertrauen auf Gott das ergänzen, was das Vertrauen der Menschen nicht leisten kann«. Er, Bismarck, könne nur eines tun, nämlich »Ihnen mit rückhaltloser Offenheit über mich selbst Auskunft gebe[n], soweit ich mir selber klar geworden bin«.

Die unglückliche familiäre Konstellation verschweigt Bismarck an dieser Stelle nicht: Er selbst sei, schreibt er, »meinem elterlichen Hause in frühester Kindheit fremd und nie wieder völlig darin heimisch geworden, und meine Erziehung wurde von Hause her unter den Gesichtspunkt gestellt, daß alles der Ausbildung der Verstandes und dem frühzeitigen Erwerb positiver Kenntnisse untergeordnet blieb«. Die seit der Konfirmation aufkeimenden Glaubenszweifel habe er stets mit sich selbst herumtragen und ausmachen müssen; im Elternhaus habe er keinerlei Orientierung erfahren, und auch später »blieben mir Rath und Lehre Andrer buchstäblich fern; der Zwang der Schule war gefallen, und die Stimme meines Gewissens, von keinem Glauben getragen, verhallte im Sturm ungezähmter Leidenschaften. So, mit keinem andern Zügel, als etwa dem der gesellschaftlich conventionellen Rücksichten, stürzte ich mich blind in das Leben hinein, gerieth, bald verführt, bald Verführer, in schlechte Gesellschaften jeder Art und hielt … alle Sünden für erlaubt, sobald sie mir die Rechte Andrer … nicht zu beeinträchtigen schienen.«

Hier beginnt – sieht man genauer hin – gleichwohl schon die Verteidigung des eigenen Tuns, denn immerhin habe er, flicht Bismarck ein, sich nicht nur blindlings seinem »sündhaften« Treiben überlassen, sondern auch weiter nach Orientierung gesucht. Es seien »Philosophen des Alterthums, unverstandene Hegelsche Schriften, und vor Allem Spinoza’s anscheinend mathematische Klarheit« gewesen, »in denen ich Beruhigung über das suchte, was menschlichem Verstande nicht fasslich ist«; später sei die Lektüre radikalerer zeitgenössischer Autoren wie David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach hinzugekommen, die ihn jedoch nur noch »tiefer in die Sackgasse des Zweifels« geführt hätten. »An eine geoffenbarte Religion schien es mir unmöglich jemals Glauben zu gewinnen; der Bibel legte ich keine beweisende Kraft bei, sie war für mich ein Buch aus Menschenhänden, dessen Lesung mir nur stets neuen Stoff zu Kritik und Zweifel gab.« Er brauche kaum hinzuzufügen, dass er »bei diesem Glauben nicht Frieden fand … ich habe manche Stunde trostloser Niedergeschlagenheit mit dem Gedanken zugebracht, daß mein und andrer Menschen Dasein zwecklos und unersprießlich sei, vielleicht nur ein beiläufiger Ausfluß der Schöpfung, der entsteht und vergeht, wie Staub vom Rollen der Räder; die Ewigkeit, die Auferstehung, war mir ungewiß, und doch sah ich in diesem Leben nichts, was mir der Mühe werth schien, es mit Ernst und Kraft zu erstreben«.

Dann folgt der von Bismarck sehr geschickt gesetzte Kontrapunkt des inhaltsschweren Schreibens. Erst durch die mehr zufällige erneute Begegnung mit seinem alten Schulkameraden Moritz von Blankenburg habe er nicht nur einen neuen wahren Freund, sondern über ihn zugleich Zugang zu einer ihm bisher unbekannten Welt wahrer Gläubigkeit gefunden, auch wenn er, Bismarck, sich nicht sogleich den religiösen Überzeugungen des Freundes habe anschließen können; dennoch sei er durch Moritz mit dem Kreis um die Thaddens bekannt geworden und habe darin Menschen gefunden, »vor denen ich mich schämte, daß ich mit der dürftigen Leuchte meines Verstandes Dinge hatte untersuchen wollen, welche so überlegne Geister mit kindlichem Glauben für wahr und heilig annahmen«; er selbst habe bald erkannt, »daß die Angehörigen dieses Kreises, in ihren äußern Werken, fast durchgehend Vorbilder dessen waren, was ich zu sein wünschte«. Entscheidend ist letztlich, dass Bismarck in diesem Kreis, wie er anschließend zugab, genau das fand, was er seit früher Kindheit entbehrt hatte: Im Kreise der Thaddens, Blanckenburgs und ihres frommen Umfeldes habe er erstmals »ein Wohlsein« empfunden, »wie es mir bisher fremd gewesen war, ein Familienleben; daß mich einschloß, fast eine Heimath«.

