Bitter schmeckt der Tod - Kathrin Brückmann - E-Book

Bitter schmeckt der Tod E-Book

Kathrin Brückmann

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  • Herausgeber: Qindie
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Als der zwielichtige Händler Merwer an einer Arznei stirbt, die ihm sein Arzt Nehesy verabreicht hat, scheint die Sache klar. Der Wesir des Königs verurteilt Nehesy zu Zwangsarbeit in den Steinbrüchen. Doch dessen Tochter Useret, ebenfalls Ärztin, glaubt nicht an die Schuld ihres Vaters. Begierig ergreift Hori die Gelegenheit, sich um das Herz seiner Angebeteten Useret verdient zu machen, indem er Nehesys Unschuld beweist. Er reist mit Nachtmin und Mutnofret nach Waset, wo sich der Todesfall ereignet hat. Was zunächst nach einer harmlosen Untersuchung aussieht, entpuppt sich bald als verzwicktes Rätsel, hinter dem weit mehr steckt als ein fehlgeschlagenes Geschäft. Hat der Händler den Falschen betrogen? Welche Rolle spielt die schöne Dienerin Nofru? Schon bald säumen weitere Leichen Horis und Nachtmins Weg, Useret dagegen verheimlicht ihnen wichtige Details. Und plötzlich droht ihnen selbst Gefahr …

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Inhaltsverzeichnis

Karte des alten Ägypten

Personenregister

Prolog

Auf dem Fluss

Ankunft in der Südlichen Stadt

Offenbarungen

Erste Nachforschungen

Beamte und Propheten

Der schöne Sohn

Auf falscher Fährte?

Überraschende Funde

Der allwissende Fürst

Unverhoffte Begegnung

Sie ist Fort

Narben

Gefangen

Flieh!

Wohin nun?

Ein unverhoffter Verbündeter

Ob zum Guten oder Schlechten

Banges Warten

Useret

Anhang ~ Ägyptische Götter

Anhang ~ Orte und Gebietsnamen

Anhang ~ Glossar

Kalender und Klima

Nachwort

Romane von Kathrin Brückmann

Impressum

Karte des alten Ägypten

Personenregister

Historische Personen sind fett gedruckt, in Klammern befindet sich eine Ausspra­chehilfe, eine Übersetzung des Namens steht kursiv dahinter.

Sesostris III. (Se-sostris) – Mann der Göttin Useret

Ein Herrscher, den ein Vogel beflügelt.

Hori und seine Familie

Hori – Name des Gottes Horus

Muss jemandes Unschuld beweisen.

Sobekemhat (Sobek-em-hat) – Sobek ist an der Spitze

Horis Vater und Wesir, aber nicht weise.

Nachtmin und seine Familie

Nachtmin (Nacht-min) – Min ist stark

Will seine Frau beschützen.

Mutnofret (Mut-nofret) – (Die Göttin)Mut ist schön

Hat ihren eigenen Willen.

Unterwegs

Djehutihotep (Dschehuti-hotep) – Thot ist zufrieden

Ein Gaufürst, der sich selbst erhöht.

Seneb – Der Gesunde

Sein Haushofmeister, stolz, zu ihm aufzuschauen.

In Waset

Useret – Die Mächtige

Begehrenswerte Kratzbürste, die schweigt.

Nehesy – Nubier

Ihr Vater, dem ihr Schweigen schadet.

Meseh – Krokodil

Korbmacher, wenig verschwiegen.

Antef – Der seinen Vater mitbringt

Gaufürst von Waset, dem Schweigen Gold wert ist.

Amunhotep – Amun ist zufrieden

Erster Amunprophet zu Waset und zu alt, um länger zu schweigen.

Hereret – Blume und Hapi – Name des Flussgottes

Schweigsame Diener in Horis und Nachtmins Haus, aber nur dort.

Ipuwer (Ipu-wer) – Der Große aus Ipu (alter Name für den Min-Gau)

Arzt, der Userets Schweigen bricht.

Merwer – Der Vielgeliebte

Umtriebiger Händler, der viel verspricht.

Sanefer – Schöner Sohn

Sein Sohn, der sich von seinen Methoden nichts mehr verspricht.

Satnefert – Schöne Tochter

Merwers Tochter enthebt sein Tod ihres Versprechens.

Anches-Nit – Sie lebt für die Göttin Neith

Seine Frau, die von seinen Versprechen zehrt.

Nofru – Schönheit

Seine Dienerin, vielversprechend, in jeder Hinsicht.

Ini – Geschenk

Verkauft Merwers Waren und hofft auf die versprochene Belohnung.

Wahka – Mit beständigem Ka, Heny – Binse

Merwers Pächter, die erst schweigen und dann sprechen.

Seni – Mein Bruder

Archivwurm, der seine Bestechlichkeit bereuen muss.

Kawab – Reiner Ka

Prophet des Chons, bestechend illoyal.

Bakenamun (Bak-en-Amun) – Diener für Amun. Vorsteher des Lebenshauses zu Wa­set.

Neferhotep – Schön und zufrieden. Arzt im Lebenshaus zu Waset.

Amunmose – Von Amun geboren. Archivvorsteher

Sarenput – Sohn der Jahre. Gaufürst von Ta-Seti

Sesostrisanch – Sesostris möge leben. Vorsteher der Hemu-netjer des Amun

Prolog

Pharao Sesostris fiel vor dem goldenen Götterbild auf die Knie. »Oh Amun, mein göttlicher Vater! Wende dich nicht ab von deinem Sohn, gewähre mir einen Erben! Die Beiden Länder brauchen einen Horus im Nest!«, rief er aus. Gerade erst war sei­ne zweite Gemahlin mit einem toten Knaben niedergekommen; er trauerte noch im­mer. Seine Kehle wurde eng, aber er war der König. Er musste stark sein. Leiser fuhr er fort: »Beschere mir Frieden innerhalb der Beiden Länder, denn mein Herz ist voll Kummer, und ich kann nicht wie ein Falke auf meine Feinde herniederfah­ren.«

Er hörte Füßescharren hinter sich, wo er Ameny, den Ersten Propheten des Got­tes, wusste. Als Sesostris sich erhob und umwandte, hielt sein treuer Weggefährte den Blick abgewandt, als hätte ihn das Eingeständnis der königlichen Schwäche mit Un­behagen erfüllt. Er seufzte. Zumindest bei Ameny konnte Sesostris sich si­cher sein, dass er nichts von dem, was er gehört hatte, aus den Wänden des Heilig­tums tra­gen würde. Wo sonst als hier durfte er seine Gefühle in Worte fassen? Das Gebet hatte den Schmerz über den Verlust seines Thronfolgers nicht merklich zu lindern ver­mocht. Ihm graute davor, alsbald sein anstrengendes Tagwerk beginnen zu müs­sen.

Das Scharren von Sandalen kündigte das Kommen der drei anderen Propheten an, die gemeinsam mit Ameny das Morgenritual am Gott vollziehen würden. Sie beug­ten ihre Rücken vor dem Herrscher und streckten die Hände in Kniehöhe aus. Als Sesostr­is das Allerheiligste verließ und in die große Halle des Tempels trat, umspiel­ten Amun-Res gleißende Strahlen den mit Hieroglyphen geschmückten Säulenwald und liebkosten auch ihn, den Herrn der Beiden Länder. Die Klänge des Morgenhym­nus für Amun schwebten körperlos durch den Raum. Wie Balsam war die Verhei­ßung eines neuen Tages, und nun fühlte er sich doch getröstet.

Kaum war er in seinem Arbeitszimmer angekommen, meldete sein Diener Atef zwei Besucher. Sesostris hätte lieber noch etwas dem Frieden nachgespürt, den ihm der Aufenthalt im Tempel beschert hatte, doch die Geschicke der Beiden Län­der konnten nicht warten. »Wer ist es denn? Ach, schon gut, sie sollen hereinkom­men«, brummte er.

Der Anblick der beiden Ärzte, die so tief in die schrecklichen Ereignisse der jüngst­en Zeit verstrickt gewesen waren, traf ihn wie ein Schlag. Sein Herz verdüs­terte sich, als hätte ein Schatten davon Besitz ergriffen, einer der Schatten der Ver­dammten. »Habe ich euch nicht vorerst von euren Pflichten entbunden?«, murrte er und we­delte die Ehrbekundungen der beiden ungeduldig beiseite, bevor er sie Platz zu nehmen hieß.

