Der Eierkrieg - Kathrin Brückmann - E-Book

Der Eierkrieg E-Book

Kathrin Brückmann

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Beschreibung

Die wahre Geschichte - von Faseltieren bestätigt!
Unter der Herrschaft des Grünen Grafen Kunibert erblüht das beschauliche Märheim. Ausheimische aus aller Herren Länder kommen, um die reiche Florauna zu bestaunen. Ob nun Faseltier oder Labergeiß, für jeden Besucher findet sich der richtige Fremdenführer. Doch der Erfolg des einen weckt Neid und Begehrlichkeiten des anderen: Isbert von der Zitterdelle, Herr über das benachbarte Schindburg, ersinnt einen Plan, um sich auch einen Teil vom Kuchen abzulurchen: Er fängt die Märheimer Hanghühner vor ihrem herbstlichen Zug in den Süden ab, damit sie ihm den Winter über die begehrten Eier legen. In und über diese Intrige stolpert Wandersänger Blasius von Pfeiffenheim und wird schnell zum Spielball der hohen Herren. Obwohl er eigentlich nichts weiter will, als so berühmt sein wie Falther von der Hühnerweide, muss er schon bald als Spion sein Leben aufs Spiel setzen. Und dann ist da noch die lieblich blaue Halbfee Limusine, der sein Herz gehört, die ihn aber nur als tumben Tor ansieht. Kann sein tapferer Einsatz sie ihm gewogen machen? Während zwischen den beiden Reichen ein Eierkrieg entbrennt, tut Blasius alles, um sich ihr zu beweisen. Leider selten das Richtige ...

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Der

Eierkrieg

Ein Hanebuch

von

Edith Parzefall

und

Kathrin Brückmann

Text: Copyright © 2015

Edith Parzefall

Ritter-von-Schuh-Platz 1

90459 Nürnberg

Kathrin Brückmann

Rigaer Str. 102

10247 Berlin

Alle Rechte vorbehalten

E-mail: [email protected]

Cover: Copyright © 2015 Hannah Böving

 

Vorgefasel 

Karte von Schindburg und Umgebung 

Polog oder Vorlug: 

Der zukünftige letzte Keilbröstel 

Die Last der Jahre 

Ungewöhnlicher Beifang 

Wundersames Märheim 

Gericht 

Gerichte 

Gerüchte 

Verschleppt 

Fundlose Suche 

Tag und Nacht 

Jeder reise auf seine Weise 

Auf kleiner Flamme 

Unritterliche Pläne 

Kraut und Hühner 

Tränke und Ränke 

Auf dem Schliche 

Gut geplant ist halb gewagt 

Kommen und gehen 

Gehen und kommen 

Märheim rückt an 

Nach seiner Pfeife 

Kampf der Elemente 

Den Falther machen 

Von Rittern und Rettern 

Das Geheimnis des Alten vom Walde 

Jedem das Seine 

Über die Autorinnen 

Weitere Romane der Autorinnen 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorgefasel

Bei der Erstellung dieses Hanebuchs mussten keine Kreatiere leiden, nicht einmal Schnecken im Salat. Auch Grünzeug wurde immer pfleglich behandelt. Ähnlichkeiten mit realen Orten, Ereignissen, Kreatieren und Personen sind nicht beabsichtigt und haben sich durch das berühmte Märheimer Hintertürchen eingeschlichen.

Karte von Schindburg und Umgebung

Polog oder Vorlug:

Der zukünftige letzte Keilbröstel

Der Keilbröstel beobachtete den Angriff der Flugsaurier auf einen Oviraptor und seufzte. Es ging doch immer nur ums Fressen und Fortpflanzen. Ob es in Millionen von Jahren wohl immer noch so wäre? Er watschelte zum Strand und paddelte in die Wellen. Blubbernd ließ er sich gen Meeresgrund sinken. Da preschte ein Haifisch auf ihn zu. Der Keilbröstel wirbelte herum und schlug ihm den Schwanzdorn auf die Nase über dem aufgerissenen Maul. Er würde niemandes Futter sein. Niemals! Das Biest kratzte die Kurve. Auf dem Meeresgrund steckte der Keilbröstel den Kopf in den Sand. Schön. Nichts sehen, nichts hören, nichts dünsten. Er grub sich ganz ein.

Irgendwann, eine lange Zeit später, rumpelte es heftig, und er drehte sich herum, um bequemer zu liegen. Kurz überlegte er, mal wieder nachzusehen, was sich an Land tat, aber es drang kein Licht durch das Wasser. Lieber noch etwas schlafen. Immer mehr Sediment lagerte sich am Seeboden ab, aber den Keilbröstel scherte es nicht, er wollte auf bessere Zeiten warten, vielleicht in einigen Äonen … Als er eines Jahres wieder einmal die Lage wechseln wollte, fühlte er sich ziemlich eingepfercht und zusammengequetscht. Er versuchte, sich zu bewegen, aber unnachgiebiger Stein umgab ihn.

Die Last der Jahre

Ritter Hartmann von der Lanze lenkte sein Ross in Richtung des Sees, der sich an den Fuß des felsigen Kammes schmiegte. Ein unheimliches Gewässer, trüb und schlammig, aus dem der schroffe Grat, der sein Fortkommen schon den halben Tag behindert hatte, regelrecht zu entspringen schien. Doch der Gaul brauchte in der Mittagshitze dringend Wasser, und ihn schmerzte der Hintern nach etlichen Tagen im Sattel. Sein Erkundungsritt durch Graf Kuniberts Ländereien war mühsam gewesen. Lange vor Einbruch der Dunkelheit sollte er Märheim erreichen, wo ihn hoffentlich ein heißes Bad und ein Bett erwarteten – und seine geliebte Kunigunde, wenn er denn endlich einen Weg vorbei an diesem Felsmassiv fände. Er verfleuchte sein Pech, auf die Verlockungen des Irrwegs hereingefallen zu sein, der ihn hierhergeführt hatte.

Die Schatten der Bäume warfen bizarre Muster auf den moosigen Boden. Hartmann verspürte eine Gänsehaut. Als die Stute das Wasser witterte, verfiel sie in Trab. In diesem Moment polterte ein Felsbrocken den Hang hinab, krachte auf den Boden und ließ sie beide zusammenzucken. Das Pferd scheute, ging hoch und warf ihn aus dem Sattel. Unsanft landete er auf dem Boden, direkt neben dem zerborstenen Stein des Anstoßes, während der dämliche Gaul mit erhobenem Schweif zum See lief. Mit Zügel wäre das vermutlich nicht passiert. Hartmann rappelte sich auf. Nun tat ihm auch noch der Rücken weh. Er reckte die Faust gegen die Wand. Sie wirkte massiv genug. »Verfleuchter Berg! Soll dich der Tatzelwurm schmelzen!«, rief er und stieß mit dem Fuß gegen die umherliegenden Brocken. Den dicksten hob er auf und schmetterte ihn zornig gegen den Fels, wo er zerschellte.

Eines der Bruchstücke kollerte unweit von ihm zu Boden. Was war das? In dem Stein befand sich etwas – eine Druse? Vielleicht erwuchs doch noch etwas Gutes aus diesem Tag vergeblicher Mühen. Kunigunde liebte alles, was funkelte. Neugierig besah er sich die Sache näher. Was im Stein eingeschlossen war, ähnelte einem hölzernen Keil. Schade, das würde Kunigunde nicht gefallen. Plötzlich regte sich das Holz, blähte sich und wuchs. Welch Zauber war hier am Werke? Hatte er etwa mit seinem unbedachten Ausruf einen Tatzelwurm beschworen? Hartmann stand starr vor Staunen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Wesen wurde immer größer, bis es die Hülle des umgebenden Gesteins einfach abgesprengt hatte und etwa eine Elle maß. Dann schnellte das Kreatier in die Höhe, landete auf seinem Bein und kletterte mit scharfen Krallen an ihm hoch. Hartmann rührte sich nicht. Winzige grüne Äuglein, tief in der rissigen Borke eingesunken, funkelten ihn an. Die borstigen Lider schlossen sich. Da wurde Hartmann wieder munter und griff danach. Autsch. Ein spitzer Stachel bohrte sich in seine Hand, und das Vieh huschte schnarrend davon.

Er stand wie vom Donner gerührt, legte schließlich den Kopf in den Nacken. All seine Glieder fühlten sich steif an. Wie viel Zeit war vergangen? Die Sonne ragte kaum noch über das Felsmassiv. Sein Ross stand noch immer am Wasser, und er schlurfte zu ihm hin. So müde hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt – erschöpft und ausgelaugt. Er steckte den Kopf in das kühle Nass, der Schlingpflanzen nicht achtend, die ihn umzüngelten, und trank gierig. Hernach schob er sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Was war das? Seine Haare – grau und viel länger? Heiliger Birnbaum, was war passiert? Als er aufstehen wollte, kam er kaum hoch. Ein Stechen in den Knien ließ ihn hilflos zusammensacken. Mit diesen Schmerzen wurde jeder Schritt zur Qual! Die Mähre besteigen? Wie denn? Er konnte sein Bein kaum heben, wie also sollte er das heimatliche Herdfeuer erreichen? Dabei konnte er doch gar nicht mehr weit von zu Hause sein. »Verfleuchter Irrweg!«, zeterte er, und seine Stimme kam ihm selbst dünn und wisperig vor wie Herbstlaub.