Hierin bestand wohl vor allem die Brücke, über die ihn dann der Weg zurück zum Glauben führte: das innere Leben dieses Kreises, der ihn als »Ungläubigen«, aber eben auch als Suchenden und Irrenden akzeptierte und ihn wie selbstverständlich in das Familienleben integrierte. Hier sei er nun, nachdem er »bittre Reue über mein bisheriges Dasein« habe empfinden müssen, auf den Weg zurück zum Glauben gelangt, erst durch verstärkte, von Kundigeren angeleitete Bibellektüre, bald aber auch geprägt durch die tiefe Erschütterung über den tragischen Tod der jungen Marie von Thadden. Aufgeschreckt durch die Nachricht von ihrer tödlichen Erkrankung, habe er unter Tränen zum Gebet und damit auch zu Gott zurückgefunden: »Gott hat mein damaliges Gebet nicht erhört, aber er hat es auch nicht verworfen, denn ich habe die Fähigkeit ihn zu bitten nicht wieder verloren, und fühle, wenn nicht Frieden, so doch Vertrauen und Lebensmuth in mir, wie ich sie sonst nicht mehr kannte«, und dies, weil er selbst nun »Gott täglich mit bußfertigem Herzen bitten« könne, »mir gnädig zu sein um Seines Sohnes willen, und in mir Glauben zu wecken und zu stärken«.

Der auf diese Weise überrumpelte Puttkammer gab dem leidenschaftlichen Brautwerber, trotz des eindrucksvollen Werbebriefs, zunächst noch keine Zusage. Immerhin wurde Bismarck während der Feiertage am Jahresende 1846 zu einem Besuch auf dem Puttkammer’schen Gut Reinfeld eingeladen, und bei dieser Gelegenheit scheinen die sicher vorhandenen starken Bedenken der Eltern gegen den möglichen Schwiegersohn geschwunden zu sein; jedenfalls stimmte Heinrich von Puttkammer bereits am 12. Januar 1847 einer Verlobung seiner Tochter Johanna mit Otto von Bismarck zu. Es war – das zeigen nicht nur der Werbebrief, sondern auch die vielen Schreiben Bismarcks an seine Braut aus der Verlobungszeit – eine wahrhafte, echte und tiefe Zuneigung, die beide miteinander verband und schon bald auch in der Ehe zusammenführte. Die Verlobungsbriefe zeigen einen ganz anderen Bismarck als den bisherigen, gerade auch in seinen Briefen zu Ironie und Sarkasmus neigenden jungen Spötter, der die Schwächen seiner Mitmenschen und auch die Widersprüche der eigenen Existenz nur allzu gern und geschickt aufs Korn nahm.