Hori, der Sohn seines Wesirs, glitt mit höfischer Eleganz aus der Verbeugung auf den angebotenen Schemel, der dunkelhäutige Nachtmin bewegte sich wie im­mer et­was linkisch. Ein ungleicheres Paar als diese beiden ließ sich kaum denken, und doch hatten es gerade ihre verschiedenen Sichtweisen ermöglicht, zwei beson­ders verwic­kelte Geheimnisse zu ergründen. Sesostris schätzte beide sehr und fühlte sich ihnen näher als den meisten seiner Vertrauten – und wenn sie tief in die jüngsten Er­eignisse verstrickt gewesen waren, so doch schuldlos. »Was gibt es?«

»Majestät, wir erbitten deine Erlaubnis, nach Waset reisen zu dürfen«, sagte Hori.

Waset! Der Klang des Wortes brachte ihm eines seiner anderen Probleme in Er­innerung. Er musterte den jungen Arzt misstrauisch. »Was wollt ihr in der Südli­chen Stadt?«

Nachtmins Gesichtsfarbe wurde wegen des scharfen Tonfalls um eine Nuance hel­ler, fast schon schlammfarben, aber er war es, der antwortete: »Äh, es ist wegen Muti. Ich meine, wegen meiner Gemahlin. Sie soll sich an einem Ort erholen, an dem sie nichts an den Verlust erinnert. Und da ich aus dem Süden stamme …«

Der Kummer, der aus seinen Worten sprach, ließ auch in Sesostris’ Augen wie­der Tränen brennen. Er bedauerte seine Schroffheit und hätte sich gern entschul­digt, doch das stand einem König nicht gut zu Gesicht. »Ist die Dame Mutnofret wohl ge­nug für eine solche Reise?«, fragte er sanfter.

»Ja, Majestät«, murmelte Nachtmin fast tonlos.

»Wie ergeht es Königin Nofrethenut? «, erkundigte sich Hori. »Ich habe sie jetzt schon drei Tage nicht gesehen, weiß ich sie doch bei meinen Kollegen in gu­ten Hän­den, und dennoch …«

»Schwach. Erschüttert. In Trauer.« Sesostris presste kurz die Lippen zusam­men, damit sie nicht zitterten. »Aber auf dem Wege der Besserung.« Er seufzte und dachte über die Bitte der Freunde nach. Eigentlich wüsste er sie lieber in der Residenz, denn wenn es um die Gesundheit seiner Gemahlinnen ging, vertraute er ihnen mehr als sei­nen anderen Leibärzten. Vielleicht auch deshalb, weil sie zu den wenigen Men­schen gehörten, die genau wussten, was in jener Nacht geschehen war. Sie in der Nähe zu haben, würde den Teil seines Herzens beruhigen, der von Sorge um seine zweite Frau niedergedrückt war, auf dass er sich besser um ander­weitige Schwie­rigkeiten küm­mern könnte. Doch er hatte den Freunden Erholung zugesagt, und er war keiner, der sein Wort brach. Waset also – vielleicht gar nicht übel, sie dort zu haben. Er lächelte. »Ihr habt meine Erlaubnis. Mehr noch: Ihr dürft für diese Fahrt die königliche Ruder­staffel in Anspruch nehmen.« Er muster­te sie erwartungs­voll.

Horis Augen leuchteten auf, doch bevor er annehmen konnte, verdüsterten sich Nachtmins Züge. »Ich denke, dass Muti eine geruhsamere Geschwindigkeit vorzö­ge. Immerhin ist sie noch nicht wieder hergestellt.«

Sesostris zog die Brauen zusammen. Was wagte dieser …? Halt, es war die rei­ne Sorge, die Nachtmin so sprechen ließ. Sie teilten dasselbe schwere Los, hatten beide in jener Nacht einen Sohn verloren, bevor der seinen ersten Atemzug tun konnte. Er breitete die Hände aus und sagte: »Wie ihr euch auch entscheidet, die Männer und Boote stehen zu eurer Verfügung. Ich lasse Thotnacht ein Schreiben aufsetzen, das euch dazu ermächtigt. Außerdem werde ich die Gaufürsten im Sü­den per Eilboten über euer Kommen unterrichten, damit man euch bequem unter­bringt, wo auch im­mer ihr anlandet.«

Diesmal wurde Nachtmins Gesichtsfarbe eine Spur dunkler, als er stammelte: »Ma­jestät! Zu gütig … Vielen Dank!«

Sesostris winkte ab. »Doch auch ich habe eine Bitte: Haltet auf der Reise eure Au­gen offen und berichtet mir über das Tun und Lassen der Nomarchen.«

Horis Brauen hoben sich, und er beugte sich vor. »Probleme, Majestät?«

Statt einer Antwort rieb sich Sesostris die Nasenwurzel. Was konnte, was durfte er diesen jungen Männern anvertrauen? Es widerstrebte ihm, sie mit weiteren Sor­gen zu belasten, da sie Erholung so bitter nötig hatten. Andererseits konnte er es sich nicht erlauben, auf ihren scharfen Verstand zu verzichten. »Ich habe derzeit nieman­den, der mir über das Treiben der Mächtigen im Süden Bericht erstattet«, sagte er ausweic­hend. Sie mussten ja nicht wissen, warum das so war. In Gefahr wären sie je­denfalls nicht, wenn sie ihm willfahrten; es war eine harmlose Bitte.

»Hm. Auf was sollen wir achten?«, wollte Nachtmin wissen.

Sesostris sah ihm an, dass ihm nicht wohl bei der Sache war, und er wünschte, er könnte den beiden schlicht eine gute Reise wünschen. Doch ohne Gewährs­mann in den mächtigen Südgauen fühlte er sich, als wäre er auf einem Auge blind. Die Ämte­rfülle der Nomarchen konkurrierte immer spürbarer mit seinem eigenen Einfluss. Et­liche waren sogar Eingeweihte der Göttermysterien und Träger von Geheimwis­sen, das Sesostris lieber nur vertrauenswürdigen Leuten überlassen hät­te – solchen, die er selbst ausgewählt hatte. Dummerweise war die Gaufürstenwür­de erblich, als einziges Amt in den Beiden Ländern, weswegen ihm in der Frage der Nachfolge die Hände gebunden waren. Statt Männer seines Vertrauens in den fernen Landesteilen einset­zen zu können, musste Sesostris zu verhindern trachten, dass die tatsächlichen Herren sich nicht zu Königen innerhalb seines Königtums aufschwangen.

Er rieb sich die Schläfen, um den Druck darauf etwas zu mindern, aber seine Machtlosigkeit in dieser Angelegenheit ärgerte ihn. In einigen Bezirken führten sie sogar die Zeitrechnung nach den Regierungsjahren des Nomarchen und nicht, wie üb­lich, denen des Pharaos! Auch die Abgaben aus dem Süden wurden in letzter Zeit geringer; kein gutes Zeichen. Vielleicht hätte er mehr Leute dort unten ge­braucht, die ihm Bericht erstatteten, doch so leicht war das nicht. Ohne eine gute Tarnung gelangt­e niemand in eine Position, in der er bei den Großen ein- und aus­gehen konn­te, und die Fürsten waren gewitzt und vorsichtig. Er wünschte, er könnte kurzen Pro­zess mit ihnen machen und sie einfach entmachten. Leider un­terhielten die Herren des Südens ihnen treu ergebene Milizstreitkräfte – vorgeblich zur Grenzsicherung –, und als Herrscher der Beiden Länder durfte er bei seinen Untertanen nicht ohne Grund mit seinen Truppen einfallen … Er vernahm ein Räuspern und hob den Blick.

Die beiden starrten ihn noch immer an und warteten auf seine Antwort. Was sollte er ihnen sagen? »Auf was ihr achten sollt? Hm. Ob sich die Männer Dinge anmaßen, die einem Sterblichen nicht zustehen. Vielleicht erfahrt ihr auch, wohin meine Steu­ern versickern. Nicht zuletzt achtet darauf, wer von ihnen mir ergeben ist und wes­sen Treue euch zweifelhaft erscheint.«

Hori zog ein langes Gesicht. »Aber Majestät! Eigentlich …«

Sein Freund legte ihm eine Hand auf den Arm und brachte ihn so zum Schwei­gen. »Wir halten die Augen für dich offen, mein König, doch nur, soweit es unse­rer Erho­lung nicht abträglich ist. Ich will Muti nicht in Gefahr bringen oder sie überanstreng­en.«

Nachtmins Widerspruch verärgerte Sesostris. Ganz schön keck für einen Oberägyp­ter, der mit Schlamm zwischen den Zehen aufgewachsen war! Sein Zorn erlosch so schnell, wie er gekommen war. Nachtmin hatte als Arzt gesprochen, und dass seine Patientin seine geliebte Frau war, machte die Sorge nur verständli­cher. Er seufzte. »Nun gut. Mehr kann ich nicht verlangen. Ich wünsche euch eine ange­nehme Reise.«

