Salz auf der Seele - Kathrin Brückmann - E-Book
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Kathrin Brückmann

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Beschreibung

Nach dem tragischen Unfalltod ihres Verlobten fällt Erfolgsautorin Sanne in ein tiefes Loch, fühlt sich leer und ausgebrannt. Als ihre Lektorin ihr eine Reise an die winterliche Nordsee vorschlägt, sagt sie zögernd zu. Am Strand von Norddeich begegnet sie dem geheimnisvollen Treibgutsammler Hajo. Der schweigsame Friese fasziniert und inspiriert sie, aber kann sie auf den Trümmern ihres alten Lebens ein neues aufbauen? Da taucht plötzlich ein Fremder auf, der Sannes Verlobtem Jonas zum Verwechseln ähnlich sieht, und sie muss sich entscheiden: Vergangenheit oder Zukunft. Sie ahnt nicht, welche Gefahren auf sie lauern.

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Kathrin Brückmann

UUID: 292b6afc-69af-11e8-9a60-17532927e555
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (http://write.streetlib.com) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Leere

Nordwind

Eisblume

Der Strandläufer

Treibholz

Stürmische See

Chimäre

Zwischen Skylla und Charybdis

Der Schatten des Toten

Verrat

Überraschendes Geständnis

Kirkes Zauber

Die Insel der Sirenen

Das Gelage der Freier

Die Werkzeuge der Kalypso

Heimkehr nach Ithaka

Schicksalsfäden

Ostfriesische Begriffe

Kapitelüberschriften

Nachwort

Romane von Kathrin Brückmann

Impressum tolino

Vorbemerkung

Das Zitat von Walter de la Mare (25. April 1873-22. Juni 1956) wurde (bis auf die korrekten Anführungszeichen und den Apostroph) unverändert der Seite

https://en.wikisource.org/wiki/The_Listeners_(De_la_Mare)

entnommen. Der Text unterliegt der Creative Commons Attribution-ShareAlike License

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/#

Text taken from online transcript, Louis Untermeyer, ed. (1885–1977). Modern British Poetry. 1920.

Die Zitate aus der Odyssee sind entnommen aus:

»Homers Odyssee im Auszuge« in neuer Übersetzung herausgegeben von Dr. Oskar Hubatsch, Velhagen & Klasings Sammlung deutscher Schulausgaben Band 49, 1926

und:

»Homer’s Werke Deutsch der Versart der Urschrift von J. J. C. Donner. Die Odyssee« Erster und zweiter Theil, Hoffmann’sche Verlags-Buchhandlung 1858

Der Roman spielt in Norddeich und teils an realen, teils aber auch ausgedachten Schauplätzen. Es gibt weder den Marschhof der Tammenas noch den Strandkotten oder das Atelier an der Strandpromenade, etwaige Ähnlichkeiten zu real existierenden Örtlichkeiten oder Personen wären rein zufällig.

Hin und wieder schnacken meine Friesen en bietje Platt – die Übersetzungen dazu finden Sie am Ende des Buchs.

Leere

Nenne mir, Muse, den Helden, den vielgeprüften, der lange schweifen mußt in der Irre, nachdem er die heilige Feste Troja zerstört. Er sah viel Städte der Menschen und lernte kennen den Sinn der Bewohner und litt viel Kummer im Herzen. Odyssee Gesang I, 1 (nach Hubatsch)

Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos trieb die Schatten kahler Äste über die Zimmerdecke, bis sie an der Wand mit der Dunkelheit verschmolzen. Es muss schön sein, im Nichts, dachte Sanne, und wünschte, sie könnte sich auch einfach auflösen und mit ihnen alle Sorgen, aller Schmerz. »Ich … ich kann nicht«, stammelte sie ins Telefon.

Es knisterte leise in der Leitung. Einschläfernd. Sanne blinzelte gegen ihre Erschöpfung an.

Nach einer langen Stille räusperte sich Henrike Jansen. Eigentlich war es mehr ein Seufzen. »Frau Rosenholz, es ist jetzt bald ein Jahr her. Sie haben einen Vertrag mit uns. Der Verlag war wirklich mehr als geduldig, aber … Sie müssen wieder schreiben.«

In Sannes Ohren hallten die Satzfetzen wider. Konventionalstrafe. Vorschussrückzahlung. Sie schluckte, um den Druck im Kopf loszuwerden, stemmte sich gegen die Angst, die Frau Jansens Worte in ihr auslösten. Was sollte sie tun, wenn der Verlag die Drohung wahr machte? »Ich bin leer«, presste sie schließlich hervor. »Es tut mir leid für Sie, für den Verlag. Ich kann einfach keine Geschichten mehr erzählen. Da ist nichts mehr in mir.«

Die Lektorin schnaufte. »Wir alle bedauern Ihren Verlust und haben Ihnen viel Zeit zum Trauern gelassen, doch das Leben geht weiter. Frau Rosenholz, meinen Sie nicht, Sie sollten sich professionelle Hilfe holen? Ich bin sicher, wenn ich der Verlagsleitung mitteile …«

»Nein«, schnitt Sanne ihr das Wort ab und wunderte sich selbst über die Schärfe und Entschlossenheit in ihrer Stimme, die sogar durch die Watte in ihrem Hirn drang. »Was soll das bringen?«

»Versuchen Sie es doch. So kann es nicht weitergehen. Wovon wollen Sie denn leben?«

Wollen Sie denn leben?, echote es in Sanne. Sie klemmte sich das Gerät zwischen Kinn und Schulter, schlang die Arme fröstelnd um die angezogenen Knie. Kalt war’s. Kalt und dunkel. Sie hatte keine Worte, keine Antwort für Henrike Jansen.

