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Hori und Nachtmin haben sich gerade in ihre neuen Aufgaben als Leibärzte des Pharaos eingearbeitet, da ereilt Hori ein dringender Ruf in die geheime Balsamierungsstätte. Dort wurde ein Herz gefunden, das zu keiner Leiche gehört, ein grausames Verbrechen, das den Toten seiner Möglichkeit auf ein Nachleben beraubt! Während der ahnungslose Nachtmin seinem verschwundenen Freund grollt und neue Bekanntschaften sucht, findet Hori einiges heraus. Das überzählige Herz ist längst nicht alles, das in der Weryt nicht stimmt: Die Geheimnisse der Totenstadt selbst sind in Gefahr! Natürlich wird auch Nachtmin schon bald in die schaurige Ermittlung hineingezogen, obwohl er sich besser um seine schwangere Frau kümmern sollte. Denn die Schatten der Verdammten rücken immer näher …
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Inhaltsverzeichnis
Karte des alten Ägypten
Personenregister
Prolog
Horus im Ei
Ein Rätsel
Zurück zu den Toten
Ein neuer Freund
Aufschlussreiche Besuche
Eine beeindruckende Erscheinung
Zwei Frauen
Kaum erwacht …
Unheilbar krank
Betrunkene Halunken
Erwischt
Des Königs Hyänen
Grausiger Fund
Das Geheimnis der Frau
Setkas Sandalenträger
Frauenprobleme
Komm schnell!
Schreckliches Ende
Seuche oder Gift?
Im Bienennest stochern
Ein Fluch
Die Biene sticht
Im Dunkel
Der Papyrus
Die Spur führt ins Hafenviertel
Einer gefasst
Der Fluch der Schatten
Epilog
Anhang ~ Ägyptische Götter
Anhang ~ Orte und Gebietsnamen
Anhang ~ Glossar
Kalender und Klima
Nachwort
Romane von Kathrin Brückmann
Impressum
Historische Personen sind fett gedruckt, in Klammern befindet sich eine Aussprachehilfe, und eine Übersetzung des Namens steht kursiv dahinter. Bestimmte Adjektive werden in diesem Roman großgeschrieben, weil sie feststehende Begriffe sind oder Ehrentitel darstellen, insbesondere: die Beiden Länder, Große Königliche Gemahlin, Erster Prophet, Schöner Westen, Heiliger Garten usw.
Das Königshaus
Sesostris III. (Se-sostris) – Mann der Göttin Useret
Ein König, der schwer an seinem Amt trägt.
Chenmetneferhedjet (Chenmet-nefer-hedjet) – Mit der weißen Krone vereinigt
Große Königliche Gemahlin, genannt Scherit, die Kleine. Ohne tragende Rolle.
Nofrethenut (Nofret-henut) – Schöne Herrin
Die Zweite Königliche Gemahlin trägt den Horus im Ei.
Senetsenebtisi, Menet, Sat-Hathor, Henut
Die Töchter von Sesostris tragen zur Unterhaltung bei.
Atef (Kurzform von Hori-hetep-em-Atef) – Horus ist zufrieden mit der Atefkrone
Königicher Leibdiener, dessen Betragen ohne Fehl ist.
Hori und seine Familie
Hori – Name des Gottes Horus
Ein Arzt, der die Krankheit seines Herzens nicht heilen kann.
Sobekemhat (Sobek-em-hat) – Sobek ist an der Spitze
Horis Vater und ein Wesir, krankhaft auf seine Würde bedacht.
Nofret, Teti und Puy
Horis Mutter und Brüder – krank vor Sorge? Eher nicht.
Heqet – Name der Froschgöttin
Horis Dienerin, schwer gekränkt.
Sheser – Pfeil
Horis Diener, auch mal Krankenträger.
Mesu – Kind, Kurzform von Ra-Mesu, Kind des Re
Horis Gärtner, liebeskrank.
Nachtmin und seine Familie
Nachtmin (Nacht-min) – Min ist stark
Arzt, der einen aussichtslosen Kampf zu führen hat.
Mutnofret (Mut-nofret) – (Die Göttin)Mut ist schön
Seine kämpferische Frau, die viel zu verlieren hat.
Baketamun (Baket-Amun) – Dienerin des Amun
Nachtmins Köchin, die wie eine Löwin zu kämpfen versteht.
Inti (Kurzform von Inen-Ka-i) – Mein Ka verweilt
Nachtmins Leibdiener ergibt sich seiner Frau kampflos.
Ameny und seine Familie
Ameny (Kurzform von Amen-em-het) – Amun ist an der Spitze
Zweiter Amunprophet, der unversehens große Verantwortung bekommt.
Isis – Name der Göttin Isis
Amenys Frau. Sie bekommt einiges mit, verliert aber selten ein Wort darüber.
Huni und Bata
Zwillingssöhne der beiden, denen Untätigkeit nicht bekömmlich ist.
Im Haus des Lebens/Amuntempel
Imhotepanch (Imhotep-anch) – Imhotep möge leben
Vorsteher der Ärzte, der gern alles schön klar hat.
Useret – Die Mächtige
Ärztin, die ein Rätsel umgibt.
Iriamun (Iri-Amun) – Der zu Amun gehört
Erster Prophet, der an Altersschwäche leidet.
Duamutef (Dua-Mut-ef) – Der seine Mutter verehrt
Der Dritte Prophet kann Männer gut leiden.
Djedefre (Djed-ef-Re) – Seine Dauerhaftigkeit ist Re
Der Vierte Prophet erleidet einen Schlangenbiss.
Kagemni (Ka-gemni) – Ich habe meinen Ka gefunden
Sein Nachfolger hat deswegen kein Mitleid.
Hemiunu (Hem-Iunu) – Diener des Gottes von Iunu (Re)
Vorsteher der Gottesdiener, der leidet, wenn seine Gehilfen ihn überflügeln.
Sehetep – Der zufriedenstellt
Seine Rechte Hand, der leidvolle Erfahrungen machen muss.
Neb-Wenenef, genannt Wenen – Herr seiner Existenzen
Gottesdiener, dem manches leidtut.
Setka (Set-Ka) – Sitz des Ka
Gottesdiener, der nicht wohlgelitten ist.
Neferka (Nefer-Ka) – Schöner Ka
Gottesdiener, der sich seine Studien nicht verleiden lassen will.
