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Kaum sind die Siegesfeuer nach der Varusschlacht niedergebrannt, droht Runa und Baldur neues Unheil. Der gefürchtete Feldherr Tiberius naht mit frischen Legionen über die Alpen, um die fürchterliche Schmach zu rächen. Wann wird er zuschlagen - und wo? Runas Wissen lässt sie im Stich. Da hat sie eine zündende Idee, wie sie das Überleben des Stammes sichern kann, doch wem kann sie trauen? Erneut lauern Verräter in den eigenen Reihen.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Karte der Romanschauplätze
Trügerischer Friede
Der Götterring
Frühlingsopfer
Verfluchte Wälder
Wodans Weisheit
Der Bruder des Verräters
Die Leidenschaft des Tiberius
Die große Versammlung
Das Terrain bereiten
Der Schiffbrüchige
Lug und Trug
Wir wurden verraten!
Neue Pläne
Hinterhalt
Die lange Kälte
In vino Blubberfass
Möglicherweise
Alles verloren?
Wie man Geschichte schreibt
Der Fluch des Wissens
Personen
Römische Begriffe und Namen
Germanische Begriffe und Namen
Mythologie
Nachwort
Romane von Kathrin Brückmann
Impressum
Römerlager Aliso, Herbst 9 n. Chr.
Der Wind pfiff zwischen den Zelten hindurch und drückte die Flammen des Lagerfeuers nieder. Ein Funken landete auf Baldurs Unterarm und biss schmerzhaft in seine Haut. Er fluchte verhalten, schlug ihn weg und zog fröstelnd seinen Umhang enger um sich.
Sindbald sah ihn fragend an. »Was ist?«
»Ach, nichts.« Im Grunde alles, aber das wusste der dunkelhaarige Hüne von einem Anführer selbst. Seit Wochen rannten sie nun schon gegen die Römerfestung Aliso an, doch wie sollte man mit diesen uneinigen Kriegern verschiedener Stämme einen Belagerungsring ziehen? Fast wünschte Baldur sich Armins Führung zurück. So wenig er den Cherusker mochte, er besaß zumindest taktischen Verstand und konnte Männer zu einem gemeinsamen Vorgehen bewegen. Ohne ihn focht wieder jeder nur für sich und sein persönliches Heil. Aber Armin war längst heim ins Cheruskerland gezogen, und hier fand sich keiner, auf den alle hörten. Baldur hatte die nächtlichen Wachen satt, und die zunehmende Kälte machte ihm das Nahen des Winters bewusst. »Ich möchte nach Hause«, sagte er seufzend.
Im Licht der auflodernden Flammen blitzten Sindbalds Zähne auf. »Zu Runa unter die Felle, meinst du wohl. Wer hätte gedacht, dass es ausgerechnet ein Weib vermögen würde, dich zu bändigen?« Er lachte dröhnend.
»Grund zur Heiterkeit?«, erkundigte sich Thurstan und trat ans Feuer.
Baldurs Wangen glühten vor Verlegenheit. Er hasste es, von seinen Kampfgefährten wegen seiner Vernarrtheit in seine Frau aufgezogen zu werden, und hoffte, die Dunkelheit verbarg die Röte, die ihm gewiss ins Gesicht gestiegen war. »Ist deine Wache schon zu Ende?«, versuchte er abzulenken.
Thurstan winkte ab. »Bei dem Wetter werden die Römer bestimmt keinen Ausfall wagen. Viel zu stürmisch.« Er hockte sich neben Sindbald und nahm sich einen Knochen vom Abendessen, an dem noch etwas kaltes Fleisch hing.
Eine mondlose Nacht und Wind, dessen Brausen die Geräusche einer abziehenden Truppe überdeckte? Anstelle der Römer würde er genau jetzt zu fliehen versuchen. Baldur sprang auf. »Was soll das heißen? Habt ihr die Posten aufgegeben?«
Sein Freund schluckte den Bissen hinunter. »Nicht doch. Aber wir dachten, für heute Nacht reicht ein Mann je Posten.«
»Von wegen!«
Auch Sindbald erhob sich jetzt. »Die Römer könnten verzweifelt genug sein, nachdem sich das Nahen eines Entsatzheeres als Gerücht herausgestellt hat. Ihre Pfeile werden in Bälde verschossen sein, einen Ausfall können sie mit den wenigen Soldaten nicht wagen, und der Winter naht.«
Baldur nickte ernst. »Ihr Anführer, dieser Caedicius, ist ein schlauer Kopf. Wir könnten längst auf dem Heimweg sein, wenn seine Leute nicht unser Holz gestohlen hätten.«
Reimar trat zu ihnen. »Das wäre ein hübsches Feuer geworden. Und wie gern hätte ich Aliso brennen gesehen!«, rief er.
»Wir alle«, knurrte Sindbald.
Baldur wusste, dass die Schmach ihres unfreiwilligen Aufenthalts hinter Alisos Wällen noch immer an seinem Anführer nagte. Eingesperrt wie Hörige! »Statt in unserer Wachsamkeit nachzulassen, sollten wir die Posten eher verdoppeln«, drängte er.
Thurstan schleuderte seinen abgenagten Knochen in die Flammen. Zischend loderten sie auf. »Worauf wartest du? Lass uns gehen.«
Der Geruch nach versengtem Fleisch stach Baldur in die Nase. Er sprang auf.
»Ich komme auch mit«, verkündete Reimar.
Schon wenige Schritte jenseits des Lagers herrschte undurchdringliche Finsternis. Die Flamme von Reimars Fackel wurde von den heftigen Böen, die zwischen den Stämmen hindurchfegten wie Irrwische, niedergedrückt und mal hierhin, mal dorthin gezerrt. Baldur konnte nur wenige Handbreit weit sehen. Endlich näherten sie sich dem ersten Posten, dessen Lagerfeuer weithin sichtbar war. Baldur rief ihn an: »Lösch die Flammen, Mann. So zeigen wir dem Feind unsere Position und helfen ihm, unsere Wachen zu meiden.«
Der Kerl schreckte hoch, war offenbar auch noch eingeschlummert. Baldur stöhnte. »An dir hätte ja Varus mitsamt seinen drei Legionen vorbeispazieren können! Hoffentlich ist er das nicht.«
Der Krieger, ein Chatte, schaute sich ängstlich um. »Meinst du … die Wilde Jagd?«
Thurstan wechselte einen amüsierten Blick mit Baldur. »Wer weiß? An deiner Stelle würde ich die Augen offen halten, sonst holen sie dich im Schlaf.«
Sie marschierten weiter durch die Nacht. Über ihnen ächzten die Wipfel der Baumriesen im Wind. Plötzlich, sie befanden sich zwischen dem zweiten und dritten Ring an Posten, prasselte etwas Hartes auf Baldur nieder. Vor Schreck machte er einen Satz zur Seite. Dann merkte er, was ihn getroffen hatte – Eicheln – und lachte verlegen auf. »Ich dachte schon, Pfeile …« Er drehte sich zu seinen Kameraden um.
Im nächsten Moment fasste sich Reimar an die Kehle, aus der etwas Langes, Dunkles ragte: ein Pfeilschaft. Reimars Augen weiteten sich ungläubig; er stieß ein Gurgeln aus. Dann schoss ein Blutschwall aus seinem Mund, und er sackte zusammen, begrub die Fackel unter sich. Sofort umschloss Baldur die Schwärze Notts wie ein unsichtbar machender Mantel. »Verflucht, Römer!« Er tastete umher, bis er einen Baumstamm erfühlte, der ihm Deckung gab, falls weitere Geschosse heranschwirrten.
Dort, wo Thurstan eben noch gestanden hatte, schlug ein Körper auf dem Boden auf. Baldur schnürte es die Kehle zu. Nicht auch noch sein bester Freund! Dann hörte er ihn durchs Laub auf sich zukriechen. »Es sind doch Römer?«, vergewisserte Thurstan sich, als er ihn erreichte.
Baldur schnaubte zitternd. Noch immer steckte ihm das Entsetzen in den Knochen. »Das will ich hoffen, sonst können die Unsrigen was erleben.«
Der Wind wechselte die Richtung und trug Stimmen an Baldurs Ohr. Frauen. Kinder. Er hörte ihr Jammern und Flehen. »Oh ja, Römer.« Wie er vermutet hatte, nutzte der schlaue Fuchs Caedicius die Gunst der stürmischen Nacht, um den Belagerungsring zu passieren. Alles, was in Aliso Beine hatte, musste auf dem Weg zum Rhenus sein. Baldurs Kiefer mahlten. »Es war ihr Fehler, dass sie Reimar niedergestreckt haben. Sonst hätten sie möglicherweise unbemerkt entkommen können. Alarm!«, brüllte er. »Die Römer sind im Wald. Alarm!« Dann tastete er nach seinem Hifthorn und blies kräftig hinein. »Komm, wir müssen die anderen warnen.« Er rannte los, stolperte fast augenblicklich über Reimars Leichnam und schlug lang hin. Der Körper seines Kampfgefährten war noch warm, umso erschreckender seine Leblosigkeit. Baldur fluchte, um nicht aufzuschluchzen. Beim Aufstehen ertastete er das Ende der erloschenen Fackel, in deren Kern noch etwas Glut glomm. Er musste sie nur kräftig anblasen, um den harzgetränkten Stoff erneut zu entzünden. Erste schwere Regentropfen peitschten ihm ins Gesicht.