Das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und engster Gemeinschaft stand für Bismarck im Zentrum seiner Verbindung mit Johanna von Puttkammer, die den Unterschied zwischen ihr und der jüngst verstorbenen, auch von Bismarck verehrten Freundin Marie von Thadden gespürt haben mag. Wohl kaum eine Frau, die einen Liebesbrief von ihrem Verlobten erhält, dürfte von Formulierungen, wie Bismarck sie bei dieser Gelegenheit wählte, unbeeindruckt bleiben. »Meine liebe Johanna«, schrieb er ihr etwa am 21. Februar 1847, kurz nach der Verlobung, »muß ich Dir nochmals sagen, daß ich Dich liebe; sans phrase, daß wir Freud und Leid mit einander theilen sollen, ich Dein Leid, Du das meine, daß wir nicht vereinigt sind, um einander nur zu zeigen und mitzutheilen, was dem andern Freude macht, sondern daß Du Dein Herz zu jeder Zeit bei mir ausschütten darfst und ich bei Dir, es mag enthalten, was es wolle, daß ich Deinen Kummer, Deine Fehler, Deine Unarten, wenn Du welche hast, tragen muß und will und Dich liebe, wie Du bist, nicht, wie Du sein solltest oder könntest? … vertraue mir rückhaltlos, in der Überzeugung, daß ich Alles, was von Dir kommt, mit inniger Liebe, mit freudiger oder geduldiger, aufnehme. Behalte nicht Deine trüben Gedanken für Dich und blicke mich mit heitrer Stirn und fröhlichen Augen an dabei, sondern theile mir in Wort und Blick mit, was Du im Herzen hast, mag es Segen oder Leid sein«.31

Kurz: Er akzeptierte Johanna so, wie sie war – und umgekehrt; dies war und blieb die feste Basis ihrer am 28. Juli 1847 geschlossenen Ehe, die erst am 27. November 1894 mit Johannas Tod enden sollte.

Bismarck hatte gefunden, was er so lange gesucht hatte – eine Familie, und zwar eine im doppelten Sinne, nicht nur die gewissermaßen »erweiterte« Familie des Freundes- und Bekanntenkreises der pietistischen pommerschen Adelsfamilien, sondern auch seine eigene, ganz persönliche Familie. Johanna war vor allem eine gute Mutter, die sich liebevoll um die bald zur Welt kommenden drei Kinder des Paares kümmerte: Herbert (geboren 1848), Wilhelm (1949) und Marie (1852). Überhaupt erwies sich Johanna als eine »häusliche« Frau; jeder soziale, gesellschaftliche oder gar politische Ehrgeiz lag ihr vollkommen fern, kurz: Sie scheint in allem das Gegenteil Wilhelmines von Bismarck gewesen zu sein. Die spätere politische und diplomatische Karriere ihres Mannes begleitete Johanna stets mit eher gemischten Gefühlen.

Als sehr bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang ein Brief Bismarcks an sie aus der Anfangszeit seiner Laufbahn als preußischer Gesandter in Frankfurt am Main, in dem er ihre offenkundigen Selbstzweifel bezüglich ihrer Eignung als künftige Diplomatengattin mit gesellschaftlichen Verpflichtungen aller Art auszuräumen versucht: Er habe sie geheiratet, um sie zu lieben »und um in der fremden Welt eine Stelle für mein Herz zu haben, die all ihre dürren Winde nicht erkälten und an der ich die Wärme des heimathlichen Kaminfeuers finde, an das ich mich dränge, wenn es draußen stürmt und friert; nicht aber, um eine Gesellschaftsfrau für Andre zu haben, und ich will Dein Kaminchen hegen und pflegen und Holz zulegen und pusten, und schützen und schirmen gegen alles Böse und Fremde«.

Jedenfalls hänge sein Herz »nicht, wenigstens nicht fest, an irdischer Ehre; ich gebe sie mit Leichtigkeit auf, wenn je unser Friede mit Gott oder unsere Zufriedenheit dadurch gefährdet sein könnte«.32 Zwar hat er viele Jahre später einmal zu einer seiner Schwiegertöchter gesagt, es sei nicht eben leicht gewesen, »aus einem Fräulein von Puttkammer eine Frau von Bismarck zu machen«33, doch die Familie blieb auch in Zeiten angespanntester politischer Tätigkeit das unbestrittene Zentrum seines Lebens, der stets vorhandene Rückzugsort in schwieriger Zeit, eine für ihn vollkommen unentbehrliche Kraftquelle für seine Existenz als Mensch wie als Politiker.

