Verborgener Tod - Kathrin Brückmann - E-Book

Verborgener Tod E-Book

Kathrin Brückmann

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Beschreibung

Als der Arzt Hori versehentlich einen Menschen tötet, verbannt der König ihn zu den geheimnisumwobenen Einbalsamierern. Er darf die Welt der Toten nie mehr verlassen. Während Hori sein Dasein als Lebender unter Toten fristet, sterben immer mehr junge vornehme Mädchen unter ungeklärten Umständen. Erst Hori mit seinen speziellen Kenntnissen deckt auf, dass die Frauen ermordet wurden. Die abenteuerliche Ermittlung des Täters in höchsten Kreisen wird ein schwieriges Unterfangen, denn Hori ist in der Weryt eingesperrt ...

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Widmung

Karte Ägyptens

Personenregister

Prolog

Früchte der Mühen

Bankett mit Folgen

Ein verlockendes Angebot

Gerichtstag

Die Weryt

Nebits Vergeltung

Eine unglaubliche Entdeckung

Jenseits der Mauer

Nächtliches Treffen

Geteiltes Geheimnis

Schwere Verantwortung

Weitere Opfer?

Ende der Trauerzeit

Endlich eine Spur?

Tödliche Blumen

Die Verwirrung steigt

Gescheiterter Versuch

In Nofritis Fängen

Eine Tote beim Totenfest

Streit unter Freunden

Mutnofrets Geheimnis

Fesseln

Überraschende Offenbarung

Eine Mörderin?

Unwetter

Schlangen

Nächtlicher Anschlag

Das Geheimnis des Pharaos

Verhöre

Bittere Erkenntnis

Begegnung mit dem Totengott

Entführt

In Ehren aufgenommen

Tot und verdammt

Anhang ~ Ägyptische Götter

Anhang ~ Orte und Gebietsnamen

Anhang ~ Glossar

Kalender

Nachwort

Romane von Kathrin Brückmann

Impressum

Über die Autorin

Kathrin Brückmann wurde 1966 in Mainz geboren, wuchs aber in Bremen auf. Schon zu Grundschulzeiten entdeckte sie ihre Liebe zur Kultur der alten Ägypter. Nach dem Abitur zog sie daher nach Berlin, um Ägyptologie zu studieren. In dieser Zeit übersetzte sie auch »Die Geschichte des Sinuhe«, eine der ältesten Abenteuer­geschichten der Weltliteratur. Die spannende Erzählung ließ sie nicht mehr los, und eines Tages begann sie, das Leben des Sinuhe für moderne Leser neu zu schreiben. In der Folge entstanden neben etlichen Kurzgeschichten weitere historische sowie zeitgenössische Romane.

Kathrin Brückmann lebt mit ihren Söhnen und Katzen in Berlin und arbeitet als Lektorin und Autorin.

Widmung

Für Edith mit besonderem Dank für ihre Unterstützung und Ermutigung.

Karte Ägyptens

Personenregister

Historische Personen sind fett gedruckt, in Klammern befindet sich eine Ausspra­chehilfe, eine Übersetzung des Namens steht kursiv dahinter.

Hori und seine Familie

Hori – Name des Gottes Horus – Als Arzt will er den Lebenden helfen, fin­det sich aber bald unter Toten wieder.

Sobekemhat (Sobek-em-hat) – Sobek ist an der Spitze – Horis Vater und ein Schatzmeister, der seinen jüngsten Sohn nicht schätzt.

Nofret – Die Schöne – Horis Mutter schaut eher auf die Wünsche ihres Mannes als die Bedürfnisse ihrer Söhne.

Teti und Puy – Horis Brüder schlagen ganz nach ihrem Vater.

Ameny und seine Familie

Ameny (Kurzform von Amen-em-het) – Amun ist an der Spitze – Zweiter Amun­prophet, der es nicht leicht mit seiner älteren Tochter hat und ihr einen Aufpasser besorgt.

Isis – Name der Göttin Isis – Amenys Frau. Sie bekommt einiges mit, ver­liert aber selten ein Wort darüber.

Mutnofret (Mut-nofret) – (Die Göttin)Mut ist schön – Tochter, die mit scharfer Zunge ihren Willen durchsetzt.

Hetepet – Die Zufriedene – Tochter, die nichts mehr sagen kann.

Huni und Bata – Zwillinge, die im Verlauf der Geschichte unverwechselbar werden.

Penu – Maus – Ein Diener, der zeigt, dass auch Mäuse Zähne haben.

Eine Ziege, die ihr Herzblut für die Sache gibt.

Im Haus des Lebens

Nachtmin (Nacht-min) – Min ist stark – Fühlt sich weit weniger stark, als sein Name vermuten lässt, übernimmt aber eine schwere Aufgabe.

Meriamun und Weni – Ärzte, die sich wenig kollegial zeigen, als es darauf an­kommt.

Imhotepanch (Imhotep-anch – Imhotep möge leben – Vorsteher der Ärzte mit Tra­ditionsbewusstsein.

Inpu – Anubis – Vorsteher des Lebenshauses mit Prinzipien.

Das Königshaus

Sesostris III. (Se-sostris) – Mann der Göttin Useret –Ein junger Pharao mit einem alten Geheimnis.

Chenmetneferhedjet II (Chenmet-nefer-hedjet) –Mit der weißen Krone ver­einigt – Die Große Königliche Gemahlin wird zwar Scherit, die Jüngere genannt, ist aber älter als ihr Bruder Sesostris.

Nofrethenut (Nofret-henut) – Schöne Herrin –Zweite Königliche Gemahlin, die erst einmal nicht viel zu sagen hat.

Nebit und seine Familie

Nebit – Herrin, Name einer Göttin – Wesir mit schlagkräftigen Argumenten und eigenartigen Neigungen.

Sitamun (Sit-amun) – Tochter des Amun – Seine Gattin, die ihm wenig ge­neigt scheint.

Neferib (Nefer-ib) – Schönes Herz – Sein ältester Sohn, der unglücklich fällt.

Schepses – Der Edle – Sein Bruder. Er gefällt zu seinem Unglück oft, aber nicht der Richtigen.

Hotep – Der Zufriedene – Ebenfalls sein Bruder, ein Fall von Unglück.

Henut – Die Herrin – Ihre Schwester, ein Glücksfall, aber nicht für jeden.

Im Haus des Todes

Hut-Nefer – Schönes Haus – Der Vorsteher der Balsamierungshalle hat ein Händ­chen für dramatische Auftritte.

Cheper – Entstehung – Ein Balsamierer mit einem guten Herzen, auch wenn er die anderer gern entnimmt.

Weitere Personen

Thotnacht (Thot-nacht) – Thot ist stark – Des Königs oberster Schreiber schreibt Rollen und wird am Ende überrollt.

Bastet – Name der Katzengöttin – Kann ihrem Vater Thotnacht nichts mehr erzäh­len.

Merit-Neith – Geliebt von der Göttin Neith – Tochter eines Haremsbeamten, deren Herz bereits kalt ist.

Anches – Sie lebt – Mündel des Königs. Sie straft ihren Namen Lügen.

Isisnofret, Biest-Merit, Nofriti und diverse andere Merits und Nofrets – Verwöhnte junge Damen ohne Hemmungen.

Chonsu – Name des Gottes Chons – Wirt einer Spelunke mit hochtrabendem Na­men. Er hat gut lachen.

Nebet-Hut – Herrin des Hauses – Seine Tochter, die wenig zu lachen hat.

Prolog

Jahr I des Pharaos Sesostris, der Dritte dieses Namens, der den Horus­thron be­stiegen hat. Tag 12 des Monats Rekeh-wer in der Jahreszeit Peret, der Aussaatzeit

Die Wintersonne spendete nur wenig Wärme, und Bastet hüllte sich fester in ihr Schultertuch. Ein Windstoß fuhr unter den Saum ihres eng anliegenden Leinen­kleids, und der kalte Hauch spornte sie zur Eile an. Diese Zeit des Jahres mochte sie am wenigsten. Alles roch nach Nilschlamm, und die Kälte zwang die Bewohner der königlichen Resi­denz Itji-Taui, ihre Zeit im Innern der Häuser zu verbringen. Dort war es dunkel, und das schlug ihr aufs Ge­müt. Heute allerdings vermochte selbst die winterliche Kälte sie nicht im Haus zu halten. Sie lief weiter, aber ihre Gedanken eilten ihr voraus. Ihr Liebster erwartete sie, und sie war auf dem Weg zu ihm.