Bai – Mein Ba
Gottesdiener, der schnell beleidigt ist.
Im Haus des Todes
Hut-Nefer – Schönes Haus
Der Vorsteher der Balsamierungshalle, Hüter dunkler Geheimnisse.
Cheper – Entstehung, Wiedergeburt
Balsamierer, der Hori gern behüten würde.
Hornacht (Hor-nacht) – Horus ist stark
Balsamierer auf der Hut.
Nebkaure (Neb-kau-Re) – Der Herr der Kas ist Re
Ein Vorlesepriester, vor dem man sich hüten sollte.
Merit-Ib – Geliebtes Herz
Seine Frau, die sich hütet, etwas preiszugeben.
Weitere Personen
Thotnacht – Des Königs oberster Schreiber.
Tep-Ta – Einer der Leibärzte des Königs.
Senanch – Vorsteher der Medjay.
Monthnacht – Kommandant der Werytwache.
Sennedjem – Palastwache.
Rahotep – Sein Vetter, Werytwache.
Geheset – Hebamme.
In der Stille des Totenreichs hallte jedes Geräusch überlaut. Rahotep schwitzte trotz der steten Brise vom nahen Fluss. Er sollte die Nordseite der im Dunkel aufragenden Mauern der Totenstadt abschreiten, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Ihr Götter, was hatte er nur getan, um das zu verdienen? Ein einziges Mal in seiner langjährigen Dienstzeit bei den Leibwächtern des Königs war er während einer Nachtwache eingeschlafen und gleich erwischt worden. Der Kommandant verstand bei so etwas keinen Spaß, hatte ihn eh schon auf dem Kieker. Rahotep dachte an seine Frau und ihrer beider jüngstes Kind, dessen Gebrüll ihn tagsüber daran hinderte, die versäumten Nachtruhe nachzuholen. Musste der Junge sich beim Zähnekriegen so anstellen? Deswegen war er vorgestern in die Strafgarnison versetzt worden, deren Insassen den schaurigsten Dienst in den Beiden Ländern versehen mussten: die Weryt bewachen. Zwar nur für einen Monat, aber schlimm genug.
Schon letzte Nacht hatte ihn diese Aufgabe mit Grauen erfüllt. Die Geräusche aus der Dunkelheit, das Heulen der Dämonen in den Bergen … Die Luft bestand hier nicht aus Leere, wie er sie kannte, sondern war körperlich, greifbar, angefüllt mit den Schatten der Verstorbenen. Er konnte spüren, wie sie um seine Beine strichen, seinen Nacken küssten –
Ein lautes Jaulen durchbrach die Stille. Rahotep machte einen Satz und rannte auf den Fluss zu, wo sich der Steg mit dem rettenden Boot befand. An der Ecke der Werytmauer wäre er beinahe mit einem seiner Leidensgenossen zusammengeprallt.
»Zurück mit dir!«, schnauzte ihn der Kerl an. »Hast wohl gedacht, du kannst die Fliege machen? Das kostet aber, wenn wir wegsehen sollen, und ein Ersatzboot musst du uns auch ranschaffen.«
Die Züge des Kerls konnte Rahotep nicht ausmachen, aber die Stimme hatte er erkannt. »Schon gut, Tutu, ich dachte, wir könnten ein Schwätzchen halten.«
Der Dicke lachte nervös. »Hast Schiss. Haben wir alle. Na von mir aus.«
Rahotep warf einen unsicheren Blick über ihn hinweg zu der anderen Gestalt, die sich im Licht des Mondes abzeichnete. Am Tor zur Totenstadt waren die Männer zu zweit, anders als an Süd-, Rück- und Nordseite des Areals. Warum Monthnacht, der Kommandant, das angeordnet hatte, war ihm ein Rätsel. Wieso musste der Fluss besonders aufmerksam im Auge behalten werden? Welcher Dummkopf würde sich freiwillig nachts in die Gefilde der Toten wagen? Da bestand eher Gefahr, dass einer vom Wachtrupp die Beine in die Hand nahm. Er fühlte sich durchschaut und war zugleich angewidert. Bestechung! Manche Leute befanden sich zu Recht an diesem Ort. Nein, das war nichts für ihn. Desertion bedeutete die Steinbrüche, wenn man erwischt wurde, und er hatte doch Familie. »Schon gut. Ich werde es einfach durchstehen. Ist ja nicht für lange.«
»Ja, du Glücklicher«, knurrte Tutu. »Ich habe noch ein ganzes Jahr vor mir.«
Widerwillig wandte Rahotep den Trost verheißenden Lichtern am andern Ufer den Rücken zu und begann seine Runde entlang der Mauer von Neuem. Je tiefer er ins Schattenreich vordrang, desto unheimlicher wisperten die Stimmen der verlorenen Seelen. In einem jähen Windstoß peitschten Sandkörner zischend gegen Stein. Es klang nach einer Schlange, der Schlange der Duat. Nicht mehr weit bis zu dem Kanal, der unter der Mauer hindurchfloss. Ihm graute davor, das Gewässer zu überspringen, das nichts anderes als der Anfang des Flusses sein konnte, auf dem die Verstorbenen ihre Reise in die Unterwelt antraten und an dessen Ufern Dämonen lauerten. Jedes Mal befürchtete er, im aufgerissenen Rachen eines Ungeheuers zu landen. Musste er wirklich die hintere Hälfte der Mauer abschreiten? Dort war nur pechschwarze Finsternis, in der wer weiß was auf ihn warten konnte … Doch es war seine Pflicht! Er erreichte die steinerne Umrandung und schloss kurz die Augen. Komm, du schaffst das, sprach er sich selbst Mut zu und setzte zum Sprung an.
Prustend und schnaufend durchbrach etwas die Wasseroberfläche. Eine dunkle Gestalt erhob sich aus dem Totenfluss! Rahotep erstarrte. Er wollte sein Entsetzen hinausschreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er konnte sich nicht rühren, obwohl der rasende Takt seines Herzschlags seine Beine anzubrüllen schien: Lauft doch, lauft! Das Ungeheuer stieg aus dem Kanal. Es fauchte, kam auf ihn zu, stürzte sich auf ihn …
Jahr 2 des Pharaos Sesostris, der Dritte dieses Namens, der den Horusthron bestiegen hat. Tag 3 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit
»Schhhht.« Gebieterisch legte die Große Königliche Gemahlin Scherit einen Finger an die Lippen, und das Geplapper der Frauen im Raum verstummte.