Irrwege machten sich gern einen Spaß mit den Menschen, doch seit der Verordnung Kunigilberts des Strengen war ihr Unwesen auf einen Tag beschränkt. Er müsste also nur weiterreiten oder bis zum Sonnenuntergang warten, dann käme er an seinen Ausgangspunkt. Warum war er nicht gleich heimgeprescht, sondern dem Irrweg gefolgt, nur weil der ihn mit der Aussicht auf ruhmreiche Abenteuer gelockt hatte? Vielleicht schaffte er es doch auf den Rücken seines treuen Gefährten. Noch eine Nacht im Freien wollte er sich nicht antun. Er streichelte den Hals des Pferdes, da bemerkte er die runzelige Haut seiner Hand. Was …? Die andere sah auch nicht besser aus. Altersflecken statt jugendlicher Frische – das konnte doch nicht sein. Er musste träumen, auch wenn er sich seit der Begegnung mit dem merkwürdigen Holztier wahrhaft wie ein Greis fühlte. Es würgte ihn in der Kehle. Welch übler Zauber, welch Narretei! Nie hatte er von einem Irrweg gehört, der sich solches erlaubt hätte. Der war gewisslich an allem schuld; große Aventiuren und mindere Blessuren, hatte es geheißen. Hartmann lachte erleichtert auf – es war ein altersrostiges Kichern. Dann würde auch dieser Unfug verpuffen, sobald die Nacht erst hereinbrach. Trotzdem führte er das Pferd zu der Stelle, an der die Trümmer des Felsbrockens lagen. Unangenehm knirschte seine Rückgräte, als er sich bückte und ein Teil aufhob. Der Abdruck der seltsamen Gestalt war darin zu sehen. Sonst fand man höchstens Schneckenhäuser aus Stein. Aber das hier? Er fuhr mit dem Finger die keilartige Schnatze nach, ließ ihn über eine unförmige Mulde zum Schwanz gleiten, den eine Art Dorn zu schmücken schien, und steckte den Brocken nachdenklich in seine Satteltasche.

Als er voller Erleichterung das Ende des Irrwegs erreichte, war sein Blick jedoch noch immer alterstrüb. Hartmann sank auf einen Baumstamm, der am Wegesrand lag, und weinte bittere Zähren. Jugend, Schönheit, Manneskraft – alles dahin! Für immerdar oder nur auf Zeit, wer konnte das wissen? Niemals würde Kunigunde ihn noch lieben, wenn sie ihn so erblickte. Bevor er nicht seiner gewohnten Gestalt innewohnte, konnte er nicht zurück. Schuld war dieses Wesen.

»Tatzelwurm!« Knirschenden Knies erhob er sich und schüttelte die Faust.

Blasius blies in die Sackpfeife, was das Leder hielt. Heute war Markttag vor der Schindburg, und er würde hoffentlich ein zahlreiches und spendables Publikum haben, damit er sich später den Bauch vollschlagen könnte, vielleicht sogar ein Quartier für die Nacht bekommen. Als Wandersänger musste er nehmen, was er kriegte, und das war oft genug ein Fußtritt. Aber Markttage waren gut fürs Geschäft. Er geriet ins Träumen: Vielleicht lud Graf Isbert von der Zitterdelle ihn gar auf die Burg ein. Er könnte die Schönheit seines holden Weibes in bester Minnesänger-Manier loben und erstrahlen lassen, denn Blothildes Anmut und Liebreiz waren in der ganzen Gegend berühmt – und viel besungen, sogar von Falther von der Hühnerweide. Er musste nur die Gelegenheit bekommen, sein Können unter Bew – »Au!« Ein Bauer war auf seinen Fuß getrampelt, natürlich auf den, der in seinem guten Schuh steckte, dem neuen roten. Beinah wäre Blasius in den Dreck gestürzt, weil er mit dem anderen Bein schon weit ausgeholt hatte. Beim Herumrudern entflutschte das hölzerne Mundstück des Pfeifensacks seinen Lippen, und der geblähte Balg entließ einen gar schaurigen Laut. »Pass doch auf, du Tölpel«, brummte er.

Der Bauer drehte sich zu ihm um und hob das Kinn. »Was hast du gesagt?«

Ei, der hatte aber breite Schultern. »Mein Sack ist ein Tölpel.« Blasius sprang davon und blieb erst wieder vor einem Stand mit Eiern stehen. So viele auf einem Haufen sah man selten. »Hier muss es aber viele Hühner geben«, sagte er zu der Frau mit dem dicken blonden Zopf und den roten Wangen.

»Jaaah.« Sie nickte langsam und anhaltend. »Ein Ei kannst du dir aber bestimmt nicht leisten.«

»Und wenn ich dir ein Liedchen singe?«

Das Weib schnaubte. »Wenn du so gut singst, wie du pfeifst, halte ich mir lieber die Ohren zu.«

Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Seine Stimme war weithin berühmt. »Lauscht, gute Frau, ich bin Blasius von Pfeiffenheim!« Er klemmte sich den Pfeifensack unter den Arm und kämmte rasch seine braunen Locken mit den Fingern durch, dann sprang er auf eine Kiste und hob an, ein Morgenlied des edlen Falther von der Hühnerweide zu singen. Der Mund des Weibes öffnete sich. Ihre blauen Augen wurden rund und glasig. Mehr Leute drängten sich um ihn, vor allem Frauen. Ob die Burgherrin auch darunter war? Ihr könnte er vielleicht eines seiner selbst gedichteten Minnelieder vortragen, während dieser Pöbel hier sicher eher anrüchiges Zeug hören wollte. Schließlich endete er mit der Zeile: »Saftig wölbten sich Engerlindes Lenden unter meinen geschmeidigen Händen, bis auch ich voller Saft stand, als ihr Mund meinen Schaft fand.«

Die Eierverkäuferin strich sich verlegen mit einer Hand über die Brust. »War das schön.« Dann blickte sie zu den Eiern, presste die Lippen aufeinander. »Aber ein ganzes Ei?«

Blasius grinste keck. Er wusste, das brachte fast jedes Frauenherz zum Schmelzen. Für ein Lied wäre das wirklich eine mehr als saftige Entlohnung. Er nahm seine Filzkappe ab und reichte sie herum. »Möchte jemand was zu meinem Ei beisteuern? Wer weiß, wann ich wieder eines bekommen kann, denn bald fliegen die Hühner nach Süden.«

Das hatte Erfolg, ein paar Achtelsandtaler purzelten aus Frauenhänden. Ein grobschlächtiger Kerl mit wildem Bart warf sogar einen Vierteltaler in den Hut und beugte sich verschwörerisch zu ihm. »Wo wohnt denn diese Engerlinde?«

Blasius räusperte sich. »Ähm, leider einige Tagesmärsche von hier in … Traumering.« Hoffentlich kannte der Kerl keinen Ort, der so hieß!

Der Bärtige grunzte nur und trollte sich. Wenigstens hatte er sich die Münze nicht zurückgeholt. Plötzlich riefen alle Leute und streckten die Arme in die Luft. Applaudierte man hier so? Etwas spät. Er sah in den Himmel. Ah, ein Huhn zog seine elegante Bahn über den Himmel, weitere folgten, und schließlich formierten sie sich zum typischen Rhombus. »Was für ein Anblick!«

Die Verkäuferin seufzte. »Nun ziehen sie fort. So schade, dass es ihnen bei uns zu kalt wird. Sind es nicht viel weniger als sonst?«

Die blöden Vögel! Nun beachtete ihn keiner mehr, und sicher würde die dralle Blonde ihm kein Ei mehr spendieren, da die Hühner für etliche Monate weg sein würden. Er setzte seinen treuherzigsten Blick auf und hielt der Frau die Kappe mit den paar Münzen hin. »Reicht das für ein Ei, zusammen mit dem Lied?« Oh weh, sie hatte Tränen in den Augen.

Die Verkäuferin schüttelte traurig den Kopf. »Zu kostbar für einen, der schmutzige Lieder singt. Geh und kauf dir einen Laib Brot und eine Bratzwurst. Das ist gut genug für dich.«

Mit hängendem Kopf trollte er sich. Das war ja mal wieder typisch. Erst lauschten alle andächtig, aber wenn er seine Belohnung bekommen sollte … Na ja, Brot würde ihn länger satt machen.

Ein Junge zupfte ihn am Ärmel. »He, bist du der Sänger von der Engerlinde?«

»Ähm, ja, ich hab von ihr gesungen.«

»Du sollst zur Gräfin kommen.«

Zur Gräfin! Welch Ehre! Schnell schob er die klägliche Ausbeute in seinen Geldbeutel und setzte sich die Kappe auf. »Wo ist die schöne Blothilde?«

»Auf der Schindburg natürlich. Sie kommt nie in die Stadt.«

Er hob den Blick zu dem düsteren Gemäuer mit seinem krummen Burgfried. Zwischen zwei Zinnen sah er ein junges Fräulein mit langen roten Haaren stehen, das ihm zuwinkte. Wenigstens kam es ihm so vor. Blasius ging das Herz auf. So einer schönen Gräfin dürfte er seine Lieder vortragen. Aber warum hatte keiner der Minnesänger vor ihm den strahlenden Glanz ihrer roten Haare besungen? »Schnell, bring mich zu ihr!«

Der Junge grinste und lief voraus. Blasius hatte Mühe, ihn in dem Gewühle nicht aus den Augen zu verlieren, während er sich seine jüngste Dichtung in Erinnerung rief und für die Herrin der Schindburg umformulierte.

In der Laibung des Torbogens bleckte ihn eine grimme Steinfratze an. Kein anheimelnder Ort. Oh, knirschte das Gesicht etwa mit den Zähnen? Das hatte er sich wohl nur eingebildet. »He, Junge, warum bleibst du stehen?« Als wage er keinen weiteren Schritt. Ohne ein Wort verschwand das Kind. Merkwürdig. Der Hof war verlassen. Klar, das Gesinde tummelte sich bestimmt auf dem Markt. Die holde Schönheit, die er schon von Ferne hatte leuchten sehen, stieg die Stufen von der Burgmauer herunter und lächelte ihn an. Das feurig rote Haar fiel ihr in großen Locken über die Schulter, lohglühende Augen strahlten aus dem rötlichen Antlitz. Ungewöhnliche Farbgebung, aber sehr apart, und all das konnte er besingen!