Heiß durchflutete sie eine Woge der Erregung, als sie an ihr letztes Stelldichein dachte, bei dem ihr Geliebter sie in den Garten des Amun-Tempels geschmuggelt hatte. Diesmal war es nicht bei Küssen und Liebkosungen geblieben. Bastet glaubte, seine Hände noch auf ihrem Körper zu spüren, schwer und zugleich leicht wie der Blütenduft im Heiligen Garten des Gottes. Er war so schön, so vornehm, könnte je­de haben. Solange er sie nur begehrte, war sie glücklich und konnte es kaum erwar­ten, sich ihm erneut hinzugeben. Ob er sie wieder in den heiligen Bereich führte, der eigentlich den Priestern vorbehalten war? Bastet kicherte hinter vorgehaltener Hand in sich hinein. Das Ver­botene machte ihre Treffen noch reizvoller, aber sie sehnte sich danach, ihr Glück hinausschreien zu dürfen. Würde er diesmal eine Heirat er­wähnen? Ihre Mondblu­tung war ausgeblieben; vielleicht trug sie bereits sein Kind.

Sie bog in eine schmale Gasse ein, die von den Mauern zweier Anwesen gesäumt war. Obwohl sie den dunklen und meist verlassenen Weg nicht gern nahm, bot er eine willkommene Abkürzung, um schneller bei ihm zu sein.

Plötzlich trat eine Gestalt hinter einem Mauervorsprung hervor und ver­stellte ihr den Weg. Sie erschrak, dann erkannte sie das Gesicht und lachte erleichtert auf. »Du bist es! Hast du mich erschreckt!«

Sein Arm schnellte vor. Sie verspürte einen Schlag, dann einen kurzen, heftigen Schmerz und fasste sich an die linke Brust. Ihr Herz krampfte sich zusammen, sie taumelte. »Warum?«, flüsterte sie fast tonlos, als sie etwas Langes, Dünnes aus seiner Faust ragen sah. Eine Waffe! Weg hier, nur weg, bevor er erneut zustach! Sie lief den Pfad zurück, den sie gekommen war, aber ihre Kräfte schwanden. Hinter sich hörte sie das Klatschen von Sandalen auf dem gestampften Untergrund und meinte bereits, das Spitze erneut in ihrem Fleisch zu spüren. Die Todesangst verlieh ihren Füßen Flügel. Endlich, das Ende der Gasse. Die Gartenanlage dort drüben – da wäre sie sicher, könnte sich verbergen. »Hilfe!«, schrie sie. »Helft mir doch!« Aber der Park war menschenleer. Ihr Herz raste, und sie bekam nur schwer Luft. Die letzten Schritte zum Gebüsch taumelte sie nur noch. Ihr Atem ging stoßweise, Zweige rissen ihre Haut auf – sie spürte es kaum. Ihr Schultertuch verfing sich in den Dornen – sie ließ es los. Vor sich sah sie dichtes Unterholz und tauchte in dessen Schatten ein. Weiter! Muss weiter!, dröhnten ihre Gedanken, aber das Ge­strüpp hielt sie umklammert. Sie hatte keine Kraft mehr, sich loszureißen. In einer Mulde kauerte sie sich zusammen.

»Ich sehe dich, ich höre dich. Du kannst dich nicht vor mir verstecken«, säuselte die Stimme.

Bastet konnte ihr Keuchen und Japsen nicht unterdrücken. Ihr Verfolger kam immer näher. Es raschelte. Die Zweige über ihr teilten sich. Sie wollte aufspringen, weiterlaufen. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht länger. Ihr wurde schwarz vor Au­gen. Nein, nicht! Nicht das Bewusstsein verlieren …

Früchte der Mühen

Tag 5 im Monat Renutet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit

Ein neuer Morgen brach über Itji-Taui an. Mit den ersten Strahlen des Sonnengottes rührten sich die Bewohner der Residenzstadt und verlie­ßen ihre Häuser, um ihrem Tagwerk nachzugehen. Im Viertel der königli­chen Beamten stand Hori einen Moment unschlüssig auf der Schwelle des elterlichen Hauses. Er reckte das Gesicht gen Himmel und sog prüfend die Luft ein. Über der Stadt schien eine gespannte Erwartung zu liegen. Oder ist es nur meine eigene Aufregung?, dachte er.

Er strich seinen Schurz glatt und prüfte den Sitz seiner Perücke, bevor er mit ausgreifenden Schritten den Garten des Anwesens durchquerte und auf die Straße trat. Noch warfen die Mauern der Villen ihren Schatten auf den Weg, tauchten den festgestampften Lehm in kühles Dämmerlicht. Hori schlug die Richtung zum Hafen ein. Jetzt trieben Res gleißende Strahlen seinen grotesk verlängerten Schatten vor sich her, als wollte der Gott selbst ihn zur Eile gemahnen. Im Viertel der Hand­wer­ker und Fischer wurde er von der wogenden Menge der hin- und hereilenden Men­schen auf­gesogen. Es blieb ihm nichts übrig, als sich dem Herzschlag des geschäf­tigen Quar­tiers anzu­passen und sich durch die Menge treiben zu lassen, bis die enge Gasse ihn an der Kreuzung aus ihrem Griff entließ wie der Krug den Stopfen.

Hori atmete befreit auf. Der in den engen Gassen lastende Brodem aus Schweiß, Knoblauch, fauligen Fisch­resten und Kochdünsten wurde rasch von der Brise fortgetragen und wich dem leichten Hauch von Weihrauch, der wie ein schützender Umhang um den Tempel­bezirk lag. Horis Sandalen aus geflochtenen Binsen mach­ten schlappende Geräu­sche auf der gepflasterten Prachtstraße, die zum Tempel des Amun führte. Dessen Py­lon war so mächtig, dass der Durchgang in den Tempel­bereich darin geradezu win­zig erschien. Ob die Baumeister dies mit Absicht so ge­plant hatten, damit die Men­schen sich ihrer geringen Größe im Angesicht der Götter bewusst wurden? Hori verhielt jedes Mal den Atem, wenn er in das Dunkel des Torgangs eintauchte, und ließ sich von der Macht des obersten der Götter durch­dringen.

Der große Vorhof des Tempels bot sich einer Blüte gleich den Strahlen des Son­nengottes dar. Hori scheute das offene Gelände und wählte lieber den Weg im Schatten an der Wand entlang, obwohl er keinen Grund hatte, sich zu verbergen. Die prachtvollen Reliefs mit den Darstellungen von Amun und seiner göttlichen Familie nahm er kaum wahr. Er beschleunigte seine Schritte und trat durch eine Pforte neben dem Hauptge­bäude des Tempels. In diesem abgeteilten Bezirk, dem Haus des Lebens, hatte er in den vergangenen Jahren einen Großteil seiner Zeit ver­bracht und studiert. Hier befand sich das geheime Wissen, das nur den Ein­ge­weih­ten zugänglich war. Hier wurden die zukünftigen Priester, Schreiber, Ärzte und Bildhauer ausgebildet, hier lagerten auch die Schriftrollen mit den Mysterien der Götter. In einer Abteilung des Le­benshauses übten die Ärzte ihre Kunst aus, behandelten Kranke.

Hori hatte die unteren Weihegrade der Priesterschaft erlangt, weil das die Vor­aussetzung für eine Ausbildung in diesen Räumen war. Man musste zu­mindest Wab­priester des Amun sein, um den Arztberuf studieren zu dürfen, und das wollte er mehr als alles andere. Als Sohn des Schatzmeis­ters Sobekemhat hätten ihm die Türen zu den höchsten Ämtern offen gestanden, aber er hatte sich schon früh für die Medizin ent­schieden – aus einem Herzens­bedürfnis heraus oder aus Trotz gegen die Selbstgerechtigkeit seines Vaters? Hori konnte es nicht sagen. Er wusste nur, dass er nie so werden wollte wie sein alter Herr. Wenn aus Sobekemhats abschätzigem Blick wieder einmal Ge­nerationen eifriger Beamter des Schatzhauses zu sprechen schienen, wurde Hori übel. Er konnte Zahlen nichts abgewinnen, außer wenn es um die korrekte Dosierung einer Arznei ging. Er zuckte mit den Achseln. Seine Berufs­wahl war vielleicht anfangs nur eine He­rausforderung an seinen Vater gewesen; inzwischen erfüllte ihn das Studium der Medizin aus ganzem Herzen, und er tat diese Arbeit gern. Heute würde er seine letzte Prüfung ablegen, und das hatte ihm keiner seiner Brüder zugetraut, geschweige denn der Va­ter. Entschlossen schüttelte er die bedrü­ckenden Gedanken ab. Er wollte es seiner Familie zeigen, die ihn als Taugenichts abtat. Müssten sie nicht end­lich einmal stolz auf ihn sein, wenn er als Bester ab­schnitt?