Auf dem Fluss

Tag 2 des Monats Wepet-renpet in der Jahreszeit Achet, der Überschwemmungs­zeit

Missmutig starrte Hori vom Garten seines Hauses auf die zahlreichen Sandbänke im Flussbett des Nils, dessen Wasser in der flirrenden Hitze zu verdunsten schien. Wie sehr er darauf brannte, endlich nach Waset zu reisen, in die Stadt, die ihm so teuer war wegen der Frau, die darin lebte! Von baldigem Aufbruch wollte Nacht­min bei so niedrigem Wasserstand jedoch nichts hören; die zahlreichen Untiefen bargen Gefah­ren für Boote und Passagiere, und sein Freund wollte Muti keiner weiteren Unbill aussetzen. Hori wagte nicht, Mutnofret selbst zu fragen, was sie vorzog. Nachtmin benahm sich in Bezug auf sie so beschützerisch wie ein Mutter­tier, schirmte sie von allem ab, und Hori wollte kein Zerwürfnis mit seinem Freund riskie­ren. Die Warte­zeit schien sich hinzuziehen wie klebriges Baumharz. Wann würde endlich die Nil­schwemme einsetzen? Hoffentlich fand Nachtmin dann nicht neue Ausreden, etwa eine zu reißende Strömung. Natürlich mussten sie für die Reise die Zeitspanne des allmählichen Steigens des Wassers nutzen, solan­ge der fast beständig wehende Nord­wind, dessen Kraft die Segel Boote blähte und sie gen Süden blies, noch gegen die Strömung ankam. Sobald die Überflutung sich nämlich ihrem Höhe­punkt zuneigte, kam jeglicher Schiffsverkehr zum Erliegen. Und im Süden stiegen die Wasser etliche Tage eher als hier, sie würden ihnen also entgegenreisen. Hori grinste. Das würde Nachtmin vielleicht doch davon überzeu­gen, Pharaos Schnell­boote zu nutzen.

Wie sehr er sich nach Useret sehnte! Seine Angebetete war schon vor einem halbe­n Monat in ihre Heimatstadt aufgebrochen, und jeder Iteru Wegstrecke zwi­schen ih­nen erschien ihm wie ein Feind, den es zu besiegen galt. Hätte er den Grund ihrer überstürzten Abreise nur früher erfahren! In Gedanken hielt er sich noch einmal den Inhalt des Schreibens vor Augen, das Nachtmins Schwiegervater Ameny ihm vor we­nigen Tagen gebracht hatte:

An Imhotepanch, Vorsteher der Ärzte in Itji-Taui, von Bakenamun, Vorsteher der Ärzte in Waset, Grüße. Du hast dich nach der Ärztin Useret erkundigt, ob sie einen guten Leumund besitzt. Wisse dies: Useret ist die Tochter des Arztes Nehesy, und bei­de waren bis vor Kurzem in unserem Lebenshaus tätig. Dann jedoch verstarb einer von Nehesys Patienten, und er geriet in Verdacht, dies sei wegen seiner Be­handlung geschehen. Ich sah mich gezwungen, den Arzt von seinen Pflichten freizu­stellen. Vor dem Kenbet unter Vorsitz des Wesirs Sobekemhat wur­de Nehesy des Vergehens schul­dig gesprochen, den Tod seines Patienten durch eine falsche Be­handlung verursacht zu haben, und zu fünf Jahren in den Steinbrü­chen von Cheny verurteilt. Daraufhin verließ auch die Ärztin Useret, gegen die nichts vorliegt, das hiesige Lebenshaus. Ich hoffe, ich konnte dir mit dieser Aus­kunft weiterhelfen.

Bitter lachte Hori auf. Kein Wunder, dass Useret zurückgeschreckt war, als sie er­fuhr, wer sein Vater war: Wesir Sobekemhat. Fast könnte er glauben, sein alter Herr hätte Nehesy mit Absicht verurteilt, denn er liebte es, seinem jüngsten Sohn Steine in den Weg zu legen und seine erlauchte Nase missbilligend über Horis Tun zu rümp­fen. Hatte ausgerechnet er in seiner Eigenschaft als Wesir der Beiden Län­der über Userets Vater zu Gericht sitzen und ihn verurteilen müssen? Fünf Jahre in den Stein­brüchen – genauso gut könnte es ein Todesurteil sein! Ein Fluch lag Hori auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Die Götter verfolgten gewiss einen Plan, um des­sentwillen all dies geschehen war. »Maat, ist dies dein Tun?«, wisperte er hoffnungsv­oll.

Die Göttin der gerechten Weltordnung hatte seine Schritte schließlich schon frü­her gelenkt und dafür gesorgt, dass Übeltäter bestraft werden konnten. Natür­lich, so musste es sein! Maat selbst wünschte, dass er nach Waset fuhr und das Fehlurteil of­fenbar machte. Der Arzt aus Waset war unschuldig, und Hori würde es beweisen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie weich Userets herbe Züge würden, sobald er Nehesy aus den Steinbrüchen befreit hätte. Wie dankbar sie ihm wäre!

Sein eigener Vater dagegen … Hori merkte, dass er seine Hände zu Fäusten ge­ballt hatte. Oh nein, Sobekemhat wüsste seine Bemühungen um die Maat sicher nicht zu schätzen. Es sähe dem alten Rechthaber ähnlich, wenn er Nehesy vorver­urteilt hätte, nur weil der demselben Berufsstand angehörte wie sein ungeliebter Sohn. Je länger Hori darüber nachdachte, desto größer wurde seine Gewissheit: Sein Vater in seinem Groll hatte vorschnelle Schlüsse gezogen. Sobekemhats Feh­ler war Horis Ge­legenheit. Hatte er erst Nehesys Unschuld bewiesen, stand der Er­füllung sei­ner Liebe nichts mehr im Weg.

Hori eilte zu der Pforte, die Durchlass zum benachbarten Grundstück gewährte, auf dem Nachtmin wohnte. Vielleicht hießen er und Muti ihn heute willkommener als die Tage zuvor, in denen sie um den Verlust ihres ungeborenen Kindes getrau­ert hat­ten?

Einer von Nachtmins Gärtnern sah auf, als er Horis Schritte vernahm. »Herr und Herrin sitzen am Fluss«, informierte der Mann ihn.

Hori dankte und wandte sich in Richtung des Stroms. Hinter einem üppigen Ole­anderbusch erblickte er das Paar in trauter Zweisamkeit und wollte sich schon zu­rückziehen, als Nachtmin sich umsah, ihn bemerkte und heranwinkte. Mutno­frets Lä­cheln ließ Horis Herz leicht werden. Obwohl er keine Schuld trug an den Ereignis­sen, die zu ihrer Fehlgeburt geführt hatten, fühlte er sich ihr gegenüber seit­her be­klommen. Er begrüßte die beiden förmlicher als gewohnt, verneigte sich sogar leicht.

Muti hob die Augenbrauen. »Hat Hori einen Stock verschluckt?«, fragte sie ih­ren Gemahl und erhob sich mühsam, weil sie noch an den Nachwirkungen der Fehlge­burt und des Fiebers litt. Sie wandte sich Richtung Haus. »Ich wollte mich gerade hin­legen. Ihr seid also ungestört.«

Nachtmin ergriff ihre Hand. »Mögen die Götter deine Träume segnen.«

Als ihre leichten Tritte verklungen waren, stellte Hori fest: »Sie ist schon fast wie­derhergestellt.« Er ließ sich auf der Schilfmatte neben seinem Freund nieder.

Nachtmin nickte. »Ihr Körper, ja. Doch der Verlust trifft sie hart – uns beide. Ich wünschte, sie würde endlich weinen …«

»Vielleicht hat sie es bald verwunden«, sagte er leichthin, verkniff es sich aber zu sagen, dass die beiden jung waren und sicher bald weiteren Nachwuchs erwar­ten wür­den. Als Arzt wusste er zu gut um die Gefahren von Schwangerschaft und Ge­burt, und nur die Hälfte der Kinder erlebte das Erwachsenenalter. Daher barg jedes keimende Leben ein Versprechen, dessen Erfüllung gleichwohl ungewiss war. »Was Pharaos Angebot betrifft …«, begann er vorsichtig.