Die Frage nach der Eigenart der Bismarck’schen Religiosität und damit auch nach der Echtheit seines Glaubens ist oft gestellt und sehr unterschiedlich beantwortet worden. Doch viele Quellenzeugnisse belegen, dass Bismarcks »Bekehrung«, wie er selbst sie empfunden hat, echt war, weil sie auf einem ehrlichen Empfinden beruhte und zugleich einem wirklichen Bedürfnis entsprach. Sie war, wie ein kundiger evangelischer Theologe, Wilhelm Lütgert, es einmal formulierte, »nicht nur ein intellektueller Vorgang, sondern eine Erweckung des Gebets«.34 Von den Lebens- und Umgangsformen, den Glaubenspraktiken der pietistischen Erweckungsbewegung hat Bismarck sich hingegen, obwohl er ihr zeitweilig sehr nahestand, bald wieder entfernt. Gleichwohl behielt er Gebet, Andacht und – wenigstens zu Anfang – den regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes bei; die innere Distanz zur Amtskirche, die den Neupietisten letztlich eigen war, hat er ebenfalls niemals überwinden können und wollen, auch wenn er die bestehende althergebrachte Form des landesherrlichen Kirchenregiments in Preußen niemals in Frage stellte.

Die Deutung dieser Vorgänge ist bis heute umstritten. Ein früherer Bismarckforscher, Arnold Oskar Meyer, vertrat die These, Bismarcks Religion habe vor allem »im Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht« bestanden, sodann »im Glauben an einen Sinn des Lebens dank einer göttlichen Vorsehung, in der Überzeugung eines tiefen Zusammenhanges zwischen geoffenbarter Religion und Sittlichkeit, endlich in der Unterwerfung unter das göttliche Sittengesetz«.35 Dies trifft jedoch nur auf den privaten, nicht auf den politischen Bereich zu. Von den Vorstellungen seiner in den 1840er-Jahren gewonnenen christlich-konservativen Freunde, die aus den Moralvorstellungen der Bibel eine politische Ethik abzuleiten versuchten, hat sich Bismarck rasch wieder verabschiedet. Die Welt des Politischen folgte, wie er sehr bald selbst erfahren musste, ganz anderen Gesetzen. Nach seiner Überzeugung hatte er von Gott keine Anleitung zum politischen Handeln, sondern das Pflichtgefühl empfangen, seinem Gewissen gemäß zu agieren und das, was von ihm als richtig erkannt worden war, auch durchzusetzen.

Wenn von durchaus kundiger Seite bemerkt wurde, »daß für Bismarck die Religion vornehmlich dazu da war, das innere, rein persönliche Problem zu meistern, das ihm aus den emotionalen Entbehrungen seiner Kindheit erwachsen war«, dass sie ihm also »ein Gefühl der Sicherheit« gab, »das Gefühl, einer zusammenhängenden, sinnvollen und zweckdienlich regierten Welt anzugehören«36, dann ist das nur die eine Seite der Medaille. Die seit Längerem bekannten und ausgewerteten Hefte der »Täglichen Loosungen und Lehrtexte der Brüder-Gemeine« zu Herrnhut, die Bismarck jahrzehntelang täglich las und gelegentlich intensiv mit eigenen Randbemerkungen und Annotationen versah, zeugen zweifelsfrei von einer tiefen inneren Anteilnahme an Glaubensdingen und Glaubenswahrheiten auch in späterer Zeit. Wenn er während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 einmal bemerkte: »Wie man ohne Glauben an eine geoffenbarte Religion, an Gott, der das Gute will, an einen höhern Richter und ein zukünftiges Leben zusammenleben kann in irgendeiner Weise – das Seine thun und jedem das Seine lassen, begreife ich nicht«37, dann spricht diese Äußerung jedenfalls für sich.