Im Gang vor der Tür, hinter der das Zimmer des Vorstehers der Ärzte lag, traf er auf seine Mitschüler. Seit drei Jahren lernten sie zusammen, teil­ten Freude und Leid der harten Ausbildung. Hori grüßte und gesellte sich zu ihnen. Sein Blick glitt über die Gesichter, die alle den gleichen angespannten Ausdruck trugen. Ich sehe ver­mutlich genauso aus, dachte er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Nur Scheps­es trug seine übliche selbstgefäl­lige Miene zur Schau. Den Sohn des Wesirs konnte Hori als einzigen seiner Mitschüler nicht ausstehen. War es nicht ge­nug, dass er aus bestem Hause stammte und ihm das Wissen scheinbar mü­helos zuflog, musste der Kerl auch noch so damit angeben? Seine Familie fand nichts anstößig an seiner Berufswahl, sondern unterstützte ihn, aber dieser Schnösel wusste das gar nicht zu schätzen. Und dann sah er auch noch so verflucht gut aus. Hori knirschte mit den Zähnen. Schepses prahlte oft genug mit seinen weiblichen Eroberungen. Wenn man ihm Glau­ben schenkte, musste er schon jede Blume bei Hofe gepflückt haben. Bestimmt ebenfalls nur Auf­schneiderei …

Die Tür öffnete sich, und ein Diener rief: »Schepses, du sollst als Erster dein Wissen beweisen.«

Hori sah Schepses’ siegesgewisse Miene und schaute angewidert weg. Was grinste der Kerl so? Fast könnte man meinen, er habe sich den Abschluss bereits erkauft. Kaum war der Wesirssohn weg, redeten die Me­dizinschüler erregt aufeinander ein.

»Worauf hast du dich vorbereitet, Hori?«, wollte Nachtmin wissen.

»Ich habe mich vor allem auf die Heilmittel, die Krankheiten des Afters und das Buch der Wunden konzentriert, außerdem habe ich mir die Krankheiten der Augen, des Körpers und die Frauenleiden angeschaut«, antwortete er.

Die dunkle Gesichtsfarbe seines Freundes verfärbte sich zu einem schlammigen Grau, und seine Schultern sanken nach unten. »Ich habe be­sonders die Bücher der Geräte und der Heilmittel gelernt. Hieß es nicht, dass in der Prüfung eher die Grundlagen abgefragt werden?«

Hori fühlte Mitleid mit Nachtmin, der es wegen seiner niederen Herkunft von Anfang an nicht leicht gehabt hatte. Der Junge aus Oberägypten war Waise, der Sohn eines kleinen Priesters des Gottes Min, und wegen seines wachen Verstandes aufge­fallen. Leider merkte man den Unterschied zwi­schen ihm und den Kindern der Adligen, denen Bildung von klein auf leicht zugänglich war. Nachtmin hatte erst lernen müssen zu lernen. »Stimmt«, versuchte Hori ihn zu beruhigen. »Das hat Im­hotepanch gesagt. Vermutlich habe ich zu viel getan. Und siehst du – die medizini­schen Instrumente habe ich dabei ganz vergessen. Hoffentlich geht das nicht schief.«

»Die kennst du doch im Schlaf«, versicherte Nachtmin. »Du scheinst dir jeden Text sofort merken zu kön­nen. Ich wünschte, ich wäre so klug wie du.«

»Dafür scheinst du den Kranken unter die Haut sehen zu können. Kein anderer findet so schnell heraus, welcher Dämon sie befallen hat.«

Nachtmin grinste schief. »Das wird mir nur nichts nützen, wenn ich bei der Prü­fung durchfalle.«

Hori erstarrte. Bei der Prüfung durchfallen – nur das nicht! Wäre er ein normaler Medizinstudent, könnte er das letzte Jahr einfach wiederholen. Mit dem Spott seiner Mitschüler käme er zurecht, und die Ausbilder dürften ihn gern noch mehr schika­nie­ren – wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Sein Vater allerdings würde sein Ver­sagen mit zusammengekniffenen Lippen zur Kenntnis nehmen wie etwas, das zu erwarten gewesen war, und ihn an­schließend in die Beamtenlaufbahn zwingen. So­lange Hori nicht selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen konnte, war er auf die Unterstüt­zung der väterlichen Schatulle angewiesen. Diese Zuwendungen würden augenblicklich versiegen, wenn er heute nicht bestand. Er wischte sich die schweiß­feuchten Hände an seinem Schurz ab.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Schepses kam mit ausge­breiteten Armen auf die Gruppe zu. »Meine Eltern haben ein Bankett vorbereitet – zu Eh­ren des Besten der neuen Ärzte. Schließlich muss mein Erfolg gefeiert werden. Ihr seid alle eingeladen.«

Horis Mitschüler sagten erfreut zu, er aber ärgerte sich über das Auftre­ten von Schepses. Woher wollte der Kerl wissen, ob er nicht doch durchgefallen war? Er benahm sich, als sei von vorneherein klar, dass er als Bester abschneiden würde.

Ein Stoß in die Rippen holte ihn aus seinen Gedanken. »Du kommst doch auch, um meinen Abschluss zu feiern?«

»Sicher.« Hori zwang sich zu einem Lächeln. Aufgeblasener Esel oder nicht, den Wesirssohn machte man sich besser nicht zum Feind.

Noch während die jungen Männer Schepses bestürmten, welche Fragen man ihm gestellt habe und wann das Bankett stattfinden solle, wurde Nachtmin in den Raum des Vorstehers der Ärzte gerufen.

Hori sah die Knie seines Freundes schlottern und rief ihm nach: »Viel Glück! Du schaffst das schon.«

Nachtmins Prüfung schien länger zu dauern als die von Schepses. Viel­leicht kam es Hori auch nur so vor, weil er seine Gedanken nur noch auf das richtete, was hin­ter der verschlossenen Tür vorgehen mochte. Entgegen sei­nen Beteuerungen war er ganz und gar nicht davon überzeugt, dass Nacht­mins Kenntnisse der Krankheiten ausreichen würden, um zu bestehen. Hof­fentlich hatten ihre Ausbilder das Talent des Jungen ebenso erkannt wie er. Fehlendes Wissen konnte er sich noch aneignen, aber das Gespür für die Krankheiten war nicht zu lernen. Nachtmin hatte es einfach. Schepses würde sicherlich niemals ein so fähiger Arzt werden, egal, wie gut er bei der Prü­fung abgeschnitten haben mochte. Er war so von sich eingenommen, dass andere Menschen ihm nur als Spiegel seiner Großartigkeit zu dienen schienen.

Endlich öffnete sich die Tür. Nachtmins Augen waren fest auf den Boden ge­richtet, während er in den Gang taumelte. Oh weh, dachte Hori. Das ist nicht gut gelau­fen. Er legte den Arm um die knochigen Schultern des Oberägyp­ters, aber Nacht­min schüttelte ihn ab.

»Lass mich.« Mit einer zornigen Handbewegung wischte er sich über die Augen.

Hori zuckte mit den Achseln. Wenn Nachtmin keinen Trost wollte, würde er sich nicht aufdrängen. Sollte er seinen Kummer eben mit sich al­lein ausmachen.

Als Nächster wurde Meriamun hereingerufen.

Einer nach dem anderen stellten sich die angehenden Ärzte ihrer Abschluss­prü­fung, und die meisten zeigten Er­leichterung, als sie die Befragung hinter sich hatten. Hori freute sich mit ihnen oder munterte sie auf, aber innerlich wurde er immer unruhi­ger. Hätte er nur seine Ab­schriften der medizinischen Papyri mitgebracht, um die Wartezeit sinnvoll zu nut­zen. Nun war es zu spät. Während seine Kameraden es sich im Schatten einer Ta­marinde in der Ecke des Hofes be­quem gemacht hatten, lehnte er angespannt an einer Säule und grübelte. Die Stimmen der anderen drangen in Fetzen zu ihm hinü­ber.