Nachtmin unterbrach ihn sogleich. »Schon gut, du hast gewonnen. Muti sagt, sie will so schnell wie möglich und so weit wie möglich fort, also ja. Lass uns die königl­iche Ruderstaffel in Anspruch nehmen.«

»Oh. Gut.« Gestern noch, als sie vom König empfangen worden waren, hatte Nachtmin die schnelle Beförderung abgelehnt. Geruhsam solle die Fahrt werden, auf dass Muti sich erholen könne. Hori grinste. Etliche Tage, sogar Wochen auf dem Fluss zu verbringen, war vermutlich nicht das, was eine Frau als erholsam be­zeichnen würde, ob gesund oder nicht. Und er selbst hätte es nicht ertragen, in Schneckeng­eschwindigkeit voranzukommen, hatte sogar schon erwogen, die bei­den allein reisen zu lassen, während er selbst vorauseilte. »Wie viele Tage noch, bis wir aufbre­chen können, was meinst du?«

Nachtmin rollte mit den Augen. »Du bist schlimmer als Mutis kleine Brüder, die letztens das Neujahrsfest nicht erwarten konnten!«, rief er. »Die Götter allein wis­sen, wann die Wasser zu steigen beginnen. Bestimmt bald.«

Horis Kopfhaut juckte. Er riss sich die Perücke herunter und begann sich zu krat­zen.

»Nicht!«, rief Nachtmin. »Die Wunde ist kaum verheilt. Wenn du den Schorf ab­schabst, wird sie wieder aufbrechen.« Nachdem er Horis Verletzung abgetastet hatte, streifte er über die Stoppeln an dessen Stirn. »Weiß. Wie bei Muti«, murmel­te er be­drückt.

»Es gibt Schlimmeres. Die Steinbrüche zum Beispiel«, versuchte Hori, das Thema zu wechseln, und bereute es sofort, als er die gequälte Miene seines Freun­des sah. Natürlich, für ihn war die helle Strähne in Mutis Haar ein Symbol für den Ver­lust sei­nes Kindes, und tatsächlich dachte auch er selbst noch oft und voller Grauen an den Moment, als die Schattengestalt in ihn eingedrungen war. »Das wird uns wohl auf immer an die Schreckensnacht erinnern. Ich wünschte, ich könnte das alles verges­sen.«

Nun war es an Nachtmin, schuldbewusst dreinzuschauen, denn er war schließ­lich nicht von einem Schatten besessen gewesen. »Es tut mir leid. Reden wir nicht mehr davon. Was meinst du mit Steinbrüche?«

»Dorthin wurde Userets Vater verbannt. Und die Steinbrüche sind so gut wie ein Todesurteil; nur wenige überleben die harte Arbeit dort lange – gewisslich kein Arzt, dessen Hände nur im Gebrauch von Lanzette und Sonde geübt sind, nicht aber im Hauen von Steinen unter gleißender Sonne. Oh Nachtmin, Geschwindig­keit tut not!«

Sein Freund stöhnte. »Wenn ich deinen Kopf trepanierte, würde ich darin ge­wiss einen Wurm finden, der den ganzen Tag nichts anderes schreit als Userets Namen. Glaubst du, das weiß ich nicht? Weder du noch ich können den göttlichen Hapi zwin­gen, nach unserem Gutdünken anzuschwellen. Uhm, was ich dir noch sagen woll­te … Auf meine Hilfe musst du dieses Mal verzichten. Du wirst die Un­schuld von Userets Vater auch allein herausfinden. Muti braucht mich jetzt.«

Das war ein böser Schlag! Nachtmins Ausdruck war entschlossen; Hori würde ihn nicht umstimmen können, also seufzte er. »Nun gut, muss es eben ohne dich ge­hen.«

Tag 3 des Monats Wepet-renpet in der Jahreszeit Achet, der Überschwemmungs­zeit

Die Götter schienen Horis Flehen erhört zu haben. Schon einen Tag später bestie­gen er, Nachtmin und Muti in der Morgendämmerung das Boot der königlichen Ruders­taffel, ein schlankes, hölzernes Gefährt mit hochgezogenem Bug, der in ei­ner ge­schnitzten Lotosblüte auslief, und sogar noch höherem Heck, in dem Las­tenträger die Körbe mit ihrem Gepäck verstauten.

Ameny reichte ihnen ein in Leinen eingeschlagenes und gesiegeltes Päckchen über die Bordwand. »Ein Geschenk für Amunhotep, den Ersten Propheten des Amun in Waset.«

Mutis Vater war erst vor Kurzem in denselben Rang in Itji-Taui aufgestiegen, doch Waset war Amuns Hauptkultort. Daher war der Erste Prophet des dortigen Tem­pels mindestens gleichrangig mit Ameny, dessen Einfluss auf den König aller­dings größer war. Hori nickte Nachtmins Schwiegervater dankbar zu. Eine freund­liche Gabe und eine ebensolche Botschaft würden ihnen den großen Mann gewo­gen machen, vor al­lem wenn sie vorhatten, im an den Tempel angeschlossenen Haus des Lebens Nach­forschungen anzustellen.

Der Kapitän ließ das Segel hissen, die Mannschaft kniete sich in Positur, ein Bein aufgestellt, das andere am Boden, und ergriff die Ruder. Die Männer auf der Uferseit­e stießen das Schiff mit den langen Riemen vom Kai ab, bis es in die Fahr­rinne glitt. Dann tauchten beide Reihen die Blätter ins Wasser und legten sich auf das Kommand­o des Schlagmannes in die Riemen. Das Boot schoss so schnell da­von, dass Muti kaum Zeit blieb, ihren Eltern zuzuwinken, ehe sie um die nächste Flussbieg­ung herum waren. In den nächsten Stunden waren das Knattern des Se­gels und die eintönigen Rufe des Schlagmannes ihre ständigen Begleiter, nur un­terbrochen von gelegentlichen Warnungen des Burschen am Bug, der das Wasser vor ihnen auf Untiefen prüfte. Dann stemmte sich der Mann am Heck gegen das Steuerruder und lenkte das Schiff in tieferes Gewässer.

Das Boot pflügte dank einer frischen Brise aus Norden so geschwind durch den Nil, dass ihnen gelegentlich Gischt ins Gesicht sprühte, eine willkommene Abküh­lung an diesem heißen Tag. Viel Platz gab es nicht an Bord, und Nachtmin hatte den kleinen, Schatten spendenden Aufbau aus geflochtenen Schilfmatten sogleich für Muti beschlagnahmt. Hori blieb nichts anderes übrig, als neben Nachtmin un­ter Res gleißenden Strahlen zu schmoren.

Anfangs waren sie alle noch aufgeregt, vor allem Mutnofret, die wie er selbst noch nie weit aus der Residenz Itji-Taui fortgewesen war. »Seht nur, wie weit sich die Fel­der erstrecken!«, rief sie ein ums andere Mal. Oder: »Da, ein Dorf! Wer dort wohl lebt?«

Hori grinste dann jedes Mal. Seine weiteste Reise hatte ihn bis zum Osiristem­pel bei Neni Nesu geführt, das etwa fünf Iteru südlich der Residenz lag. Ein Iteru war die Strecke, die ein Boot üblicherweise in einer Stunde zurücklegen konnte, doch dies war kein übliches Boot! Schon etwa zwei Stunden nach ihrem Aufbruch kam das Heiligtum am Westufer in Sicht, und kurz danach näherten sie sich der Haupt­stadt des zwanzigsten oberägyptischen Gaues, deren Bauwerke sich am Ostufer er­hoben. Der Steuermann lenkte das Schiff in Richtung der Hafenanlage.

»Halten wir hier?«, fragte Muti aufgeregt. »Kann ich mir die Stadt anschauen?«

»Wir wechseln nur die Ruderer«, beschied sie der Schlagmann. »Die Order sei­ner Majestät lautet, euch ohne Verzug nach Waset zu bringen.«

Das Boot schwankte heftig unter den Füßen der Männer, die frische Mann­schaft kam an Bord, und schon bald setzten sie ihre Fahrt fort. Das stete Auf und Ab der schweißglänzenden Rücken, deren geübte Bewegungen sie so schnell vor­wärtsbrachten, wirkte einschläfernd. Aufstehen – Blatt senkt sich, zurücklehnen – Ruder durchziehen, niedersinken – Blatt hebt sich. Und wieder von vorn. Hori sah zu Muti hinüber, die offenen Mundes eingeschlummert war, und stieß Nachtmin in die Rip­pen. »Sieh nur. Wenn das nicht erholsam ist.«

Sein Freund grunzte ungehalten. »Ich war selbst grad eingedöst.«

Die Mannschaft wechselte alle zwei bis drei Stunden, je nachdem, wo sich Statio­nen der Ruderstaffel befanden. Als das göttliche Gestirn genau über ihnen stand, lenkte der Steuermann das Gefährt in den Schatten eines Uferhains und ließ die Ru­derer eine Rast einlegen. Grinsend sah Hori den Männern zu, die sich aufjuch­zend vom Bug aus ins Wasser stürzten. »Meinst du, es wäre unserer Würde als kö­nigliche Lei­bärzte abträglich, wenn wir es ihnen nachmachten?«, fragte er Nacht­min.