»Sie müssen wieder unter Menschen, Frau Rosenholz. Immer in der Wohnung verkriechen, da erinnert Sie doch alles – Wie wär’s denn, wenn Sie wegfahren?«, unterbrach sie sich selbst. »Ein paar Tage raus, was anderes sehen?«

»Ja … vielleicht?«, räumte Sanne ein. Das war besser als ein Seelenklempner, der doch nur schmerzliche Dinge aufwühlen würde, die sie lieber in ihrem dumpfen Dämmerzustand begrub. Frau Jansens Aufatmen rauschte durch die Leitung und umfächelte sie wie eine laue Brise. Sonne, Strand, dachte Sanne plötzlich, warum nicht?

»Gehen Sie am besten gleich ins nächstbeste Reisebüro«, drängte die Lektorin. »Ich will sehen, dass ich meine Vorgesetzten noch etwas hinhalte, gut?«

»Ja«, murmelte Sanne. »Danke.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Ich ruf später noch mal an.«

Sanne verabschiedete sich. Es klickte in der Leitung, doch sie saß da, das tutende Telefon noch in der Hand, und starrte an die dunkle Zimmerdecke. Dachte an das Reisebüro im Center zwei Straßen weiter, die grellen Lichter, die vielen Menschen. Wenigstens die grässliche Weihnachtsdekoration sollte inzwischen fort sein. Trotzdem, sie wollte nicht … aber sie musste. Wenn der Verlag ernst machte, das könnte sie nicht zahlen. Ihr letztes Buch verkaufte sich zwar immer noch gut, aber sie hatte auch dafür einen üppigen Vorschuss bekommen, der auf das jährlich ausgezahlte Honorar angerechnet werden würde. Genau wie der für ihr nächstes Buch, dasjenige, das sie nie begonnen hatte. Und wenn sie nun wirklich leer war? Ohne ihre Schreiberei war sie nichts, konnte sie nichts. Jonas hatte ihr den Halt gegeben, den sie brauchte, Sicherheit. Hatte ihr den Rücken gestärkt und frei gehalten. Ohne ihn war sie nichts. ›Wovon wollen Sie denn leben?‹ In ihrer Zukunft sah sie nichts als ein schwarzes Loch. Ich will leben, sagte ein Stimmchen in ihr. Steh auf!

Endlich drückte sie die Taste, die das Telefon verstummen ließ, und erhob sich ungelenk vom Fußboden, die Beine steif und eiskalt. Aber rausgehen? Nicht heute, alles in ihr stemmte sich dagegen. Vielleicht morgen? Verflixte Jansen! Mit ihrem drohenden Kontrollanruf nahm sie Sanne die Möglichkeit, die Entscheidung zu vertagen.

Das Center erschien ihr als eine fremde Welt. So viele Leute, alle schienen Ziele zu haben. Ein Mann rempelte Sanne an und schnauzte: »Pass doch auf, du blöde Kuh!«

Sie murmelte eine Entschuldigung, zog den Kopf ein und ging weiter zum Reisebüro, hinter dessen Glasfassade menschenleere Strände, Palmen und türkisblaues Meer lockten. Dominikanische Republik, verhieß die Bildunterschrift. Sie sah sich dort entlanggehen und fühlte ihre Füße im warmen Sand einsinken. Spuren hinterlassen. Leben. Allein weiterleben. Nicht dran denken.

Der Preis ließ sie schlucken. Konnte sie sich das leisten, Karibik? Würde schon irgendwie gehen, und wenn sie dort wieder schreiben konnte … Vielleicht gab es ja ein Last-minute-Angebot, so außerhalb der Saison.

Als sie die Tür des Reisebüros aufdrückte, schlug ihr ein Schwall überheizter Luft entgegen – und das ohrenbetäubende Gekreisch eines Kleinkinds, das von seinem älteren Bruder an den Haaren gezogen wurde. Sanne zuckte zusammen und schaute vorwurfsvoll zu den Eltern, die das Geschrei nicht kümmerte. Sie waren in das Verkaufsgespräch mit dem Reisemenschen vertieft. Nannte man diese Leute Reisemenschen? Sicher gab es dafür eine englische Bezeichnung wie Travel Agent.

Eine blondierte Dame am Nebentisch lächelte Sanne aufmunternd zu. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sanne sank in den weichen Kunstledersessel. Weiß wie der Strand auf dem Plakat. Sie strich mit der Hand über das Material und mied das professionelle Lächeln der Verkäuferin. »Weg, bitte. Ich will raus.«

Das kleine Mädchen schlug auf ihren Bruder ein, der nun seinerseits losbrüllte. Sannes Hände fuhren unwillkürlich zu ihren Ohren.

»Haben Sie denn ein Wunschziel?«, sagte die Blonde laut genug, um den Kinderlärm zu übertönen.

Ruhe, dachte Sanne, und Einsamkeit.

Ihr Kollege erhob sich halb aus seinem Stuhl und schüttelte dem Familienvater am anderen Tisch die Hand. »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß in der Dominikanischen Republik.«

Sanne drehte sich entsetzt nach der lauten Familie um und strich die Karibik von ihrer Liste. »Haben Sie irgendwas Abgelegenes?«

»Sie meinen, eine Fernreise?«

»Nein. Nichts, wo man Impfungen und Visum braucht. Es muss schnell gehen, wissen Sie?«

Das professionelle Lächeln wirkte etwas gezwungen. »Last minute, also. Wie wäre es mit den Tiroler Alpen? Da hätte ich …«

Sanne erstarrte. Aufstiebender Schnee. Jonas, der in elegantem Schwung den Berghang hinabwedelt. Der Snowboard-Rowdy, der seinen Weg kreuzt – und sie, die vom Sessellift aus hilflos zusehen muss. Weiß der Schnee, rot das Blut … »Nicht!«, stieß sie hervor. »Auf keinen Fall … Berge. Lassen Sie’s gut sein.« Sie stürmte hinaus. Das mit dem Urlaub war eine grauenhafte Idee gewesen!