War es die Absicht des Vorstehers der Ärzte, ihn zu verunsichern, indem er ihn als Letzten zu sich rief? Hori wusste genau, wie wenig ihn der alte Imhotepanch schätzte. Der Alte kannte nur seine Traditionen, von denen er seinen Schülern keinen Fingerbreit abzuweichen gestattete. Hori aber war neugierig und probierte gern etwas Neues aus. Wenn Bienenhonig eine Wunde besser heilen ließ, galt das vielleicht auch für einen Abszess? Für Imhotepanch zählte allerdings nur, was in den Schriften niedergelegt war. Er verwarf Horis Ideen, statt in ihnen neue Möglich­keiten zu sehen, den Kranken zu helfen. Imhotepanch würde es ihm nicht leicht machen, die Prüfung zu bestehen, aber auch er war an die Gesetze der Maat und des Tempels gebunden,.

Als ihn der Ruf ins Zimmer des Vorstehers der Ärzte ereilte, waren Horis Knie weich und zitterten. Sein Herz schien aus seinem Mund herausspringen zu wollen, so heftig schlug es plötzlich. Mit feuchten Händen stand er vor den Männern, deren Fragen er sich stellen musste: Imhotepanch, Vorsteher der Ärzte, Inpu, Vorsteher des Lebenshauses, und Ameny, Zweiter Prophet des Amun.

»Hori, Sohn des Sobekemhat, bist du bereit?«

»Ich bin bereit«, murmelte Hori und schluckte. Er fühlte sich ganz und gar nicht bereit. Mit einem Mal war alles, was er gelernt hatte, fort. Sein Verstand glich einem unbeschriebenen Blatt Papyrus.

Imhotepanch räusperte sich und rezitierte mit leiernder Stimme: »Wenn du einen Mann siehst, in dessen Nacken Schleimstoffe sind, und der leidet am Gelenk seines Nackens …«

Erleichterung flutete über Hori hinweg, denn diesen Fall kannte er gut. Hastig spulte er die Antwort herunter und beendete seine Ausführung mit: »Eine Krank­heit, gegen die ich kämpfen werde.«

Das zufriedene Nicken der Prüfer gab ihm etwas Sicherheit zurück. Auch die üb­rigen Fragen des obersten der Ärzte konnte Hori beantworten. Welche Erleichte­rung! Sein Verstand hatte ihn doch nicht im Stich gelassen. Schließlich wurde er durch eine Seitentür in einen Raum geführt, in dem drei Kranke auf hölzernen Bett­stätten lagen.

»Hori, Sohn des Sobekemhat, sage uns, unter welcher Krankheit diese Menschen leiden.«

Er ballte die Fäuste. Seine Hände waren klamm und kalt vor Aufre­gung. Hastig wischte er die Handflächen an seinem Schurz ab, bevor er sich dem ersten Kranken zuwandte. Es war ein Mann in mittleren Jahren, dessen rissige, kalkstaubige Hände und gesplitterte Fingernägel den Steinmet­zen verrieten. Die Spitze seines lin­ken Daumens war geschwollen und blau verfärbt. Hori tastete behutsam das verletzte Glied ab, um festzustellen, ob der Knochen gebrochen war. Der Mann stöhnte vor Schmerz.

Dann verkündete Hori auf die vorgeschriebene Weise: »Ich finde einen Mann, dessen Daumen ge­quetscht ist. Nicht ist der Knochen gebrochen. Nicht ist eine offene Wunde an ihm.«

Die drei Prüfer schienen mit dieser Diagnose zufrieden. »Welche Be­handlung schlägst du vor?«

Nun war Hori in Verlegenheit. Die klassische Methode schrieb vor, eine küh­len­de Kompresse aufzulegen, getränkt mit dem Saft der Aloe-Pflanze. Eine solche Verletzung würde jedoch dazu führen, dass der Daumennagel des Mannes sich löste, was ihn lange an der Arbeit hindern würde. Wenn Hori den Nagel dagegen mit der erhitzten Spitze einer Punktiernadel an einem Punkt durchschmorte, könnte das gestaute Blut vielleicht abfließen, sodass der Nagel erhalten blieb. Das würde dem Mann zu­dem Schmerzen ersparen. Er hatte das einmal bei einem Diener im Haushalt seines Vaters ausprobiert und war mit dem Erfolg sehr zufrieden gewesen. Hori holte tief Luft und trug zu­nächst die übliche Behandlungsweise vor. Dann aber erläuterte er seine Methode und deren Vorteile für den Patienten, dessen trüber Blick sich bei diesen Worten erhellte.

Imhotepanch lächelte selbstgefällig. »Deine Gedanken interessieren an dieser Stelle nicht«, schnarrte er.

Hori hegte den Verdacht, dass der alte Mann ihm eine Falle gestellt hatte. Der Zweite Prophet Ameny aber beugte sich interessiert vor, betrachtete die Verletzung und fragte schließlich den Kranken: »Wärest du bereit, dass der junge Mann hier, Hori, seine Idee an deinem Finger ausprobiert?«

»Hoher Herr«, stammelte der Steinmetz. »Ich wäre überglücklich, wenn ich nur bald wieder arbeiten könnte. Ich habe eine Frau und sieben Kinder zu ernähren. Lass es den jungen Mann bitte versuchen!«

Hori sah aus dem Augenwinkel, dass Imhotepanch seine Lippen wütend zusam­menkniff. Schnell unterdrückte er ein Grinsen und machte sich an die Arbeit. Mit flinken Bewegungen erhitzte er die Spitze seiner Lanzette über einem Holzkohlen­becken und führte die Behandlung durch. Behutsam tupfte er das austretende Blut mit etwas Leinen ab und umwickelte den Daumen anschließend mit der getränkten Kompresse.

Auch die beiden anderen Kranken konnte er ohne Schwierigkeiten dia­gnostizie­ren. Den Ausschlag des Kindes betupfte er mit einem Öl aus Schwarzkümmelsa­men, die Geschwulst des alten Mannes jedoch würde kein Arzt in den Beiden Ländern heilen können. Hier verschrieb er einen Aufguss aus Mohnsaft und Wei­denrinde zur Schmerzlinderung.

Hori glaubte, alle Aufgaben gut gelöst zu haben, und als er aus dem Raum ging, fühlte er sich leicht; leicht und merkwürdig leer. Für einen Augenblick fehlte ihm die Orientierung, als er sich so plötzlich am Ende des langen We­ges sah, den die Aus­bildung zum Arzt bedeutete.

Nach kurzer Zeit wurden alle Prüflinge gemeinsam in den Raum gebeten.

Imhotepanch erhob sich und verkündete: »Schüler der Heilkunde. Ich bin sehr er­freut, jeden von euch heute in den Stand eines Arztes erheben zu dür­fen. Als besten Prüfling bitte ich Schepses vorzutreten und das Zeichen seines neuen Standes entgegenzunehmen.«

Hori ärgerte sich über das anmaßende Grinsen des Wesirssohnes. Andere hätten diese Bevorzugung mehr verdient, nicht unbedingt er selbst, aber der kluge Meri­amun oder der fleißige Nachtmin.

In diesem Moment erhob der Priester Ameny seine Stimme: »Das ist nicht ganz richtig, verehrter Vorsteher der Ärzte. Wir sind übereingekom­men, dass der Arzt Hori uns heute das meiste Wissen gezeigt hat. Nicht nur waren seine Antworten fehlerlos, er hat darüber hinaus noch weiter gedacht und die Belange seines Patien­ten in den Vordergrund gestellt, obwohl er sich dessen bewusst war, dass ihn das Experiment den Abschluss hätte kosten können.«

Hori meinte, sich verhört zu haben, doch auch Inpu nickte ihm lächelnd zu. Mit bebenden Fingern nahm er das goldene Amulett mit dem Udjat-Auge entgegen, das ihn von nun an als Arzt kennzeichnen würde. Imhotepanchs wütender Blick konnte seine Freude nicht trüben. Als er sich umdrehte, glaubte er für einen kurzen Mo­ment, Hass in den Augen von Schepses aufblitzen zu sehen. Er konnte es sich nicht verkneifen, ihm ein strahlen­des Lächeln zu schenken. »Wahrlich, heute haben wir etwas zu feiern! Ich freue mich schon auf das Bankett zu unser beider Ehren.«

Schepses gelang ein schiefes Grinsen. »Sicher doch. Wir werden die bei­den Bes­ten des Jahrgangs gehörig hochleben lassen.« Mit hölzernen Bewe­gungen legte er sich sein Abzeichen um den Hals und stapfte ohne ein weiteres Wort davon.