Als könnte ich besser spüren, ob das Kind sich bewegt, wenn sie leise sind, dachte Hori. Seine Hand lag auf dem kaum gewölbten Bauch Nofrethenuts, der zweiten Gemahlin des Pharaos. Tatsächlich war die Stille wohltuend. Seine Finger konnten den Kopf des Kindes im Mutterleib ertasten, doch keine Bewegung der Gliedmaße. Nachdem er sich eine Weile vergeblich abgemüht hatte, erfasste ihn Angst. Hoffentlich hatten die Götter den Lebenshauch des Kindes nicht bereits vor der Geburt durchtrennt! Sie hätten Nachtmin rufen sollen, der es viel besser als er verstand, mit seinen Händen unter die Haut zu sehen. Pharao wünschte sich sehnlich einen Sohn und Erben des Horusthrons, nachdem Königin Scherit ihr Ungeborenes erst jüngst verloren hatte. Nicht nur der Verlust des Kindes wäre schlimm, auch die Mutter wäre in Gefahr, wenn sich bestätigte, was er befürchtete. »Wie lange ist es her, dass du zum letzten Mal das Leben in deinem Leib gespürt hast?«, fragte er.
Nofrethenut schloss die Augen und runzelte die Stirn. »Ich … ich bin nicht sicher. Drei Tage?« Sie riss die Lider auf und musterte ihn, als könne er ihr die Antwort geben.
Hori seufzte. Es war die erste Schwangerschaft der zweiten Gemahlin, also war sie darin noch unerfahren, und das machte ihr Angst. Mehrfach schon waren er und Nachtmin in den vergangenen Wochen von aufgeregten Palastbediensteten gerufen worden, um nach der Königin zu sehen, denn als Geringste unter den Leibärzten des Pharaos oblag ihnen die Betreuung der Bewohnerinnen des Frauenhauses. Hebammendienste gehörten eigentlich nicht dazu, doch in diesem Fall sah Hori seinem König das nach. Sesostris war zwar noch jung und würde sicherlich viele Söhne zeugen; bislang aber waren seinen Lenden nur Töchter entsprossen, und ein Horus im Nest pflegte die Beiden Länder aufatmen zu lassen.
Bei ihren vorigen Besuchen hatten Nachtmin und er die werdende Mutter stets beruhigen können – und den nicht minder erregten königlichen Vater. Bei Bes, Schutzgott der Schwangeren – er wollte nicht derjenige sein, der dem Pharao die traurige Botschaft verkünden musste. Ein Windzug drang durch die hoch gelegenen Belüftungsschlitze und erfasste das hauchfeine Leinen, das um das Lager der Königin herum von der Decke hing, um ihr einen von Insekten ungestörten Schlaf zu gewähren. Mit der Brise drang der schwere Duft von Blumen aus dem königlichen Garten herein, unterlegt mit einem für diese Jahreszeit typischen Geruch nach in der heißen Sonne trocknendem Schlamm von den Ufern des zurückweichenden Flusses. Er roch anders als der frische Nilschlamm, der nach der Überschwemmungszeit auf den Feldern zurückblieb, modriger. Plötzlich hatte er das Bild einer im Mutterleib faulenden Frucht vor Augen, und das brachte seine Gedanken zurück zu den Ereignissen vor sechs Monden. Verfaulte Früchte … Der Gedanke an das in Schande gezeugte Kind der Frau, deren Name verfemt war, ließ ihn noch immer schaudern, doch Sesostris liebte seine vierte Tochter trotz ihrer Herkunft innig. Ein schönes Kind, aber der Blick aus ihren Augen … Da, ein Flattern, war das –? Nein. Reiß dich zusammen!, ermahnte er sein Herz, dessen heftiges Pochen auch seine Finger erbeben ließ. Er musste sich auf die werdende Mutter konzentrieren. Vielleicht sollte er doch lieber seinen Freund mit den magischen Händen dazurufen lassen?
Er spürte, dass die Frauen ihn anstarrten. Wenn sie doch nur gehen würden und ihn mit der Patientin allein ließen! Ruckartig sah er auf, um sie hinaus zu scheuchen. Vor Schreck fiel einer der Dienerinnen, noch ein halbes Kind, das Tablett mit Erfrischungen aus den Händen. Das Scheppern ging Hori durch Mark und Bein, aber bevor er schimpfen konnte, spürte er ein eindeutiges Zucken unter seinen Händen. Das Kind lebte! Vor Erleichterung lachte er auf. »Der kleine Prinz hat nur ein Schläfchen gehalten. Dank dir ist er nun wach.«
Verlegen sammelte die Dienerin die Scherben auf.