»Komm mit, Bursche«, sagte sie. »Du sollst für die Gräfin und die Gäste von Graf Isbert singen. Unser Sänger hat … ähm … etwas am Hals, da kommst du uns gerade recht.«

Sie war nicht die Gräfin? Natürlich, diese musste noch schöner sein und weniger gerötet. »Und wer seid Ihr?«

»Man nennt mich Firlefanta.« Sie führte ihn in das Hauptgebäude und einen spärlich von Irrlichtern beleuchteten Gang entlang, bevor sie ihn in eine große Halle schob und den Anwesenden zurief: »Ich hab einen Vogel gefunden, der noch zwitschern kann.«

Sechs Männer saßen einander an einer langen Tafel gegenüber, die sich unter der Last der Speisen förmlich zu biegen schien. An einem Ende des Tisches thronte eine dralle – nein, das wurde ihr nicht gerecht – sehr dralle Frau mit madenbleichem Gesicht, aus dem verschlagene Schweinsäuglein blinzelten. Er sah sich nach weiteren Damen um, dann dämmerte ihm ein Armleuchter. Oh weh, das war Blothilde? Für sie sollte er den in Liebe entflammten Sänger geben? Nein, Blothilde musste verstorben sein, und der Graf ein zweites Mal geheiratet haben. Wie traurig. Blasius musterte die übrigen Anwesenden, und sein Blick blieb an einem merkwürdigen Kreatier hängen. Spitze Ohren, lange, bepelzte Nase, es musste sich um einen Pfennigfuchs handeln. Oh weh, wenn man sich so einen auf der Burg hielt, dann war hier sicher auch ein Schmalhans Küchenmeister. Obwohl, danach sah es eigentlich nicht aus.

Als er langsam nähertrat, lief ihm beim Anblick der Speisen auf dem Tisch das Wasser im Mund zusammen. Besonders hatte es ihm ein gebratenes Ferkel angetan, obgleich schon halb gegessen, und dazu Kötterknollen mit Eischaum. Welch Luxus! Die Speisenden stießen mit schweren Zinnkrügen an. »Auf die neuen Handelswege!«, rief einer.

»Glück auf, viel Ei!«, schallte es zurück.

Ah, das waren wohl Händler, die mit dem Grafen irgendwelche Verträge feierten. Dann sollte er ein Trinklied anstimmen.

»Glotz nicht so dumm, sing was«, krähte die Gräfin.

Blasius schluckte. Sein Mund wurde schlagartig ganz trocken.

»Genau, sing was«, brummte einer der Männer, die mit dem Rücken zu ihm saßen.

»Mit einem Schluck Bier ginge es besser.« So konnte er sich auch noch kurz besinnen.

»Hinterher«, blaffte einer der Rücken.

»Was … was wollen die Herrschaften denn hören? Trinklieder, Morgenlieder …«

Das Reibeisen der Gräfin fuhr dazwischen: »Du Tölpel sollst mich besingen! Ein Minnelied.«

Blasius fühlte sich, als wäre ihm gerade die Zunge aus dem Mund gerissen worden. Da sollte er sich doch lieber auf ein Stück vom großen Falther von der Hühnerweide verlegen, statt ihr eines seiner eigenen vorzutragen. Er schmetterte los.

Die Gräfin winkte ab. »Alter Hut. Ich will was Neues, was für mich. Komm näher, Bürschchen. Knie nieder!«

»Ja, schmeichle Blothildens Anmut«, zischte jemand hinter ihm. Die Rothaarige schubste ihn zu der Unholden. Ei weh, also doch nicht verstorben. Hatten die Leute hier alle ein Augenleiden?

Da musste er jetzt durch, half alles nichts. Er presste sich ein breites Lächeln ins Gesicht und legte den Pfeifensack beiseite. Vor ihrer Leibesfülle sank er auf ein Knie und blickte widerstrebend zu ihr auf. Dann fabulierte er einfach los, lobte ihre zierlichen Öhrchen unter dem Kranz geflochtener Zöpfe, ihren urweiblichen Körper – sie könne Mutter Erde sein und sie alle geboren haben – pries ihre Anmut und Tugendhaftigkeit. So, das war der einfache Teil der Lügerei. Nun musste er auch noch anbändeln. Manchmal fand er seine Arbeit wahrhaft schauderhaft. Sein Magen krampfte schon, obgleich leer und schlaff wie sein Pfeifensack. Er legte alle Inbrunst, die er aufbringen konnte, in seine Stimme: »Gräfin Blothilde von der Zitterdelle, seid kein Schindluder, edle Dame. Erhört Euren treuen Diener, der Euch liebt, seit Ihr geboren.« Hier brach er ab, dachte kurz daran, dass sie dem Alter nach seine Mutter sein könnte, und legte seinen Kopf in ihren Schoß, der nicht gerade verlockend duftete.

Sie zog ihn an den Haaren hoch. »Auf mit dir. Dreh dich um und bück dich.«

Was wurde das denn jetzt? Trotz erheblicher Bedenken tat er, wie ihm geheißen, und blickte auf seinen alten braunen Schuh neben dem roten neuen mit dem Schmutzfleck. Da traf ein Tritt sein Hinterteil, und er stolperte davon, genau auf die Pforte zu. Nur weg hier, wo man ihn nicht schätzte! Er rüttelte an der Klinke, doch die Tür klemmte, und er fürchtete schon, man habe ihn eingesperrt, als sie doch knarrend nachgab und ihn in den muffigen Gang entließ.

Draußen begegnete er erneut der roten Maid, die ihm einen mitleidigen Blick zuwarf. »Und, wie ist es gelaufen?«

Nun krampfte nicht nur sein Magen, sondern sein Gedärm rumorte. Er legte sich eine Hand auf den Bauch. »Vorzüglich, doch bin ich so üppige Speis nicht gewohnt, die man mir großzügig zum Lohn gereicht hat. Wo ist denn hier die Scharte?«

Sie lachte. »Auf wen willst du denn schießen, Eierdiebe?«

»Nein, nicht die Schießscharte, sondern die andere.«

»Ach so, du musst mal.«

»Ähm, ja.«

»Den Korridor weiter ans andere Ende, da findest du den Abtritt.«

»Danke.« Er rannte los und hatte zugleich Zweifel, ob der Anblick der Gräfin sein Gedärm nicht auf alle Zeit verknotet hatte. Konnte er sich erleichtern, wenn dieses Weib in der Nähe war? Die Scharte war immerhin ein einsamer Winkel. Er fand die richtige Tür und trat in das Kabuff. Riegel gab’s keinen, aber erst mal durchatmen. Oh nein! Er hatte seine Sackpfeife im Saal vergessen! Was für ein Elend. Zurück traute er sich nicht, er müsste sich also ein neues Instrument basteln. Daran sollte seine Kunst nicht scheitern, schließlich war Pfeiffenheim für seine Flötschnitzerei berühmt, und kein Bewohner des Orts war je ohne Tröte unterwegs. Bis er die Zeit und das Material fand, hatte er immer noch seine Stimme, die konnte ihm niemand nehmen. Oh, lieber nicht verschreien … Wie hatte Firlefanta gesagt, der Haus- und Hofsänger hätte was am Hals? Ihm wurde es ganz eng in der Kehle.

Da er schon hier war, ließ er die rissige Lederhose runter und hängte seinen Arsch ins Freie. Huh, man merkte doch, dass es Herbst wurde. Da konnte einem ja was abfrieren! Auf dem Gang hallten Schritte. Hoffentlich nicht die Gräfin! Schnell zog er die Krachlederne wieder hoch und band sie zu und lauschte angespannt, ob die Luft rein sei.

Plötzlich hörte er Leute sprechen, ganz nah an seinem Ohr. »Diesmal müssen wir mehr Hühner abfangen. Unsere Keller sind noch nicht voll genug für den Winter.« Die Stimme war die des befehlsfreudigen Rückens. Ob das der Graf war? Wovon sprach er nur?

»Ein Schock Vögel bringen wir ohne Schwierigkeiten noch unter.«

»Gut. Uns dürfen schließlich nicht die Eier ausgehen, die wir allerorts, aber vor allem den dämlichen Märheimern teuer verkaufen können. Die Nachfrage dort ist groß. Was der Giger allein schon verlangt …«

Beinah wäre Blasius ein Wind entfahren. Was? In Märheim ging ein Nacht-Giger um? Er wusste gar nicht, dass die auch Eier fraßen, nicht nur kleine Kinder. Immer, wenn er nicht einschlafen wollte, hatten seine Eltern ihm gedroht, der Giger werde ihn holen.