Wenig später war die Zeremonie beendet. Die frischgebackenen Ärzte strömten auf den Hof des Lebenshauses, wo die Kranken auf ihre Behand­lung warteten. Von der Würde ihres neuen Amtes war nicht mehr viel zu er­kennen. Ihr Jubel stieg in den tiefblauen Himmel empor.

Als Hori am Nachmittag in das Zwielicht des elterlichen Hauses ein­tauchte, waren sowohl sein Vater als auch seine älteren Brüder daheim. Teti und Puy hatten bereits ihre eigenen Hausstände gegründet, waren aber häu­fig mit ihren Familien bei den Eltern zu Gast. Ob sie heute seinetwegen ge­kommen waren? Hori konnte es kaum glauben. Wenn, dann nur, um über mein Scheitern zu lachen, dachte er bitter. Aber da werden sie eine Enttäu­schung erleben!

Viel zu lange schon stand er im Schatten seiner beiden Brüder, die so ganz der Wurzel des gestrengen Vaters entsprungen waren. Ich bin die einzige bunte Blume im ein­heitlichen Grün des Familienstammbaums, dachte Hori. Manchmal sahen sie ihn an, als wäre er ein Unkraut, das man ausreißen müsse. Heute würde er ihnen bewei­sen, dass er etwas taugte! Rasch nahm er die Halskette ab und verbarg sie in seiner Faust.

»Sieh an, da ist er ja«, sagte Puy, der ihn zuerst bemerkt hatte.

Aha, dachte Hori, sie haben also über mich gesprochen.

»Nun, wie ist es gegangen?«, wollte sein Vater wissen.

Seine Mutter lächelte ihn scheu an. »Immerhin hat er die Ausbildung zu Ende gebracht. Also seid nicht so streng mit dem Jungen«, beschwichtigte sie.

Ihre Worte schmerzten Hori. Hatte nicht einmal sie Vertrauen in seine Fähigkei­ten? Von seinem Vater war er es nicht besser gewöhnt, hätte der ihn doch am liebs­ten im Schatzamt des Pharaos gesehen, wo er selbst und seine anderen Söhne tätig waren. Horis Weigerung hatte eine Kluft zwischen ihm und seiner Fa­milie aufgetan. Seither konnte er dem schon immer strengen Vater gar nichts mehr recht machen. Seiner Meinung nach zeigte Hori durch seine Widerspenstigkeit lediglich seine Un­reife. Er sei zu unbeständig, um einen anständigen Beruf zu erlernen. Seine Mutter verstand ihn wenigstens, wagte aber nur selten, ihrem Mann in dieser Sache die Stirn zu bieten.

Hori wollte ihnen sein Amulett am liebsten in einer trotzigen Geste vor die Füße werfen, beherrschte sich aber. Das hätte ihr Urteil über ihn eher bestätigt als geän­dert. Was viel mehr zählte, war der Stolz auf sich selbst. Wie viel hatte er erreicht! Er öffnete die geballte Faust, in der das Auge des Horus einen Abdruck hinterlassen hatte, und legte sich die Kette um. Warm und schwer lag das Metall auf seiner bloßen Brust. »Ich habe die Prüfung bestanden. Und nicht nur das. Ich wurde auch von den Prü­fern zum Besten des Jahr­gangs erklärt. Von heute an bin ich zugelassener Arzt in Kemet.« Er strahlte gegen die verkniffenen Mienen seiner Brüder an. Ihr habt wohl ge­dacht, durch mein Versagen noch heller leuchten zu können, was?, dachte er. Ah, was für eine Genugtuung!

»Hm«, machte sein Vater. »Nun ja, das war auch das Mindeste, was man von dir verlangen konnte, wenn du schon keinen Posten bei Hofe antreten wolltest. Ärzte! Das sind doch nur bessere Handwerker. Ich hoffe nur, dass du uns keine weitere Schande machen wirst.«

»Sobekemhat! Der Junge hat viel geleistet. Und Arzt ist durchaus ein respektab­ler Beruf. Bester seines Jahrgangs!« Stolz leuchtete aus den Au­gen seiner Mutter, und sie blinzelte ein paar Tränen weg.

»Ach übrigens, Vater«, konnte Hori sich nicht verkneifen einzuwenden, »wenn selbst der Wesir der Beiden Länder die Arztlaufbahn für seinen mitt­leren Sohn gutheißt, wird die Schande so groß wohl nicht sein. Macht euch keine Mühe, für heute Abend etwas Besonderes zu planen. Ich bin beim We­sir eingeladen – zu einem Bankett zu meinen Ehren – und Schepsesʼ natür­lich.« Mit Befriedigung sah er Tetis und Puys Kinnladen herabfallen. Wäh­rend er den Raum verließ, hörte er das unwillige Schnauben seines Vaters. Seine Schultern verspannten sich. Auch wenn es dumm war zu glauben, Sobekemhat würde seine Meinung über ihn ändern, enttäuschte ihn die Re­aktion. Er wünschte sich Eltern, die ihn liebten, und nicht das, was er in der Welt darstellte.

In seinem Zimmer angekommen streifte er den gestärkten Leinenschurz ab und warf sich nackt auf die Laken seines Bettes. Er würde vor dem Fest noch etwas ru­hen, denn ja, er würde sich heute Abend amüsieren, das hatte er sich verdient! Den Nacken bequem auf die Kopfstütze gebettet, glitt er alsbald in erholsamen Schlaf.

Bankett mit Folgen

Tag 5 im Monat Renutet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit

Am Abend kleidete er sich in seinen besten Schurz, dessen Leinen so sehr gestärkt war, dass der Stoff von seinem Körper abstand. Mit Be­dacht wählte er einen Halskragen aus Lapislazuli- und Karneolperlen, der breit genug war, seine Schultern zu bedecken, und nahm das Amulett mit dem Horusauge in die Hand. War es das wert gewesen, sich mit seiner Fa­milie zu überwerfen?

»Ach, was sollʼs!« Er presste die Lippen zusammen und streifte sich die goldene Kette über den Kopf. Sorgfältig umrandete er seine Augen mit Ko­hol und verlän­gerte den Lidstrich bis zur Schläfe. Die Perücke mit der abge­stuft geschnittenen Löckchenfrisur und die Sandalen aus kunstvoll gefloch­tenen Binsen vervollstän­digten seine Aufmachung. Er verließ das elterliche Haus, ohne sich zu verabschie­den.

Die Sonne war bereits untergegangen, doch der Weg zum Haus des We­sirs war nicht weit, und Hori kannte ihn. Ihm reichte das spärliche Licht der Fackeln, die an den Pforten der herrschaftlichen Anwesen blakten. Als er um die Ecke bog, hatte er für einen Moment freie Sicht auf den Fluss. Dunkel hoben sich die Berge am west­lichen Ufer vor dem samtigen Tiefblau des Himmels ab. Glühende Punkte kenn­zeichneten die am jenseitigen Flussufer stehenden Gebäude, den Tempelkomplex des Anubis. Noch weiter flussab­wärts befand sich der abgetrennte Bezirk, in dem die Toten auf ihre Reise in den Schönen Westen vorbereitet wurden. Ein Hund heulte, vielleicht war es auch ein Schakal in der Wüste, dessen Schrei manchmal weit über das Was­ser trug. Das Geräusch klang unheimlich und ließ Hori die letzten Schritte schneller zurücklegen. Er hatte die Umfassungsmauer des Anwesens von Nebit erreicht.

Das Haus des Wesirs stand in einer weitläufigen Gartenanlage, die direkt an den Fluss grenzte und sich eines eigenen Bootsanlegers rühmen konnte. Die Pforte war hell erleuchtet. Sobald Hori hindurchgetreten war, umfingen ihn die innerhalb der Mauern und dichten Vegetation auf­gestaute Wärme sowie das Gelächter der Feiernden. In den Boden gesteckte Fackeln säumten die Pfade und wiesen seinen Füßen mit ihrem unsteten Licht den Weg.

Schließlich gelangte er auf eine von Büschen und Bäumen umstandene grasbe­wachsene Fläche. In den Zweigen aufgehängte Laternen beleuchteten lange Tafeln, auf denen bereits Platten und Teller aufgetragen wurden. Plaudernde Gäste standen in Grüppchen herum. Hori war zunächst wie geblendet und kam sich fremd vor ‑ wie in einem Traum. Eine ganze Weile stand er nur da und dachte: Ich gehöre nicht hierher.