Königin Scherit ließ den angestauten Atem entweichen. »Dieses Mal sollst du nicht bestraft werden, Anat, aber lege endlich deine Schreckhaftigkeit ab. Und nun raus mit euch, alle!« Sie wedelte Konkubinen und Dienerschaft hinaus. Als Hori mit den beiden Gemahlinnen allein war, neigte sie entschuldigend den Kopf. »Schon wieder hast du dich umsonst herbemüht.«
Hori erhob sich aus seiner Hockstellung und glättete mit einer Handbewegung seinen gestärkten Schurz. »Es ist stets eine Ehre, euren Majestäten zu Diensten zu sein.« Oh weh, das klang ja, als sei es eine lästige Pflicht! Schnell setzte er das Lächeln auf, von dem er wusste, dass es Frauenherzen schmelzen ließ wie einen Salbkegel in der Sonne. »Und natürlich ist es immer eine Freude für meine Augen, sich an eurem Anblick zu laben.«
Nofrethenut kicherte hinter vorgehaltener Hand. So schnell vergaß sie die ausgestandene Angst, war schon wieder die junge, unbeschwerte Frau, die er kannte und deren Mädchenhaftigkeit die gut zwei Ehejahre an der Seite des Herrn der Beiden Länder nicht hatten dämpfen können. Königin Scherit, um einiges älter als sie und auch ihr Gemahl, hob spöttisch die Brauen, dann wanderte ihr Blick über die am Boden verstreuten Datteln, die teils in der Pfütze aus Palmwein lagen, vermischt mit kleineren Scherben. »Soll ich dir etwas anderes bringen lassen?«
Hori schüttelte den Kopf. »Es wird bald dunkel, und ich bin müde. Ich will nur dem Pharao Bescheid sagen, dass es seinem Erben gut geht, und dann in mein Anwesen zurückkehren.«
Für den Rückweg nach Hause brauchte Hori nicht lange; sein prächtiges Anwesen lag im Viertel der Beamten unweit des Palastes. Er war schon fast da, als er aus keinem bestimmten Grund einen Schlenker machte und statt durch das Tor die Mauer entlang zum Nilufer hinabschritt, von wo ihm der dumpfe Geruch des Schlamms in die Nase stieg. Über den westlichen Bergen funkelten die ersten Sterne, und Hori drehte sich zur Stadt zurück, um zu schauen, ob der Mond bereits am Himmel erschienen war. Aber nur die Fackeln und Glutbecken auf den Hausdächern erhellten die Finsternis, die während der letzten Minuten abrupt hereingebrochen war. Es wirkte, als schwebten einige der Flammen körperlos in der Dunkelheit. »Magisch«, murmelte er und schüttelte sich. Die Macht der Magie war etwas, das er seit seiner Lehrzeit in der geheimen Balsamierungsstätte, der Weryt, zu fürchten gelernt hatte. Was war das heute nur? Warum konnte er das Gefühl kommenden Unheils nicht loswerden? Den Pharao hatte er beruhigen können, sein eigenes Herz jedoch nicht. Er streifte seine Binsensandalen von den Füßen und schlüpfte an der Mauer vorbei, die sein Grundstück bis zum Wasser von ungebetenen Gästen abschirmte. Um diese Jahreszeit stand der Fluss allerdings so niedrig, dass er fast trockenen Fußes in seinen Garten gelangen konnte. Sobald er das Uferschilf hinter sich gelassen und den Kies des Weges zum Haus unter seinen Sohlen spürte, wischte er sich den Schlamm von den Füßen und zog die Sandalen wieder an. Sein Gesinde würde es nicht zu schätzen wissen, wenn er den mit Gemälden geschmückten Fußboden in der Halle verunzierte. Sein Gesinde – noch immer hatte er sich nicht recht daran gewöhnt, jetzt einen eigenen, nicht unbeträchtlichen Hausstand zu besitzen, manchmal Segen, bisweilen lästige Verantwortung. Sein Leibdiener Sheser, wie immer besorgt um ein seiner Stellung angemessenes Auftreten, würde bei seinem Anblick missbilligend mit der Zunge schnalzen. Die Dienerin Heqet allerdings … Hori lächelte. Das Mädchen versüßte ihm bereitwillig die einsamen Nächte. Ja, er würde sie heute zu sich rufen.
Gemächlich schlenderte er auf den Lichtschein zu, der aus seinem Haus drang, als ihn ein Pfiff von der jenseitigen Gartenmauer innehalten ließ. Er trat näher heran. »Nachtmin?«
»Wer sonst?«, kam die Antwort, gedämpft durch die Ziegelwand zwischen ihnen.
Hatte sein Freund auf seine Rückkehr gewartet? Hori fühlte das Holz der Pforte unter seinen tastenden Händen, öffnete sie und trat hindurch. »Ich dachte, ihr seid heute Abend bei Ameny.« Wenn Nachtmins Schwiegervater Tochter und Eidam einlud, wurde es meist weit später als kurz nach Einbruch der Nacht. Allmählich konnte er die Gestalt seines Freundes ausmachen, und jetzt sandte auch der Mond sein blasses Licht in den Garten.
Die Schatten um Nachtmins Mund flohen vor seinem breiten Grinsen in das Netz aus Fältchen, das sich um die Augenwinkel herum bildete. »Muti ist unwohl …«
Einen Moment stutzte Hori, dann knuffte er seinen Freund in die Seite. »Na so was! Lange habt ihr euch nicht Zeit gelassen. Gerste oder Emmer?«
»Gerste.« Nachtmins Strahlen schien sich noch zu vertiefen.
Man musste kein Arzt sein, um diesen einfachen Test durchzuführen. Glaubte eine Frau, schwanger zu sein, benetzte sie jeden Morgen zwei Getreidesäckchen mit ihrem Urin. In einem befand sich Gerste, im anderen Emmer. Keimte das Getreide, so war die Frau guter Hoffnung, und sogar das Geschlecht des Kindes ließ sich ablesen, je nachdem, was zuerst spross. Nachtmin würde einen Sohn bekommen!
»Ich gratuliere. Habt ihr es Ameny schon gesagt?« Er spürte Nachtmins Kopfschütteln nur am leichten Luftzug, denn sie schlenderten nebeneinander her.
»Nein, du weißt doch, wie sehr er sich immer sorgt. Du warst aus?«
Hori schnaubte. »Mal wieder ein Notruf aus dem Palast. Diesmal habe ich selbst bereits befürchtet, dass etwas nicht stimmt. Die Königin hatte schon einige Tage keine Kindsbewegungen mehr gespürt. Ich konnte erst auch nichts fühlen.« Er verstummte und glaubte fast, Nachtmins Gedanken hören zu können, ein Echo seiner eigenen.
»Es hat sehr lange gedauert, bis sie schwanger geworden ist«, murmelte sein Freund schließlich. »Mehr als zwei Jahre.«
Unausgesprochen hing zwischen ihnen das Wissen, dass Frauen, die schwer empfingen, oft auch Probleme hatten, die Kinder auszutragen. Hori zupfte eine Blüte von einem Busch und sog tief den süßen Duft ein – Jasmin. »Jedenfalls war dann doch alles gut. Es gab einen Krach, und da ist unser kleiner Prinz erwacht.«
Nachtmins Lachen klang halbherzig. »Ich werde Ameny bitten, ihr ein besonders wirkmächtiges Amulett herzustellen. Mit dem Segen von Amuns Gemahlin Mut vielleicht?«
Noch ein Amulett – Hori hätte lieber mehr als das getan. Der Schutz der Götter war wichtig, aber er allein würde kaum ausreichen, wenn Nofrethenuts Leib die Frucht nicht zur Reife bringen konnte. Mehr als stärkende Tränke oder Klistiere, um die Metu genannten Gefäße ihres Körpers von üblen Krankheitsablagerungen zu reinigen, konnte er der Königin jedoch auch nicht verabreichen. »Es wird sie zumindest beruhigen und ihre Ängste beschwichtigen, die das Herz des Ungeborenen beschweren könnten. Die Götter mögen über den Horus im Ei ihre schützenden Schwingen halten.« Vor ihnen schälten sich die Konturen von Nachtmins Anwesen aus dem Dunkel. Hori hatte gar nicht gemerkt, wohin sie gingen.