Im nächsten Moment fand sie sich auf dem spiegelnden Granitboden des Centers stehend wieder und kämpfte gegen ihre Tränen an. Nicht hier, wo sie alle anstarrten. Sie spürte die neugierigen Blicke; es prickelte in ihrem Nacken. Hastig drehte sie sich um, sah eine Gestalt in den Schatten einer Säule eintauchen, als wollte sie sich verbergen. Diese Haltung, die wilden Locken, die kantige Kinnlinie … Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Jonas?«, formten ihre Lippen tonlos. Sie blinzelte. Lief drei Schritte in Richtung der Erscheinung. Umrundete den Pfeiler, musterte alle Passanten. Der Mann – Jonas – war fort, falls da überhaupt jemand gewesen war. Er konnte es ja auch nicht sein. Tot. Fort. Für immer.

Anfangs hatte sie ihn überall zu sehen geglaubt, dann war es besser geworden, der freudige Schreck hatte sie seltener durchzuckt. Jonas ist tot, sagte sie sich. Sagte es sich dreimal flüsternd vor. Ihre Nerven waren völlig überreizt; sie sah schon Gespenster, musste wirklich weg aus Berlin, von den Orten, wo sie mit Jonas glücklich gewesen war.

Kaum hatte sie die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen, machte Frau Jansen ihre Ankündigung wahr. Sanne nahm das Gespräch an, ohne lange nachzudenken, sonst hätte sie den Apparat vermutlich an die Wand geworfen.

»Nun?«, kam die Lektorin gleich zur Sache.

Sanne hörte den ungeduldigen Unterton in der Stimme der Frau, die längst Feierabend haben musste, und unterdrückte die Vorwürfe, die ihr auf der Zunge lagen. Die Jansen meinte es nur gut. »Das war nichts.« Knapp schilderte sie ihre Erlebnisse bis auf die Sache mit der eingebildeten Begegnung. Henrike Jansen würde sie für verrückt erklären und wieder mit dem Psychologen anfangen.

Die Lektorin schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Also wissen Sie, Frau Rosenholz, Sie machen es einem aber auch nicht leicht, Ihnen zu helfen. Was könnten Sie sich denn vorstellen?«

Das Bild eines einsamen Strandes spukte durch Sannes Kopf. »Irgendwas, wo sonst keiner ist. Wo fährt denn um diese Jahreszeit niemand hin? Ich will einfach nur allein sein.« Sie zog die Nase hoch.

»Hm«, machte die Lektorin. »Ich glaub zwar nicht, dass es das Richtige für Sie ist, wenn Sie sich woanders verkriechen, aber … Wie wäre es mit der Nordseeküste? Mein Vater vermietet ein Ferienhaus in Norddeich, und um diese Jahreszeit steht es meist leer. Ich könnte ihn –«

Einsames Haus in den Dünen, sich vom kräftigen Wind die schlimmen Erinnerungen aus dem Kopf blasen lassen. »Ach bitte!«, unterbrach sie Frau Jansen. »Würden Sie das für mich tun? Ich glaube, das wäre genau das Richtige.«

Verhaltenes Lachen wehte durch den Hörer. »Wenn ich das geahnt hätte! Darauf hätte ich früher kommen sollen. Ich schau mal, ob ich meinen Vater erreiche, und rufe Sie dann zurück. Einverstanden?«

»Ja, gern.« Zum ersten Mal seit Langem verspürte Sanne so etwas wie Vorfreude, überhaupt eine Emotion jenseits von Leid.

»Einstweilen können Sie sich ja schon einmal die Website anschauen. Haus Strandkotten in Norddeich.«

Der Name klang nach Salzluft und dem Wispern von Strandhafer, nach uriger Gemütlichkeit. Sanne beendete das Gespräch und betätigte den Lichtschalter im Wohnzimmer. Zielstrebig steuerte sie ihren lange vernachlässigten Schreibtisch an, kurz darauf setzte sich der Lüfter im Rechner leise surrend in Bewegung. Wie lange hatte sie das Gerät nicht mehr angeschaltet? Fast wunderte sie sich, dass es noch lief.

Haus Strandkotten – auf dem Bild schmiegte sich der reetgedeckte Fachwerkbau anheimelnd an den Deich. Das Gebäude, so konnte sie es der beigefügten Anfahrtsskizze entnehmen, befand sich außerhalb des Ortes, sehr abgelegen, absolut ideal. Niemand würde sie dort stören. Hinter dem hellblau gestrichenen hölzernen Lattenzaun ragten farbenprächtige Stockrosen empor, und gegenüber dem Haus erstreckten sich endlose grüne Weiden, ein Traum. An einem solchen Ort würde sie gern leben, ihre Kinder großzie– jäher Schmerz verschlug ihr für einen Moment den Atem; das Klingeln des Telefons war die Rettung. Tief holte sie Luft und nahm das Gespräch an.

»Jansen noch mal. Sie haben Glück, der Kotten –«

»Glück?« Das Wort verhöhnte Sanne. »Hören Sie, ich habe es mir überlegt. Vergessen wir das Ganze. Ich bleib besser zu Hause. Irgendwann –«

»Oh nein, so kommen Sie mir nicht davon. Ich habe bereits für Sie gebucht, zwei Wochen mit Option auf Verlängerung. Sie müssen fahren, und wehe Ihnen, wenn Sie kneifen!«

Sanne spürte, dass ihre Lektorin kurz vorm Explodieren stand. Was, wenn sie die Frau noch mehr vor den Kopf stieß und diese dafür sorgte, dass der Verlag sie umgehend in Regress nahm? Sie glaubte zwar nicht, dass der Aufenthalt an der Nordsee ihre innere Leere füllen würde, doch zumindest erkaufte sie sich Zeit und zeigte ihren guten Willen. »Na schön«, gab sie nach.