Da hieß ihn jemand freudig willkommen. »Da ist ja Hori, der Ehrengast. Komm her, wir warten alle schon auf dich!«

Hori erkannte die Stimme und zwang sich zu einem Lächeln. »Nacht­min!«, be­grüßte er den jungen Arzt aus Oberägypten, dessen Gesicht im Licht der Lampen rötlich leuchtete. Er schien bereits dem Wein zugespro­chen zu haben und wirkte über Horis Kommen erleichtert. Bestimmt fühlt er sich genauso unwohl wie ich, dachte er.

Gemeinsam traten sie in den ausgeleuchteten Bereich, als sich der Hausherr ihnen zuwandte. Hori und Nebit kannten sich von offiziellen Anlässen bei Hofe, trotzdem glaubte er sich dem hohen Beamten im ersten Mo­ment höchst unwill­kommen, doch dann glitt ein leutseliges Lächeln über das Gesicht des Wesirs. »Ich grüße dich, Sohn des Sobekemhat, der du neben mei­nem wunderbaren Sohn …« Er zog Schepses zu sich heran. »… der Ehrengast des Abends bist.«

Sohn des Sobekemhat? Hori ärgerte sich. Kann er nicht meinen Namen nennen; bin ich selbst nichts und gelte nur durch das Amt meines Vaters etwas?, dachte er verdrossen. Dennoch verbeugte er sich. »Ich danke dir, edler Nebit, für die Einladung am heuti­gen Abend. Jeder der jungen Ärzte hat sich diese Feier redlich verdient.«

Nebit warf einen Blick auf Nachtmin, dessen Schurz zerknittert und be­reits fle­ckig war, rümpfte leicht die Nase und öffnete den Mund, als wollte er etwas erwi­dern. Dann besann er sich und machte eine weit ausholende Be­wegung mit seinem Arm, mit der er die jungen Ärzte an die Tafel bat. Hori wurde der Platz zwischen Schepses und einem jungen Mann zugewiesen, der Schepses ähnelte und wohl sein älterer Bruder Neferib war. Schon diese Reihenfolge zeigte deutlich, wer der eigentliche Ehrengast des Abends war, denn Schepses saß zur Rechten seines Vaters. Nebits Lächeln, voll Wärme und Stolz, glitt über die Mitglieder seiner Familie hinweg, die schöne Gemahlin, die drei Söhne und die kleine Tochter.

Hori konnte das harmonische Bild nur schwer ertragen und ließ seine Blicke über die Tafel schweifen. Wahrlich, man ver­stand zu feiern im Haus des Nebit! Diener brachten Platten und Schüsseln mit dampfenden Speisen herbei, bei deren Anblick ihm das Wasser im Munde zusam­menlief. Auf den Weinkrügen glitzerte das Kondenswasser. Offenbar waren sie erst kurz zuvor aus den kühlenden Tüchern gewickelt worden und versprachen einen erfrischenden Inhalt. Vorsichtig nippte Hori an seinem Becher. Der Wein lag weich und süß auf seiner Zunge. Genieße­risch nahm er einen tiefen Zug und merkte als­bald, wie stark er ihm zu Kopf stieg. Er sollte sich besser vorsehen und etwas mit dem Trinken zurückhal­ten.

Auch die Speisen waren raffinierter als alles, was er je daheim vorgesetzt be­kommen hatte. Hori genoss das Mahl in vollen Zügen und vergaß darüber seine Vorbehalte gegen Schepses. Stattdessen wünschte er sich sehnlich, dieser Familie anzugehören, in der es so ungezwungen zuging und so viel Zuneigung herrschte. Wie anders war das strenge Regiment sei­nes Vaters! Wieder und wieder lud er sich die Schüssel voll. Das Essen war stark gewürzt und scharf. Um das Brennen seiner Kehle zu lindern, ließ er seinen Becher auffüllen, sobald er leer war.

Allmählich wurden die Gespräche am Tisch lebhafter. Die Gemahlin des Nebit, die edle Dame Sitamun, beherrschte das Tischgespräch mit leichtem Geplauder. Ihr Mann hing förmlich an ihren Lippen. Obwohl es Hori schien, als flirte sie ein ums andere Mal ungeniert mit den jungen Freunden ihres Sohnes, nahm der Wesir kei­nen Anstoß daran, sondern streichelte liebevoll ihren Arm. Wann immer ihr Mund die Perlen ihres Gelächters freigab, lachte er mit. Sonst jedoch beteiligte er sich nicht an den lockeren Gesprächen – vermutlich interessierten sie ihn nicht.

Hori war ganz bezaubert von der Mutter des Schepses. Sie wirkte so jung! Die vollen Lippen teilten sich oftmals zu einem verheißungsvollen Lächeln. Wenn sie sich vorbeugte, wölbten sich die Träger ihres Kleides, und er konnte die Spitzen ihrer mit Henna gefärbten Brustwarzen sehen. Wie erregend! Er war froh um den gestärkten Schurz, der seine Erektion verbarg.

Wein und Bier flossen in Strömen. Einige der jungen Männer bedienten sich be­reits der von Dienern diskret gehaltenen Schüsseln, um sich zu über­geben. Auch Hori fühlte sich berauscht und erhitzt. Eine Gruppe von jungen Frauen trat aus dem Schatten der Bäume – das Unterhaltungsprogramm begann. Eine blinde Musikerin stimmte auf der Harfe eine fröhliche Melodie an, und als der Klang der Trommeln und Sistren den Rhythmus skandierte, wiegten sich die bis auf einen schmalen Gürtel nackten jungen Tänzerinnen im Takt dazu.

Sitamun legte ihrem Mann die Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Gleichzeitig verschleierte sich ihr Blick und glitt voller Begehren über die jun­gen Männer, bis er sich mit Horis kreuzte und bei ihm verharrte. Hatte sie ihm eben zuge­zwinkert?

Nebit erhob sich. »Ich werde mich nun zurückziehen. Morgen harren wichtige Amtsgeschäfte meiner. Ihr aber sollt euch des Abends erfreuen, solange ihr mögt.«

Als wäre dies ein Zeichen gewesen, wurde die Musik noch lauter und fröhlicher, und die Gäste ließen sich auf dem Rasen nieder. Hori gesellte sich zu Meriamun und Nachtmin, den beiden Mitschülern, mit denen er sich am besten verstand. Träge genossen die beiden die Darbietung der Tänzerinnen. Hori aber beobachtete Sitamun, die ihn völlig in ihren Bann gezogen hatte. Sie schien von der Musik immer mehr mit­gerissen zu werden, ihr Oberkörper schwankte hin und her. Schepses reichte ihr einen Becher Wein, den sie in einem Zug herunterstürzte. Dann – Hori glaubte seinen Augen kaum zu trauen – streifte die edle Frau ihr Kleid ab und gesellte sich zu den Tanzenden. Wie ihr Kör­per sich wiegte und bog! Nie hatte er eine begehrenswertere Frau gesehen; am liebsten hätte er sie hinter die Büsche gezerrt – oder wenn schon nicht sie, so doch irgendeine Frau. Er wollte sich nur noch abreagieren.

Auch die übrigen jungen Männer stierten die Gemahlin des Wesirs mit vor Be­gierde glasigen Augen an. Immer schneller peitschte die Musik, im­mer anzüglicher wurden die Bewegungen der Tänzerinnen. Die nackten Mädchen kamen auf die Gäste zu, umkreisten sie mit girrenden Rufen. Sit­amun bemerkte Horis Blicke, schlängelte sich an ihn heran. Er stöhnte bei der Vorstellung, seine Fantasien könn­ten wahr werden, und beinahe hätte er sich allein davon ergossen. Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Er schluckte und fühlte sich schlagartig nüchtern werden. Wenn er sich dazu hinreißen ließe, könnte das schlimme Folgen haben! Wusste Nebit, wie seine Frau sich aufführte? Seine Erregung flaute so rasch ab, wie sie ge­kommen war.