»Ich habe einen Krug Oasenwein in meiner Speisekammer eingelagert«, verkündete Nachtmin. »Lass uns die düsteren Gedanken vergessen und auf meinen Sohn anstoßen.«
Hori nickte erfreut. Das war genau das Richtige, um die dunkle Stimmung abzuschütteln. Als er etliche Zeit später in seine Schlafkammer torkelte, erinnerte er sich kurz, dass er Heqet in sein Bett hatte holen wollen. Nein, heute brauchte er sie nicht.
Dröhnende Kopfschmerzen weckten Nachtmin und erinnerten ihn daran, dass Hori und er den Krug gestern bis zur Neige geleert hatten. Er verzog das Gesicht. Seine Zunge war trocken und pelzig, und er hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Mit einer Hand griff er den tönernen Becher, der auf dem kleinen Tischchen mit den Elfenbeinintarsien stand, und trank einen Schluck des frischen Wassers. Schon besser. Zum Glück schlummerte Muti noch. Sie war morgens immer erschreckend munter, während er schon unter normalen Umständen den Schlaf nur mühsam abschütteln konnte. Gäbe es doch einen Trank, der einen auf einen Schlag munter machte!, dachte er und mühte sich von der Lagerstatt. Sein Schädel dröhnte noch heftiger, sobald er aufrecht stand; der Türrahmen musste als Stütze herhalten. Noch fiel kein Sonnenlicht durch die Belüftungsschlitze in der Wand, die den Nordwind einfingen, und das war gut so. Die Helligkeit würde in seinen Augen nur schmerzen. Doch die Dämmerung nahte bereits. Ächzend schlurfte er den Gang hinunter zum Abort. Während er sich erleichterte, hörte er eine Tür schlagen und Schritte den Korridor entlangtappen – zu schwer für Muti, sicher die Köchin. Wenn Baketamun auf war, wäre es auch ihr Mann Inti. Der Gedanke an kaltes Wasser auf seiner Haut ließ Nachtmin wohlig aufstöhnen. Die Badeeinrichtung war dasjenige, das er wohl an seinem neuen Haus am meisten genoss. Inti pflegte ihn morgens kalt abzuduschen, sein Bart- und Haupthaar zu rasieren und, wenn Nachtmins Zeit es zuließ, ihn zu massieren. Ja, das würde den Kopfschmerz vertreiben! Er ging nach unten.
»Heute steht dein wöchentlicher Besuch im Haus des Lebens an, Herr. Ich sollte dich doch an die Arznei für den wunden Euter unserer Ziege erinnern.«
Nachtmin fuhr auf. »Was?« Auf der Bank war er unter Intis kundigen Händen erneut weggedöst. Nur allmählich sickerten die Worte seines Dieners in seinen Verstand. »Ach richtig. Ja, ich werde daran denken.«
Einige seiner Arztkollegen verstanden sich recht gut darauf, Salben und Tinkturen für kranke Tiere herzustellen, und im Grunde war die Kunst, Vieh zu heilen, nicht so verschieden von der, Menschen zu kurieren. Ein gebrochener Lauf musste genauso geschient werden wie ein Beinbruch beim Menschen. Und besaßen nicht auch sie einen Ka und einen Ba? Die himmlischen Gefilde waren gewiss von mannigfachem Getier bevölkert, sonst wäre es dort recht öde. Seine Gedanken begannen über diesen Fragen zu verschwimmen. Hori. Hori würde es wissen, ob ein Tier eine Mumifizierung brauchte, um das Totengericht zu passieren. Ein Name … Das Tier brauchte einen N …
»Herr? Du solltest dich sputen, willst du noch dem letzten Teil des Morgenhymnus an Amun beiwohnen.«
Als Nachtmin benommen den Kopf hob, sah er eine kleine Speichelpfütze auf der Bank und fuhr sich verlegen über Mund und Wange. War er schon wieder eingeschlafen! In seinem Kopf schien ein Steinmetz zu sitzen, der einen Holzschlegel mit dem Hammer bearbeitete. Da half wohl alles nichts, er würde sich selbst im Haus des Lebens verarzten müssen, bevor er irgendjemand anderen kurieren könnte. Ächzend schwang er sich von der Liegefläche und stützte sich schnell an der Wand ab, während Inti unter missbilligenden Zischgeräuschen den Schurz um seine Lenden wickelte. Das gestärkte Leinen knisterte leicht, als Nachtmin es glatt strich. Inti reichte ihm seine Perücke, aber Nachtmin wehrte kopfschüttelnd ab – und bereute es sogleich. Nein, heute könnte er keinen weiteren Druck auf dem Schädel ertragen. Ein prachtvoller Halskragen mit Perlen aus Türkis, Lapislazuli und Karneol rundete sein Erscheinungsbild ab. Muti schlief noch, als er sich von ihr verabschieden wollte. Die Schwangerschaft beanspruchte ihren Körper bereits, also gab er ihr nur einen zarten Kuss. Im Speisezimmer nahm er etwas Obst und einen großen Schluck Wasser zu sich, bevor er in seine Sandalen schlüpfte und sich auf den Weg machte.
Die frische Morgenluft trug eine kühle Brise vom Nil herauf und machte ihn munter. Weit musste er nicht gehen, bis er in die von Sphingen gesäumte Prachtstraße zum Amuntempel einbog. Die ersten Strahlen Res ließen die menschenköpfigen Häupter rosig aufglühen. Noch waren die Schatten lang, und unter dem mächtigen Pylon war es nachgerade finster. Gleißend strahlte die Spitze des Obelisken in der Mitte des Tempelhofs. Sesostris’ Vorfahre Sesostris I. hatte ihn errichten und seine Spitze mit Elektron verkleiden lassen, damit der Glanz und die Macht des Sonnengottes Amun-Re sich darin spiegelten. Nachtmin wusste als Wabpriester auch, dass der Verlauf des Schattenwurfs der spitzen Steinnadel ein Sinnbild für Amun-Res tägliche Himmelsreise in der Sonnenbarke war.