»Und wenn sie uns jetzt auch abschießen?«, schnaufte Thurstan neben ihm.
Baldur schüttelte den Kopf. Sie rannten zurück, also in die entgegengesetzte Richtung, und er glaubte nicht, dass die Römer ihnen nachsetzten. Die mussten das Horn ebenfalls vernommen haben und versuchten sicher, der Übermacht an Feinden so schnell wie möglich zu entkommen. Auf dem Weg zurück blies Baldur immer wieder ins Horn. Bald kamen ihnen Krieger entgegen, denen sie die Richtung wiesen. Immer mehr Brukterer, Chatten und Angehörige anderer Stämme strömten in den Wald. Als sie auf Sindbald und die Kämpfer ihrer Gefolgschaft trafen, machten Baldur und Thurstan kehrt und schlossen sich ihnen an.
Die Vorfreude auf die lang ersehnte Entscheidungsschlacht ließ das Blut heiß durch Baldurs Adern strömen. Er rannte und rannte und stellte sich vor, wie er sie vor sich hertrieb. Die Fackel drohte zu erlöschen; beim Versuch, die Flamme mit seiner Hand abzuschirmen, verbrannte er sich. Wasser lief ihm in die Augen und verschleierte seine Sicht. Sein Umhang aus nicht entfetteter Wolle hing schwer wie eine Rüstung von seinen Schultern. Auch wenn die Bäume den Wind ein wenig abhielten, ächzten die Äste bedrohlich unter dem zerrenden Angriff der Böen. Immer wieder krachte es, wenn irgendwo ein Baum fiel. »Da vorn! Da sind sie«, rief er. Seine Worte wurden vom Sturm davongetragen und vermutlich nur von denen gehört, die unmittelbar neben ihm liefen.
Bald darauf erreichten sie die ersten Kämpfenden.
»Das sind ja nur Weiber«, knurrte Meinolf verächtlich. »He, warum versucht ihr eure Kampfkunst nicht an echten Kerlen?«, fuhr er einen Sugambrer an, der einer toten Römerin den Schmuck vom Hals riss.
»Hände weg! Das gehört mir!«, zischte der Mann und zückte seinen Dolch.
Sein irrer Blick ließ auch Baldur zurückweichen. »Beutegier«, murmelte er abfällig. Und lauter: »Die Legionäre werden entkommen, wenn wir uns beim Tross aufhalten. Los, weiter, Männer!« Er wollte nicht mit ansehen, wie Stammeskrieger Frauen und Kinder abschlachteten, auch wenn es Römer waren. Darin lag keine Ehre. Zu seiner Erleichterung folgten ihm Sindbald und die übrigen Krieger seiner Sippe sowie viele weitere Kämpfer. Bald hatten sie das Gemetzel hinter sich gelassen. Wo aber steckten die römischen Soldaten? Hatten sie etwa die Beine in die Hand genommen, als sie merkten, dass ihre Flucht offenbar geworden war, und ihre Familien schmählich im Stich gelassen?
Sie verfolgten die Feinde die ganze Nacht hindurch, und als in der Morgendämmerung der Sturm allmählich abflaute, erblickte Baldur die römische Nachhut. Er stieß einen Freudenschrei aus und rief: »Endlich! Auf sie!« Doch als er sich umdrehte, sah er außer Sindbalds Kriegern kaum einen Kämpfer. »Wo sind sie alle?«, fragte er fassungslos.
Sindbald legte ihm die Hand auf die Schulter. »Zurück zum Castell und dort Beute machen, vermute ich. Sie fürchten, zu kurz zu kommen, wenn sie sich die Gelegenheit entgehen lassen.«
»Bei Wodans Klöten! Diese Holzköpfe! Wir hätten sie gehabt. Dann lasst uns wenigstens die Nachhut angreifen.«
Da erklangen vor ihnen in der Ferne Trompetensignale.
»Horch«, sagte Sindbald.
»Entsatz? Doch noch Entsatz?« Baldur schüttelte den Kopf. Er wollte es nicht glauben. »Es ist ein Trick. Bestimmt sind sie es selbst, die in ihre Luren blasen.« Sein Körper drängte vorwärts. Wenigstens Rache für Reimar wollte er nehmen.
Sindbald hielt ihn zurück. »Und wenn nicht? Dann stehen wir auf verlorenem Posten. Es wird lohnendere Möglichkeiten geben, ein Einherier zu werden. Denk an das, was du aufgibst.«
Plötzlich stand Baldur Runas Bild vor Augen, ihr Lächeln, ihre strahlenden Augen, ihr wundervoller Körper. Begehren regte sich in ihm. Seufzend wandte er sich von den Flüchtenden ab. »Du hast recht. Sinnlos, hier zu sterben, wenn der Stamm jedes Schwert benötigt.« Zu gern hätte er ihnen zumindest einen Pfeil hinterhergeschossen, aber der heftige Regen hatte die Sehne seines Bogens schlaff werden lassen. Er warf die erloschene Fackel fort.
↯
Sindbalds Dorf im Bruktererland
Runa saß mit den anderen Frauen in der Webhütte und glättete eine Knochennadel mit Sandstein, als die Magd Blida mit der Neuigkeit hereinplatzte: »Die Krieger kehren heim!« Dann erst schlug sie die Tür hinter sich zu und sperrte den eisigen Wind aus, der mit ersten Schneeflocken hereingeströmt war.
Baldur, endlich! Runa sprang auf, und die Gegenstände auf ihrem Schoß purzelten in alle Richtungen davon, darunter auch der mühsam passgenau geschnitzte hölzerne Stopfen ihres Nadelbehälters. »Mist«, fluchte sie verhalten und sammelte die kostbaren Dinge ein, bevor eine der Frauen darauf trat.
»Wie weit sind sie noch entfernt?«, erkundigte sich Ansberga bei der Magd.
Plötzlich schnatterten alle durcheinander, erkundigten sich nach ihren Männern und Söhnen. Da zog auch Runas Herz sich angstvoll zusammen. Lebte Baldur? Ihr Gefühl sagte Ja, doch konnte sie sicher sein, wenn die Götter beharrlich schwiegen?
Blida hob abwehrend die Hand. »Ich weiß auch nicht mehr als das. Lindrad hat es mir gesagt, und er hat es von einem der Schweinehütejungen.«
Runa entspannte sich etwas. Dann waren die Männer noch ein geraumes Stück weg, denn die Knaben trieben die Tiere zur Eichelmast inzwischen recht tief in die Wälder, weil in der Nähe des Dorfes schon alles kahl gefressen war. Sorgsam steckte sie die geglättete Nadel in das beinerne Nadelbehältnis an ihrem Gürtelgehänge und verschloss es. Ihr Blick suchte den Ansbergas.
Die hohe Frau aber war mit ihren Gedanken längst woanders und bemerkte es nicht. »Rasch, wir müssen alles für ein Festmahl vorbereiten. Blida, sag Lindrad, er soll zwei Ziegen schlachten. Was haben wir an Kleinwild?«
»Lindrad hat drei Feldhasen in den Schlingen gefunden.«
»Gut. Nimm auch vom Rauchfleisch und sag den Mägden, sie sollen frischen Brotteig vorbereiten.«
»Ja, Herrin«, sagte Blida und eilte hinaus.
Die anderen Frauen folgten ihr die Stufen am Eingang der Webhütte hinauf. Der Estrich des Grubenhauses lag unter Bodenniveau, um Zugluft abzuhalten. Es war hier drin tatsächlich wärmer als in den Wohngebäuden. Während Runa zu dem Langhaus lief, das sie mit Baldur, ihrem Gesinde und dem Vieh teilte, dachte sie über Erdwärme nach. Könnte man die nicht auch woanders nutzen? Rauch kräuselte sich aus dem Abzugsloch im reetgedeckten Dach. Sie stieß die Tür auf und rief: »Ulfhild! Ulfhild!«
Mit Alrun auf der Hüfte kam die Magd aus dem abgetrennten Stallbereich des Hauses. »Herrin?«
»Die Krieger kehren heim. Geh, hilf der hohen Frau beim Festmahl. Sag Folke, sie soll das Vieh in den Stall bringen und dann auch mithelfen.« Sie nahm Ulfhild das Kind ab und drückte ihre Tochter fest an sich. Im selben Moment spürte sie in ihre Milch einschießen, öffnete ihr Gewand und setzte sich auf ihre Schlafbank. Während sie das goldbeflaumte Köpfchen streichelte, eilten ihre Gedanken Baldur entgegen. Das Warten fiel ihr so schwer.