Als Sitamun direkt vor ihm stand, sah er die Falten in ihrem Ge­sicht, die aus der Ferne wegen der üppig aufgetragenen Schminke und des diffusen Lichts nicht sichtbar gewesen waren und ihr wahres Alter verrieten. Ohne sich darum zu scheren, dass jeder sie sehen konnte, glitt sie rittlings auf Horis Schoß und fummelte unter seinem Schurz. Das durfte nicht sein! Sie war verheiratet – Um Hori drehte sich alles, ihm wurde schlecht. Er stieß sie rüde von sich, sprang auf und lief von der Gruppe der Feiernden fort. Sitamuns Lachen, jetzt schrill gewor­den, verfolgte ihn. Im Schatten der Bäume übergab er sich.

Zitternd und keuchend stand er an den Stamm der Palme gelehnt. Er fühlte sich in mehr als einer Hinsicht beschmutzt. Seine Hände klebten, aber er wollte sie nicht an sei­nem Schurz abwi­schen, um den Gestank nach Erbrochenem nicht in den Stoff zu reiben. Waren die Diener noch da? Er sah über die Lichtung hinweg zur Tafel. Nein, aber vielleicht stand noch eine Schale zum Händewaschen dort. Sein Schlund brannte. Ein Schluck Wasser würde ihm guttun. Er tau­melte am Rand der Wiese entlang auf den Tisch zu.

Wo war Sitamun? Sie umtänzelte mit ein­deutig aufreizenden Bewegungen Meriamun. Hori schüttelte ungläubig den Kopf. Sein Freund besaß offenbar weniger Skrupel als er selbst, oder er war trunkener, denn er zog Nebits Gattin zu sich hinunter. Bald wa­ren die beiden in leidenschaftli­cher Umarmung verschlungen. Hori wollte sich das nicht länger mit ansehen. Leise Eifersucht mischte sich in seine Ab­scheu. Er stolperte fast über ein weiteres Knäuel verschlungener Leiber. Die meisten seiner Freunde wurden von den Tänzerinnen beglückt, während die Musik leiser, aber auch drängender geworden war. Sie untermalte das Keuchen und Stöhnen der kopulierenden Paare. Hatte Hori sich kurz zuvor noch inbrünstig ge­wünscht, sein pulsierendes Glied in einen willigen Körper zu stoßen, fühlte er sich von dem Anblick nun abgestoßen. Sitamuns Lustschreie waren viel zu laut. Hörte Nebit denn nicht, was sich hier in seinem Garten zutrug? Er sah sich um.

Schweiß glitzerte auf Sitamuns Körper. Sie war mit Meriamun fertig und wandte sich einem anderen der jungen Männer zu. Als der sein Gesicht drehte, erkannte Hori Schepses. Seine Mutter hatte sich über ihn gebeugt und sein Glied in ihren Mund genommen. Erst sah es so aus, als wollte Schepses sie abwehren, dann ver­drehten sich seine Augen voller Lust. Sein Körper reagierte auf die kundigen Zun­genbewegungen. Schließlich setzte sich seine Mutter auf seinen Schoß und nahm seine Männlichkeit in sich auf. Heftig ritt sie ihn, fast gewalttätig, als hätte Meri­amun sie zuvor nicht be­friedigen können.

Horis Gesicht brannte vor Scham. Merkten die anderen denn nicht, was sich da vor ihren Augen abspielte? Wie konnte eine Mutter so etwas tun – mit ihrem eige­nen Sohn! Und doch schien Schepses es nicht ungewöhnlich zu finden, gar zu ge­nießen, als sei dies für ihn normal – Es ist normal für ihn!, durchfuhr es Hori. Sie hat es schon öfter getan. Jetzt bemerkte er auch die Blicke von Schepsesʼ Brüdern. Sowohl das Gesicht des Älteren, Neferib, als auch das des jungen Hotep drückten denselben Ekel aus, den er empfand. Ob sie davon gewusst hatten? Mit einem Mal war Hori sehr froh, nicht dieser Familie anzugehören. Unter der trügerisch glatten Wasser­oberfläche, die das Bild von Schepsesʼ Familie spiegelte, lauerte offenbar ein Kro­kodil. Er ging zurück zur Tafel und setzte sich mit dem Rücken zum Geschehen. Hoffentlich konnte er die Bilder mit Wein auslöschen. Er schenkte sich den Becher randvoll.

Lange blieb er nicht allein. Neferib und Hotep gesellten sich zu ihm, ob­wohl Hori bisher mit keinem von beiden Worte gewechselt hatte. Neferib bekleidete einen Posten in der Verwaltung, so viel wusste er über den älteren Bruder seines Mit­schülers. Er ähnelte Schepses nicht nur äußerlich, sondern besaß auch dessen groß­spuriges Wesen. Hotep dagegen war schmächtig. Seine geduckte Körperhaltung und der unstete Blick hatten etwas Lauerndes an sich, das Hori nicht be­nennen konnte. Instinktiv fasste er eine Abneigung gegen Hotep. Der jüngste der Brüder hatte während des Festmahls überhaupt nicht zur Unter­haltung der Gäste beigetragen und war Hori wie ein Fremdkörper im harmonischen Gefüge der Familie erschienen. Allerdings – was war an die­ser Familie, bei Licht betrachtet, harmonisch?

Hotep hob seinen Becher und prostete ihm zu. Da erkannte Hori auch, warum der jüngste Spross Nebits so zurückhaltend war: »A-auf d-d-den P-p-ph …«

»Ja, ja, auf den Pharao – er möge leben, heil und gesund sein«, fuhr ihm Neferib ins Wort und stieß seinen Becher gegen den von Hori. »Entschuldige meinen Bruder, er ist ein wenig langsam im Kopf.«

»I-i-ich b-b-in nicht l-l-l-«

Mit gönnerhaftem Lächeln äffte Neferib den Satz seines Bruders nach. »I-i-ich b-b-in nicht l-l-l-l-l – nein, wirklich nicht, Hotep, jeder braucht so lange, um einen Satz zu sprechen.« Er brach in Gelächter aus, das zeigte, wie betrunken er bereits war.

Hori fühlte sich unbehaglich, Zeuge dieser Demütigung zu werden. Wäh­rend Hotep nur ergeben den Kopf senkte, brannten seine eigenen Wangen vor Scham. Sein vager Abscheu gegen den jungen Mann wandelte sich in Mitleid, und er war er­leichtert, als Nachtmin und ein weiterer junger Arzt na­mens Weni zu ihnen an den Tisch kamen und dem Gespräch eine andere Richtung gaben. Nachtmin sprach noch einmal die Prüfung an, und schon bald entspann sich eine lebhafte Diskussion über Diagnosen und Symptome, von der die beiden Wesirssöhne ausgeschlossen blieben.

»Hier ist ja gar nichts mehr los«, beschwerte sich Neferib nach einer Weile. »Kommt, lasst uns zum Hafen gehen und dort weiterfeiern. Ich kenne eine Spe­lunke, die die ganze Nacht geöffnet ist.«

Hori war unschlüssig. Das Fest verlassen? Er drehte sich um und blickte über die Wiese. Die übrigen Gäste waren eifrig mit den Tänzerinnen be­schäftigt. Auf den ersten Blick konnte er Sitamun nicht ausmachen. Hat sie sich zurückgezogen? Sieht so aus, dachte er erleichtert. Weitere Peinlich­keiten wollte er sich und den anderen lieber ersparen. Er wandte sich Neferib zu, der ihm gegenübersaß und einen unverstellten Ausblick auf die Szenen im Halbdunkel hatte. Wut und Hass verzerr­ten sein Gesicht. Daraufhin sah Hori noch einmal genauer hin und diesmal entdeckte er Sitamun zwischen Schepses und einem anderen jungen Mann, und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Schepses lag auf dem Rücken und wurde wie zuvor von seiner Mutter geritten, aber der zweite Mann … Wider Willen fasziniert von dem ungewohnten Anblick sah Hori zu, wie das Glied des jungen Man­nes in Sit­amuns Anus stieß. Bislang hatte er gar nicht gewusst, dass man diese Körperöff­nung auch für den Geschlechtsakt nutzen konnte. Im Geiste ging er die medizini­schen Aspekte dieser Erkenntnis durch. Ob der Erguss des Mannes wie ein Klistier wirkte? Er kicherte.