Er überquerte den Hof und betrat den Tempel, aus dessen Allerheiligsten die Klänge des Morgenhymnus drangen. Jeden Tag begrüßte der Erste Prophet des Amun den Gott mit diesem feierlichen Gesang, der Nachtmin stets mit einem Gefühl des Friedens und der Hoffnung erfüllte. Das Allerheiligste selbst durfte er als Wab, also Priester des niedersten Ranges, natürlich nicht betreten, das oblag allein den vier Propheten des Gottes und den hochrangigen Gottesdienern, welche die Statue Amuns nach dem Gebet waschen, sie mit kostbaren Ölen salben, hernach in feinstes Leinen kleiden und dem Gott Nahrung und Trank anbieten würden. Nachtmin lehnte sich an eine der reich bebilderten Säulen und ließ die Klänge auf sich wirken. Durch ein ausgeklügeltes System an Öffnungen oben in der Wand des Schreins konnten sie ungehindert in die Halle filtern und sich dort ihren Weg zwischen den Pfeilern suchen, bis sie die Ohren der Andächtigen erreichten.
Er war nicht der einzige Arzt an diesem Morgen, der dem Gesang lauschte. Als er sich umsah, entdeckte er unter den Anwesenden Weni, mit dem er seine Ausbildung gemacht hatte, und nickte ihm knapp zu. Wie erwartet wandte der einstige Freund sich ab. Die Geschehnisse von damals, als Weni eine Falschaussage zu Horis Ungunsten getätigt hatte, standen zwischen ihnen, sicher auch Neid. Weni, der wegen Nachtmins geringer Herkunft immer ein wenig auf ihn herabgeblickt hatte, missgönnte ihm seine neue Stellung als einer der Leibärzte des Pharaos. Jedenfalls glaubte Nachtmin das, doch wenn er ehrlich zu sich war, ging das Unbehagen vielleicht mehr von ihm selbst aus. Noch immer konnte er die unglaubliche Erhöhung nicht fassen, die der Pharao – er möge leben, heil und gesund sein – ihm hatte angedeihen lassen. Das war auch der Grund, warum er einmal wöchentlich ins Haus des Lebens zurückkehrte, um die Armen zu behandeln, obwohl er dies nicht mehr gemusst hätte. Die Zeiten, da der Vorsteher der Ärzte ihn zu diesem schlecht entlohnten Dienst hatte einteilen dürfen, waren lange vorbei. Heute war er nicht mehr auf die kümmerlichen Gaben der Bedürftigen angewiesen, um seinen Lebensunterhalt zu fristen, und so sah er es als eine Art Opfer, Abbitte und Dank dafür, dass er, der arme Junge aus Chenmet-Min in Oberägypten, nun in feines Linnen gewandet einherschreiten und den König selbst berühren durfte.
Weni drehte sich um und ging. Das Klatschen seiner Sandalen hallte laut von den Wänden wider, und da bemerkte Nachtmin, dass der Gesang verstummt war. Rings um ihn herum raschelten gestärkte Schurze, weitere Priester, Wabu und Hemu-Netjer, die sich ihrem Tagwerk zuwandten. Die Wabu versahen die niedrigen Dienste im Tempel, hielten das Tempelgelände sauber und sorgten für die Bedürfnisse der Hemu-Netjer genannten Gottesdiener, aus deren Reihen der Pharao die vier Propheten eines Gottes ernannte. Der Rang eines Wab war außerdem nötig, um im Haus des Lebens studieren zu können, in dem Schreiber und Ärzte ebenso ausgebildet wurden wie künftige Priester höherer Ränge. Zwei Gottesdiener gingen an Nachtmin vorbei, ohne ihn zu beachten, ganz in ein Gespräch vertieft, das sich um die Einlagerung der Opferspenden drehte.
Aus dem Gang, an dem das Heiligtum lag, kamen die ersten der hochrangigen Hemu-Netjer geschlendert. Offenbar war das Morgenritual vollendet. Während Nachtmin sich verbeugte und die Hände in Kniehöhe vorstreckte, schielte er nach den Schwänzen der Pantherfelle, die ihre Träger als einen der Propheten auswiesen, von denen sein Schwiegervater einer war. Plötzlich drängte es ihn, Ameny die frohe Botschaft zu verkünden, dass Muti ein Kind erwartete. Er blieb in der unbequemen Bückhaltung, bis alle Hemu-Netjer an ihm vorbei waren, doch scheinbar hatten die vier Propheten einen anderen Weg genommen. Sein Schädel pochte wieder dumpf, und als er sich aufrichtete, war ihm schwindelig. Ich sollte mich mit dem Wein mehr zurückhalten, und wenn es noch so nett ist, mit Hori zu zechen, dachte er missmutig.
Beim Verlassen des Tempels kam er an einem Gottesdiener vorbei, der in ein Gebet versunken schien. Der hatte wohl nicht bemerkt, dass das Ritual bereits beendet war. Oder wartete er auf etwas? Na, der Vorsteher würde ihm schon Beine machen, wenn er ihn erwischte. Gebete waren für das Volk; Priestern aber oblag es, für die Bedürfnisse der Götter zu sorgen. Nachtmin grinste bei der Vorstellung, wie der dicke Hemiunu seinen Stock auf dem Rücken des armen Kerls tanzen lassen würde, und wurde für seine Schadenfreude gleich selbst mit einem stechenden Schmerz in der Schläfe bestraft. Höchste Zeit für den Trank aus Weidenrinde mit einem Hauch Mohnkapseln, der wahre Wunder bewirkte.
Etwas später war Nachtmins Kopf kuriert und seine grüblerische Laune verflogen. Während er die Wunden seiner Patienten versorgte, widmete er seine Aufmerksamkeit ganz ihnen und ihren Problemen. Als er Stunden später das nächste Mal an seinen Schwiegervater dachte, verschob er die Verkündigung von Mutis Zustand lieber auf einen anderen Tag. Seiner Liebsten wäre es vielleicht nicht recht, wenn er das ohne sie täte, und Mutnofrets Unmut zu erregen, war etwas, das er nicht gern in Kauf nahm.