An ein direktes Eingreifen Gottes in die Geschichte im Allgemeinen oder in die Welt des Politischen im Besonderen glaubte Bismarck nicht. Die Dinge der Welt werden – so sah er es – grundsätzlich von den Menschen selbst bestimmt und gestaltet; jeder Politiker verfügt über die Freiheit zum Handeln, über die Möglichkeit der guten oder schlechten Entscheidung. Die Maßstäbe hierfür sind ihm freilich vorgegeben; er muss sich nur in vernünftiger Weise und vor allem zum richtigen Zeitpunkt zum Handeln entschließen. Das jedenfalls könnte Bismarck mit einer seiner berühmtesten (wenn auch nicht zweifelsfrei überlieferten) Feststellungen gemeint haben: »Politik ist, daß man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, eine Zipfel seines Mantels zu fassen.«38

Eintritt in die Politik

Bismarcks Eintritt in das politische Leben Preußens erfolgte über ein Verbindungsnetz aus einflussreichen christlich-konservativen Politikern, hohen Staatsbeamten und Militärs, mit denen er im Umfeld der pietistisch geprägten pommerschen Adelskreise in Kontakt gekommen war. Die führenden Persönlichkeiten dieses Zirkels, knapp eine Generation älter als Bismarck, waren geprägt durch das von ihnen erlebte Zeitalter der Französischen Revolution, durch die Napoleonzeit, die Niederlage Preußens von 1806/07 und endlich durch die siegreichen Befreiungskriege. Die meisten von ihnen waren ebenfalls beeinflusst von den Ideen der politischen Romantik und von dem strikt antirevolutionären Gedankengut des Schweizer Denkers Carl Ludwig von Haller, der mit seinem sechsbändigen Werk Die Restauration der Staatswissenschaft der Epoche nach 1815 ihren Namen gegeben hatte. Haller’sche Revolutions- und Liberalismus-Kritik, politische Romantik und ein streng aufgefasstes pietistisches Christentum flossen hier zusammen zu einem christlich-konservativen Ordnungsdenken, das auch den jungen Bismarck seit etwa 1845/46 für einige Jahre stark geprägt hat.

Zu dieser Ideenwelt gehörte die unbedingte Gegnerschaft zu den – vermeintlich unchristlichen – Ideen der Aufklärung und zu den hierin wurzelnden diversen Erscheinungsformen des Liberalismus ebenso wie das Festhalten an einem patriarchalischen, vom Dienstgedanken bestimmten Adelsverständnis: Der Adel verfüge nur deshalb über bestimmte Vorrechte und Privilegien, weil er verpflichtet sei, dem Staat zu dienen; gleichzeitig sei es Aufgabe jedes Landadligen, als Patron für seine Untergebenen zu sorgen. Die gutsherrliche Gerichtsbarkeit und die ländliche Polizeigewalt, bis 1848 in Preußen noch geltendes Recht, wurden von diesen Adligen deshalb zäh verteidigt. Dem König stand man in unbedingter Treue zur Seite, lehnte jedoch den aus dem 17. Jahrhundert kommenden »Absolutismus«, die Alleinherrschaft eines Monarchen, strikt ab. »Absolutismus« wurde in dieser Perspektive deshalb als etwas prinzipiell Revolutionäres empfunden, weil eine solche Regierungsweise die alten adligen Zwischengewalten, die Stände und auch die Kirche von der politischen Entscheidungsfindung ausschloss, dafür aber der Bürokratie zu viel Macht gab. Das Ideal der pietistisch-konservativen Politiker war hingegen der »christliche Staat«, wie er unter anderem von dem Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl propagiert wurde, einem konservativen, vom Judentum zum evangelischen Glauben konvertierten Juristen, der seit 1841 an der Universität Berlin lehrte.