Ein gräfliches Schnauben. »Kunibert vom Wolkenstein nennen sie jetzt den Grünen Grafen wegen seiner Verdienste um die seltene Florauna von Märheim. Seine Hanghühner lurchen wir ihm auch noch ab.«

»Ihr meint luchsen?«

»Ich meine immer, was ich sage. Mit den ungleich langen Beinen sind die Märheimer Viecher am Boden leichte Beute. Und vor dem Flug in den Süden rasten sie gern auf unserem Gebiet.«

Zum Glück gingen die Männer weiter, und Blasius wagte einen tiefen Atemzug. Hühner, Märheim. Wäre er mal lieber dorthin gegangen, aber der Ort war angeblich ein teures Pflaster. Die vielen Besucher, die wegen der seltenen Geschöpfe anreisten, verdarben die Preise. Da konnte er sich vermutlich keinen Laib Brot leisten, von Bratzwurst ganz zu schweigen. Ob sie die wohl aus echten Bratzen wolften? Besser nicht drüber nachdenken. Und dann ein Giger … Lieber zum nächsten Markt ziehen. Er schlüpfte aus dem Abtritt und tapste den düsteren Gang entlang, vorbei an der Tür, hinter der sich vielleicht immer noch die Gräfin den Wanst vollschlug. Schnell weiter – was war das? Ein Nebel drang durch das Holz und formte sich direkt vor ihm zu einem dienstbaren Geist. Er schrak derart zusammen, dass seinem Gedärm ein weiterer Wind entfleuchte. Der Geist keckerte, hatte vermutlich sonst nicht viel zu lachen. Arme Seele, eigentlich war es doch allgemein verpönt, sich seine verstorbenen Dienstboten weiter verpflichtet zu halten, aber zur Schindburg passte es. Der Kerl glitt davon, ohne ihn weiter zu beachten. Nun war zum Glück niemand mehr in der Nähe, der sich nach seinem Woher oder Wohin erkundigen konnte.

Auf Zehenspitzen schlich Blasius zur Eingangshalle, in alle Richtungen sichernd, und fragte sich kurz, ob er nicht doch noch einmal sein Glück bei der Gräfin versuchen sollte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Nein, manche Mahlzeit war einfach zu schwer verdient. Er schlüpfte durch das große Eingangsportal ins Freie, und dort atmete er tief durch und drehte eine Runde im Burghof. Vielleicht konnte er in der Gesindeküche einen Happen ergattern. Da hallte ein schauriges Geräusch aus der offen stehenden Tür, die er gerade passierte. Ein dunkles Loch, uh. Er konnte gerade so ein paar Treppenstufen erkennen, die wohl in unterirdische Gänge führen mussten. Da war es wieder. Es klang wie ein klagendes Gackern. Erneut schüttelte es ihn; also hielt Graf Isbert in der Tat Hühner gefangen. Obwohl er den Einfall nicht unklug fand – wer träumte nicht davon, auch im Winter Eier genießen zu können? –, taten ihm die Vögel doch leid. War er nicht selbst ein wenig wie sie, zog frei umher? Na ja, statt Eier zu legen, dengelte er Verse. Nun drangen Schritte aus dem Gewölbe. Nichts wie weg hier. Er hastete zum Tor.

»Ist sie schon fertig mit dir?«, knirschte eine Stimme.

Blasius wirbelte herum.

Die Steinfratze in der Torlaibung grinste wie zuvor. »Das ging aber schnell. Andere halten länger durch.«

Wieso konnte die sprechen? Der Mund hatte sich nicht bewegt. Blasius schnaubte. »Ich hab’s nicht nötig durchzuhalten, wenn ich nicht will.«

Die Fratze stieß ein kieselndes Glucksen aus. »Dafür trägst du immer noch einen hohlen Bauch mit dir herum.«

»Na und? Ich habe auch meinen Stolz.«

»Wenn dich das satt macht …«

So ein Flegel von einem Torwächter! Blasius marschierte zurück zum Marktplatz und zu den Ständen. Irgendwo hier musste doch ein Bäcker sein. Ein Laib Brot als Wegzehrung, dazu vielleicht noch ein Stück würzigen Ranzkäses und ein Ring Bratzwurst sollten ihm zwei Tage reichen. Nach harten Verhandlungen mit den Marktleuten wickelte er alles in sein Bündel und wanderte los. Sackpfeife weg, Bauch leer. Was für ein Reinfall! Um die Schindburg würde er künftig einen weiten Bogen machen und lieber die Umwege abklappern, von denen es in dieser Gegend angeblich besonders malerische gab.

Und so setzte er einen Fuß vor den anderen, bis nur noch schräge Sonnenstrahlen durch die Bäume drangen. Der neue Schuh drückte, der alte drohte abzufallen. Hätte er sich doch mal bei den Schuhmachern auf dem Markt umgeschaut.

Ein Vogel zwitscherte allerliebst: »Irrweg! Irrweg! Kein Wegezoll, ob zu Fuß oder zu Huf. Irrweg! Irrweg! Hier erwarten dich große Aventiuren und mindere Blessuren.«

Das hörte sich verlockend an, doch halt – vor sich hörte er Pferdegetrappel. Er drehte den Kopf in den Wind. Nur ein Ross und vielleicht angenehme Gesellschaft, wenn nicht gar großzügige. Er lief dem Geräusch hinterher und erblickte bald die gebückte Gestalt eines Mannes, der neben dem Tier herschlurfte. Der Mann schien ihn gar nicht zu bemerken, obwohl er keuchte und schneuchte, also rief Blasius ihm zu. »Schönen guten Tag.«

Der Kopf des Alten ruckte hoch. »Wer? Was?«

»Habt Ihr den Irrweg ausprobiert, weiser Greis?«, fragte Blasius. »Lohnt es sich?«

»Ah, da bist du. Meine Augen sind nicht mehr so gut.« Der Mann rieb eine Hand über sein Wams. »Nein, vermeide diesen Irrweg. Er führt in die Gefahr.«

»Gefahr?« Das war ungewöhnlich.

Der Alte verhielt seinen Schlurf und schien vor ihm zusammenzusacken wie ein Bündel Knochen. »Ich habe Schreckliches gesehen.«

Blasius entdeckte den Widerschein des Grauens in den eingesunkenen Augen. »Wollt Ihr mir davon berichten? Ich bin Sänger und kann vielleicht ein hübsches Waidmannsgarn daraus spinnen.«

Der fransige, schlohweiße Schnurrbart des Alten sträubte sich, die Haare zuckten und bebten, als führten sie ein Eigenleben, fast wie eine riesige Raupe. Der Alte streichelte den Hals des Pferds. »Ein Sänger … Für wie alt hältst du mich, Junge?«

Oh, unangenehme Frage. Ob der Mann beleidigt wäre, wenn er die Wahrheit sagte? Lieber etwas Honig in den wallenden Bart schmieren. »Nun, vielleicht so fünfzig Lenze?«

Die immer noch breite Brust des Mannes hob und senkte sich geräuschvoll. »So schlimm? Nun denn, so höre was sich auf diesem Irrweg zugetragen.«

Sie setzten sich auf den moosigen Boden, und Blasius öffnete sein Bündel, um die Speisen zu teilen. Der Alte lächelte und dankte, dann hub er an: »Der edle Ritter Hartmann von der Lanze, gar prächtig anzuschaun in der Blüte seiner Jugend, aufrecht die Gestalt, froh der Mut, hübsch der Hut, ritt diesen Irrweg entlang in der Hoffnung, einer Aventiure zu begegnen, mit der er sich vor der holden Kunigunde, seiner Braut, brüsten konnte. Der Gefahr nicht achtend – manchmal bieten sich schließlich interessante Auswege – ritt er mutig voran, doch ach! Nicht auf diesem Pfad der Tücke und Hinterlist. Er gelangte an einen See. Plötzlich regneten Felsbrocken auf ihn nieder, ein garstiges Untier attackierte ihn: der Tatzelwurm.« Die knisternde Stimme verebbte zu einem unheilschwangeren Schweigen. Der Alte rieb sich mit einer Hand über die Finger der anderen.

Blasius keuchte. Tatzelwurm? Von diesem Untier kündeten die Chroniken. »Was ist mit Hartmann passiert? Hat er das Scheusal erschlagen?« Schließlich vollbrachten die Recken in seinen Liedern auch stets Heldentaten.

Der Alte senkte den Kopf. »Ja, er schlug die Bestie in die Flucht, doch oh weh! Der edle Ritter verscholl …« Er brach ab und säbelte sich ein Stück Brot vom Laib.

»Und Ihr konntet ihm nicht helfen?«

»Nein«, murmelte der Alte sparsam.

»Wo ist das Untier hin?«

»In den See gesprungen.« Er sah Blasius aus wässrigen grünen Augen an. »Dort gehört es wohl auch hin. Junger Freund, willst du nach Märheim ziehen und Graf Kunibert vom Wolkenstein davon berichten? Ritter Hartmann war sein treuer und geschätzter Gefolgsmann.«

»Nach Märheim? Aber dort ist das Überleben teuer, habe ich gehört. Wegen all der seltenen Geschöpfe. Wie heißt Ihr eigentlich?«

Der Bejahrte musste sich erst darauf besinnen, ehe er verkündete: »Nenn mich Baldanders, den Alten.«

Was für ein merkwürdiger Name. »Wenn Ihr das wünscht. Aber Ihr solltet lieber selbst dem Grafen davon berichten. Mir dahergelaufenem Sänger wird er kaum glauben.«

»Doch, das wird er. Bring ihm dieses Pferd. Es gehörte dem Ritter.«

Na holla, auf dem Gaul konnte er nach Märheim reiten. Das versüßte den Auftrag doch sehr.

»Erwähne mich am besten gar nicht. Erzähle und singe die Geschichte des edlen Hartmann von der Lanze, als wärst du an seiner Seite gewesen. Hartmann, gar prächtig anzuschauen. Golden die Locken, aufrecht die Lanze …« Der Alte biss mümmelnd in den Ranzkäse und zuckte zusammen. Als er das Stück wieder aus dem Mund nahm, steckte ein Zahn darin. »So viele Jahre verloren«, murmelte er. »Und nun auch den ersten Beißer. Zieh los, mein Junge, und lass mir deine Brotzeit hier. Nur den Ranzkäse darfst du gerne wieder einpacken.«

»Und ich soll wirklich das Ross mitnehmen?« Blasius überlegte, für wie viele Sandtaler er es verkaufen könnte.