Tag 5 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit
Während Nachtmins Besuchen im Haus des Lebens vermisste Hori die Gesellschaft seines Freundes. »Gut, dass du heute wieder da bist«, hieß er seinen Freund willkommen und knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite. »Wie lange willst du eigentlich noch im Haus des Lebens Dienst tun? Niemand verlangt es von dir.«
Sie hatten gerade den Palast durch das große Doppeltor betreten und wandten ihre Schritte in Richtung Frauenhaus. Nachtmin sah ihn verwundert an. »Du bist doch selbst jeden Monat für einige Tage in der Weryt, um dort die Kranken zu versorgen und dich in den geheimen Künsten zu üben.«
Immer dieser bissige Unterton, wenn er auf die Balsamierungshalle zu sprechen kam! Konnte man Nachtmins Freiwilligendienst mit seinen Besuchen dort vergleichen? »Nein, das ist etwas ganz anderes. Die geheimen Künste, wie du sie zu nennen beliebst, nützen mir auch als Arzt. Und du weißt, dass ich dir mehr darüber nicht sagen darf.« Zudem fühlte er sich Cheper gegenüber verpflichtet, dem Mann, der ihm mehr Vater geworden war als sein eigener. Von solchen Dingen verstand Nachtmin nichts, der nach dem frühen Tod seiner Familie in Ameny und dessen Frau Isis liebevolle Ersatzeltern gefunden hatte und außerdem mit Mutnofret glücklich war. Doch er wollte sich nicht streiten, also ließ er es dabei bewenden.
Wie aufs Stichwort kam ihnen sein Bruder Teti entgegen, der als neuer Schatzmeister seiner Majestät ebenfalls von Horis Abenteuer im letzten Jahr profitiert hatte. Trotzdem war seine Dankbarkeit über die Beförderung nicht von langer Dauer gewesen.
»Sei gegrüßt«, sagte Hori und blieb stehen. Nachtmin tat es ihm gleich.
»Hori …?« Teti drängte sich an ihnen vorbei. Er hatte nicht nur an Würde, sondern auch an Leibesfülle gewonnen.
Hori presste die Lippen zusammen. Manche Dinge änderten sich nie. »Zu Hause alle wohlauf?«
Teti grunzte unverbindlich.
»Grüße Mutter von mir. Und Vater …«, rief er dem enteilenden brüderlichen Rücken nach.
»Du solltest deine Eltern öfter besuchen«, stellte Nachtmin fest. »Dann wüsstest du auch, wie ‑«
Gereizt fiel Hori ihm ins Wort und sagte nun doch das, was er zuvor aus gutem Grund unausgesprochen gelassen hatte: »Was weißt du schon davon? Du mit deiner Frau und jetzt bald deinem K …« Schon bereute er es. »Warte! Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Ich wünschte nur, ich hätte, was du hast.«
Doch Nachtmin war bereits steifen Schrittes um die nächste Ecke gebogen. Tränen brannten in Horis Augen. Dabei tat er sich nur selbst leid, wie erbärmlich. Sein Bruder war ein kaltherziger Mistkerl, doch er hätte seinen Ärger nicht an Nachtmin auslassen sollen, der oft etwas empfindlich war. Und dabei hatte er sich so auf die heutige Zusammenarbeit gefreut! Er stürmte um die Ecke und prallte mit voller Wucht in einen Mann, der es wohl seinerseits eilig hatte.
Während Hori sich die Stirn rieb, begann der andere, dessen Perücke und Insignien ihn als Palastboten auswiesen, zu zetern: »Was fällt dir ein? Kannst du nicht aufpassen?« Er stöhnte und fasste sich ebenfalls an die Stirn.
Hori erschien es, als sähe er sein Spiegelbild im Wasser eines Teiches. »Verzeih«, murmelte er. »Lass mich das ansehen. Ich bin Arzt.«
Der Bote ließ die Hand sinken. »Oh. Dann kannst du mir vielleicht helfen. Ich suche den Heiler Hori, Sohn des Sobekemhat.«
»Du hast ihn gefunden.« Horis Finger glitten über die leichte Schwellung, die sich über der linken Augenbraue des Mannes abzuzeichnen begann. »Nicht weiter schlimm, nur eine Beule. Ich kann dir einen Trank zubereiten, der Kopfweh lindert, wenn du Schmerzen bekommst.«
»Hab Dank!« Ein Lächeln glitt über die Züge des Boten und verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Dafür wird dir leider keine Zeit bleiben. Mein Auftrag lautet, dich zum Pharao – er möge leben, heil und gesund sein – zu bringen.« Sein Arm wies auffordernd in den Gang, aus dem Hori gerade gekommen war, während er sich schon in Bewegung setzte.
»Warte!«, rief Hori. »Nur mich, nicht auch den Arzt Nachtmin?«
Sein Begleiter hielt inne und wandte den Kopf. »Nur dich. Nun komm.«
Der Mann hatte es wirklich eilig, seinen Auftrag zu besorgen. Was konnte so dringend sein? Und hatte da eben etwas wie Furcht in den Augen des Kerls geflackert? »Ähm, ich würde gern noch jemandem Bescheid geben, wo ich bin. Man erwartet mich.«
Selbst der Rücken des Mannes strahlte Verärgerung aus. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, marschierte er weiter. Hori stapfte widerstrebend hinterdrein. Zu dumm, nun musste er den kleinen Streit mit Nachtmin ungelöst lassen. Er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er auf der Kränkung herumkauen würde wie ein Hund auf einem Knochen, und am Ende des Tags wäre er Hori gegenüber nicht milder gestimmt. Dass er ohne ein Wort der Erklärung seinen Pflichten fernblieb, würde auch nichts zu Nachtmins Besänftigung beitragen, doch was sollte er tun? Dem König den Gehorsam verweigern?