Es war schon spät am Tag, als der Ruf endlich durchs Dorf schallte: »Sie kommen! Sie kommen!«
Runa stellte sich neben Ansberga ins Tor der Palisade und reckte den Hals. Alrun strampelte protestierend auf ihrem Arm, so fest drückte sie das Kind an sich. Endlich tauchten die ersten Gestalten zwischen den Bäumen auf und betraten den Pfad zwischen den Feldern. Noch zu weit weg, um einzelne Gesichter auszumachen. Da erblickte sie Baldurs Blondschopf, der die meisten anderen Köpfe überragte. Er lebte, den Göttern sei Dank! Auch Sindbald, Thurstan, Meinolf – es sah aus, als kehrten sie vollzählig heim. Am Ende des langen Zuges entdeckte sie einige Rinder und sogar hochgewachsene Römerpferde.
»Aliso ist gefallen!«, brüllte Sindbald von der Spitze seiner Männer.
Im aufbrandenden Jubel stellten sich die Härchen auf Runas Armen auf. Ihre Prophezeiung hatte sich zwar bewahrheitet; die Römer waren vernichtet worden, die Wälle gefallen, und die Krieger befanden sich im Siegestaumel. Doch Runa hatte ihnen nicht alles gesagt, was sie wusste. Rom würde diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen, und Rom verfügte über viele Legionen. Wenn die Adler zurückkehrten, mussten die Brukterer ihre Rache fürchten. Wann würde das sein? Nur bruchstückhaft erinnerte sie sich der antiken Textquellen aus dem Studium. Tiberius, der Feldzug des Germanicus – hätte sie damals nur besser aufgepasst! Aber wer rechnete schon mit einer Reise durch die Zeit? Mit ihren Visionen, Segen und Fluch zugleich, schien es vorbei zu sein, und sie fühlte sich mehr denn je wie eine Schwindlerin. Was konnte sie dem Stamm jetzt raten? Zum Glück musste sie die Last der ungewissen Zukunft nicht allein tragen, denn Baldurs Mutter war eine mächtige Seherin. Wo steckte Hulda eigentlich?
Noch während sie sich nach ihrer mütterlichen Lehrmeisterin umschaute, legte jemand ihr seine schwere Pranke auf die Schulter, und sie fuhr herum. »Baldur!« Noch immer raubte sein Anblick ihr den Atem. Wie sehr sie ihn liebte!
Seine tiefblauen Augen, die denen seiner Tochter so sehr glichen, blitzten vor Stolz und Freude. »Komm her, Weib, und feiere deinen Helden! Die Römer sind vor uns davongerannt wie die Hasen.«
Bei ihm klang es wie ein lustiges Spiel, das ihren Ängsten spottete. »Und was, mein Gemahl, hat euch dann so lange aufgehalten?« Sie konnte den Ärger in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Zwei Monde in banger Sorge. Zwei Monde, in denen Baldur Schrödingers Katze glich: Er konnte tot oder lebendig sein. Vergeblich hatte sie sich damit zu trösten versucht, dass keine Nachrichten gute Nachrichten seien.
Ihr unwirscher Ton dämpfte Baldurs gute Laune. »Gleich wirst du alles erfahren, Frau.«
Runa biss sich auf die Zunge. Was dachte sie sich nur, ihren Mann vor seinen Kameraden zu tadeln? Dabei wollte sie ihm um den Hals fallen, ihn küssen und … Später. Sie sah Sindbald und Ansberga zum Langhaus des Anführers gehen und zwang sich zu einem Lächeln. »Verzeih, du warst lange fort und ich in Sorge. Hast du Hulda schon gesehen?« Suchend schaute sie sich erneut nach ihrer Schwiegermutter um. Sie konnte die Rückkehr der Krieger unmöglich überhört haben, auch wenn ihre kleine Hütte am hinteren Ende des Dorfes lag. Runa legte das Kind in Baldurs Arme, raffte ihren Rock und rief: »Ich gehe sie holen.« Während sie rannte, verrauchte der letzte Rest Ärger und machte reiner Freude Platz. Baldur war zu ihr zurückgekommen.
Nur Kunna trat auf ihren Ruf hin vor die Tür des Häuschens. »Die Krieger sind wieder da«, stieß Runa außer Atem hervor. »Aliso ist gefallen. Wo ist Hulda?«
Die Magd zuckte mit den Schultern. »Sie wollte zum Bach, die letzte Brunnenkresse ernten, bevor der Schnee alles zudeckt.«
Besorgt musterte Runa die schweren Wolken, die den Himmel verdunkelten. Die Nacht würde bald hereinfallen. »Wann ist sie fortgegangen?«
Nun wirkte auch Kunna alarmiert. »Gegen Mittag, Herrin. Sie müsste längst zurück sein. Ich …« Tiefe Röte überzog ihre Wangen. Hinter ihr in der Hütte raschelte es.
Runa spähte über Kunnas Schulter und sah jemanden zum Stall hinaushuschen. Kurz danach hastete Ramgar, Baldurs Unfreier, zwischen den Häusern hindurch. Sieh einer an! War er schon lange in die hübsche, aber etwas einfältige Kunna verliebt? »Ich werde nichts verraten«, versprach sie dem Mädchen, das sehr schuldbewusst dreinschaute. »Nur hilf mir jetzt. Wir müssen Hulda finden.« Sollte der alten Frau etwas geschehen sein, musste sich Kunna allerdings auf etwas gefasst machen.
Die Magd rannte in die Hütte, um ihren Umhang zu holen, und entzündete eine Fackel an der Herdstelle. Das machte Runa bewusst, dass die Suche länger dauern könnte, und die Männer erwarteten sie im Langhaus. »Lass uns zunächst meinen Gemahl benachrichtigen.«
An Kunnas Seite lief sie zu Sindbalds Haus. Wärme, Lachen und köstliche Bratendüfte schlugen ihr entgegen. Sie zögerte, die ausgelassene Stimmung zu stören. Zu ihrer Erleichterung sah Baldur bei ihrem Eintreten auf, und sie winkte ihn zur Tür. »Deine Mutter ist vor Stunden zum Bach gegangen und noch nicht zurück«, raunte sie. »Kunna und ich gehen sie suchen.«
Sorge verdüsterte seine Züge und ließ ihn älter aussehen als seine neunzehn Sommer. »Allein in den Wäldern? Ich komme mit.« Er legte seinen Schwertgurt an und nahm einen Speer von der Wand.
Obwohl es zum Bach nicht weit war und Runa recht genau wusste, zu welcher Stelle Hulda gegangen sein musste, war ihr Baldurs Begleitung sehr willkommen. Die Urwälder bereiteten ihr noch immer Unbehagen, zumal man sich in dieser Jahreszeit vor Wölfen vorsehen musste, auch wenn die sich selten so nah ans Dorf wagten. Was hatte Hulda nur geritten, allein hinauszugehen – bei diesem Wetter? Kunna hastete mit der Fackel vorweg. Runa ahnte, dass sie den scharfen Blick Baldurs fürchtete. Was ihr und Ramgar wohl blühte, wenn Baldur von ihrer Pflichtvergessenheit erfuhr – und davon, dass die beiden Unfreien sich heimlich vergnügt hatten?
Durch die fast vollständig entlaubten Baumkronen drang nur noch wenig Tageslicht. Der Schnee fiel zwar nicht dicht, aber beständig. Kalt war es geworden! Als sie kurz verschnaufte, hing Runas Atem als sichtbare Wolke in der Luft. »Dort entlang«, wies sie den Weg. Möglicherweise war Hulda ausgerutscht und gestürzt, lag hilflos und ausgekühlt am Boden. Bitte, ihr Quellgötter, lasst sie nicht ertrunken sein. »Es ist nicht mehr weit.« Oder versprengte Römer? Wer konnte schon sagen, wie viele von ihnen sich nach den jüngsten Gemetzeln in den Römercastellen längs der Lupia auf der Flucht befanden?
»Mutter!«, brüllte Baldur in den Wald hinein. Nur eine Krähe antwortete ihm.
Auch Runa beschleunigte ihre Schritte, wäre beinahe selbst ausgeglitten. Schnee machte die leichte Böschung des Bachufers glitschig. Hier musste sie doch sein. »Hulda!« Angst schnürte ihr die Kehle zu. Hulda musste ihr noch so viel beibringen. Sie hatte es Runa versprochen …
Kunna leuchtete mit der Fackel das Ufer ab. Da, waren das Schleifspuren? Runa fühlte ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet: Jemand hatte die Weise Frau verschleppt. Die unter den beständig weiter fallenden Flocken kaum noch wahrnehmbaren Spuren führten zum Kraftstein neben der Birkengruppe, ein hüfthoher Findling, den eine eiszeitliche Moräne hier abgeladen haben mochte. Hulda hatte Runa gelehrt, die Kraftströme in besonderen Orten und Gegenständen zu erfühlen, und dieser Fels war so ein Ort. Hatte Hulda göttlichen Beistand gesucht? Da machte Runa unter der dünnen Schneeschicht eine zusammengesunkene Gestalt aus, die an dem Stein lehnte. »Hier, sie ist hier, kommt!«, rief sie und betete, dass es nicht zu spät war. Sie sank auf die Knie und nahm Huldas eisige Hände in ihre. Puls, sie musste den Puls fühlen. Ihre eigenen Finger waren taub vor Kälte; sie spürte nichts. Da stürmte auch Baldur heran. Kurzerhand hob er seine Mutter auf seine starken Arme. Runa spürte für einen flüchtigen Moment Wärme an Huldas Rücken. Hoffnung keimte in ihr auf. Sie berührte den Kraftstein – warm, nicht nur von Huldas Körper.