Der wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Ihr Götter, ich fühle mich schon wie Röstgeflügel!« Er warf einen Blick zu Muti hinüber und zwinkerte. »Die Wächterin meiner Würde schläft. Wagen wir es!«

Kichernd streiften sie ihre Schurze ab und eilten zum Bug. Ah, welche Wohltat, als die kühlen Fluten über Hori zusammenschlugen. Er schwamm ein Stück, damit ihm nicht der Nächste auf den Kopf sprang, und ließ sich dann träge treiben. Zu trä­ge! Die Strömung war stark und zog ihn bereits vom Schiff fort. Hastig paddel­te er zurück und klammerte sich an eins der Ruder.

Prustend wie ein Nilpferd tauchte Nachtmin neben ihm auf. »Herrlich! Ich könnte noch Stunden hier bleiben«, rief er.

Da machte Hori eine Bewegung im fast überfluteten Uferschilf aus. »Vielleicht doch besser nicht.« Er zeigte auf das graue Ungetüm, dessen Ohren, Augen und Nüs­tern aus dem Wasser ragten.

Nachtmin erbleichte. »Verflucht! Die Kerle werden es noch aufwecken mit ih­rem Geplansche und Geschrei.«

»Wenigstens scheint es kein Junges zu haben.« Trotzdem bewegte er sich zum nächsten Besatzungsmitglied hinüber und machte auf die Gefahr aufmerksam.

»Nilpferd! Nilpferd!«, rief der Jüngling aus.

Sofort wurde die gesamte Mannschaft still. Der Steuermann ließ ein Seil am Heck hinab, damit die verbliebenen Schwimmer dort zurück an Bord klettern konnten statt wie zuvor am Bug, wo das Tier lauerte. Nachtmin schien plötzlich gar nicht schnell genug aus dem Wasser kommen zu können, und auch Hori war froh, als er die Decks­planken unter seinen Füßen spürte. Mit einem wütenden Nil­pferd nahm es nicht einmal ein Krokodil auf!

Einige Wagemutige stürzten sich trotzdem erneut in den Fluss, nur diesmal vom Achterschiff aus.

»Muti schläft immer noch«, stellte Nachtmin erleichtert fest. »Sie würde mir einen Vortrag von hier bis Waset halten, wenn ich noch mal hineinspränge.«

Hori lachte. »Du hast recht, es ist das Wagnis nicht wert.«

Schon bald waren auch die letzten Wassertropfen auf ihren erhitzten Körpern ge­trocknet, und sie schlüpften wieder in ihre Kleider. Wenig später ging die Fahrt wei­ter, bis sie am Abend in Chemenu anlandeten, der Hauptstadt des Hasengaus.

Nachtmin fühlte sich nach dem Tag des Nichtstuns in der prallen Sonne erschöpf­ter als nach einem langen Dienst im Haus des Lebens. »Wir müssen uns rasch eine Un­terkunft suchen, bevor alle Betten in den Gasthäusern belegt sind«, flüsterte er Hori zu, doch der wies auf ein Grüppchen, das am Kai auf jemanden zu warten schien. Ih­rer einheitlichen und hochwertigen Kleidung nach waren dies Diener des gaufürstli­chen Haushalts, außerdem standen dort zwei Sänften mitsamt Trägern. Nachtmin schnappte nach Luft. »Für uns?«

»Was hast du denn gedacht, was es bedeutet, wenn der König – er möge leben, heil und gesund sein – uns seine Ruderstaffel zur Verfügung stellt und unser Kom­men ankündigt? Dass wir für unsere Unterkunft selbst sorgen müssen?«

Nachtmin biss sich auf die Unterlippe. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Hori so von oben herab tat. Als wäre dies für ihn nichts Besonderes! Doch hier vor all den Fremden war nicht der Moment, einen Streit zu beginnen, und so reichte er Muti die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Dass sie fast den ganzen Tag nur vor sich hingedöst hatte, zeigte ihm, wie schwach sie in Wirklichkeit noch war, auch wenn ihre Zunge bereits wieder flink und scharf war wie eh und je.

Die Diener verbeugten sich vor ihnen, einer etwas weniger tief als die anderen. Die­ser sprach sie an. »Willkommen in Chemenu. Ich bin Seneb, Haushofmeister des Fürsten und Propheten Djehutihotep. Unser Herr erwartet euch bereits. Wenn ihr bitte Platz nehmen wollt …«

Hori bestieg die eine Sänfte, Nachtmin setzte sich neben Muti in die andere. Kurz standen die beiden Tragsessel nebeneinander, und Hori raunte: »Gar den Haushof­meister schicken sie uns!«

Ah, dachte Nachtmin, er ist also doch beeindruckt, und grinste in sich hinein. Doch schon bald fiel ihm der Unterkiefer vor Staunen herab. Vor einem prächtigen Tempel stand eine riesige Statue aus Alabaster, bestimmt viermal mannshoch.

»Habt ihr je ein so großes Standbild gesehen?«, rief Muti aus. »Seneb, sag, wen stellt es dar?«

Der Haushofmeister ließ sich zurückfallen, bis er neben ihnen ging, und lächel­te selbstgefällig. »Dies ist ein Abbild meines Herrn Djehutihotep, und er war es auch, der es aus den Steinbrüchen von Hut Nebu hat herbringen lassen. Zum Ruh­me des Pharaos – er möge leben, heil und gesund sein ‑ und des großen Gottes Thot, dessen Erster Prophet mein Herr ist. Außerdem ist er der Bürgermeister die­ser Metropole.« Er eilte wieder voraus, sichtlich zufrieden mit dem Eindruck, den seine Stadt auf die Höflinge aus der Residenz gemacht hatte.

Vor allem wohl zu seinem eigenen Ruhm! Nachtmin beugte sich zu Hori hin­über. »Ein Mann mit vielen Ämtern und Würden, unser Gastgeber.«

Hori nickte langsam. »Ein Mann, den man sich nicht zum Feind machen soll­te.«

In der Residenz des Gaufürsten erwartete sie neben dem großen Mann selbst ein üp­piges Bankett. Djehutihotep hatte nur vom Besten auftischen lassen, und Nacht­min fragte sich, ob hier jeden Abend in diesem Rahmen gespeist und gefeiert wur­de. Dann konnte er sich schon vorstellen, warum die Abgaben an den König aus diesem Gau nicht allzu reichlich sprudelten. Der Oasenwein floss dafür in Strö­men, und in der Mitte des Saals bogen sich fast nackte Tänzerinnen im Rhythmus berauschender Musik. Der Gaufürst war ein Mann in fortgeschrittenem Alter – Nachtmin schätzte ihn auf mindestens fünfzig Jahre – und besaß neben einem aus­ufernden Wanst ein im­posantes Doppelkinn, das bei seinen häufigen Anfällen von Heiterkeit auf und ab schwappte.

»Schön, dich schon so bald und unter angenehmeren Umständen wiederzuse­hen«, sagte er an Hori gewandt, dessen Augen sich überrascht weiteten, bevor er er kaum merklich nickte.

Wann waren diese beiden sich begegnet? Nachtmin bekam keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn nun sprach Djehutihotep ihn selbst und Muti an. Doch die Freundlichkeit, mit der er die Reisegruppe empfing, erreichte nicht seine Augen, die sie verschlagen musterten. Als wüsste er, dass Sesostris sie gebeten hatte, ihm über die Handlungen der Nomarchen Bericht zu erstatten … Der Fürst des Haseng­aus war, wie er nicht müde wurde zu betonen, einer der mächtigsten unter ihnen, besetz­te sei­ne Familie doch bereits seit Generationen diese hohe Stellung. Nachtmin zeigte sich angemessen beeindruckt, erkannte aber, dass ihr Gastgeber ein sehr kranker Mann war. Die bleiche Haut, das Schwitzen, all dies wies auf ein Leiden des Her­zens und die Honigkrankheit hin. Würde er seinen Harn prüfen, wäre dessen Ge­schmack ver­mutlich süßlich.

Die Söhne des dicken Mannes ließen es sich ebenfalls wohlergehen, und warum auch nicht? Der Älteste würde den Sitz seines Vaters erben und nach ihm im Ha­sengau herrschen, ohne Einmischungen vonseiten der königlichen Verwaltung fürchten zu müssen. Seine Brüder und Schwestern waren gleichfalls versorgt. Nachtmin seufzte. Manchen Leuten fiel das Glück wie eine reife Traube in den Schoß, ohne dass sie sich danach recken mussten. Auch Hori hätte nur nach den Wünschen seines Vaters handeln müssen, um ohne Anstrengung zu Macht und Eh­ren zu gelangen, aber er hatte unbedingt Arzt werden wollen, gegen dessen Willen. Zum ersten Mal bewun­derte ihn Nachtmin dafür, obwohl Hori sich oft genug wie ein verwöhnter Ben­gel be­nahm.