»Das Haus steht Ihnen vom 9. bis 23. Januar zur Verfügung«, sagte Frau Jansen. Sogar ihre Stimme klang wie in unwillige Falten gelegt. »Norddeich ist ein Ortsteil der Stadt Norden, aber es hat zwei Bahnhöfe, und Sie sollten es auf jeder Karte finden. Kriegen Sie es allein hin, die Anreise zu organisieren?«

Hitze schoss in Sannes Wangen. Plötzlich kam sie sich sehr albern vor. »Natürlich. Ich werde den Zug nehmen.«

Schon etwas freundlicher bot die Lektorin ihr an, dass ihr Vater sie vom Bahnhof abholen könne. »Die Station vor Norddeich Mole. Sie müssen mir nur die Ankunftszeit mitteilen.«

Sanne versprach es ihr und buchte auch sofort online das Ticket, bevor sie es sich erneut anders überlegen konnte. Eine Kopie des Buchungsbelegs sowie die Zugverbindung schickte sie kurz darauf an Frau Jansens E-Mail-Adresse, danach lehnte sie sich erschöpft zurück. Dieser Tag hatte sie fast alles an Kraft gekostet, das noch in ihr war. Wie sollte es nur weitergehen? Ohne Jonas konnte sie sich kaum aufrecht halten, und wie sehr sie sich auf ihn gestützt hatte, merkte sie erst jetzt, wo sie allein stehen musste. Als sie sich ausloggen wollte, fiel ihr Blick auf eine Nachricht von Jonas’ Eltern. Heide Mettlings in Worte gegossene Tränen, nein, das würde sie nicht schaffen, nicht heute. Sie beschloss, die 1.362 anderen ungelesenen Mails, die in ihrem Postfach aufgelaufen waren, ebenfalls zu ignorieren. Vielleicht hatte sie nach der Reise die Kraft dazu.

Nordwind

Da kam schaurige Nacht und gebar bei stürmendem Nordwind eisigen Frost; kaltschauernd herab, gleich duftigem Reife, stöberte Schnee und bedeckte mit Glatteis unsere Schilde. Odyssee Gesang XIV, 474 (nach Donner)

Nach dem Umsteigen in Hannover versank die vorbeirauschende Landschaft allmählich immer mehr im Nebel. Kahle Bäume säumten die brachliegenden Äcker, ragten wie skelettierte Hände in den bleigrauen Himmel, der schwer über dem Norddeutschen Tiefland hing. Ein einziges, trostloses Gräberfeld. Sanne schüttelte unwillig den Kopf. Sie hätte doch die Karibik nehmen sollen. Diese Gegend war so grau und leblos, wie sie sich fühlte. Die wenigen Gehöfte kauerten wie verängstigte Kaninchen auf dem dunklen Boden, ihre Kapuzen aus Reet tief ins Gesicht gezogen. Sanne kamen Zeilen aus dem Gedicht ›The Listeners‹ von Walter de la Mare in Erinnerung:

› And he smote upon the door again a second time;

‘ Is there anybody there?’ he said.

But no one descended to the Traveller;

No head from the leaf-fringed sill

Leaned over and looked into his grey eyes,

Where he stood perplexed and still.

But only a host of phantom listeners

That dwelt in the lone house then

Stood listening in the quiet of the moonlight

To that voice from the world of men:

Stood thronging the faint moonbeams on the dark stair,

That goes down to the empty hall,

Hearkening in an air stirred and shaken

By the lonely Traveller’s call.‹

Sie erschauerte und wandte den Blick ab. Auch hier wirkte alles verlassen, allenfalls von Geistern bewohnt.

Als es in den Lautsprechern zu knarzen begann, fuhr sie erschrocken hoch. Sie war eingeschlafen! Am Fenster huschten jetzt Einfamilienhäuser aus der Nachkriegszeit vorbei, aus deren Fenstern anheimelnder Lichtschein drang.

»Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof Norddeich. Wir wünschen allen Reisenden …« Der Rest der Durchsage verlor sich in der einsetzenden Aufbruchsstimmung. Alle, die sich noch im Abteil befanden, standen auf und zogen ihr Gepäck aus der Ablage oder suchten ihre Habseligkeiten zusammen. Offenbar wollte kaum jemand weiterfahren bis Norddeich Mole, von wo man bequem die Fähren zu den Inseln erreichen konnte. Verkehrten die im Winter überhaupt? Endstation, dachte Sanne. Nur mit der Sehnsucht hapert es bei mir.

Als der Zug seine Fahrt verlangsamte, schien er das restliche Tageslicht vor sich herzuschieben, sodass sich die gelben Backsteine des Bahnhofsgebäudes in schmutzigem Ocker präsentierten. Unsicher stakste Sanne die beiden Stufen vom Waggon auf den unbedachten Bahnsteig, dessen Lampen auch noch nicht recht zu wissen schienen, ob Tag oder Nacht herrschte. Sie war nicht die Einzige, die sich verwirrt umschaute, doch etliche Mitreisende zerrten bereits ihre Koffer an der Bahnhofshalle vorbei zu einer Rampe, andere wurden von Verwandten oder Freunden begrüßt. Wo war Herr Jansen? Sicher hatte er im Gebäude Schutz vor dem schneidenden Wind gesucht. Sanne rüttelte an der Tür. Geschlossen, das gab’s ja gar nicht! Sie drehte sich um. Niemand mehr zu sehen, der zu warten schien. Hatte der alte Jansen sie vergessen? Das fehlte noch. Klamme Kälte kroch von ihren Händen die Arme empor, die Luft schmeckte salzig wie Tränen.