Die meisten Angehörigen dieser Gruppe hatten schon vor 1840 dem Kronprinzen nahegestanden, der seit diesem Jahr als König Friedrich Wilhelm IV. das Land regierte; einige Persönlichkeiten, darunter die Brüder Gerlach, waren seitdem in hohe Staatsstellungen eingetreten und übten dementsprechend einen nicht zu unterschätzenden politischen Einfluss aus, der nicht zuletzt auf dem direkten persönlichen Zugang zum Monarchen beruhte. In diesen Kreis war Bismarck im Jahr 1845 eingetreten39, und bald schon – genauer gesagt: nach seiner Bekehrung und der Rückkehr zum Glauben – gehörte er zu den von den Gerlachs besonders geförderten jungen »politischen Talenten«, die einmal für Höheres vorgesehen waren. Mit sicherem Blick hatten sie nicht nur die auffallende Bildung und Intelligenz, sondern auch die ausgeprägten politischen Interessen des jungen Mannes erkannt; hierbei ließen sie sich durch den eher zweifelhaften Ruf des »tollen Bismarck« und durch die nicht besonders ansehnliche Berufskarriere das abgebrochenen Rechtsreferendars nicht täuschen.

Als in Preußen im Jahr 1847 – bereits sichtbar unter dem Druck der Ereignisse, die ein Jahr später zum Ausbruch der Revolution führten – endlich das von vielen Bürgern des Landes seit Langem ersehnte Gesamtparlament zusammentrat, gehörte Bismarck zu den gewählten Delegierten; die hinterpommerschen Adelsnetzwerke und seine neuen politischen Freunde hatten es ermöglicht. Der erste »Vereinigte Landtag«, der im April 1847 in Berlin zusammentrat, war jedoch noch immer keine von allen Bürgern frei gewählte parlamentarische Versammlung, sondern eine kompliziert zusammengesetzte ständische Vertretung aller preußischen Provinzen, weiterhin getrennt nach den Vertretern der Städte, der Landgemeinden und der adligen Ritterschaft. Im ersten Vereinigten Landtag gehörte Bismarck, kaum verwunderlich, zu den etwa sechzig Vertretern der von ihren liberalen Gegnern als »Reaktionäre« bezeichneten äußersten politischen Rechten.40

Sein Auftreten wirkte denn auch sofort provozierend, ob er das nun geplant hatte oder nicht. Jedenfalls erregte schon eine seiner ersten Reden bei den Bürgerlich-Liberalen scharfen Widerspruch, weil er es gewagt hatte, die Bedeutung der liberal-freiheitlichen preußischen Reformen von 1807 für den Freiheitskampf gegen Napoleon im Namen der preußischen »Nationalehre«41 ausdrücklich zurückzuweisen. Seine, wie das Protokoll verzeichnete, durch »Murren und lautes Rufen«, später durch »großen Lärm« mehrmals unterbrochene Rede wurde vom Gegner wütend kritisiert, doch Bismarck hatte sofort erreicht, was er offensichtlich gewollt hatte: Er war mit einem Schlag ein nicht nur in der Hauptstadt bekannter Mann geworden. Seine politischen Mentoren, darunter der ebenfalls dem Landtag angehörende Adolf von Thadden, aber auch die Gerlachs waren mit dem ersten Auftritt ihres Schützlings zufrieden.

In welch starkem Maße sich Bismarck am Beginn seiner parlamentarisch-politischen Laufbahn noch mit dem Gedankengut der christlichen Konservativen identifizierte, zeigte sich auch in seinen weiteren Debattenbeiträgen. In der Auseinandersetzung mit einigen prominenten Liberalen bekannte Bismarck unumwunden und mit vollendeter Ironie, dass er einer Richtung angehöre, die von gegnerischer Seite als »finster und mittelalterlich bezeichnet« worden sei, damit also »dem großen Haufen, welcher noch an Vorurteilen klebt, die er mit der Muttermilch eingesogen hat, dem Haufen, welchem ein Christentum, das über dem Staate steht, zu hoch ist«.42 Im Streit um die Zuerkennung politischer Rechte, die Bismarck (wie die anderen christlichen Konservativen) nur Staatsbürgern christlichen Bekenntnisses zuerkennen wollte, trat er entschieden für das – von den Liberalen indessen heftig bekämpfte – Prinzip des »christlichen Staates« und für das monarchische Gottesgnadentum ein: Jeder auf Dauer angelegte Staat müsse, so Bismarck, »auf religiöser Grundlage« stehen, und er fügte hinzu: »Für mich sind die Worte: ›Von Gottes Gnaden‹, welche christliche Herrscher ihrem Namen beifügen, kein leerer Schall, sondern ich sehe darin das Bekenntnis, daß die Fürsten das Zepter, welches ihnen Gott verliehen hat, nach Gottes Willen auf Erden führen sollen. Als Gottes Willen kann ich aber nur erkennen, was in den christlichen Evangelien offenbart worden ist, und ich glaube, in meinem Rechte zu sein, wenn ich einen solchen Staat einen christlichen nenne, welcher sich die Aufgabe gestellt hat, die Lehre des Christentums zu realisieren, zu verwirklichen.«43