Unter derlei Gedanken saß Nachtmin den größten Teil des Abends stumm da, wäh­rend neben ihm Muti gewandt mit Djehutihotep plauderte und Hori sich mit des­sen Leibarzt austauschte. Was hätte er diesen hohen Herrschaften auch zu sa­gen ge­habt, er, der Sohn eines niederen Priesters aus Chenmet-Min?

Doch plötzlich sprach ihr Gastgeber ihn direkt an. »Nun, junger Freund, ich habe gehört, unser Tempel des Thot hat deine Aufmerksamkeit erregt?«

Nachtmin verschluckte sich vor Schreck und nickte hustend. »Oh ja«, krächzte er, kaum wieder zu Atem gekommen. »Ein großartiges Bauwerk, das jedoch ver­blasst im Glanz jener Statue, die davor steht.«

Das gefiel dem Gaufürsten. »Ah! Es war ein Unterfangen, das in den Beiden Län­dern nicht seinesgleichen kennt, dieses Standbild heil hierher zu schaffen! Es wurde auf einem gigantischen Schlitten transportiert, gezogen von vier Arbeiter­kolonnen zu je dreiundvierzig Mann.«

Zu seiner Erleichterung musste Nachtmin nicht einmal übertreiben, als er aus­rief: »Eine unglaubliche Leistung! Wie ist es den Männern gelungen, den Schlitten mit die­sem Gewicht so weit zu ziehen?«

Djehutihotep beugte sich zu ihm und sagte verschwörerisch: »Wasser. Man muss die Erde unter den Kufen feucht halten, das ist das Geheimnis. Dann gleitet der Schlit­ten fast wie von selbst.« Er lachte jovial. »Der Transport dieser Statue, so schmeichle ich mir zu sagen, ist die größte Leistung meiner Amtszeit. Ich habe die Szene in meinem Grab verewigt. Wollt ihr es vielleicht vor eurer Abreise be­sichtigen? Es befindet sich allerdings einen Iteru östlich von Chemenu …«

Hori drehte sich herum und sagte mit echtem Bedauern in der Stimme: »Leider, mein Fürst, müssen wir bei Tagesanbruch aufbrechen, so sehr wir die Ehre auch zu schätzen wissen.«

Nachtmin nickte eifrig. Ein stundenlanger Marsch zur Nekropole der Gaufürs­ten war nichts, das er seiner schwächelnden Frau zumuten wollte.

Im nächsten Moment rief Hori aus: »Sagtest du östlich von Chemenu? Liegen eure Gräber nicht im Schönen Westen?«

Der mächtige Mann lächelte verhalten. »Leider eignet sich der Fels am westli­chen Ufer nicht zum Bau von Grabanlagen – zu bröckelig –, während sich östlich von hier wundervoller Kalkstein findet, aus dem auch der Tempel des Thot erbaut wurde. Meine Vorfahren haben daher begonnen, ihre Gräber dort in den Felsen schla­gen zu lassen, und ich eifere ihnen in dieser Sache nach.«

Ungläubig schüttelte Hori den Kopf. »Gräber im Osten!«

Zu Nachtmins Erleichterung ging sein Freund aber nicht weiter darauf ein, was das für den Totenkult, die örtliche Weryt und dergleichen mehr bedeutete, denn er war inzwischen so müde, dass er kaum die Augen offen halten konnte. »Äh … Ver­zeih, Djehutihotep. Ich bin erschöpft von diesem langen, ereignisreichen Tag und würde mich gern zurückziehen«, begann er.

Ein Schatten huschte über dessen Züge, der jedoch so schnell von einem herzli­chen Lächeln weggewischt wurde, dass Nachtmin sich getäuscht zu haben glaubte. Der Fürst rief aus: »Natürlich, natürlich. So will ich euch jetzt schon Lebewohl sa­gen. Man informierte mich, dass ihr bei Sonnenaufgang aufbrechen werdet. Eine gute Reise!« Sie bedankten sich höflich für seine außerordentliche Gastfreund­schaft, und Djehutihotep strahlte. »Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Seneb!«

Auf den Ruf seines Gebieters hin eilte der Haushofmeister herbei. »Herr?«

»Geleite meine Gäste zu den Gemächern, die wir für sie vorbereitet haben.«

»Gewiss.« Er verbeugte sich und machte eine einladende Geste mit dem Arm. »Wenn ihr mir bitte folgen wollt?«

Nachtmin erhob sich taumelnd vor Müdigkeit und auch einer leichten Trunken­heit, wie er sich eingestehen musste. Der Wein war gut gewesen, und da sein Mund den Abend über großteils müßig gewesen war, hatte er ihm kräftiger zuge­sprochen, als er es normalerweise für klug erachtete.

Tag 4 des Monats Wepet-renpet in der Jahreszeit Achet, der Überschwemmungs­zeit

Am nächsten Morgen brummte ihm der Schädel. Das war die Strafe des Seth für übermäßige Zecher!

»Soll ich Seneb fragen, ob er meinem leidenden Gemahl einen Kranz aus Lor­beerblättern zur Verfügung stellen kann?«, neckte ihn Muti, als er stöhnend zum Ab­ort wankte.

»Seit wann bist du die Sunut, die mich kuriert?«, grantelte er.

Als er zurückkam, lag eine Kette der frischen Blätter auf seinem Lager, und er leg­te sie sich dankbar um den Kopf. Schon bald verschafften ihm ihre kühle Fri­sche und ihr Duft Erleichterung, und ein kleines Frühstück aus Früchten, Brot, Zwiebeln und in Essig eingelegtem Fisch tat ein Übriges.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als sie den Palast verließen, verab­schiedet nur von Seneb, weil seine Herrschaft noch schlief. Hori schien die gestri­gen Aus­schweifungen besser verkraftet zu haben als er, oder war sein Freund aus­nahmsweise einmal der Besonnenere von ihnen gewesen? Nachtmin jedenfalls war froh, dass die kühle Morgenbrise den letzten Rest Schmerz und Benommen­heit fortblies.

Noch einmal wurden sie am riesigen Abbild Djehutihoteps vorbeigetragen, des­sen Schatten um diese Tageszeit ganz Chemenu zu überlagern schien, dann bestie­gen sie die königliche Barke. Noch ein Tag glühender Sonne! Nachtmin stöhnte. Im letzten Moment bat er einen der Diener, die sie begleitet hatten, um seinen Palmwedel.

Hori grinste. »Guter Gedanke! Bekomme ich auch einen?« rief er.

Die Bediensteten kamen der Bitte mit der Miene von Männern nach, die besse­re Manieren erwarten durften. Natürlich war sich selbst zuzufächeln geschmacklos für Herren von Stand, doch das war Nachtmin völlig gleich. Aufseufzend ließ er sich zu­rücksinken und lächelte seiner Frau zu.

Um Mutis Mundwinkel zuckte es. »Du kannst dich in feinstes königliches Lei­nen gewanden; du bist und bleibst ein Bauer«, wisperte sie, und Nachtmin knuffte sie in die Seite.

Hori schnaubte und fächelte sich eifrig zu. »Dann bin ich wohl auch einer?«

Sie lachte auf. »Du bist nur in schlechte Gesellschaft geraten.«

Er grinste breit. »In die beste, die man sich wünschen kann!«

Sobald die Hafenanlage von Chemenu außer Sicht war, wurde er ernst. »Nun, Nachtmin, was denkst du über unseren hochmögenden Gastgeber?«

Er spitzte nachdenklich die Lippen. »Allmählich verstehe ich, warum Pharao – er möge leben, heil und gesund sein – unseren unvoreingenommenen Blick wünschte, um den Gaufürsten ein wenig auf die Finger zu sehen. Allzu viel Macht scheint mir hier auf zu wenigen Schultern verteilt.«

»Im Gegensatz zu euch habe ich genau zugehört, was der Dickwanst so alles aus­geplaudert hat«, mischte Muti sich ein. »Diese Statue da, die er von sich hat machen lassen ‑«

»Vermessen!«, rief Nachtmin. »Steht einem Sterblichen so etwas zu? Allein der König und die Götter verdienen solche Ehren.«

»Nicht nur das, mein Gemahl. Die Gottesdiener des Thot werden der Statue täg­lich Opfer bringen, wenn Djehutihotep dereinst in die himmlischen Gefilde ein­gegangen ist.«

»Nun«, murmelte Hori, »das zeigt mehr als deutlich, wo er sich selbst sieht: als gleichrangig mit den Göttern. Das hätte ich nicht erwartet von einem der … Äh …« Seine Hand wanderte zu dem bronzenen Armreif empor, der seinen linken Oberarm zierte.