»Sicher, aber du musst es dem Grünen Grafen bringen und ihm von Ritter Hartmann berichten.« Der Alte packte seinen Arm. »Deine Belohnung wird großzügig ausfallen, und du darfst das berühmte Märheim besuchen. Ein Ort, an dem dir viele schöne neue Lieder einfallen werden.«

Vager Lohn statt sicherem Erlös – das hörte sich alles großartig an. Blasius schüttelte den Klammergriff seines neuen Bekannten ab. »Sehr gerne, mein Herr.« Plötzlich konnte er es kaum erwarten, den etwas unheimlichen Alten loszuwerden. »Ich mache mich dann mal auf den Weg.« Er steckte den Ranz ein und schritt zum Ross, das ihm so aus der Nähe viel größer vorkam. Ach was, kein Problem für einen kräftigen jungen Mann wie ihn. Er schob den linken Fuß in den Steigbügel, packte den Sattelknauf und schwang sich hoch. Da rutschte sein Fuß aus dem Schlabberschuh, und er plumpste zu Boden. Was für ein Elend! Das Pferd schnaubte, was beinah wie ein Lachen klang. Nur beinah?

»Alles in Ordnung, Junge?«

»Bloß mein Fußwerk, weiser Baldanders.« Hektisch schnürte er den Lederlappen, denn mehr war der einstige Schuh nun nicht mehr, zusammen und stieg auf. Mit festem Griff umschlossen seine Hände den Sattelknauf. Wo war der Zügel? Bisher war er nur einmal auf einem Esel geritten, und dem konnte man wenigstens den Kopf in die gewünschte Richtung drehen. Blasius drückte dem Tier die Knie in die Seiten. Nichts. »Lauf schon, Pferdchen.« Nichts. Er presste die Fersen in die Flanken. Nichts.

Da näherte sich der Alte und holte etwas aus der Satteltasche, das nach einem Steinbrocken aussah. »Lauf nach Hause«, sagte er und schlug dem Ross auf den Hintern.

Das Vieh zischte los, und Blasius klammerte sich an Sattel und Mähne fest, so gut er konnte.

Ungewöhnlicher Beifang

»Wohin des Wegs so eilig, mein Töchterlein?«

Limusine wand sich quiekend aus den Pranken ihres Vaters und stützte sich an der Brüstung des offenen Ganges ab, der die Schlafräume der Familie mit dem Hauptgebäude verband. »Zur Wolkach, Schnätteräng ernten – vor dem Abendtau, wie es sich gehört. Die Mutter braucht frischen für ihr Stimm-Öl. Und er schießt um diese Jahreszeit, wenn die Hühner gen Süden ziehen, besonders ins Kraut.«

Bernwart von Trübaug blinzelte in den Himmel und seufzte den entschwindenden Formationen nach. »Da fliegen sie hin, meine Frühstückseier.« Er klopfte sich den ausladenden Wanst.

Limusine lachte. »Auf deinem Vorbau könnte glatt ein Hanghuhn nisten.«

Die Brauen ihres Vaters tanzten amüsiert. »Das könnte mir gefallen.«

»Darauf würde ich wetten. Aber nun muss ich mich sputen, sonst ist der Schnätteräng voller Frösche, und die will ja nun wirklich niemand im Hals haben, am wenigsten unsere Faseltiere.« Sie sprang die Stufen der Wendeltreppe hinab, durchquerte die elterliche Halle und wollte eben hinaus in den herbstlichen Sonnenschein treten, als ihr einfiel, dass sie das Wichtigste vergessen hatte: Schnätterling und Korb. Schnell huschte sie ins Florarium ihrer Mutter und nahm das spezielle Hakenmesser mit dem Siebfortsatz vom Regal, warf es in die geflochtene Kiepe und schulterte sie.

Gundel von Trübaug war nirgends zu sehen; vermutlich braute sie in der angrenzenden Safterei einen ihrer Tränke, die in ganz Märheim und darüber hinaus berühmt und begehrt waren. Die Einkünfte ihres Saftladens trugen nicht unerheblich dazu bei, das Vermögen des Truchsessen von Märheim zu mehren. Limusine wünschte sich ebenso grüne Daumen wie die ihrer Mutter, die einem alten Erdfeengeschlecht entstammte, doch ihre waren vom Blassblau der Wasserfeen. Folglich reichte ihre Begabung leider nur für alles, was in Gewässern kreuchte und fleuchte, auch wenn ihr die mannigfachen Pflanzen im Florarium nicht fremd waren.

Am Ende des großen Gewächshauses erblickte sie den gebeugten Rücken von Schnitter Sensenmann, Mutters Erntehelfer, und winkte ihm zu, bevor sie ihr Elternhaus verließ. Witternd prüfte sie die Luft. Es roch bereits froschig, sie musste sich eilen! Ihre Stiefel aus gegerbter Fischhaut machten kaum ein Geräusch auf dem Tropfsteinpflaster des Marktplatzes, das im Sonnenlicht glitzerte, aber bei dem sabbelonischen Stimmengewirr wäre auch ein Erdbär unbemerkt geblieben. So viele Ausheimische! Mit jedem Jahr zog die Florauna Märheims mehr Besucher an, und alle hatten sie ihre vorgeschriebenen Fremdenführer dabei, die ihnen die Sehenswürdigkeiten in ihrer Sprache beschrieben. Bald würden sie die Gasthäuser bevölkern und den Inheimischen Bier, Wein und das Euleneul wegtrinken, für das Märheim berühmt war. Limusine drängte sich durch die Menge der Menschen und Kreatiere, welche die Auslagen der Buden umstanden. Endlich hatte sie sich durchgekämpft. Vor ihr lag die Gasse, die zur neuen Brücke über die Wolkach und dann weiter zur Veste hinaufführte. Auch hier war viel Betrieb. Die malerische Kulisse lockte nicht nur Ausheimische, sondern auch allerhand schräge Vögel an – weit schräger als Hanghühner, die ihren merkwürdigen Wuchs generationenlangem Nisten auf Märheimer Spitzgiebeln verdankten. Pickten schwatzten den Fremden ihre Picktogramme auf. Ein junger Mann entblößte gerade seinen Rücken, während der Pickte seinen spitzen Schnabel wetzte, bevor er ihn ins Tintenfässchen tunkte. Limusine verzog das Gesicht in mitfühlendem Schmerz. Doch da donnerte Schuster, der gräfliche Büttel, auf seinem Rappen über die Brücke. Die Pickten stoben davon, nur um sich kurz darauf erneut flatternd auf dem Brückengeländer niederzulassen.

Limusine wehrte eine Elster ab, die den Glanz auf ihrem Schnätterling missdeutet hatte, und erreichte endlich das Ufer der Wolkach. Auf die sumpfigen Wiesen verirrte sich selten jemand – ihre Stiefel dagegen waren nicht nur wasserfest, sondern verhinderten mit ihren Luftkammern auch, dass sie im Morast versank –, und schon nach wenigen Schritten hatte sie den Lärm der Stadt hinter sich gelassen, obwohl sie sich noch im Schutz der hoch aufragenden Mauern befand. Nun konnte sie sich ganz auf die Stimmen des murmelnden Gewässers konzentrieren, die heute einen nie gehörten Beiklang besaßen. »Was singst du heut so freudig?«, rief sie.

Die Wolkach war nicht tief, aber breit und reißend. Sie strömte gurgelnd über ihr felsiges Bett. Hie und da staken Steine aus dem Wasser, an denen sich schaumige Gischt brach. Limusine hielt Ausschau nach den Saugpflanzen, die sich an den Kieseln des Grundes festklammerten und auf Kleinstfische lauerten – das machte sie für die Frösche so interessant. Schließlich entdeckte sie welche, die sich in den Strömungsschatten eines Felsens nahe dem jenseitigen Ufer kauerten. Limusine seufzte. Immer auf der falschen Flussseite. Drüben erstreckte sich die Augenweide, deren Betreten strengstens verboten war, also musste sie versuchen, von hier aus heranzukommen. Vorsichtig watete sie ins Nass. Der Untergrund war schlüpfrig, doch zum Glück bot die Fischhaut ihrer Stiefel etwas Halt. Sie holte den Schnätterling heraus – nur noch wenige Schritte. Ein Stein rollte unter ihrem Fuß weg. Beinah wäre sie ausgeglitten. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu bewahren, und schreckte dabei eine Familie Bottervögel auf. Mit ungeschicktem Flügelschlag flatterten sie taumelnd in die Lüfte, stießen gegeneinander und verhedderten ihre langen Beine ineinander.

»Tut mir leid!«, rief Limusine ihnen hinterher. Diese Tiere waren aber auch zu tollpatschig, allerdings wollte kein Märheimer auf ihre sahnige Botter verzichten.