Was soll’s, nehm ich mir ein Taxi, sagte sie sich und steuerte die Rampe an, die vor ihr die anderen Reisenden benutzt hatten. Dann fiel ihr ein, dass sie keinen Schlüssel für den Kotten besaß. Wundervoll, das Taxi konnte sie nur vor eine weitere verschlossene Tür bringen. Sie sehnte sich schmerzlich nach der behaglichen Sicherheit ihrer Stadtwohnung. Hoffentlich hatte Herr Jansen ihr den Schlüssel irgendwo hinterlegt.

Als sie das Backsteingebäude umrundet hatte und auf den Taxistand zusteuerte, öffnete sich die Fahrertür eines alten Audis. Ein älterer Herr beugte sich aus dem dunkelblauen Fahrzeug und rief sie an: » Frau Rosenholz? Sind Sie Frau Rosenholz?«

Die Erleichterung beschleunigte Sannes Schritte. »Ja!«, rief sie, schob ihren Koffer auf die Rückbank und ließ sich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. »Herr Jansen?«

»Das will ich meinen. Moin! Hab schon gedacht, Sie wären doch nicht gekommen. Mächtig kalt heute, da hab ich lieber hier drin gewartet. Die Bahn ist ja oft etwas tüdelig«, sagte er mit der Selbstverständlichkeit eines Einheimischen, für den die halbfunktionale Infrastruktur seines Ortes keine Geheimnisse birgt.

»Freut mich«, sagte Sanne und schüttelte seine warme Hand, auf der graue Haare mit Altersflecken um die Wette sprossen. Sie hatte sich Frau Jansens Vater jünger vorgestellt, doch unter den buschigen weißen Brauen blitzten lebhafte graue Augen hervor, die von einem Netz aus Fältchen umgeben waren. Er erinnerte sie an ihren lange verstorbenen Großvater, bis auf den norddeutschen Zungenschlag.

»Jo, dann woll’n wir mal«, sagte Herr Jansen, schob sich die Prinz-Heinrich-Mütze aus der Stirn und drehte den Zündschlüssel.

Die Scheinwerfer des Wagens flammten auf; Asphalt knirschte unter den Rädern. Sanne schaute aus dem Fenster auf die endlosen Reihen von Häuschen. Alles sehr adrett und gepflegt, aber sie mochte diese Neubauten aus den Achtzigerjahren nicht sonderlich, geflämmte Klinker und das alles. Gartenzwergidylle oder auch –hölle, ganz, wie man es betrachtete. Da waren ihr die alten roten Backsteinhäuser schon lieber, doch von denen sah sie momentan nicht viele. Sie passierten ein Ortsausgangsschild, und die Bebauung wurde spärlicher. Auf Sannes Seite der Straße erhob sich der Deich und versperrte den Blick aufs Meer. Inzwischen war es sowieso dunkel.

»Jo, unser Kotten liegt etwas außerhalb, das hat Ihnen Henrike sicher schon gesagt«, brummte Herr Jansen etwas lauter als der Motor. »Ich hab ja gemeint, ob das nicht zu einsam ist für eine junge Frau, allein, um diese Jahreszeit.«

»Genau das hab ich mir gewünscht«, murmelte Sanne. »Menschen ertrag ich im Moment schlecht.«

Herr Jansen musterte sie unter dem Schirm seiner Mütze hervor. Sanne wünschte, er würde den Blick auf die feucht glänzende Straße richten, statt ihre feucht glänzenden Augen zu bemerken.

»Jo, meine Tochter hat mir davon erzählt. Mein Beileid. Ihr Mann?«

»Verlobter.«

»Ah.« Er verstummte und richtete den Blick wieder nach vorn.

So war das immer. Die Menschen konnten mit Trauer anderer nicht umgehen, wussten außer Plattitüden nichts zu sagen. Den Schmerz lindern konnte sowieso niemand, also war es egal.

»Ihre gemeinsame Geschichte hat kein Ende, das ist schlimm«, sagte der alte Mann nach einer Weile.

Das trifft es ziemlich gut, dachte Sanne überrascht. Wie ein Buch, bei dem jemand nach den ersten Kapiteln alle Seiten herausgerissen hat. Schlimmer noch. Bei einem Buch weiß man, dass die Geschichte weitergeht, nur erfährt man nicht, wie. Von ihrem Leben mit Jonas war lediglich das Luftschloss ihrer Träume übrig, jetzt ihr einsames Gefängnis. Das Bild gefiel ihr; sie merkte es sich.

Es war wirklich einsam hier. Im Licht des Audis leuchteten die Reflektoren an den Begrenzungspfählen auf, und außer ihnen war niemand unterwegs. »Wohin führt diese Straße?«, erkundigte sie sich.

»Och, wenn Sie immer weiter am Deich langfahren, kommen Sie irgendwann nach Greetsiel. Im Schuppen steht ein Fahrrad, das können Sie nutzen.«

Bestimmt nicht! Was sollte sie in Greetsiel oder sonst wo? »Ich möchte eigentlich nur am Strand spazieren gehen. Nachdenken.«

»Jo, da sind Sie hier richtig. Hier können Gedanken weit fliegen.«

Sannes Mundwinkel zuckten bei der Vorstellung, dass Häuser oder Berge den Gedankenfluss hemmen könnten, aber plötzlich kam ihr das nicht mehr so abwegig vor.

»Sie haben doch hoffentlich eins von diesen Handys, oder?«, erkundigte sich Herr Jansen, während er das Auto in eine Parkmulde lenkte. »Telefon gibt’s nämlich im Kotten nicht. Wir sind da.«

Seit der Akku ihres Smartphones den Geist aufgegeben hatte, behalf sich Sanne mit einem einfachen Mobiltelefon. Ins Internet ging sie mit dem Smartphone eh nur selten. Sie fand es zu umständlich. Herrn Jansens Frage lenkte sie auf ein anderes Problem. »Ja, Handy hab ich, aber wo krieg ich was zu essen her? Hier gibt’s ja weit und breit keine Läden, oder?« Bevor die Scheinwerfer erloschen, konnte sie kurz das kleine Häuschen sehen, das sie von der Website her kannte. Keine Stockrosen, natürlich nicht, dachte sie etwas enttäuscht. Mit einem Schlag war es finster.