Mit diesen Formulierungen, die wiederum auf scharfe Kritik seitens der Liberalen stießen, hatte sich Bismarck vor der politischen Öffentlichkeit Preußens als standfester christlich-konservativer Ultra und als ebenso prinzipienfester wie eloquenter Angehöriger des Gerlach-Kreises etabliert.

Das sollte auch in den folgenden Jahren erst einmal so bleiben. Die schon ein Jahr später, im März 1848, ausbrechende Revolution fand Bismarck denn auch auf der Seite ihrer konsequentesten und entschiedensten Feinde. Doch seine Gegenaktionen, die ihn erneut als ultrakonservativen Heißsporn auswiesen, scheiterten kläglich: der Versuch, mit einer kleinen Truppe königstreuer Bauern nach Berlin zu ziehen, um den König vor der revolutionären Bedrohung zu schützen, ebenso wie eine weitere (im Kern bis heute nicht geklärte) Aktion, die ebenfalls von Bismarck ausging. Enttäuscht über das vermeintlich unschlüssige, ja nachgiebige Verhalten König Friedrich Wilhelms IV. in den Tagen nach dem 18. März, hatte Bismarck die Gemahlin des königlichen Bruders, des Prinzen Wilhelm (der infolge der Kinderlosigkeit des Königs bereits als Thronfolger vorgesehen war) aufgesucht, um mit ihrer Hilfe, nach Möglichkeit im Namen ihres bereits geflüchteten Gatten, die aristokratische Gegenrevolution auf den Weg zu bringen – wenn nötig eben auch gegen den Willen des noch regierenden Monarchen. Prinzessin Augusta hat diesen Bismarck’schen Versuch vom 23. März, den sie als schwere Anmaßung empfunden haben muss, niemals vergessen; sie blieb seitdem seine Todfeindin. Bismarck hatte einen schweren Missgriff begangen.

Nach dem Scheitern aller gegenrevolutionären Bemühungen entsprechend kleinlaut geworden, geriet der zuerst so heißblütig agierende Kämpfer für Monarchie, Gottesgnadentum und Legitimität recht bald schon in die Defensive. Als sein politischer Mentor Ernst Ludwig von Gerlach Ende März 1848 in Adelskreisen einen Aufruf zur Gegenrevolution verbreitete, in dem es unter anderem hieß, es sei höchste Zeit »dem Thron und dem Vaterlande zu Hilfe zu kommen«, und hierzu bedürfe es »der Verbindung des gemeinsamen Handelns aller derer aus allen Ständen, welche deutsches Recht und deutsche Freiheit, welche insbesondere den preußischen Staat … gegen revolutionäre Tyrannei zu vertheidigen entschlossen sind«, da zeigte sich Bismarck plötzlich ungewohnt verzagt. Den an Deutlichkeit nicht zu überbietenden konservativen Aufruf, in dem vor der Herrschaft »tobende[r] Pöbelmassen« und vor »wüstem Radikalismus«44 gewarnt und entschlossene Gegenaktionen angemahnt wurden, wollte er nur mit dem Zusatz »keine Reaction und Bereitschaft zu Opfern« unterzeichnen, was Gerlach indessen strikt ablehnte.45 Am Ende blieb das konservative Manifest zum Ärger seines Verfassers auch noch unpubliziert, da sich zu wenige Unterstützer gefunden hatten.