↯
Baldur rannte unruhig vor der Hütte seiner Mutter auf und ab. Warum hatte Runa ihn fortgeschickt? Er wollte helfen, zumindest sehen, was geschah. Da öffnete Kunna die Tür und winkte ihn herein. »Endlich! Wie geht es ihr?«
So besorgt hatte er Runa selten gesehen.
»Sie wird es doch überleben?«, stammelte er.
Runa zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe das gebrochene Bein gerichtet, doch wer weiß, wie lange sie in der Kälte gelegen hat? Die Götter allein vermögen zu sagen, ob sie sich erholt. Ich wäre schon froh, wenn sie wieder zu Bewusstsein käme, auch wenn es ein Segen für sie war, dass sie das Einrichten nicht gespürt hat.«
Er sah Tränen in ihren Augen glänzen und unterdrückte seine Ungeduld. »Komm her, Liebste!« Sie warf sich in seine Arme. Tief sog er ihren Duft ein. »Ich habe dich vermisst.«
»Und ich dich!«
Als sie sich noch fester an ihn drückte, hätte er sie am liebsten gleich hier und jetzt auf die Felle geworfen.
»Du hast mich wirklich vermisst«, wisperte sie mit dem fremdartigen Zungenschlag, den sie immer noch nicht abgelegt hatte. Besonders die Kehllaute fielen ihr schwer. Er liebte ihre weiche Aussprache. Ihre Stimme war wie Honig. Lauter fuhr sie fort: »Du solltest Sindbald Bescheid geben, wie es um Hulda steht.« Sie seufzte. »Ich werde heute Nacht bei ihr bleiben. Versprich mir, dass du später vorbeikommst und mir alles über die Schlachten erzählst, die du geschlagen hast.«
Baldur schwankte zwischen Ärger und Belustigung. Runa zeigte eine seltsame Vorliebe für die Angelegenheiten der Männer. Anfangs hatte ihn das abgestoßen und in Verlegenheit gebracht, doch je mehr sie ihren Wert als Seherin unter Beweis stellte, desto ehrfürchtiger respektierten Baldurs Kameraden sie. Selbst der misstrauische Sindbald sah die Frau aus dem Feuer inzwischen als ein Geschenk der Götter. Eine Fremde war sie längst nicht mehr … Erneut regte sich die Lust in seinen Lenden. »Sindbald wird mich nicht vermissen. He, Kunna!« Die Magd kam näher, ungewöhnlich scheu, als hätte sie was angestellt. »Eile zum Langhaus und sag dem Anführer, wie es um meine Mutter steht. Runa und ich bleiben diese Nacht bei ihr.« Runas Augen weiteten sich vor Überraschung, und er grinste. »Du darfst dem Fest beiwohnen und den Kriegern aufwarten, doch bring uns später vom Festschmaus.«
»Ja, Herr.« Fort war sie.
Runa stellte sie sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Kopf zu sich herab. Als sich ihre weichen, warmen Lippen unter seinen teilten, hielt es ihn nicht länger. Er hob sie hoch und trug sie zur Bank, auf der sie geschlafen hatte, als sie noch neu im Dorf gewesen war. Nach kurzem Suchen fand er die Felle, bereitete das Lager und entkleidete sie. Er musste nicht fragen, ob sie ihn wollte. Die Leidenschaft seiner Frau erstaunte ihn immer wieder. Bereitwillig öffnete sie ihre Schenkel und hieß ihn warm und feucht willkommen.
Als ihrer beider Lustschreie verklungen waren, strich er sanft über ihre Wange. »Hattest du mir nicht einen Sohn versprochen?« Seine Hand legte sich auf ihren sanft gewölbten Leib.
Sie lachte. »Dazu gehören zwei! Du hast die Gesellschaft der Römer meiner vorgezogen, also beklage dich nicht. Und ich stille noch.« Plötzlich erstarrte sie. »Wo ist Alrun?«
»Als ich zum Fest gegangen bin, hat sie bereits geschlafen. Ich habe sie Ulfhilds Obhut übergeben.« Er wusste, wie sehr die Witwe seines Halbfreien Wilbert der Kleinen zugetan war, vermutlich, weil sie selbst keine überlebenden Kinder hatte.
»Wohl getan. Doch jetzt berichte! Nein, lass mich erst noch einmal nach Hulda sehen.«
Baldur seufzte und rollte sich beiseite, damit sie aufstehen konnte. Die Konturen ihres nackten Leibes wurden von der Glut der Herdstelle nur schwach nachgezeichnet, bis Runa mit geübten Handgriffen das Feuer schürte. Von gelben Lichtzungen umspielt bot sie sich seinen hungrigen Blicken dar, ohne sich dessen bewusst zu sein. Kein Vergleich zu früher, als sie sich ihrer Nacktheit schämte. Sie beugte sich über seine Mutter, und der Anblick ihres wohlgeformten Hinterns war fast zu viel für ihn. Wie am ersten Tag ihrer Ehe – ihr Götter, hatte es ihn nach ihr gelüstet! Dabei hatte er doch Faralda ewige Liebe geschworen und sich für sein Begehren verachtet. Er schnaubte leise. Erst jetzt wusste er, was Liebe wirklich war.
Hulda stöhnte leise, als Runa versuchte, ihr einen Kräutertrunk einzuflößen. Manchmal fragte Baldur sich, wo Runa all das gelernt hatte. Sie wusste so viel über Heilkunde, konnte sogar die römischen Zeichen schreiben und beherrschte neben der Magie der Runen die der Zahlen. Doch über ihre Herkunft und Erziehung sprach sie nie. Vertraute sie ihm nicht? »Was gibst du ihr?«
»Bier mit Weidenrinde und ein klein wenig Bilsenkraut. Das Bilsenkraut wird ihre Schmerzen lindern, allerdings wird sie lange schlafen und wirre Träume haben. Morgen will ich ihr einen Umschlag aus Beinwell und Arnika zubereiten.«
Bilsenkraut, ein starkes Mittel, das Hulda hoffentlich helfen würde, allerdings ließ ihn vor allem Runas Selbstsicherheit hoffen. Als sie wieder neben ihn unter die warmen Felle schlüpfte, zitterte sie leicht. Er umfing sie, um sie zu wärmen, und entzündete dabei seine eigene Glut von Neuem. »Oh Frau!« Wie von selbst glitt seine Männlichkeit zwischen ihre Schenkel. Bereitwillig drehte sie sich auf den Bauch, und so nahm er sie wie ein Hengst die Stute.