Jetzt hatte sie wieder festen Stand und holte mit dem Schnätterling aus. Der scharfgratige Haken säbelte den Schnätteräng vom Flussgrund los, und nun konnte sie ihre Ernte mit dem Fangnetz einfahren. Ungewöhnlich schwer und sperrig – sicher voller Frösche, wie ärgerlich. Vorsichtig balancierte sie zurück ans Ufer. Nur nicht ausgleiten, sonst würde sich ihre Beute davonmachen. Ganz schön kregel waren die Pflanzen heute, die zappelten ja wie Aale! Sie war froh, endlich die Uferböschung emporklettern zu können. »Gleich ist Ruhe«, murmelte sie. »Wollen doch mal sehen, was wir da haben …« Sie breitete ihren Fang auf der sumpfigen Aue aus. »Da brat mir doch einer ein Huhn!«

Zwischen den glitschigen Stängeln des Schnätterängs hatte sich ein großes Stück Holz verfangen. Drei Frösche hüpften empört quakend von dannen, als sie danach griff. Der keilförmige Klotz witschte ihr irgendwie zwischen den Fingern hindurch, und Limusine verspürte etwas sehr Eigenartiges – als ginge von dem Holz eine Empfindung aus. Sie strich einen Schnätteräng beiseite und blickte direkt in zwei grünlich glimmende Äuglein. »Heiliger Birnbaum!«, entfuhr es ihr. »Was bist du denn für ein putziger Geselle. Da denkt man, man hat schon alles gesehen …«

Behutsam hob sie das holzige Ding an und versenkte sich in seine Flaura. Alt … Uralt … Sowohl Pflanze wie Tier – wie war das möglich? Borstenbesetzte Lider blinzelten, doch einen Mund schien das Wesen nicht zu besitzen, lediglich eine keilförmige Schnatze. Nach hinten lief der Körper zu einer Art Schwanz aus, an dessen Ende ein Dorn aufragte. »Verteidigen kannst du dich schon, wie?«, säuselte Limusine und kraulte die Börstel an der Brust des Kreatiers, die unter der zarten Berührung ganz weich und nachgiebig wurden. Deutlich spürte Limusine das Wohlbehagen. »Und wie nennen wir dich nun? Klötzel?«

Der grüne Blick bekam etwas Eisiges.

»Schon gut, schon gut. Eichkatz?«

Die Flaura waberte zornig.

»Hölzchen? Buchenwurm? Gernot, Askan. Ah, Askan, das gefällt dir.«

Die Flaura schnurrte vor Behagen.

Als Limusine Askan wieder auf den Boden setzte, kamen aus Öffnungen seitlich an seinem Körper sechs kleine, krallenbewehrte Beinchen zum Vorschein. Wieselflink flitzte ihr neuer Gefährte ihren Arm empor und wühlte sich in ihre langen, blaublonden Haare, in denen er sich ein behagliches Nest baute.

Limusine lachte entzückt. »Was immer du willst, mein Kleiner, solange du mich den Schnätteräng einpacken lässt. Mutter braucht ihn dringend, weißt du.«

Den ganzen Weg nach Hause blieb das merkwürdige Wesen gut verborgen, und Limusine gewöhnte sich schnell an ihren neuen Kragen. So unnachgiebig der Körper des Kreatiers auf den ersten Blick erschien, um sie schmiegte er sich, als sei er für sie gemacht. Daheim suchte sie sofort ihre Mutter auf. Wenn jemand wusste, was Askan für eine Art war, dann gewiss sie.

Das Quietschen der Türangel kündete einen Besucher an. Gundel von Trübaug sah lächelnd auf und legte den großen, hölzernen Löffel beiseite, mit dem sie den Sirup im Kessel umgerührt hatte. Aromatische Dämpfe stiegen auf, wann immer eine der trägen Blasen an die Oberfläche stieg und platzte. »Genau zur rechten Zeit. Es fehlt lediglich der Schnätteräng, dann ist das Stimm-Öl fertig und muss nur noch ziehen«, begrüßte sie Limusine. Da spürte sie die verhaltene Erregung, die ihre Tochter umgab. »Ist etwas geschehen, mein Kind?«

Limusine legte die Kiepe ab und nestelte dann vorsichtig ein Stück Holz aus ihren Haaren, das sie vor Gundel auf den Tisch legte. »Das hatte sich in den Stängeln verfangen. Es ist lebendig, sieh nur!«

Nun spürte auch Gundel die Flaura, die um Limusines Fund waberte. Schwach nur merkte sie es, denn Wasserwesen waren ihr fremd, doch dies war gewiss kein Treibholz. Es blinzelte, hatte Augen! Ihre Tochter trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Gundel seufzte. Sie wusste, was nun kommen würde.

Und da war es auch schon. Treuherziger Augenaufschlag, ein Flehen in der Stimme: »Bitte, Mutter, darf ich Askan behalten?«

»Du weißt doch, was die gräfliche Verordnung besagt.« Streng verschränkte sie die Arme, drehte aber rasch den Kopf zur Seite, damit ihr Kind das Zucken ihrer Mundwinkel nicht bemerkte.

Limusines volle Lippen zitterten. Manchmal könnte man meinen, das Mädel sei erst sechs und nicht schon eine erwachsene Frau von fünfzehn Lenzen. »Aber Mutter! Askan ist eine unbekannte Art, ein Wesen, das sicher nicht im Schutzverzeichnis des Grafen steht. Ich weiß es. Spürst du nicht seine uralte Flaura?«

Gundel hätte ihrem Kind zu gern das Haustier gegönnt, aber in diesem Punkt kannte der Grüne Graf kein Pardon. Keines der in Märheim lebenden Tiere durfte in Gefangenschaft gehalten werden, nicht einmal Nutzvieh – von den besonders seltenen Spezies abgesehen, deren Zucht im gräflichen Faunarium streng überwacht wurde. Und dieses Lebewesen hier – sollte es wirklich das Einzige seiner Art sein … »Wir müssen deinen Askan zu Eulfred bringen. Er wird ihn untersuchen und entscheiden, was mit ihm geschieht.«

»Und wenn ich ihn geheim hielte? Sieh nur, wie er sich um meinen Hals schmiegt.« Limusine hielt dem keilförmigen Wesen den Arm hin.

Gundel staunte. Sechs Beinchen schnellten aus dem holzigen Leib hervor; Askan krabbelte Limusines Arm empor und wand sich geschmeidig wie ein Faseltier um ihren Nacken. Selbst sie spürte das Behagen, das die Flaura des Kreatiers ausströmte. Askan fühlte sich sichtlich wohl. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Jeder Krauch- und Flauchdieb in Märheim wird streng bestraft, das weißt du, und dein Vater ist es, der dafür zu sorgen hat. Wie stünde er da, wenn seine eigene Tochter …? Nein, es darf nicht sein, Limusinchen. Komm. Gehen wir gemeinsam zu Eulfred.« Es zerriss ihr das Herz, ihren Augenstern so traurig zu sehen. »Na, na, nicht weinen. Sicher wirst du Askan besuchen können.«

Sie klaubte den Schnätteräng aus der Kiepe, pflückte ein paar vorwitzige Frösche heraus, die sie in die Rutsche zur Wolkach warf, und gab die Stängel in den Kessel. »Eben noch rühren, einmal mit dem Strudel, dreimal gegen den Strudel. So, fertig.« Gundel wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und streckte dann die Hände nach Limusine aus. »Nun komm.«

Die Luft im Florarium war genauso schwülwarm wie in ihrer Saftküche. Gundel zog ihre widerstrebende Tochter durch die Reihen der Pflanzen, die sie anbaute, um die Bewohner Märheims ganzjährig mit ihren Heil- und Stärkungstränken versorgen zu können. »Wir sind bei Eulfred«, rief sie Schnitter Sensenmann zu, der fragend aufblickte. Er war es nicht gewöhnt, seine Herrin ihr Reich schon am Nachmittag verlassen zu sehen.

Wenig später tauchte Gundel in den Torbogen der Burg ein. Ihre Tochter schnaufte genau wie sie von der Anstrengung des Aufstiegs, denn die Märburg thronte auf der zerklüfteten Spitze des Wolkensteins und beherrschte das umliegende Land. Erbaut aus dem grauen Fels des Massivs trotzte sie seit Generationen den Belagerungen feindlicher Heere, allen voran denen der Schindburger. Schindburg! Sie drehte sich um, aber heute war es zu diesig, um die trutzige Silhouette in der Ferne zu erblicken. Der Name war jedem wahren Märheimer ein Gräuel. Zwar gab es derzeit wieder einen Friedensvertrag, aber Isbert von der Zitterdelle durfte man nicht trauen.

Limusine runzelte unwillig die Stirn und blieb stehen. »Noch können wir umkehren.«

Gundel aber schüttelte den Kopf. »Märheims Reichtum und die Stärke seiner Mauern haben wir Graf Kunibert zu verdanken, vergiss das nicht. Ohne seinen strengen Schutz unserer Florauna kämen keine Ausheimischen. Du bist doch sonst die Erste, die für die Rechte der Kreatiere eintritt.« Befriedigt sah sie ein tieferes Blau die Wangen ihrer Tochter aufsteigen und küsste sie auf die Stirn. »Du weißt, dass es recht ist, also komm.«

Sie wandte ihre Schritte zum gräflichen Tiergehege, wo der Wächter sie freundlich begrüßte. »Bringt Ihr Arzeney fürs Faunarium, Truchsessin?«

»Nein, heute führt mein Weg zu Eulfred. Wo finde ich ihn?«

Der Mann kratzte sich im Schritt. »Wird wohl bei den beiden neugeborenen Gieraffen sein. Die brauchen, besonders in den ersten Wochen, ununterbrochen Futter. Ziemlich anstrengend.«

Limusines hängende Schultern strafften sich bei dieser Nachricht. »Oh, die würde ich zu gern sehen!«

Wieder einmal beobachtete Gundel amüsiert, wie das Lächeln ihrer Tochter selbst die Herzen so bärbeißiger Gesellen wie dieses Wächters schmelzen konnte. »Bezaubernde Truchsine, es wird mir eine Freude sein, Euch persönlich – was ist das?« Er hatte Limusine die Hand auf die Schulter gelegt und war dabei an Askan gestoßen. Übel riechender Dampf stieg zwischen den blassblauen Flechten ihres Haars auf. »Ein krankes Faseltier?«

Limusines Mundwinkel sackten nach unten. »Nein, das ist Askan. Ich habe ihn aus der Wolkach gefischt.«

Eilig schob sich Gundel vor ihre Tochter. »Er ist der Grund unseres Kommens, ein einzigartiges Kreatier, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Ich will es Eulfreds kundiger Obhut übertragen.«

»Puh.« Naserümpfend gab der Wächter den Weg frei.