Der alte Mann knipste die Innenraumbeleuchtung an. »Jo, das hat Henrike sich schon gedacht, dass das schwierig wird für Sie. Ich hab Ihnen was besorgt: Brot, Wurst, Käse, Eier. Verhungern werden Sie nicht, der Kühlschrank ist voll. Zehn Minuten von hier haben die Tammenas ihren Hof, die verkaufen meinen Gästen gern Milch, frisch von der Kuh, frischer kriegen sie die nirgends. Hühner haben die auch. Mit dem Fahrrad sind Sie im Nullkommanichts da. Und wenn Sie sonst was brauchen, bimmeln Sie einfach durch. Ich bring Ihnen dann was vorbei. Nummer geb ich Ihnen gleich.« Er stieg für sein Alter erstaunlich beweglich aus dem Wagen.

Unter Sannes Füßen quatschte das regennasse Gras; ihre Absätze sanken ein. Zum Glück hatte sie auch flache Stiefel im Gepäck. Plötzlich erstrahlte ein schwankender Lichtkegel vor ihr. Herr Jansen hatte eine Taschenlampe angeknipst. »Das ist gut«, sagte sie. »Ich hab schon gedacht, ich lauf im Dunkeln am Haus vorbei.«

Mit leisem Quietschen schwang das Gartentor auf. Der Weg zum Kotten war mit alten Ziegeln gepflastert. Herr Jansen nestelte einen Schlüsselbund aus der Tasche und reichte ihn Sanne. »Dieser Schlüssel ist für die Haustür, der große für den Schuppen. Im Haus gibt es noch einen Zweitschlüssel, der hängt in der Diele am Schlüsselbrett, aber den werden Sie sicher nicht brauchen.« Er leuchtete aufs Schloss, und Sanne sperrte auf.

»Lichtschalter ist gleich links.«

Nach kurzem Tasten flammte eine Lampe auf. Sanne duckte sich beim Eintreten unwillkürlich, so niedrig war die Decke der Diele. Zwei Türen gingen vom Eingangsbereich ab; Herr Jansen steuerte auf die der Haustür gegenüberliegende zu. Sanne schlug ein Schwall feuchtkalter Luft entgegen. Offensichtlich hatte länger niemand den Kotten bewohnt. Sie erschnupperte den Geruch nach kaltem Rauch, als sie dem alten Mann in das kleine Wohnzimmer folgte.

Ein offener Kamin! Herr Jansen machte sich bereits daran zu schaffen. »Bald haben Sie es hier muckelig warm«, sagte er schnaufend, während er Scheite über zusammengeknüllter Zeitung zu einem Zelt aufstellte. »Die Herdstelle heizt auch gleich das Schlafzimmer nebenan mit. Brennholz finden Sie im Schuppen.«

Sanne schaute sich irritiert um. »Keine Heizung?«

»Nee, das lohnt nicht. Die Gäste mögen das.« Er riss ein Streichholz an; das Papier loderte auf.

Mussten wohl sehr spezielle Gäste sein. Kein Telefon, keine Heizung, aber wenigstens Strom. Sie folgte dem alten Friesen in die Küche. Dort entdeckte sie statt eines Ceranfeldes einen alten gusseisernen Herd. »Wird der etwa auch mit Holz betrieben?«

»Jo. Gibt aber auch Wasserkocher und Kaffeemaschine, keine Angst.«

Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, mal ein bisschen zu leben wie zu Urgroßmutters Zeiten. Rückbesinnung auf das Wesentliche. »Internet gibt’s dann sicher auch nicht, hm?«, fragte sie trotzdem.

Der Alte lachte herzhaft. »Ihr jungen Leute! Wozu Urlaub machen, wenn man dann doch den ganzen Tag nur auf dasselbe olle Display starrt? Nee, mit so was fangen wir hier gar nich erst an, min Deern. Mok de Klüsen up, is bannig schön hier. So, ich will mal wieder los, Sie kommen zurecht, oder soll ich den Küchenherd auch noch anzünden?«

»Ich denk, das schaff ich selbst.« Sanne sehnte sich danach, allein zu sein.

Herr Jansen rückte seine Mütze gerade. An der Tür hielt er inne. »Meine Nummer!« Er nestelte einen Zettel aus seiner Jackentasche. »Hier. Wenn was ist, meldest dich, jo?«

»Jo«, echote Sanne und nahm das Papier entgegen. Türenklappen, der anspringende Motor, dann senkte sich Stille über das Haus.

Neugierig inspizierte sie die Küchenschränke, die Geschirr, aber auch Reste früherer Bewohner bargen: eine angebrochene Packung Kamillentee und Zwieback, einige Gewürze, außerdem loser Ostfriesentee und eine Dose, der aromatischer Kaffeegeruch entstieg. In einem Kasten fand sie ein frisches Graubrot, im Kühlschrank verderbliche Lebensmittel. Ein Tee wäre jetzt schön. Sie öffnete die Klappe des altmodischen Küchenherds und fand ihn voll mit Asche. Hätten die Vormieter ja mal sauber machen können. Unschlüssig streckte sie die Hand nach dem Wasserkocher aus. Ach was, das Herdfeuer musste sie sowieso früher oder später neu entfachen, schon um das Häuschen warm zu bekommen. Noch traute sie sich nicht, ihre dicke Winterjacke abzulegen.