Nachtmin wusste, dass sich darunter ein unter die Haut geritztes Lebenssymbol be­fand, das Anch-Zeichen, und das hatte irgendetwas mit den geheimen Ritualen zu tun, die Hori jüngst hatte ausführen müssen, über die er aber – wieder einmal – nicht sprechen durfte. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in Nachtmins Her­zen breit; er dachte an die beiden Verfemten, deren Namen nicht mehr genannt werden durften. Der frühere Wesir der Beiden Länder hatte seine Macht miss­braucht, um unliebsame Menschen aus dem Weg zu räumen oder zum Schweigen zu bringen, und des hinge­richteten Wesirs Gemahlin war wohl noch durchtriebe­ner gewesen. Ihr Schatten hatte ihn und Hori sogar noch aus dem Totenreich mit ihrem Hass verfolgt. Wie ge­fährlich musste einer wie Djehutihotep sein, dessen Machtfülle schon im Diesseits allumfas­send war – zumindest in seinem Reich? »Wenigstens wird es nicht mehr lange dau­ern, bis er in den schönen Westen ein­geht«, murmelte er.

Hori nickte. »Ja, er sah nicht wohl aus. Sein Arzt hat mir berichtet, was er ihm für Kuren verabreicht, doch der Mann, so freundlich er sich mir auch gezeigt hat, ist ein Stümper. Das Übermaß an Klistieren wird Djehutihotep eher ins Grab brin­gen, als wenn er ihn gar nicht behandelte.« Er zuckte mit den Achseln. »Um so besser, mh? Um seine Umtriebe wird der König sich nicht mehr lange kümmern müssen.«

»Sag das nicht. Seine Brut ist begierig darauf, ihm nachzufolgen«, wandte Muti ein. »Wenn ihr mich fragt, dass der Fürstentitel erblich ist, sorgt für eine fette und trä­ge Verwaltung in den Gauen. Wer muss sich im Hasengau bemühen, die Gunst des Herrschers der Beiden Länder zu erringen? Wer seine Fähigkeiten unter Be­weis stel­len? Hier gilt nur eines Mannes Gunst allein, und es ist nicht die des Kö­nigs.«

Nachtmin schnappte nach Luft. »Muti!« Wenn stimmte, was seine Liebste da an­deutete, würde das die Ordnung im Schwarzen Land auf den Kopf stellen! Aber hatte er nicht eben ganz Ähnliches gedacht?

Hori aber nickte. »Recht hat sie. Und wer, wenn nicht unser junger König, wäre der Richtige, um die hiesigen Verhältnisse in andere Bahnen zu lenken?«

Mutis Blick sagte: ›Da siehst du es. Wenigstens einer erkennt die Klugheit mei­nes Herzens.‹ Trotzdem, er würde es bestimmt nicht wagen, dem König diesen Vor­schlag zu unterbreiten. Zu unsicher fühlte er sich seiner Stellung, auf die Se­sostris ihn erho­ben hatte. Sie sollten ja auch nur beobachten, keine Handlungsan­weisungen geben.

Fast unmerklich waren die ersten Stunden des Tages verflogen, und ein Wechsel der Ruderer unterbrach ihr Gespräch.

»Wo werden wir heute Abend sein?«, fragte Nachtmin den Steuermann. Der Wind trug einen Geruch mit sich … Er verspürte ein leises Kribbeln. Es roch nach … Hei­mat!

Tatsächlich antwortete der Mann: »Chenmet-Min, die Hauptstadt des Ming­aus.«

Sein Herz pochte heftig, und seine Hände wurden feucht.

Muti juchzte auf. »Oh Nachtmin! Du musst mir zeigen, wo du aufgewachsen bist!«

Besser nicht, dachte er. Wenn sie die kleine Hütte in dem heruntergekommenen Wohnviertel sähe, würde sie sich seiner schämen. Sein Vater hatte es nur zum Hem-Netjer der untersten Stufe gebracht. Als niederer Gottesdiener des Min stand ihm kein großes Anwesen zu wie das, in dem Muti aufgewachsen war. Um sie ab­zulenken, wies er auf die Landschaft, die sich links und rechts von ihnen erstreck­te. »Sieh nur, wie hoch der Nil hier bereits steht! Die Felder sind fast gänzlich über­schwemmt.«

Kurz vor ihrem Ziel teilte sich der Fluss immer wieder in zwei Arme, und Nacht­min erkannte die Nilinseln, die von ihnen umflutet wurden. Im Knie einer ausge­dehnten Flussbiegung lag sie dann vor ihm, seine Geburtsstadt, die er vor so vielen Jahren verlassen hatte, um in der fernen Residenz zu studieren. Res verge­hende Strah­len tauchten den prachtvollen Tempel des Fruchtbarkeitsgottes in glü­hendes Licht. Üppige Palmhaine umrahmten das Heiligtum und setzten ihm gleichsam gefied­erte Kronen auf.

»Oooh!«, staunte Muti.

»Was für ein Anblick!«, rief Hori.

Stolz wallte in Nachtmins Herz auf. Vielleicht war seine Heimat am Ende doch nicht so schäbig und provinziell, wie er sie in Erinnerung hatte? »Lasst uns mor­gen den Tempel besichtigen«, rief er eifrig. »Ich werde euch zeigen, wo ‑«

Horis fester Griff um sein Handgelenk ließ ihn verstummen. Unmerklich schüt­telte sein Freund den Kopf. Was sollte das? Oh, ja sicher! Ihm ging es nur darum, seine Useret möglichst schnell wiederzusehen. Dabei sollte diese Reise eigentlich Mutis und seiner Erholung dienen, und nun schien ein Wettrennen daraus zu wer­den. Er biss sich auf die Unterlippe, entschied sich dann aber dagegen, mit Hori herumzu­streiten. »Na ja, das können wir auf dem Rückweg noch machen«, schloss er ent­täuscht.

Wieder wurden sie vom Gaufürsten empfangen und bewirtet, doch zu Nacht­mins heimlichem Stolz trat dieser Würdenträger bescheidener auf als der aufgebla­sene Djehutihotep. Dennoch hatte er eine ähnliche Machtfülle inne, und das er­schien Nachtmin im Lichte seiner jüngsten Erfahrungen als bedenklich. Aber wa­ren sie hier, um sich über die Verwaltung des Königreichs Gedanken zu machen? Er lenkte seine Gedanken lieber auf das, was wirklich wichtig war: Mutis Wohler­gehen. Zu sei­ner großen Freude war die Teilnahmslosigkeit, die sie seit der Fehl­geburt die meiste Zeit umfangen hatte, lebhaftem Interesse gewichen, das allem galt, was sie er­blickte. Wahrlich, diese Reise war genau das Richtige, um sie ihren Kummer ver­gessen zu machen. Früh am nächsten Morgen bestiegen sie erneut die schwankenden Planken ihres Gefährts.

Tag 5 des Monats Wepet-renpet in der Jahreszeit Achet, der Überschwemmungs­zeit

Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto zappeliger wurde Hori.

»Sitz still! Du bringst uns noch zum Kentern!«, musste Nachtmin ihn ein ums an­dere Mal ermahnen.

Am Abend des dritten Tages nach ihrem Aufbruch aus der Residenz erreichten sie Waset, die Südliche Stadt, wie sie auch genannt wurde. So weit im Süden war selbst Nachtmin noch nie gewesen, und abgesehen von Itji-Taui hatte er auch noch nie eine so große Siedlung gesehen. Waset war riesig! Dominiert wurde das Häu­sermeer von der Tempelanlage des Amun, was zu erwarten gewesen war, aber er machte auch zahl­reiche Paläste und Villen aus.

Hori stand auf, wedelte mit den Armen, bis er im schwankenden Boot sein Gleich­gewicht gefunden hatte, und spähte über die Dächer hinweg. »Man erkennt, dass dies einmal eine Residenz von Königen gewesen ist!«, rief er aus. »Sieh nur, wie gerade die Straßen angelegt sind. Hier kann man sich bestimmt nicht verlau­fen.«

»Ja wirklich! Keine Biegungen oder Sackgassen.« Nachtmin grinste. In der Re­sidenz waren manche Viertel ein einziges Knäuel verwinkelter Wege, die oft ge­nug an einer Mauer endeten. Nachdem ihre Reise so lang und anstrengend gewe­sen war, konnte er aber gut verstehen, warum Dynastiegründer Amenemhet die Hauptstadt der Beiden Länder von Waset weiter in den Norden verlegt hatte. Bis Nachrichten von Waset ins äußerste Delta gelangten und umgekehrt, dauerte es einfach zu lange.