Gundel sah das wohlbekannte Zornblumenblau in den Augen ihrer Tochter aufblitzen und zog sie schnell weiter.

Widerstrebend folgte Limusine ihrer Mutter in den offenen Hof des Faunariums. Von wegen streng riechen! Selber Stinkmorchel. Prüfend sog sie die Luft ein. So schlimm war es doch gar nicht. »Pissnelken in der prallen Sonne sind auch nicht besser«, sagte sie gerade laut genug, dass der Wächter es noch mitbekommen musste. Vorsichtshalber beschleunigte sie ihren Schritt. Zu gern hätte sie sich etwas umgesehen. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war? Die Kreatiere in den weitläufigen Freigehegen kamen an die Zäune gerannt, sobald sie der Besucher ansichtig wurden, und begannen, aus vollem Hals zu krähen, meckern, keckern, fiepen, maulen, heulen, bellen, maunzen und knauzen.

»Bald ist Fütterungszeit. Kein guter Moment, das Faunarium aufzusuchen«, murmelte Gundel und zerrte sie von den Zimtzicklein mit den samtigen Augen weg, die neugierig an ihrer Hand schnupperten.

Am Ende eines Weges zwischen den Gehegen trafen sie endlich auf den Obersten Florauniker. »Ah, Frau Gundel, Ihr bringt das Stimm-Öl?«, rief er aus und schob seinen breitkrempigen Spitzhut aus der Stirn.

»Es muss noch ziehen. Ich komme aus einem anderen Grund. Meine Tochter Limusine hat heute einen Fund gemacht, der Euch interessieren dürfte. Ein Wesen, wie ich es nie zuvor sah. Sehr alte Flaura.«

Bevor Limusine es verhindern konnte, hatte ihre Mutter ihr Haar beiseitegeschoben und die keilige Schnatze von Askan entblößt. Sofort blitzte waches Interesse in den Augen des alten Mannes. Seine Stirn warf waschbrettene Falten.

»Ihr … Ihr habt da was«, stotterte Limusine und deutete auf die Käfer, die sich im Brauengestrüpp des Alten tummelten. Weitere turnten munter durch Eulfreds Bart.

»Schabernacke. Endlich ist mir die Nachzucht geglückt.« Er strahlte.

Ausgerottete Schädlinge nachzüchten? Eulfred übertrieb es wirklich. Jetzt versuchte er, seinen Arm aus dem Gehege zu ziehen, doch die kleinen Gieraffen hingen an den Fingern seines Handschuhs, als seien sie dort festgewachsen, und machten lange Hälse. Ungeduldig zog er seine Hand aus der Lederhülle und sprang mit einer für einen Mann seines Alters erstaunlichen Gelenkigkeit auf die Füße. »Was haben wir denn da? Mal sehen, mal sehen.« Im Gehege balgten sich die Gieraffen um die Reste des Handschuhs.

Limusine drehte sich weg. »Vorsicht. Ihr dürft ihn nicht erschrecken.« Oder doch? Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Askan sich wieder einnebelte.

Eulfred maß sie mit tadelndem Blick. »Junge Dame, ich habe Erfahrung.«

Nicht mit Askan, dachte Limusine und schob die Unterlippe vor. Sie spürte die Neugier des Wesens, gepaart mit Furcht und Angriffslust, als fühle ihr neuer Freund dasselbe wie sie.

»Gehen wir dorthin, wo besseres Licht ist. Hinz, Kunz, kümmert euch um die Gieraffen, bevor sie sich gegenseitig verspeisen!«, brüllte er.

Ein dreiarmiger Zwilling hoppelte heran und setzte sich dorthin, wo eben noch der Florauniker gehockt hatte. Während sein einer Kopf eine beruhigende Melodie summte, lockte der andere die Jungtiere ans Gitter zurück. Noch nie hatte Limusine eine dieser seltenen Launen der Natur gesehen, die schon im Kindesalter ins Faunarium kamen, um als Tierpfleger ausgebildet zu werden. Sie verdrehte den Hals nach den beiden, obwohl ihre Mutter sie unnachgiebig fortzerrte.

»Starr nicht so! Das sind Menschen!«, schimpfte sie.

Wenig später erklommen sie die ausgetretene Wendeltreppe des Wurmturms bis hinauf zu dem Gelass an seiner Spitze. Das letzte Licht des Herbsttages fiel durch die schmalen Fensterschlitze. Grad hell ist es hier auch nicht, dachte Limusine.

»Einen Moment, ich hab’s gleich.« Eulfred warf den Hut an einen Haken, dann klaubte er aus herumstehenden Schalen einige Wasserspiegel und hängte sie auf. Sobald er sie ausgerichtet hatte, erfüllte blendende Helligkeit das Turmzimmer. Zugleich umgab sich Eulfred mit einer honigsüßen Flaura. Auch in seinen Adern floss ein wenig Feenblut, doch merkte man das selten.

Nicht nur Limusine wurde von seinem warmen Strahlen angezogen, auch Askans Schnatze lugte neugierig hervor. Vorsichtig krabbelte er ihren ausgestreckten Arm entlang auf den alten Zausel zu und rollte sich schließlich mit zufriedener Flaura auf dessen aneinandergelegten Handtellern zusammen. Limusine fühlte sich verraten.

Eulfred beschnupperte und befingerte Askan, der sich davon nicht stören ließ. »Seltsam. Sehr seltsam.« Er ließ ihn sachte auf die Tischplatte gleiten. »Hmmmm. Hat er überhaupt schon etwas gefressen? Nein? Das dachte ich. Hm, hm. Verstoffwechselt Licht zu Nahrung, darum nur eine Schnatze. Außerdem Kiemen, hier, seht Ihr? Ein Schwanz mit dornenbesetzter Keule, ein sogenannter Morgensterz, dient als Waffe, aber nur der Verteidigung. Unser Geselle ist friedliebend.« Aufgeregt tänzelte er um den Tisch herum. »Meine Damen, ich glaube, wir haben hier in der Tat eine vollkommen unbekannte Art. Das lang vermisste Bindeglied zwischen Pflanze und Tier!« Er klatschte in die Hände. »Fossile Funde ließen auf die Existenz dieses Wesens schließen, doch nie …!« Tief holte er Luft. »Nie hätte ich zu träumen gewagt …« Ohne den Blick von Askan zu wenden, griff er nach einem Buch und blätterte darin, bis er einen zufriedenen Seufzer ausstieß. »Da haben wir es!«

Limusine bemerkte, dass er Augenringe trug, die jetzt weit geöffnet waren. Raffiniert und praktisch.

»Cuneus pectulus, der Keilbröstel. Ha, da, da, seht Ihr? Sogar die typischen Bröstelbörstel hat er! Petersilius der Weise hatte vollkommen recht mit seiner Annahme, es müsse sich um ein amphibisches Holzgewächs gehandelt haben.« Seine Stimme ging in unverständliches Gemurmel über.

Limusines Verzweiflung war mit jedem seiner Begeisterungsrufe größer geworden. Er würde ihr Askan fortnehmen, und sie würde ihn nie wiedersehen, obwohl sie die tiefe Verbundenheit zu dem uralten Geschöpf so deutlich wahrnahm. Ohne viel Hoffnung wagte sie zu fragen: »Darf ich ihn nun wieder mitnehmen?«

Ihre Worte ließen Eulfred hochschrecken. »Wie? Was? Nein, wo denkt Ihr hin, junge Dame. Das Studium des Keilbröstels – es ist meine Lebensaufgabe!«

Bis jetzt hatte er nicht mal von ihm gewusst. Das war so ungerecht. Als ihre Flaura zerfloss, drückte Mutter sacht ihre Hand. »Askan!«, schluchzte Limusine.

Da kam Leben in die spitze Schnatze. Hurtig fuhren die sechs Beinchen aus dem Leib, und Askan wieselte auf sie zu, krallte sich in ihre Rockfalten und hangelte sich empor, bis er sich mit zufriedener Flaura wieder in seinem Nest zusammengerollt hatte.

»Erstaunlich!« Eulfred rieb sich den Bart. Einige Schabernacke konnten sich gerade noch in seine Nasenhaare retten. »Sechs Beine. Insektoid auch noch!«

Verlangend streckte er die Hand aus. Seine Flaura wurde karamellen, absolut unwiderstehlich. Er hätte nur fragen müssen, Limusine hätte ihm in diesem Moment mit Freuden ihr Leben verpfändet. Askan jedoch rührte sich nicht und ließ sich mit nichts wieder hervorlocken.

Schnaufend gab Eulfred auf. Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Ich muss mir das mit dem … wo habe ich denn …« Er öffnete eine Truhe und wühlte wie besessen darin herum. Triumphierend reckte er ein Flauroskop in die Höhe. »A-haaa!« Er nahm die Wasserspiegel wieder ab und klopfte die Kristalle des Geräts wach. Die Rädchen quietschten wie lange nicht geölt. Sobald er sich das Gestell auf die Nase gesetzt hatte, umrundete er Limusine mehrmals. »Na so was!«

»Was?« Limusine reichte es nun endgültig. Sie wollte nur noch fort, solange sie Askan bei sich wusste.

Statt einer Antwort reichte Eulfred das Flauroskop an Gundel weiter, die es auf ihre Augen einstellte.

»Nun?«, rief Eulfred und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.

»In der Tat!«, sagte ihre Mutter.

»Aaaah! Könnte mich jemand aufklären?«, schrie Limusine.