Während das Wasser im Kessel langsam warm wurde, schaute sich Sanne die übrigen Räume an. Die altmodische Couch im kleinen Wohnzimmer sah aus wie aus einem vergangenen Jahrhundert und war es vermutlich auch. Kein Fernseher, natürlich nicht. Stattdessen ein gut bestücktes Bücherregal. Sanne überflog die Titel auf den Buchrücken. Viel Regionales, Friesenkrimis und so was. Na ja. Auch ein paar Klassiker und altmodische Kinderbücher. Sie schlug Nesthäkchen auf und lächelte, als sie den Namen ›Henrike Jansen‹ in ungelenken Buchstaben auf das Frontispiz gekritzelt fand. So, so … Das also war die Kindheitslektüre der Frau, die mit ihr wie ein Kesselflicker um jedes optionale Komma feilschte. Beim Weiterblättern entdeckte sie unterstrichene Passagen. Plötzlich kam sie sich vor, als läse sie das Tagebuch eines Fremden, und sie klappte das Buch zu.

Zwei Türen gingen von diesem Raum ab, wer sich das wohl ausgedacht hatte? Sie schaute zuerst hinter die niedrigere. Ein kleines Bad mit Dusche, deren Wasser immerhin von einem Durchlauferhitzer erwärmt wurde. Eiskalt war es hier drin! Hoffentlich schaffte das Kaminfeuer des angrenzenden Wohnzimmers etwas Abhilfe. Erstaunlich, dachte sie, dass es überhaupt ein Klo im Haus gibt – das ist ja schon fast ein Stilbruch.

Die letzte Tür gab den Blick auf das Schlafzimmer frei, das von einem Doppelbett samt passendem Kleiderschrank aus den 30er Jahren fast vollständig ausgefüllt wurde. Beinahe hätte sie eine weitere Tür übersehen, die sich in die Nische zwischen Schrank und Wand schmiegte. Dahinter führte eine Art Hühnerleiter nach oben zum Dachboden. Es gab kein elektrisches Licht im Aufgang, und es zog derart kalt zu Sanne herunter, dass sie für den Moment auf eine weitere Erkundung verzichtete. Wenn sie heute Nacht überhaupt hier schlafen wollte, musste sie ordentlich einheizen und alle Ritzen verstopfen. »Meine Güte«, murmelte sie vor sich hin. Dass Herr Jansen hier nicht längst modernisiert hatte! Das Häuschen könnte, ausgestattet mit allen Annehmlichkeiten, eine Goldgrube sein. Die schicke Website des Strandkottens passte überhaupt nicht zum altmodischen Flair. Die hatte ihm bestimmt Henrike eingerichtet, weil es ohne heutzutage nicht mehr ging. Jedenfalls wunderte Sanne sich nun nicht mehr, dass das Haus im Winter meist leer stand. Im Sommer konnte man sich das alles vielleicht noch eingehen lassen, aber bei der Kälte …

Als sie zurück ins Wohnzimmer ging, fand sie das Fenster ein wenig beschlagen, so als hätte jemand dagegen gehaucht. Sie wollte mit dem Finger ein S malen, aber die Feuchtigkeit saß außen an der Scheibe, sehr merkwürdig. Achselzuckend drehte sie sich zum Kamin um und hielt ihre klammen Hände über die Flammen.

Eisblume

Wenn ich im Strom durchwache der Nacht unerfreuliches Dunkel, könnte verderblicher Reif mir zugleich mit erkälthendem Frühthau nach der Erschöpfung tödten das mattaufathmende Leben; weht doch kalt von dem Strome die Luft her gegen das Frühroth. Odyssee Gesang V, 465 (nach Donner)

Zu ihrer Überraschung hatte Sanne am nächsten Morgen nicht nur Hunger, sondern Appetit, ein Gefühl, das sie schon fast vergessen hatte. Es musste an der Luftveränderung liegen. Genießerisch sog sie den Duft der brutzelnden Spiegeleier in die Nase. Zwei Brotscheiben dick mit Butter bestrichen, die Eier obendrauf – lange hatte ihr nichts mehr so gut geschmeckt. Der starke schwarze Tee weckte ihre Lebensgeister, wie bei einem Pflänzchen, das im Frühling vorsichtig seine Triebe aus der kalten Erde reckt, der Sonne entgegen. Nur, dass es mit Sonne nicht weit her war. Wie am Vortag hing ein trübdunkler Himmel über der Landschaft. Sanne erinnerte sich, nachts mehrfach wach geworden zu sein. Ungewohnte Geräusche, ein Knarren und Ächzen, als müsste sich das Haus ebenso an sie gewöhnen wie umgekehrt. Zweige hatten gegen das Schlafzimmerfenster geschlagen und gekratzt, als begehrten sie Einlass, dazu die klagenden Schreie der Möwen im Morgengrauen. Da war sie froh um das dicke Federbett gewesen, denn trotz der Feuer in Küche und Wohnzimmer blieb der Raum klamm und kalt. Hoffentlich wurde es kommende Nacht besser!

Sie räumte die Reste vom Frühstück weg und überlegte während des Spülens, was sie mit dem Tag anfangen sollte. Frische Eier musste sie besorgen, von den vier Stück im Kühlschrank war nur noch eins übrig. Was hatte Herr Jansen gesagt: ein Bauernhof in der Nähe? Viele Gehöfte schien es hier nicht zu geben; sie würde es schon finden. Bei der Gelegenheit konnte sie ein wenig die Umgebung erkunden.

Warm eingepackt stieß sie kurz darauf die Tür auf und wäre fast auf etwas getreten, das vor der Schwelle lag. »Eine Rose!«, rief sie überrascht und ging in die Hocke. Ein zarter Mantel aus gefrorenem Tau umhüllte die dunkelgrünen Blätter. Die Blütenblätter waren so weiß, dass man die Eiskristalle nur gegen das Licht erkennen konnte. Weiße Rosen … Sie erschauerte. Die hatte sie sich als Hochzeitsdekoration gewünscht, stattdessen hatten sie die Kränze bei Jonas’ Begräbnis geziert. Diese hier war halb erfroren, ein fahler Totengruß. Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Stiel und fuhr zurück. Gestochen! Ein Blutstropfen löste sich von ihrer Fingerkuppe und fiel in die dünne Schicht Raureif, die den Boden bedeckte. Blut im Schnee … Weiß wie die Unschuld, bleich wie der Tod.