Als sie sich der weiträumigen Hafenanlage näherten, reckte Hori Kopf und Ober­körper und suchte das Ufer ab.

»Hältst du nach Useret Ausschau?«, spottete Muti. »Vermutlich erwartet sie deine Ankunft bereits sehnsüchtig.«

Nachtmin sah Hori erröten und freute sich ein wenig, seinen selbstsicheren Freund so verlegen zu erblicken.

»Ja … Nein …«, stammelte er. »Wie soll sie wissen ‑? Ich dachte nur …«

»Du hast gedacht, sie sitzt den ganzen Tag seufzend am Ufer, weil sie dich ver­loren hat, gib’s zu.«

Horis Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, und Nachtmin dachte bei sich, dass Mu­tis Zunge nicht nur scharf, sondern auch treffsicher war. Schön, einmal nicht selbst das Ziel ihres Hohns zu sein. Nun hatte sein Freund genug gelitten; Zeit, ihn zu erlö­sen. »Aber erwartet werden wir nichtsdestotrotz«, rief er aus und deutete auf eine Gruppe von Dienern, die neben zwei Sänften am Kai standen. Außerdem fielen ihm Bewaffnete auf, die alle Vorgänge am Hafen aufmerksam im Auge be­hielten. Er fühl­te sich ein wenig bedroht.

Ankunft in der Südlichen Stadt

Tag 5 des Monats Wepet-renpet in der Jahreszeit Achet, der Überschwemmungs­zeit

Was sollte Useret auch am Hafen machen? Sie wusste ja nicht einmal, dass er kam. Die Enttäuschung dämpfte Horis freudige Erwartung dennoch. Während er durch die Stadt zum Palast getragen wurde, hatte er kaum einen Blick für die fremde Umge­bung. Als das große Doppeltor in Sicht kam, holte Mutis überrasch­ter Ausruf ihn aus seinen brütenden Gedanken.

»Hier haben die Vorfahren unseres Königs residiert«, erläuterte Nachtmin sei­ner Frau. »Deshalb ein Doppeltor wie im Großen Haus von Itji-Taui. Und dort, siehst du? Das muss der Amun-Tempel sein.«

Horis Kopf ruckte herum zu den mächtigen steinernen Mauern, hinter denen sie sein musste, seine Geliebte. Dort war das Haus des Lebens angesiedelt, in dem sie als Ärztin tätig war. Oh könnte er doch gleich …

Der freundliche Empfang durch Antef, den Fürsten des Waset-Gaus, besänftigte Horis aufgeregt flatterndes Herz ein wenig. Antef war ein schlanker Mann in den Drei­ßigern mit einem klugen, ausdrucksvollen Gesicht, das von dichten Brauen be­herrscht wurde. Unwillkürlich blieb Horis Blick an eben diesen Brauen hängen, die sich bewegten, wann immer der Fürst sprach oder eine Miene verzog, als hät­ten sie ein Eigenleben.

Nachdem der Nomarch erfahren hatte, dass sie ihren Aufenthalt in der Südli­chen Stadt auszudehnen gedachten, bot er ihnen ein derzeit leer stehendes Haus im ehemal­igen Regierungsviertel an. »Ich werde gleich morgen meine Diener dafür Sor­ge tragen lassen, dass es euch dort an nichts fehlt«, versicherte er an Muti ge­wandt. »Einstweilen nehmt ihr gewiss mit den bescheidenen Räumen meiner Resi­denz vor­lieb.«

Während Diener ihr Gepäck in einen Korridor schleppten, stammelte Nachtmin sei­nen Dank hervor, und Hori war sehr zufrieden mit dem Arrangement. So luxuri­ös der frühere Königspalast auch war, er wollte lieber unbeobachtet von der Die­nerschaft des Fürsten handeln können. Zwar wirkte Antef wie ein freundlicher und groß­zügiger Mann, doch wäre er vermutlich nicht erfreut, wenn er herausfände, dass Hori seine Nase in Angelegenheiten der örtlichen Gerichtsbarkeit zu stecken ge­dachte.

Als hätte Antef seine Gedanken erraten, sagte er: »Dein Vater, der ehrwürdige We­sir der Beiden Länder, ist wohlauf, wie ich hoffe? Es war mir eine Freude, ihn un­längst bewirten zu dürfen, doch wirkte er ein wenig gebrechlich.«

Unlängst, ha! Das musste anlässlich des Kenbets gewesen sein, der Gerichts­verhandlung, bei der Userets Vater verurteilt worden war. Und von wegen ge­brechlich – steif traf es wohl eher. Er verbarg seine Überlegungen hinter einem Lächeln und sag­te: »Oh, gewiss, er ist rüstig wie eh und je. Mein Vater wird uns noch alle überle­ben.« Und sei es nur, um ihm zu trotzen!

Antefs Haushofmeister bat sie zu Tisch. Anders als in Chemenu erwartete sie hier kein Bankett, was Hori sehr recht war. Stattdessen servierten die Diener ein reichhal­tiges, aber schlichtes Mahl, wie es der Fürst vermutlich an normalen Ta­gen zu sich zu nehmen pflegte. Schön zu sehen, dass es auch bescheiden auftreten­de Gaufürsten gab. Pomp und Protz verdeckten nur allzu oft Willkür und Korrupti­on.

»Ich habe von den furchtbaren Ereignissen in der Residenz gehört. Ist es wahr, dass ihr es miterlebt habt?«, erkundigte sich Antef.

Nachtmin verschluckte sich fast und warf Muti einen besorgten Blick zu.

»Ich werde schon nicht in Tränen zerfließen, wenn jemand davon spricht«, sag­te sie bissig, entriss ihm ihre Hand und befingerte die weiße Strähne über ihrer Stirn. »Wirklich, Nachtmin …« Rechtzeitig besann sie sich, wo sie sich befanden, und un­terdrückte den Rest dessen, was sie sagen wollte.

Sicher nicht für lange, dachte Hori. Die ständige Sorge seines Freundes musste es ihr fast unmöglich machen, die schrecklichen Geschehnisse zu vergessen, ja, richtig zu trauern. Er sollte mit ihm ein ernstes Wort darüber reden. Wie konnte Antef über­haupt von den Ereignissen wissen? Da dämmerte ihm, dass der Erste Prophet des Chons dem Fürsten davon berichtet haben musste. Der Hohepriester war einer derje­nigen, die bei dem Ritual zum Bannen der Schatten dabei gewesen waren. Der Mann würde doch nichts darüber ausgeplaudert haben! Hori stockte der Atem. Nein, das hätte ein Eingeweihter nicht gewagt; das Geheimwissen musste sicher verwahrt blei­ben. Und der Rest, der nicht geheim war … Er seufzte. Es stand wohl zu erwarten, dass sich die Kenntnis darüber allmählich ausbreiten würde. »Mutnofret und ich wa­ren selbst Opfer des Fluchs«, bestätigte er dem Fürsten, der sie neugierig musterte. »Und wie ihre Majestät, Königin Nofrethenut, hat sie in jener Nacht das Kind verlo­ren, das sie trug. Diese Reise soll zuvorderst unserer Erholung dienen.« Damit hoffte er, die Neugier des Mannes befriedigt zu haben. Es wäre taktlos gewesen, angesichts des offensichtlichen Unbehagens sei­ner Gäste weiter nachzufragen.

Hori gratulierte sich zu dem Einfall, sich selbst ebenfalls als leidend dargestellt und Antef einen plausiblen Grund für seine Anwesenheit in Waset geliefert zu ha­ben. Eine Sache hatte diese Bemerkung deutlich gezeigt: Obwohl Waset abgelegen war, lebte Antef nicht unter einem Stein. Der Mann schien großen Wert darauf zu le­gen, über alles informiert zu sein. Vielleicht würde er es nicht dulden, dass Hori herums­chnüffelte, und so war es gut, wenn er vorerst nichts davon erfuhr. Es wäre natürlich von Vorteil, Antef als Verbündeten zu haben, der ihm den Weg ebnete und Türen öff­nete, aber noch wusste Hori nicht, ob man ihm trauen konnte. Zu dumm, dass der König sie angekündigt hatte! Hori hätte sich lieber unbemerkt umgesehen, zumindest anfangs.

»… oldaten am Pier und in den Straßen aufgefallen«, sagte Nachtmin eben. »Er­wartest du eine Bedrohung?«

Hori schreckte auf.

---ENDE DER LESEPROBE---