Unsanft wurde er von Neferib am Arm gepackt und vom Stuhl gezogen. »Ist es nicht ein Anblick für die Götter, wenn meine edle Mutter sich stopfen lässt wie eine Gans?«

Hori wandte sich ab. Neferib war es offenbar sehr unangenehm, dass er und die anderen Zeugen dieser Szene geworden waren. Es wäre wohl am besten, die beiden Brüder abzulenken, damit sie nicht weiter zusehen oder hören mussten, wie sich ihre Mutter als Hure gebärdete. Dabei vermochte er nicht einmal zu sagen, welchen der drei Brüder er am meisten bedauerte. Mit dem Lie­besakt ehrte man die Götter – eigent­lich. Was er heute erlebt hatte, war al­lerdings eine Pervertierung von Liebe. Gewiss, die Pharaonen heirateten ihre Schwestern, um deren königliches Blut auf ihre Söhne und Töchter zu übertragen, aber dies hier – zwischen Mutter und Sohn – war etwas anderes. Allein der offen begangene Ehebruch war unerhört! Hori entsann sich des Märchens der zwei Brüder. Der Betrogene in dieser Geschichte warf seine untreue Frau den Hunden vor. Was wohl geschähe, wenn die Familie des höchsten Beamten der Beiden Länder von einem solchen Skandal erschüttert wurde – er wollte es sich nicht ausmalen.

Schlimmer noch schien ihm, wie die edle Dame Sitamun ihren mittleren Sohn miss­brauchte. Genoss Schepses die besondere ›Gunst‹ seiner Mutter, oder war er nur ein widerwilliger Gespiele, der ihrer Lust diente? Dann kam Hori ein neuer Gedanke. Hatte das Treiben seiner Mutter Hotep die Sprache verschlagen; kam sein Stottern daher?

Er tat, als wäre ihm all dies gleichgültig, und sagte: »Was ist denn schon dabei? Wollten wir nicht herausfinden, wie man im Hafen zu feiern ver­steht?« Er hakte Neferib und Weni unter. Gemeinsam wankten die fünf jun­gen Männer wenig später unter lautstarkem Gelächter durch die Straßen des nächtlichen Itji-Taui.

Kaum hatte sie die Schenke ›Zum Goldenen Ibis‹ betreten, glaubte Hori sich in einer anderen Welt. Keine Brise milderte den Geruch nach schalem Bier, Erbroche­nem und ranzigem Fett, vermischt mit dem Dunst von Schweiß und fauligem Atem. Ru­ßende Fackeln an den Wänden gaben nur ein spärliches Licht. Die Luft war ver­braucht, und es war unerträglich heiß und stickig in dem Raum. Einige späte Gäste sogen ihr Bier durch Halme, damit sie nicht den Bodensatz aus Körnern herunter­schlucken mussten. Der Wirt, ein feister Glatzkopf in fleckigem Schurz, hob bei ihrem Eintreten so­fort den Kopf. Ein schmieriges Lächeln drängte die Fettpolster an den Wan­gen nach oben und verengte so seine Augen zu Schlitzen.

Der erkennt einen feinen Schurz sofort, durchzuckte es Hori.

Der Dicke zwängte sich durch die Sitzreihen hindurch und hieß sie wort­reich und unter vielen Verbeugungen willkommen. Er führte sie zu einem freien Tisch, dessen Platte er mit einem Wischen seines Unterarms von Un­rat befreite.

»Tochter«, brüllte er über die Köpfe seiner Gäste hinweg. »Bring den hohen Her­ren von unserem besten Bier!«

Kurze Zeit später erschien ein schmächtiges junges Mädchen, fast noch ein Kind, das unter der Last der Krüge zusammenzubrechen drohte. Neferib stierte auf die knospenden Brüste der Kleinen, die von ihrem fadenscheinigen Gewand nur unzurei­chend bedeckt wurden.

Kaum hatten sie die ersten Biere geleert, standen schon wieder frische vor ihnen. Hori hielt sich mit dem Trinken zurück, dennoch stiegen ihm bereits die ersten Schlucke aus dem zweiten Krug zu Kopf. Die Brüder spra­chen dem schäumenden Getränk dafür um so eifriger zu. Hori wunderte es nicht. Die beiden hatten einiges, das sich zu vergessen lohnte. Nachtmins Augen wur­den glasig, und er sank mit dem Kopf auf die Tischplatte.

Als die Wirtstochter die dritte Runde brachte, zog Neferib sie auf seinen Schoß. Das junge Ding wand sich, spielerisch zunächst. Offenbar war sie Zudringlichkeiten von Gästen gewöhnt. Neferib ließ nicht locker, und da wehrte sie sich heftiger, aber der Griff war zu fest.

»Lass mich los!«, rief sie, und Hori entging nicht, dass der Schrei etwas Flehen­des hatte.

Neferib lachte hart. »Kleine Schlampe, ich werde es dir gründlicher be­sorgen als dein fetter Vater.«

Hori erschrak über den Hass in Neferibs Stimme und blickte sich um. Der Wirt war nirgends zu sehen, obwohl er mitbekommen haben musste, was sich hier an­bahnte. Hori drehte sich zurück zu Neferib, dessen Finger inzwischen das Kleid des Mädchens hochgeschoben hatten. Die Kleine schaute mit großen, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen direkt in Horis Herz. Zu viel, das war zu viel! Dieser Kerl nahm sich einfach, was ihm be­liebte – Hori fühlte unbändige Wut auf diese ganze verkommene Familie. Er sprang auf, musste sich jedoch gleich an der Tischkante abstützen. Der Raum drehte sich um ihn.

»L-lass sie los, N-neferib«, lallte er und fühlte sich an die Sprechweise von Hotep erinnert. Er lachte. ›Ich bin betrunken.‹

Der spitze Schrei des Mädchens ernüchterte ihn schnell wieder. Neferib hatte ihre Schenkel weit genug auseinandergezwungen, um mit seinen Fin­gern in sie einzu­dringen. Es blutete! Also war sie noch unberührt gewesen. Nefer­ib hatte kein Recht, sie mit Gewalt zu nehmen. Hori machte einen Satz auf den Wesirssohn zu und riss ihn herum.

Der Angriff überraschte Neferib, aber seine Rechte schnellte vor. Das Mäd­chen nutzte den gelockerten Griff und glitt unter dem Tisch hindurch in Si­cherheit.

»Was fällt dir ein?«, empörte sich Neferib. »Die gehört mir!« Er stürzte sich auf Hori.

Er wehrte die ersten ungezielten Schläge Neferibs mit Leichtigkeit ab, doch auch seine Reaktionen waren träger als sonst. Schließlich verpasste Neferib ihm einen Hieb in den Magen. Der Schmerz nahm ihm den Atem, und er krümmte sich zusammen wie ein Igel. Sofort prasselten weitere Schläge auf ihn ein. Laute Rufe feuerten Horis Peiniger an. Aus dem Augenwinkel sah er die stämmigen Waden des Wirts ganz in der Nähe. Wa­rum griff der denn nicht ein? Bei so einer Schlä­gerei konnten seine sämtlichen Möbel zu Bruch gehen. Mühsam stemmte Hori sich hoch und stieß Neferib heftig von sich. Der stolperte rückwärts, ruderte mit den Armen und verfing sich schließlich in den Beinen eines umgestürz­ten Hockers. Hori schien es, als verlangsamten sich mit einem Mal alle Bewegungen. Er sah Neferibs Perücke von dessen Kopf rutschen, den Körper unaufhaltsam nach hinten stürzen. Plötzlich herrschte atemlose Stille.

Es war ein hässliches Geräusch, als Neferibs Nacken mit unheimlicher Genauig­keit auf die Ecke eines Tisches prallte. Sein Körper verlor sofort jede Spannung. Schlaff fiel er auf den schmutzigen Boden. Eine Blutlache sickerte langsam unter seinem Kopf hervor. Horis medizinischer Verstand sagte ihm mit unbarmherziger Schärfe, was sein Herz nicht wahrhaben wollte: Neferib war auf der Stelle tot gewesen.

Von den Umstehenden kam kein Laut, nur Hotep eilte zu seinem Bruder, um­fasste sei­nen Kopf und heulte auf. Anklagend hob er eine blutverschmierte Hand. »Er-erg-greift ihn! Er h-hat m-meinem B-b-bruder g-ge-getötet!«

Hori stand mit hängenden Armen da. Es fühlte sich so unwirklich an, als passierte all das nicht ihm, sondern einem anderen, den er nicht kannte. Er ließ es geschehen, dass man ihn packte und in die kalte, dunkle Nacht hin­ausführte. Willenlos stolperte er zwischen seinen Häschern einher und kam erst wieder zu vollem Bewusstsein, als die Männer an die Pforte der Unterkunft der Medjay hämmerten.

---ENDE DER LESEPROBE---