»Deine Flaura, Liebes, und die Askans – sie schwingen im gleichen Spektrum.«

»Aber – wie kann das sein?«

»Wie kann das sein, wie kann das sein, wie kann das sein. Gute Frage, keine Antwort. Kann nicht sein.« Eulfred rannte im Kreis herum und raufte sich den Bart. Schabernacke spritzten in alle Richtungen. Plötzlich blieb er stehen. »Junge Dame, Ihr müsst ebenfalls hierbleiben! Ich muss Euch beide eingehendst untersuchen. Hm, hm. Vivisektion …?«

»Mutter!«

»Eulfred! Haltet ein!«, rief Gundel von Trübaug. »Es kommt nicht infrage, dass Ihr sie hierbehaltet – keinen von beiden.«

Eulfred schnob wie ein Wutnickel. »Darüber hat der Graf zu befinden!«

»Sehr wohl. Und so lange kann sie gehen, wohin ihr beliebt – mit ihrem Flaurilling.« Sie packte Limusines Hand, und gemeinsam rannten sie die Treppe des Wurmturms hinab, so schnell es die schiefen Stufen erlaubten. Erst außerhalb des Faunariums machte Gundel keuchend Halt. »Warte!«

Limusine wollte nur fort von Eulfred und der Gier, die sie in seinen Augen hatte blitzen sehen. »Er hat den Verstand verloren!«, rief sie. »Warum hältst du an?«

Gundel hielt sich keuchend die Seiten. »Schabernacke. Du hast mindestens drei mit rausgeschleppt. Wir müssen uns gegenseitig absuchen, sonst haben wir schneller die nächste Plage, als uns lieb ist.«

Wundersames Märheim

 

Der Gaul trabte nun gemächlich durch die Dämmerung, und Blasius dankte es ihm. Zum Glück kannte das Tier den Weg. Vor seinen Augen ragte bereits der Wolkenstein auf. Majestätisch trutzte darauf die Märburg, rotgülden umflort von den letzten Sonnenstrahlen. Welcher Angreifer mochte sich an diese Veste wagen?

»He, du da!«

»Was? Wer?« Er zuckte zurück. Erstaunlicherweise hielt das Ross. Blasius sah sich um. »Wer hat da gesprochen?«

»Wer wohl?«

Nichts rührte sich, nur ein Stein am Wegesrand schien seltsam zu wabern, aber das lag sicher nur am unsteten Licht.

»Ja, hier unten, du Blindlurch!«

Sprechende Steine, die nicht in Torbögen saßen? Sehr seltsam. »Was willst du? Was bist du?«

Kieselndes Seufzen. »Ein Wegstein natürlich, was sonst?«

»Natürlich.« Wider jede Natur. »Verzeih. Was ist dein Begehr?«

»Na also, geht doch. Sperr deine Lauscherchen weit auf.« Die Stimme klang nun kollernd salbungsvoll. »Wanderer, kommst du nach Märheim, verkündige dorten, du habest mich hier stehen gesehen, wie das Gesetz es befahl.«

»Aber du liegst doch nur herum und stehst gar nicht.« Ein Knirschen ließ Blasius den Kopf einziehen. »Schon gut, ich nehme mir die dichterische Freiheit. Du bist ja auch so rund, da weiß man gar nicht, ob du stehst oder liegst. Ähm, ja, ich werde es ausrichten.« Was für ein Unfug. Ein Stein, der nur dort stand, damit er verkünden konnte, dass er dort stand. Und wie sollte er das Pferd nun wieder in Gang setzen? So, wie es der Alte vorhin getan hatte? Hm, warum nicht? Mit der linken Hand klammerte er sich am Sattelknauf fest und klatschte mit der Rechten auf den Hinterschinken des Gauls. Und los ging der wilde Ritt zum Stadttor. Eine Holzbrücke führte über einen Fluss. Die Planken wirkten etwas morsch, aber er ging das Wagnis ein. »Gaaack!« Eine zweiköpfige Gente, aufgescheucht von den dröhnenden Tritten seines Rosses, flatterte in alle Richtungen davon. Solche sah man auch nicht oft, noch seltener gebraten. Da schlug ihm wieder sein hohler Bauch aufs Gemüt. Der Ranzkäse, den er unterwegs verschlungen hatte, schien eher wie ein Stein darin herumzukullern, statt ihn zu sättigen. Hoffentlich fiel die Belohnung wirklich so großzügig aus, wie Baldanders gemeint hatte.

Lodernde Irrlichter beschienen zwei bunt uniformierte Männer mit Spießen. Na, das Vieh würde schon bei ihnen anhalten, so hoffte er wenigstens. Lange müsste er sich sowieso nicht mehr mit ihm rumplagen.

Er zog leicht an der Mähne, was die Mähre wenig kümmerte. Fester traute er sich nicht, sonst blieb das Tier vielleicht stehen. Oh ho, die Torwächter kreuzten ihre Lanzen. Ob das sein Ross beeindruckte? Ja, doch. Der Kopf ruckte hoch, das Maul stieß Dampf und Wiehern aus, und schon verlangsamten sich die Schritte. Blasius streichelte ihm den Hals. »Braves Mistvieh. Entschuldige, aber ich weiß gar nicht, wie du heißt.«

Zur Antwort erhielt er nur ein verächtliches Schnauben.

»Schon gut, hab’s nicht so gemeint.«

»Halt, Fremder! Was führt dich nach Märheim?«

»Brrrr.« Nun riss er wirklich an der Mähne und lehnte sich zurück. Zu seiner Verblüffung war zumindest eines davon der richtige Befehl; sie standen. Gleichermaßen gerührt wie durchgeschüttelt sprang er aus dem Sattel. »Was mich ins schöne Märheim führt? Hunger, der vorzügliche Ruf dieser glorreichen Stadt und eine Botschaft für Graf Kunibert.«

»So, so. Na dann«, sprach der Mann und rührte sich nicht. Immer noch versperrten die Spieße ihm den Weg.

»Was ›na dann‹?«

»Einlass nur mit Führer. Wir können ja nicht einfach jeden hier rumkreuchen lassen.«

»Ja, das sehe ich wohl ein. Und wo finde ich einen Führer?«

»Wart’s ab.«

Da sprang ihm ein wuchtiges, pelziges Geschöpf auf die Schultern. Blasius zuckte zusammen, wollte es abschütteln, aber Krallen bohrten sich in sein Wams.

Schnurrhaare kitzelten Blasius’ Ohr. »Stell dich nicht so an. Du wolltest einen Führer. Nenn mich Cicerone.«

»Ähem, was bist du denn, Cicerone?«

»Zu deinem Glück ein Faseltier. Oder hast du gedacht, du bekämst eine Labergeiß ans Bein gebunden?« Das Vieh hatte sich um seinen Hals gehängt wie ein Pelzkragen, und Blasius konnte katzenartige Pfoten sehen, die sich genüsslich streckten.

Nun gaben die Spieße den Weg frei, aber einer der Männer hielt die Hand auf. »Macht einen Sandtaler für die Vermittlung, und du musst Cicerone jede Stunde füttern.«

»Oh!« Das konnte ein teurer Spaß werden, dabei hatte er selbst seit dem Morgengrauen kaum etwas gegessen. Das fing gar nicht gut an. Mit weichen Knien kratzte er sein Kleingeld zusammen und fragte sich, wie er den Gaul ohne Zügel in die Stadt führen sollte, also gab er ihm wieder einen Klaps, und das Tier lief einfach neben ihm her. Steinhäuser mit windschief stehenden Holzstreben säumten die Gasse.

»Diese Schrägwerkhäuser wurden erstmals vor 127 Jahren von dem berühmten Architekten …«, faselte Cicerone in sein Ohr.

»Sag mir lieber, wo ich was zu essen kriegen kann. Außerdem muss ich mit dem Grafen sprechen.«

»Heute nicht mehr.«

»Kein Essen?«

Seufzen. »Einem Faseltier darf man immer nur eine Frage auf einmal stellen. Andernfalls weiß man nie, welche beantwortet wird.«

»In Ordnung. Bekomme ich hier was zu essen?«

»Ja.«

Blasius stöhnte auf. »Eben warst du noch so geschwätzig.«

»Und du wusstest es nicht zu schätzen.«

»Entschuldige, Cicerone.« Inzwischen hatten sie einen Platz erreicht, auf dem sich einige Leute tummelten. Zwei Frauen holten Wasser am Brunnen, und drei Kerle beäugten sie. Auch eine Geiß stand bei ihnen herum. Auf der anderen Seite des Platzes hing ein Krug über der Tür. »Ah, da ist ja ein Wirtshaus.«

»Da zahlst du viele Taler für winzige Portionen edelster Speisen.«

Er sackte zusammen. »Gut, wohin soll sich dann ein armer Hungerleider wenden?«

»Links und dann geradeaus ist das Armeschluckerviertel.«

Blasius bog ab.

»Das andere links. Himmel, diese Ausheimischen, alles muss man ihnen erklären.«

»Ach ja, selbstverständlich. Links. Du merkst, wie ausgemergelt ich bin.«

Einer der Männer am Brunnen wandte sich zu ihnen um. »He, das ist doch das Ross von Ritter Hartmann von der Lanze!«

Alle Köpfe ruckten herum.

»Woher hat der Kerl das Pferd? Los, den schnappen wir uns«, rief ein anderer. Die zwei rannten auf ihn zu, während der dritte grinsend bei dem Weibsvolk blieb.

Blasius rutschte das Herz in die Buxe. »Wohin jetzt, Cicerone? Schnell!«

»Ach, du wolltest doch sowieso mit dem Grafen sprechen. Schneller hätte ich das sicher nicht arrangieren können, dabei bin ich der begabteste Führer Märheims. Du hast mich übrigens noch nicht gefüttert!«

»Ist ja noch keine Stunde.«

Die Männer blieben mit gezückten Dolchen vor ihnen stehen. »Wo ist Ritter Hartmann, du Krauch- und Flauchdieb!«