»Wir mussten Aliso fast einen Mond lang belagern«, berichtete er ihr später. »Viele kalte und einsame Nächte, in denen Wölfe heulten und die Römer uns von ihren Wachtürmen aus beschossen.«
Ihre Schultern zuckten, als lachte sie unterdrückt. »Klingt nach mächtig viel Vergnügen.«
»Hrmph. Zahlreiche Stämme und Sippen schlossen sich uns erst an, als die Kunde unseres Sieges über die Varuslegionen sie erreichte. Die anderen Castelle an der Lupia waren längst von den Unsrigen überrannt worden; in Aliso hofften sie nun auf Beute.«
»Wie die Krähen, Leichenfledderer. Sich erst feige in ihren Dörfern verschanzen und abwarten, wen das Schlachtenglück zum Sieger kürt!«
Obwohl sie damit seine eigenen Empfindungen in Worte kleidete, verteidigte er die fremden Krieger. »Nur dank ihrer Unterstützung konnten wir Aliso überhaupt umzingeln. Sindbald sagt, dass wir die Unterstützung der benachbarten Stämme noch brauchen werden, wenn es erneut gegen Roms Legionen geht. Auch wenn ich mich Armin nur widerwillig untergeordnet habe – ohne ihn und seine Überzeugungskraft, die zahlreiche Stämme auf seine Seite gebracht hat, hätten wir es nie geschafft.«
Runa kuschelte sich enger an ihn. »Waren denn überhaupt noch Römer in Aliso stationiert? Ich dachte, sie wären alle mit Varus gezogen.«
Er spürte ihre Anspannung und wusste, sie dachte an die Tage und Nächte, die sie eingesperrt in einem von Alisos Contubernia verbracht hatten. »Dieser Lagerkommandant Caedicius, du erinnerst dich?«
»Mh, ungern.«
»Ein fähiger Soldat, anders als die römischen Adelssöhne, die ihren Militärdienst als Tribun ableisten, ohne zu wissen, was Krieg bedeutet. Er hat es geschafft, die Wälle mit den wenigen Männern zu halten, die er hatte, zahlreiche Bogenschützen darunter. Eines muss man den Römern lassen, sie verstehen es, sich zu verschanzen. Gern hätte ich ein paar Ballistae zur Verfügung gehabt. So konnten die Unseren nur gegen die Wälle anrennen, ohne etwas zu bewirken.« Wären nicht die meisten Sippenführer so getrieben von Beutegier und Ehrsucht gewesen, gerade diejenigen, die sich dem Aufstand erst nach der Niederlage des Varus angeschlossen hatten … Sie hätten die Römer vollständig vernichten können, wenn sie sich auf eine gemeinsame Strategie verständigt hätten. Er schnaufte und fuhr fort: »Als das Gerücht die Runde machte, der römische Heerführer Tiberius nahe mit einer großen Armee, gaben etliche Krieger den Kampf um Aliso auf. Wir übrigen zogen den Belagerungsring weiter, überwachten die Straßen zum Castell. Wenn wir sie schon nicht besiegen konnten, so vielleicht der Hunger und der nahende Winter, das hofften wir.«
»Gut«, sagte sie und klang verwundert. Gleich darauf verstand er, warum, denn sie fügte hinzu: »Es liegt wahrlich keine Ehre darin, sich in aussichtslose Kämpfe zu stürzen und dabei umzukommen. Sie auszuhungern, war schlau.«
»Weiber! Was versteht ihr von Ehre?«, sagte er, obwohl er vor Aliso zur selben Einsicht gekommen war. Ihren Knuff für seine abfälligen Worte nahm er lächelnd hin. Seit er sie kannte, erschien ihm das Leben in Midgard verlockender als der Einzug nach Walhall. »Hrmph. Jedenfalls sahen auch die Römer irgendwann ein, dass so bald niemand zu ihrem Entsatz kommen würde, und als der Hunger sie plagte, wagten sie in einer Sturmnacht den Ausfall. Als wir von ihrer Verfolgung zurückkehrten, erhellten die brennenden Palisaden Alisos bereits den erwachenden Tag. Mit eigenen Händen habe ich Feuer an das Contubernium gelegt, in dem uns die Römer damals eingesperrt haben.«
Runa seufzte. »Sehr gut. Sind all unsere Leute gesund heimgekehrt?«
»Reimar traf ein Pfeil. Er ist ein Einherier.«
»Arme Wilarda!«
Baldur zuckte mit den Schultern und drückte sie an sich. »Ihre Söhne werden ihr Stütze und Trost sein.«
»Bis auch sie den Schlachtentod finden …«, murrte sie. Dann stützte sie sich auf den Ellenbogen. »Immerhin müssen wir Rom jetzt keine Geiseln mehr stellen.«
In diesem Moment flog die Tür der Hütte auf, und mit einem Schwall kalter Luft kam Kunna herein. Aus dem Korb an ihrer Hand stiegen verführerische Bratendüfte auf. Baldur erhob sich und nahm die Speisen entgegen. »Danke. Geh nur zurück zum Fest. Die Nacht kannst du unter meinem Dach verbringen, dann störst du nicht Huldas Schlaf, wenn du spät zurückkehrst.«
Kunna ließ keck den Blick über seine bloße Gestalt gleiten und nickte erfreut. »Das werde ich.« Sie reichte ihm einen Krug Met und entschwand.
Baldur wickelte sich in seinen Umhang und schürte erneut das Feuer. »Bleib liegen. Heute werde ich dein Höriger sein und dich bedienen.«
Runa kicherte.
Hulda wanderte durch die Nebel Helheims. Kalt, so kalt, und dieser Schmerz! Ganz allein durchstrich sie die unwirtliche Einöde. Wo waren die anderen Verstorbenen? Frauen, Kinder, den Strohtod gestorbene Krieger – irgendwo mussten sie sein. Befand sie sich wirklich in Helheim? Sie konnte sich nicht entsinnen, den Zaun Helgrind passiert zu haben oder vom Gebell des Hundes Garm empfangen worden zu sein, und doch weilte sie nicht länger in Midgard.
Endlich schaute sie in der Ferne ein Licht, golden wie Sunnas Strahlen, und strebte ihm zu. Je näher sie kam, desto wärmer wurde ihr. Der Glanz ging von einer einsamen Gestalt aus, die auf sie zu warten schien. Im ersten Moment glaubte Hulda, ihren Gemahl Baldger zu sehen, doch dann erkannte sie ihren Irrtum. Baldger saß längst an Wodans Tafel, in Gesellschaft der Asen und Einherier; er konnte es nicht sein. Ihre Gedanken formten den Namen Baldur, aber der Wanderer vor ihr war auch nicht ihr Sohn. Dennoch nickte der Fremde. Sie erblickte seinen Ring und den Mistelzweig, und da wusste sie es. Vor ihr stand der Gott Baldur, der Strahlende.
Also war dies in der Tat Helheim, denn einst erträumte der Göttersohn Baldur seinen eigenen Tod, woraufhin seine Mutter Frigg jedem Lebewesen, ob Tier oder Pflanze, einen Eid abverlangte, Baldur nicht zu versehren. Allein die Mistel vergaß sie. Loki überredete Baldurs blinden Bruder Hödur, einen Mistelzweig auf den vermeintlich Unverwundbaren abzuschießen, und so starb Baldur und ging in Helheim ein. Der untröstliche Wodan gab dem Toten den Ring Draupnir in den Leichenbrand. Später entsandte Wodan seinen dritten Sohn Hermodr nach Helheim, um Baldur zurück in die Welt der Lebenden zu holen, doch auch dies verhinderte Loki. Hermodr kehrte unverrichteter Dinge zurück, brachte lediglich Draupnir, den Ring des Überflusses, zurück zu seinem göttlichen Vater und in die Welt der Lebenden …
Hulda stutzte. Wieso trug Baldur den Ring? Ohne ihn würden die Felder Midgards verdorren!
Der Gott lächelte traurig und nickte. »Die Zeit ist noch nicht gekommen, da ich diese Gefilde verlassen darf. Du aber sollst die Pforten Helheims heute nicht passieren. Deiner harrt eine letzte Aufgabe.« Er löste den Ring von seinem Finger und bot ihn Hulda dar.
Zögernd griff sie danach.
»Unterweise die Frau aus den Flammen; lehre sie die Geheimnisse, mit deren Hilfe sie die Kreaturen Lokis überwinden kann.«
Hulda wusste, wen er meinte. Die kleinen Männer aus dem Süden, deren lohende Esse nie erlosch, immer neue Schwerter und Waffen ausspeiend. War nicht aber Runa selbst dem Feuer entstiegen?
Baldur schien ihre Gedanken zu lesen. »Eine Tochter Iduns ist sie.«
Idun, die sich Verjüngende, deren Äpfel den Göttern Unsterblichkeit verliehen – das mochte Runas Fremdartigkeit erklären.
»Gib ihr den Ring.« Der Gott verblasste.
»Warte!«, rief Hulda. »Welche Geheimnisse soll ich Runa lehren?« Doch sie erhielt keine Antwort. Mit voller Wucht setzten die Schmerzen wieder ein, die Baldurs Glanz gemindert hatte. Der Nebel lichtete sich.
Sie stöhnte.
↯
»Hulda? Kunna, schnell, reich mir den Trunk. Ich glaube, sie kommt zu sich.« Runa strich eine graue Haarsträhne aus Huldas Stirn.
Die Magd reichte ihr den Becher mit dem Aufguss aus Weidenrinde, und Runa setzte ihn an Huldas rissige Lippen. Die lange Bewusstlosigkeit ihrer Schwiegermutter bereitete ihr große Sorge. Das konnte nicht allein der Beinbruch sein. Ob sich die alte Frau beim Sturz den Kopf angeschlagen hatte? Aber wie war sie dann zum Kraftstein gelangt, dessen Wärme sie offensichtlich vor dem Erfrieren bewahrt hatte? Immerhin schluckte die Kranke jetzt. Und da, flatternd hoben sich die Lider. Erleichterung durchströmte Runa.
»Draupnir«, krächzte Hulda. Mit unerwarteter Energie warf sie die Felldecke von sich und streckte Runa ihre offene Hand hin. »Nimm!«
Auf Huldas Handfläche lag ein rund geschliffener, flacher Kiesel mit einem Loch in der Mitte, groß genug, um einen Finger hindurchzustecken. Vermutlich hatte das härtere Gestein einst ein weicheres wie Kreide umschlossen, und diese war von Wasser ausgewaschen worden. Stammte der Kiesel aus dem Bach? Zögernd nahm Runa den steinernen Ring, dessen Abdruck deutlich auf Huldas Handfläche zu sehen war. Sie musste ihn die ganze Zeit fest umklammert haben, als wäre er ungemein wichtig.
»Draupnir«, wiederholte die alte Frau das fremde Wort.
Fragend schaute Runa zu Kunna. War Huldas Verstand noch vom Bilsenkraut umnebelt? Die Magd schien auch nicht mehr zu wissen. Unruhig fuhren die Hände der Kranken auf der Decke hin und her. Sie hatte sichtlich Schmerzen, aber Runa wollte ihr ungern noch mehr Bilsenkraut geben. Die Arznei war zu gefährlich. »Hulda, verstehst du mich? Bist du am Kopf verletzt?« Sie tastete den Schädel ihrer Schwiegermutter ab. Keine Beule, aber sie mochte trotzdem eine Gehirnerschütterung haben, schlimmstenfalls eine Gehirnblutung. Dann konnte Runa nichts für sie tun, außer ein Loch in ihren Schädel zu bohren. Unter diesen Bedingungen? Was Baldur dazu sagen würde, wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
Huldas Augen schlossen sich wieder, und nach einer Weile schwand auch ihre Unruhe; der Atem ging ruhiger. Es schien, als ob sie endlich richtig schliefe, nicht nur in Bewusstlosigkeit versunken war.