Auch die nach Gerlachs Einschätzung »sehr matte Rede«46, die Bismarck nur wenige Tage später, am 2. April, in einer der letzten Sitzungen des in Berlin nochmals zusammengetretenen, jetzt vor der Auflösung stehenden Vereinigten Landtags hielt, ließ vom kämpferischen Temperament, das noch die Reden des vergangenen Jahres bestimmt hatte, nichts mehr verspüren. Als der Landtag eine Dankadresse an den König wegen der von diesem unter dem Druck der Ereignisse angekündigten liberalen Verfassungsreformen beschließen wollte, verweigerte sich der Abgeordnete Bismarck-Schönhausen: Was ihn veranlasse, so bemerkte er, »gegen die Adresse zu stimmen, sind die Äußerungen von Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geschehen ist. Die Vergangenheit ist begraben, und ich bedaure es schmerzlicher als viele von Ihnen, daß keine menschliche Macht imstande ist, sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der Umstände gezwungen, akzeptiere, so kann ich doch nicht aus meiner Wirksamkeit auf dem vereinigten Landtage mit der Lüge scheiden, daß ich für das danken und mich freuen soll über das, was ich mindestens für einen irrtümlichen Weg halten muß«.47

Dieses Verhalten hatte für Bismarck einige Monate später noch ein Nachspiel: Als sich im Sommer des Revolutionsjahres die Verhältnisse langsam zu beruhigen begannen, musste er einsehen, dass die heftigen Vorhaltungen, die ihm Gerlach seinerzeit gemacht hatte, berechtigt gewesen waren: »Was Sie mir«, schrieb er am 7. Juli seinem Mentor, »über den letzten Sterbe-Landtag wieder vorrücken, trifft eine wunde Stelle. Ich habe mir noch über keine Handlung meines Lebens soviel Vorwürfe gemacht, als über meine damaligen Unterlassungen. Ich wollte, wie Sie mir sehr richtig … sagten, zu klug sein, u. was noch schlimmer war, ich ließ mich von Freunden, theils klugen, theils feigen influenzieren … Der Moment bleibt verloren, aber die Lehre für mich nicht, u. der bittere Sporn, den Rest von bescheidener oder blöder Unselbständigkeit abzuschütteln, in welche 10 Jahre geistig trägen Landlebens mich eingeschlämmt haben.«48

Die politische Lehre, die Bismarck aus seinem Verhalten im April 1848 ziehen konnte, nämlich, dass eine gegebene Lage niemals zu früh als endgültig angesehen werden darf, hat er nicht mehr vergessen. Lagen und Situationen sind prinzipiell offen, sie können, wenn man es geschickt anstellt, beeinflusst werden und sind stets raschem Wandel unterworfen – das hatte Bismarck nun gelernt.

Und noch eine andere, nicht wenige bedeutsame Lehre wurde ihm in diesen Wochen zuteil; sie betraf seine Einschätzung König Friedrich Wilhelms IV., der selbst schon vor geraumer Zeit auf den konservativen Junker aufmerksam geworden war, nachdem er ihn zufälligerweise im Herbst 1847 in Venedig – wo sich die Bismarcks seinerzeit auf Hochzeitsreise befanden – persönlich kennengelernt hatte.49 Am 20. Juni des Revolutionsjahres – Bismarck befand sich gerade in Potsdam – erreichte ihn eine Einladung des Königs zu einem Gespräch. Bismarck wagte es tatsächlich, dem König, immerhin seinem Landesherrn, »unter dem Eindruck meiner frondirenden Gemüthsstimmung«, wie er es später ausdrückte, eine Absage zu erteilen. Doch der Monarch blieb beharrlich und ließ noch einmal, nun durch seinen persönlichen Adjutanten, eine »Einladung zur Tafel« nach Sanssouci überbringen. Nun blieb Bismarck natürlich nichts anderes übrig als dem Ruf des Königs Folge zu leisten.