Sie schüttelte sich. Wer konnte ihr diesen merkwürdigen Blumengruß hinterlassen haben? Gestern war die Rose noch nicht da gewesen, das hätte sie bemerkt. Ob Herr Jansen …? Nein, der alte Herr war nicht der Typ für so was. Eine Rose, das hieß Zärtlichkeit; sie schaute sich um. War der Geber noch da, irgendwo versteckt? Unsinn, niemand kannte sie hier. Wer sollte einen Grund haben, sie auf diese Art und Weise willkommen zu heißen – wie ein Liebender. Wenn es eine Karte dazu gegeben hatte, eine Botschaft, die das Geschenk erklärte, dann hatte der Wind sie davongetragen. Nachdenklich trug sie die Blume ins Haus, denn sie brachte es nicht über sich, das arme Ding in der Kälte zu lassen. In einem der Schränke fand sie sogar eine Vase.

Der Wind peitschte Sannes Wangen, drang unter ihre Mütze und sogar in die Ärmel ihrer Daunenjacke, trieb ihr Tränen in die Augen. Sie leckte sich die Lippen und schmeckte Salz. Die Luft war viel feuchter als in Berlin, fast schon gischtig. Verbissen strampelte sie weiter auf der alten Möhre, die Herr Jansen Fahrrad genannt hatte, ein uraltes Teil, das schon als Antiquität durchgehen konnte. Weit und breit nur brachliegende Felder oder von Strauchwerk gesäumte Weiden, keine Spur menschlichen Lebens. Wo konnte der Hof nur liegen, von dem der alte Jansen gesprochen hatte? Gestern Abend waren sie an keinem Gehöft vorbeigefahren, oder hatte sie es übersehen? Instinktiv hatte sie die von Norddeich wegführende Richtung eingeschlagen, nun befürchtete sie, dass sie die andere hätte nehmen sollen. Gegen die immer heftiger peitschenden Böen musste sie die Augen zusammenkneifen. Dichte Wolken jagten über den immer dunkler werdenden Himmel. Nur nicht in Eisregen geraten! Sie stieg ab und suchte nach einem Dynamo, um die große, fast kugelförmige Lampe anzuschalten. Fehlanzeige.

Da machte sie ein Stück voraus die Umrisse eines Schildes aus. Das wollte sie sich noch ansehen, bevor sie endgültig umkehrte. ›Marschhof 200 m Hofladen ganzjährig geöffnet‹ stand darauf, nebst einem Pfeil, der in Richtung eines unbefestigten Weges wies. Erleichtert bog sie in die schlaglöchrige Straße. Zweihundert Meter, das sollte sie noch schaffen. Falls es anfing zu schütten, lag der Hof näher als ihr Kotten. Bäume und dichtes Gesträuch säumten den Feldweg und geboten der Wucht des Windes ein wenig Einhalt, dafür schlugen ihr nun erste eisige Tropfen ins Gesicht. »So eine saublöde Idee!«, schimpfte sie auf sich selbst. Die Eier hätte sie auch später holen können.

Als sie das Gehöft erreichte, war sie bis auf die Knochen durchgefroren und durchnässt. Sie stieg ab und warf das Rad gegen eine kahle Hecke; ihre Knie zitterten von der ungewohnten Anstrengung. Vor ihr lag ein ungepflasterter Hof, den von drei Seiten Wohn- und Stallgebäude säumten. Alles war dunkel. Von wegen ganzjährig geöffnet – keine Spur eines Ladengeschäfts. Auch die Eingangstür zum Wohnhaus fand sie nicht, nur eine Seitentür, hinter deren kleiner Scheibe eine vergilbte Häkelgardine hing. Beim Näherkommen entdeckte Sanne an der Hauswand eine Klingel.

Sie presste den Knopf, hörte es drinnen schrillen und lauschte. Es dauerte lange, bis im Haus Licht aufflammte und Schritte erklangen. Die Tür öffnete sich knarzend. Sanne sah eine rundliche Frau in Kittelschürze.

»Wer kommt denn bei so ’nem Schietwedder …?« Ein Blick aus wasserhellen Augen musterte sie prüfend. »Mädel, bist ja pitschnass, komm erst mal rin.« Sie gab den Weg frei, und Sanne folgte ihr verdutzt in eine große Küche.

Der Wind riss ihr die Klinke aus der Hand und ließ die Haustür mit lautem Knall ins Schloss fallen. Sanne zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie, dass ich einfach so geklingelt habe. Bin ich hier richtig bei Tammena? Herr Jansen meinte –«

Die Grübchen in den runden Apfelbäckchen der alten Bäuerin vertieften sich. »Dann musst du die Sanne sein! Hinnerk hat dich schon angekündigt. Wir sagen hier alle Du, ist doch recht? Ich bin Frauke Tammena. Und nächstes Mal musst nich klingeln, das macht hier keiner. Komm einfach rin, bei uns ist immer offen.«

Da schallte es vom Korridor her: »Frauke, mok de Dör to un komm wedder rin!«

»Das ist Hauke, mein Mann. Ihm zieht es immer schnell, und ich hab die Wohnzimmertür nicht zugemacht.« Frau Tammena lächelte entschuldigend und rief in den Gang hinaus: »Oller Brummbär! Kiek mol, wer da ist.«

Sanne unterdrückte ein Lachen. Hauke und Frauke, da hatten sich wohl zwei gefunden. Ihre Heiterkeit erstarb so schnell, wie sie gekommen war.

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Impressum

Texte © Copyright by Kathrin Brückmann Rigaer Str. 102 10247 Berlin [email protected]

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ISBN: 978-3-7394-1944-2