Runa ging zum Topf, der zum Abkühlen neben der Feuerstelle stand, und prüfte die Temperatur. Dann nickte sie. »Hol mir Leinenstreifen«, bat sie Kunna und legte den merkwürdig geformten Kiesel beiseite.
Sobald die Magd das Gewünschte gebracht hatte, bereitete Runa einen Umschlag aus dem Gemisch von Blättern des Beinwells, getrockneten Arnikablüten, zerstoßener Kastanienrinde und Bärenklee zu. Sie hatte der alten Frau schon oft bei der Behandlung ähnlicher Verletzungen zur Seite gestanden und wusste, was zu tun war; Brüche waren keine Seltenheit. Nachdem sie die Schienen von Huldas Bein gelöst und die Verbände vom Vortag entfernt hatte, prüfte sie die Schwellung. Zum Glück war es kein offener Bruch, und solange das Gewebe nicht anschwoll, würde Hulda das Bein nicht verlieren. Der Gedanke an Amputation bereitete Runa Übelkeit. Hoffentlich kam es nicht dazu. Sie strich den Breiumschlag auf den gebrochenen Unterschenkel, umwand alles mit Leinen und befestigte die Schienen erneut, ohne dass Hulda aufwachte.
Als Runa kurz darauf die Bestände an Heilkräutern im Vorratsbereich der Hütte kontrollierte, hörte sie die Tür zum Wohnbereich zufallen, dann schwere Tritte.
»Runa?« Baldurs Stimme.
Sie schaute um die Trennwand herum und machte: »Sch-schhh. Hulda schläft.«
Er biss sich auf die Unterlippe und wisperte rau: »Wie geht es ihr?«
»Lass uns draußen sprechen, damit wir sie nicht stören.«
Vor dem Haus sog Runa tief die klare Herbstluft ein. Heute war es mild, der Schnee vom Vortag längst geschmolzen, und die Sonne vergoldete die reetgedeckten Dächer. Die Wände darunter bestanden aus Ständerwerk, dessen Gefache mit lehmverputztem Rutengeflecht gefüllt waren. Fenster besaß keines der Langhäuser, lediglich Windaugen in den Stallbereichen, durch die etwas frische Luft hereinkam, und natürlich die Öffnung im Dach des Wohnbereichs, durch die der Rauch des Herdfeuers abzog. Schon bald würde die Witterung alle Dörfler in die Hütten zwingen, in denen selbst bei klarem Wetter immer etwas Qualm hing, ganz abgesehen von den Gerüchen, die Mensch und Tier verbreiteten. Ob sie sich je daran gewöhnen würde? Die römische Lebensart mit Fußbodenheizungen und Bädern hatte schon einiges für sich, trotzdem würde sie sich immer wieder für Baldur entscheiden. Sie dachte an letzte Nacht, seine Leidenschaft, und ihre Knie wurden weich. Noch immer konnte sie es kaum fassen: Er hatte sich wirklich für sie entschieden statt für die schöne Faralda, obwohl sie anfangs alles falsch gemacht hatte.
Baldur gab Kunna einige Anweisungen, bevor er sich unter dem Türsturz durchbückte und zu Runa gesellte. Zu ihrer Überraschung hakte er sie unter und zog sie mit sich. »Sindbald verlangt deinen Rat.«
Natürlich, solange Hulda krank darniederlag, musste sie als Weise Frau einspringen. Würden die Männer auf sie hören? Sie war so tief in Gedanken, dass sie nicht auf den unebenen Weg achtete und stolperte. Baldurs stützender Arm hielt sie. »Geht es Mutter besser?«, erkundigte er sich noch einmal.
»Hulda ist eben kurz zu sich gekommen«, antwortete sie. »Das Bein sieht gut aus.«
Baldur brummte zufrieden. Kurz darauf stieß er die Tür zum Langhaus des Anführers auf, und Runa trat in die spärlich erleuchtete Halle.
Sindbalds Heim bot auch etlichen Kriegern seiner Gefolgschaft Obdach und war schon deshalb deutlich größer als die anderen Gebäude. Der Anführer saß auf seinem erhöhten Sitz, der, wie sie von Hulda wusste, Wodans Thron Lidskialf, dem ›Schelf des Mitgefühls‹ in Walhall nachempfunden war. Die engsten Vertrauten und Ratgeber, zu denen auch Baldur gehörte, waren bereits um den Tisch versammelt, aber der Stuhl links von Sindbald war frei, und dorthin winkte er Runa. Huldas Platz …
Sie setzte sich, und sofort schenkte ihr eine Magd Met in einen Becher. Sie hätte lieber Wasser gehabt, wagte aber keinen Widerspruch. Zögernd vollzog sie das rituelle Opfer für die Götter, indem sie einige Tropfen auf den Boden schüttete und ein Gebet murmelte, wie sie es bei ihrer Lehrmeisterin gesehen hatte. Erst dann hoben die Krieger ihre Trinkhörner oder Becher und riefen: »Selitho!«
Im allgemeinen Lärm hätte sie Sindbalds an sie gerichtete Frage beinahe überhört. »Wie geht es der Weisen Frau?«
Runa räusperte sich und nahm nun doch einen Schluck. »Sie schläft jetzt, und ich glaube, der Bruch wird gut verheilen.« Sie durfte nichts versprechen, was sie nicht halten konnte. »Leider hat sie lange in der Kälte gelegen, und sie ist nicht mehr jung und kräftig. Die Götter allein wissen, ob sie ihr Lager je wieder verlassen wird.« Da fielen ihr Huldas merkwürdige Worte ein. »Sindbald, was ist Draupnir?«
Des Anführers buschige, dunkle Brauen runzelten sich. »Wodans magischer Ring der Fruchtbarkeit und des Überflusses. Wieso fragst du?«
Kurz fröstelte sie und rieb sich die Arme. Der eigenartige Kiesel, ein Ring der Götter? Wohl kaum. Das Bilsenkraut musste aus Hulda gesprochen haben. Trotzdem, zu dumm, dass sie den Lochstein nicht mitgebracht hatte. Sindbald hätte ihr vielleicht sagen können … nein! Woher sollte er wissen, wie Draupnir aussah? Göttliche Ringe stellte man sich im Allgemeinen prächtiger vor als so. »Es ist nichts«, sagte sie endlich, weil die Miene des Anführers immer skeptischer wurde. »Nur etwas, das Hulda wohl im Fieber gesehen hat.«
Sindbald nickte, leerte sein Horn und knallte es auf den Tisch. Augenblicklich verstummten die Gespräche. Zum ersten Mal sah Runa das Trinkgefäß des Anführers aus der Nähe, ein mächtiges Auerochsenhorn, dessen Rand in Silber gefasst war. Zu gern hätte sie den figürlichen Schmuck genauer betrachtet. »Die Adler sind gefallen«, hub der Anführer an.
Vielkehlige Zustimmung.
»Mit Aliso ist das letzte Lager der Römer auf unserem Land vernichtet, auch wenn es seiner Besatzung leider gelungen ist, sich nach Vetera durchzuschlagen. Wie wir von Kriegern anderer Stämme erfahren haben, sind auch die Vorposten im Cheruskerland und südlich der Lupia geschleift worden. Somit ist das gesamte Stammesgebiet östlich des Rhenus wieder in unserer Hand.« Er beschwichtigte die aufkommenden Freudenäußerungen mit einer herrischen Geste und fuhr lauter fort: »Allerdings hält sich das Gerücht, der Augustussohn Tiberius nahe mit frischen Truppen. Heute erreichte uns ein Bote aus der Sippe Halvors, die am Zusammenfluss von Rhenus und Lupia siedelt, also gegenüber dem Römercastell Vetera. Berichte, Witold.«
Erst jetzt bemerkte Runa den Fremden, dessen hellbraunen Haaren der Feuerschein rötliche Lichter aufsetzte. Der Mann nickte knapp und erhob seine gedrungene Gestalt. »Unsere Sippe siedelt, wie Sindbald schon sagte, gegenüber dem römischen Winterlager am Westufer des Rhenus. Wir treiben seit Langem Handel mit den Römern, daher kennen deren Wachposten unsere Bauern und lassen sie auch weiterhin ungehindert über den Fluss setzen und die Tore passieren. Allerdings nur einzeln und unbewaffnet. Unsere Leute werden gründlich durchsucht. Die Römer scheinen jedoch nicht zu ahnen, dass auch unsere Krieger sich an der Schlacht gegen Varus beteiligt haben.« Er verzog die schmalen Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. »Auf Halvors Bitte hin sperren unsere Halbfreien die Ohren auf, ob sie etwas bei den Römern aufschnappen. Vor wenigen Tagen kam einer von ihnen mit Neuigkeiten zurück. Man bereite sich auf die Ankunft des Tiberius im kommenden Frühjahr vor. Der Herizog zieht tatsächlich zu Schiff den Rhenus hinauf und wird im Castell Novaesium überwintern.«
Einige Krieger murrten, Sindbald aber nickte. »Hat euer Kundschafter in Erfahrung bringen können, mit wie vielen Legionen Tiberius kommt?«
Witold verneinte und setzte sich. »Das ist alles, was ich weiß, doch Halvor hat mich ersucht, allen Sippen die Kunde zu überbringen, auf dass wir gewarnt sind. Die Adler kehren zurück.«
Runa fühlte Sindbalds bohrenden Blick und erschrak. Was erwartete der Anführer von ihr? Bislang hatte ihr Wissen über die Varusschlacht ausgereicht, um überzeugende ›Prophezeiungen‹ von sich geben zu können. Das Einzige, was sie über die Zeit danach noch im Kopf hatte, war der Rachefeldzug des Germanicus, der sechs Jahre nach der Schlacht in der Rückeroberung des Legionsadlers gipfeln sollte. Oder doch schon früher? In ihrer Einfalt hatte sie gehofft, einige Jahre in Frieden verbringen zu können. Zeit, in der sich der Stamm auf das Kommende vorbereiten könnte. Und nun sollte es keine Atempause geben?
Tiberius … Er war Augustus auf den Thron gefolgt und im Gegensatz zu seinem früh verstorbenen Bruder Drusus unbeliebt gewesen. Sie hatte nicht einmal in Erinnerung, dass er nach der Katastrophe hergeschickt worden war, noch vor Germanicus. Aber erst jener würde den Adler erbeuten und die Knochen der unter Varus gefallenen Römer bestatten. Durfte sie Entwarnung geben? Nein, Vetera lag genau gegenüber dem Bruktererland, und über die Lupia konnten die Römer jederzeit erneut vorstoßen.
»Weise Frau, haben die Götter dir Einblick gewährt in die Dinge, die unser harren?«, fragte Sindbald in die erwartungsvolle Stille.
Sie wischte die schweißfeuchten Handflächen an ihrem Rock ab und erhob sich. »Teiwaz hat uns diesmal den Sieg geschenkt. Die Truppen des Varus sind geschlagen, doch gibt es weit mehr Legionen im fernen Rom. Diejenigen unter euch, die als Geiseln in der Tiberstadt aufgewachsen sind, wissen es.« Sollte sie sich setzen? Gesagt hatte sie eigentlich noch nichts, und es gäbe durchaus etwas zu sagen.
Sindbald neigte zustimmend das Haupt. »Wie ich die Römer kenne, soll der Herizog die restlichen Truppen längs des Rhenus beruhigen, damit sie nicht Fersengeld geben.«
Die Krieger brachen in röhrendes Gelächter aus.
Auch Runa grinste. Kein Römer tat gern Dienst an den unwirtlichen Grenzen des Imperiums. Das raue Klima im Zusammenspiel mit den unheimlichen Wäldern machte den Gedanken an Desertion verlockend.
Als es wieder ruhig war, ergänzte sie: »Mag auch Tiberius aus dem fernen Rom herbeigeeilt sein, er wird kaum nennenswerte Truppen mitgebracht haben. Die müssten erst neu ausgehoben oder von den Grenzen des Imperiums zusammengezogen werden, wo man sie ebenfalls braucht. Vor dem Frühjahr wird keine Legion die Alpen überqueren.« Jetzt setzte sie sich, denn Baldurs Freund Thurstan bat um Erlaubnis zum Sprechen und erhielt sie.
»Ich sage: Lasst uns Castra Vetera überrennen, solange dort nur wenige Mannen weilen. Das wird die Römer das Fürchten lehren!« Er warf seinen dunkelblonden Zopf zurück und hob seinen Schild.
Runa stöhnte, als viele der Krieger johlten und zustimmend auf ihre Schilde trommelten. Sie kannte das Lager zwar nicht, aber es war sicher größer sowie stärker befestigt als Aliso. An diesen Wällen würden sich die Männer die Zähne ausbeißen.
Zu ihrer Erleichterung ergriff Witold erneut das Wort. »Ihr würdet niedergemacht, noch ehe ihr die Gräben überwunden hättet, und woher sollen wir die Männer nehmen? Der Winter naht, und nur auf einem großen Thing könnte es gelingen, alle Brukterer zu vereinen. Um Vetera einzunehmen, bedürfte es jedoch mehr als nur unseres Stammes.« Er setzte sich unter dem Gemurre der Krieger.
Baldur sprang auf, wie von der Tarantel gestochen. Runa wusste, wie sehr es ihn nach Römerblut dürstete, und ihr wurde bang zumute. Hoffentlich erkannte er die Weisheit in Witolds Worten.
»Ich sage: Lasst uns einen Boten zu Armin entsenden und um ein Großthing der Brukterer und Cherusker im kommenden Jahr ersuchen. Ermutigt vom kürzlich errungenen Sieg mögen sich andere Stämme uns anschließen, die bislang gezaudert haben, auf dass wir die Römer endgültig vertreiben.«
Runa seufzte erleichtert und lächelte ihm zu. Ein erstaunlich besonnener Vorschlag, der auch noch Anklang fand.
»So soll es geschehen«, verkündete Sindbald und löste die Versammlung auf.
↯
»Woher weißt du das mit den Legionen?«, fragte Baldur, als sie den Dorfplatz erreichten.
Runa mied seinen Blick, murmelte ausweichend: »Ich will erst nach Hulda sehen. Alrun muss ich auch stillen.« Mit diesen Worten ließ sie ihn einfach stehen.
Unter zusammengezogenen Brauen sah er seiner enteilenden Frau hinterher. Er sah ihr an, dass sie etwas verheimlichte. Was wusste sie? Plötzlich war sie ihm wieder so fremd, als käme sie aus einer anderen Welt. Gerade jetzt, wo seine Mutter so krank war, wollte er nicht an Runa zweifeln müssen. Nein, tief in sich wusste er, dass sie ihnen niemals schaden würde. Er musste vertrauen, auch wenn es schwerfiel. Baldur wandte sich um und erblickte den Boten, Witold.
Der bestieg gerade sein Ross, um zu Rutgers Sippe weiterzureiten, und Ansberga reichte ihm Wegzehrung. Kurz erwog Baldur, ihn weiter auszufragen, doch was hoffte er zu erfahren? Stattdessen wartete er, bis Sindbald den Mann verabschiedet hatte und nur noch die Kruppe von dessen Pferd zu sehen war. Dann trat er zum Anführer. »Einige Krieger haben sich nach der jüngsten Schlacht deiner Gefolgschaft angeschlossen. Hast du ihnen bereits den Treueid abgenommen?«
Sindbald schaute erstaunt auf. »Natürlich, gestern beim Fest, du warst doch dort.«
Verlegen mied Baldur seinen Blick. »Ich blieb bei meiner Mutter in der Hütte. Äh … aus Sorge.«
»Dein Weib muss fürwahr Feuer unter ihren Röcken haben!« Sindbald feixte.
Dem Mann konnte man nichts vormachen. Baldur zwang sich zu einem Grinsen. »Vielleicht vermag ich das Feuer gekonnt zu entfachen. Wollen wir Ansberga fragen, wie es um dein Vermögen bestellt ist?«
Einen Moment funkelte Sindbald ihn an, und Baldur fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein, doch dann brach er in dröhnendes Gelächter aus. »Untersteh dich! Warum fragst du nach den neuen Gefolgsleuten?«
»Weißt du, wie es um ihre Kampfkunst bestellt ist? Wenn Runa recht hat und im kommenden Frühjahr Legionen in unser Land strömen, müssen wir gerüstet sein.«
Sindbald rieb sich das Kinn. »Genügend Waffen haben wir erbeutet, aber es sind Römerwaffen. Gewiss sind nicht alle von ihnen in Rom erzogen worden und haben den Drill des römischen Militärs kennengelernt.«
Baldur schlug vor: »Ich könnte mit ihnen die römische Technik und Art zu kämpfen üben …« Würde ein freier Brukterer mit sich machen lassen, was die Legionäre erduldeten – stundenlange Märsche mit schwerem Gepäck, die Disziplin, sich einem Anführer bedingungslos unterzuordnen? »Wir müssen uns manches vom Feind zu eigen machen, wenn wir ihn besiegen wollen«, sagte er. »Den Winter über müssen sie den Umgang mit Römerwaffen lernen. Du weißt so gut wie ich, dass die Legionen nicht in offener Schlacht zu schlagen sind, und dass sie kommen werden. Wenn nicht im Frühjahr, so spätestens im Sommer.«
Sindbald neigte zustimmend das Haupt. »Ein guter Vorschlag. Sieh zu, was du ausrichten kannst. Augustus wird diese Schmach nicht ungesühnt lassen. Er ist alt, und dem Vernehmen nach ist die Ernennung des Tiberius zu seinem Nachfolger nicht von vielen wohlgelitten. Schon deshalb wird der Herizog sich beweisen müssen.«
Baldur schnaubte. »Germania capta. Dazu darf es nicht kommen.«
»Hat dein Weib uns nicht versprochen, dass der Sieg gegen Varus der Wendepunkt wird?«
Er nickte. ›Die Adler werden fallen, und die Stämme bleiben frei ‹, hatte sie auf dem Thing verkündet. So einfach würde es anscheinend nicht werden. War es das, was sie ihm nicht verraten wollte?
↯
Runa seufzte. Endlich war Alrun satt und wandte den Kopf Ulfhild zu, die bereits verlangend die Arme nach ihr ausstreckte. Nur ungern gab Runa ihre Tochter so oft in die Obhut des Gesindes, doch sie wollte das Kind nicht in Huldas Hütte mitnehmen, wo zahlreiche Kräuter, Wurzeln und Pilze lagerten, beileibe nicht alle harmlos. Jetzt, da Alrun zu krabbeln begann und die Welt erkundete … Sie schloss ihr Gewand und verließ Baldurs Langhaus.
Zu ihrer Erleichterung war Hulda wach und saß aufrecht auf ihrem Lager, den Rücken gegen ein Strohpolster gelehnt. Kunna fütterte sie mit Getreidebrei. Warum aß Hulda nicht selbstständig? Als Runa nähertrat, erkannte sie, dass die Weise Frau zwar wach war, aber nicht wirklich anwesend. Ihr Blick wirkte leer, nach innen gekehrt und teilnahmslos. Ungeduldig scheuchte sie die Magd beiseite und fühlte Huldas Stirn. »Was ist mit ihr?« Kühl, kein Fieber. Sie ließ sich auf der Kante der Lagerstatt nieder und nahm Kunna den Napf ab. »Lass mich das machen. Hulda. Hulda! Kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Runa.«
Da, der Blick wurde klarer. In einer jähen Bewegung schlug Hulda ihr die Schale aus der Hand und zerrte an ihren Armen. »Draupnir«, krächzte sie. »Wo ist der Ring? Baldur will, dass du ihn trägst.«
Runa entwand sich erschrocken dem Griff. Stand Hulda noch unter dem Einfluss des Bilsenkrauts? Nicht, dass sie zu hoch dosiert hatte – Baldur würde ihr das nie verzeihen! Nur mithilfe der Magd konnte sie die wild um sich schlagende alte Frau bändigen.
»Baldrian, Melisse, wir müssen ihr etwas zur Beruhigung geben!«, rief sie.
Kunna eilte davon, um das Gewünschte zu holen, und Runa wischte sich die Reste des Getreidebreis vom Kleid. Das musste sie auswaschen, und sie besaß nur ein warmes Gewand zum Wechseln. Diesen Winter wollte sie sich endlich eine Schürze aus Leinen weben, die sie bei der Krankenpflege tragen konnte. Als die Magd mit den Kräutern zurückkam, tauschte Runa den Platz mit ihr und bereitete aus den Kräutern einen Aufguss zu. Hoffentlich half es.
In diesem Moment betrat Baldur die Hütte. Runa erschrak. Wie sollte sie ihm Huldas Zustand erklären?
Sein Anblick machte die alte Frau erneut wild. »Baldur!«, schrie sie. »Wo ist Draupnir? Ich habe ihn verloren.«
Er stürzte ans Krankenlager und schubste Kunna beiseite. »Mutter, was redest du? Es ist doch alles gut. Du bist in Sicherheit.« Vorwurfsvoll funkelte er Runa an, als wäre es ihre Schuld. »Was hat sie?«
Da warf Hulda die Felle von sich und versuchte, das Lager zu verlassen. »Draupnir!«, schrie sie, als suchte sie ein verirrtes Kind. Baldur warf sich förmlich über sie, um sie daran zu hindern.
»So ist sie schon, seit ich gekommen bin. Kannst du sie ruhig halten?« Runa goss etwas von der Flüssigkeit in einen der irdenen Becher. Sie hätte den Trank lieber länger ziehen lassen, aber sie mussten Hulda jetzt schnell besänftigen. Wohin hatte sie den Kiesel gelegt?
Baldur knurrte und nahm seine Mutter in den Schwitzkasten.
»Oh Kunna, bei allen Göttern, geh mir aus dem Weg!«, rief Runa, weil die Magd keine Anstalten machte, sich zu bewegen. »Hulda, ich bin’s. Hier, trink, und dann gehe ich auf die Suche nach Draupnir. Wir werden ihn schon finden.« Wo hatte sie ihn nur gelassen?
»Draupnir«, wisperte die alte Frau und wirkte schon viel weniger erregt. Ohne Hilfe leerte sie den Becher, und Runa füllte ihn nach.
»Kunna, wenn die Flüssigkeit abgekühlt ist, gib ihr mehr davon. Ich muss diesen dummen Stein finden.« Wenn sie geahnt hätte, wie wichtig der Ring Hulda war, hätte sie ihn sich gleich an den Finger gesteckt.
Baldur lockerte seinen Griff um Huldas Schultern und musterte sie misstrauisch. »Wovon sprichst du, Frau?«
Runa beschrieb ihm den gelochten Stein, den seine Mutter in der Hand gehabt hatte. »Sie hält ihn wohl für Wodans magischen Ring. Angeblich willst du, dass ich ihn trage – ich verstehe es auch nicht.«
Er sprang von der Bettstatt. »Nicht ich, sondern Baldur, der Gott, nach dem ich benannt bin! Als er gestorben ist, hat Wodan ihm seinen Ring in den Leichenbrand geworfen, auf dass er dem Toten in Helheim nütze. Doch Hermodr, Baldurs Bruder, brachte Draupnir zurück nach Midgard. Baldur aber vermochte er nicht in die Welt der Lebenden zurückzubringen. Wo ist der Stein?« Er schüttelte sie wie einen Apfelbaum.
Er glaubte doch wohl nicht ernsthaft, dass es sich um Wodans Zauberring handelte? Tränen stiegen Runa in die Augen. »Ich kann ihn nicht finden!« Immer machte sie alles falsch. Sie versuchte, sich zu erinnern … Halt, hatte sie ihn nicht auf einen der Schemel gelegt? Sie suchte alle Sitzgelegenheiten ab, auch den Boden um sie herum, die ganze Herdstelle, doch der Kiesel blieb verschwunden. Auch Baldur durchwühlte Ecken und Winkel. Ihr Blick streifte die Magd. »Kunna?«
»Ja, Herrin?«
»Hast du den Stein fortgeräumt?«
Die Magd zuckte mit den Achseln und schaute blöde drein. Runa hätte Kunna am liebsten so geschüttelt wie Baldur sie.
»Gefegt hab ich heute früh, Herrin.«
»Und den Kehricht auf den Mist geworfen. Oh verflucht!« Runa rannte hinaus und hinters Haus.
Der Misthaufen dampfte leicht in der kühlen Luft. Kunna musste später den Stall ausgemistet haben, denn die oberste Schicht bestand eindeutig aus Ziegendung. Wenn sie darin herumwühlte, konnte sie ihr Gewand gleich wegwerfen. Es war nicht einmal gesagt, dass Draupnir dort lag. Sie fluchte verhalten und kehrte ins Haus zurück.
Baldur erhob sich. »Sie schläft jetzt. Hast du ihn?«
Runa schüttelte den Kopf, verzweifelt. Oh, hätte sie doch gleich … Sie brauchten den Stein, wenn er Hulda so wichtig war. Vielleicht konnte sie nur dann gesund werden. »Ich gehe zum Bach!«, rief sie einer Eingebung folgend aus.
Baldur hielt sie zurück. »Was willst du dort?«
»Vielleicht finde ich noch so einen Stein mit Loch.«
Er schaute sie an, als wäre sie von Sinnen. »Glaubst du, ein simpler Stein könnte Mutter täuschen? Was du verloren hast, Weib, kam von den Göttern. Sie wird es wissen.«
Runa musste sich beherrschen, um ihn nicht auszulachen. Geduldig sagte sie: »Das war kein Ring, sondern nur ein Stein. Hulda redet im Wahn. Und wenn etwas, das ähnlich aussieht, sie ruhiger macht – es wäre doch einen Versuch wert, oder?«
Er wirkte nicht überzeugt. »Kunna, hast du den Kehricht auf den Mist geworfen, oder doch woandershin?«
»Nein, Herr.« Die Magd zog die Nase hoch. »Auf den Mist, wie immer.«
»Worauf wartest du noch? Geh, such den Steinring! Und komm ja nicht ohne wieder.«
Die Magd nickte und eilte gesenkten Kopfes nach draußen. Runa war entsetzt. »Sollen wir nicht erst mal schauen, ob Hulda ein anderer Stein beruhigt? Und noch haben wir nicht alles drinnen abgesucht.«
Baldur packte ihren Arm. »Wenn es nun aber doch Draupnir ist? Nicht ohne Grund wird Mutter den Ring aus dem Bachbett geholt haben. Dabei muss sie ausgeglitten sein. Willst du, dass alles umsonst war? Bei Donar, Weib, du bist doch eine Weise Frau! Hast du die Macht des Rings nicht gespürt?«
Zögernd schüttelte sie den Kopf. Vielleicht war es für alle Zeit vorbei mit ihrer Verbindung zu den germanischen Göttern, weil sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, indem sie die Brukterer zur Teilnahme an der Varusschlacht überredete.