Der Bote führte ihn sicheren Schritts durch das Labyrinth des Palasts, das Hori nicht einmal zur Hälfte kannte. Noch immer verirrte er sich leicht in den Fluren mit den zahllosen Türen, hinter denen sich die Amtsstuben der Verwaltungsbeamten der Beiden Länder verbargen: Steuer- und Provinzverwaltung, Schreibstuben, Archiv, das Schatzamt und vieles mehr, dazu kamen die Lager und Werkstätten, die zum königlichen Haushalt gehörten. Wer konnte schon sagen, in welchem Gang sich was befand? Das Große Haus war eine Stadt inmitten der Residenz. Als er jedoch auf einer Tür, an der sie vorbeischritten, die Bezeichnung Tjati, Wesir, entziffern konnte, wusste er, dass sie dem Herzen der Beiden Länder ganz nahe waren, dem Arbeitszimmer des Pharaos. Hori drehte den Kopf in der Hoffnung und Furcht zugleich, die Tür des Wesirs werde sich öffnen, denn der höchste Beamte Kemets war Sobekemhat, sein Vater. Vielleicht sollte sich dieser ebenfalls beim König einfinden. Welches Anliegen mochte es sein, das Horis Anwesenheit erforderte? Er war sicher nicht wegen einer Behandlung gerufen worden, und ausgefressen hatte er auch nichts. Wie das klang – er war doch kein Bengel mehr, den man herzitierte, um sich Rutenstreiche abzuholen.
»Da sind wir.« Der Bote öffnete die Tür an der Stirnseite des Gangs und entledigte sich seiner wie einer Lieferung Stroh. Während Hori noch neugierig in das Vorzimmer spähte, stob der Mann davon, als hätten sich die Ungeheuer der Duat an seine Fersen geheftet.
Merkwürdig. Er durchschritt den Raum bis zur Pforte, neben der Sesostris’ Diener Atef stand, dessen Aufgabe es war, den Besuchern des Königs den Weg freizugeben oder zu versperren. Auf den Bänken saßen allerdings keine Bittsteller, nicht einmal ein Bote aus einem der Gaue der Beiden Länder. Meist wimmelte das Vorzimmer des Königs vor Menschen, sogar Ausländern, Gesandtschaften der Wüstenvölker aus dem fernen Retjenu oder Kusch. Wo waren die Leute alle – oder hatte sie jemand vertrieben?
Atef hatte die Hand schon zum Klopfen erhoben, da dämmerte Hori endlich, wer ihn außer dem König auf der anderen Seite erwartete. Er trat in das schlicht eingerichtete Zimmer, das ihm inzwischen recht vertraut war, und verbeugte sich tief vor dem Pharao. Aus dem Augenwinkel aber hatte er den anderen Besucher bereits gesehen, dessen Antlitz das des Totengottes Anubis selbst zeigte. Dies war natürlich der Grund für die Furcht des Boten und das leere Vorzimmer. Nur selten betrat der Vorsteher der Weryt die Gefilde der Lebenden, und wenn, so trug er die Schakalmaske. Die Menschen der Beiden Länder erfüllte sein Anblick mit Schrecken, war es doch, als begegneten sie dem leibhaftigen Totengott.
»Erhebe dich, Hori, und setz dich«, forderte Sesostris ihn auf.
»Ich grüße den Starken Stier Ägyptens und auch dich, Hut-Nefer.« Er zog den Stuhl heran. Was führte den Werytvorsteher aus der Totenstadt heraus? Etwas musste in der Balsamierungsstätte vorgefallen sein, etwas Ernstes, sonst hätte eine Nachricht genügt. Eine Krankheit? Ein Unglück? »Wird meine ärztliche Kunst im Haus des Todes verlangt?«, platzte er heraus, unfähig, seine Neugier länger zu zügeln.
Der König zog unwillig die Brauen zusammen.
»Nicht der Arzt Hori ist es, den wir suchen, noch der Balsamierer Hori«, dröhnte die tiefe Stimme Hut-Nefers aus der Maske.
»Nicht?« In Horis Herzen wirbelten die Fragen durcheinander.
»Es ist ein Vorfall von großer Tragweite, der den Vorsteher der Weryt hierher führt. Du allein scheinst imstande, das Rätsel zu lösen.« Sesostris wirkte angespannt.
»Welches Rätsel?«
Hut-Nefer räusperte sich unbehaglich. »In einem der Krüge, in denen die Organe der Verstorbenen in Natron eingelegt werden, fanden sich zwei Herzen.«
»Oh.« Einen Moment wusste Hori, nicht was er darauf erwidern sollte. Dann versuchte er, Erklärungen zu finden. »Ein Versehen? Hat einer der Utu es falsch abgelegt?« Noch während er das sagte, wurde ihm klar, dass so etwas niemals geschehen konnte. Das zischende Schnauben aus der Maske bestätigte es. Hori kannte die Abläufe während der Balsamierung genau. Jeder Ut stellte die leeren Gefäße, die mit den Hieroglyphenbezeichnungen für Lunge, Leber, Magen, Gedärm und Herz beschriftet waren, neben seinem Tisch bereit, bevor er den Bauchschnitt vollzog und die Organe entnahm. Und zwar für jeden Toten von Neuem. Sobald die Körperteile mit dem trocknenden Salz bedeckt waren, wurden die Krüge versiegelt, und Etiketten mit dem Namen des Toten sorgten dafür, dass keine Verwechslung stattfinden konnte. Wenn also jemand in eines der Gefäße zwei Herzen gelegt hatte, so musste entweder der Verstorbene ein zweites gehabt haben – höchst unwahrscheinlich ‑, oder jemand hatte sich nachträglich an einem der Krüge zu schaffen gemacht und ihn danach wieder versiegelt. Derjenige konnte nur jemand innerhalb der streng abgeschirmten Mauern der Weryt sein. »Warum sollte jemand so etwas mit Absicht tun?« Er sah den beiden Männern ins Gesicht.
Pharao und Werytvorsteher schwiegen, vielleicht um Hori Zeit zu geben, selbst die richtigen Schlüsse zu ziehen. Jetzt erhob sich Hut-Nefer und ging ein paar Schritte. »Das, mein lieber Hori, ist genau die Frage. Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Aber … Dann müsste es auch einen Körper geben, dessen Herz fehlt.«
Sesostris unterbrach ihn. »Bevor ihr über Geheimnisse sprechen müsst, die nicht einmal meine königlichen Ohren vernehmen dürfen, lasse ich euch allein.« Er erhob sich.
»Majestät …« Hut-Nefer verbeugte sich.
Der König verließ das Zimmer durch einen Seitenausgang, der, wie Hori wusste, zum Palastgarten führte. Gern wäre auch er an die frische Luft gegangen, denn es war stickig im Raum, und um Hut-Nefer hing der Geruch des Todes. Den Pharao aus seinem eigenen Arbeitszimmer vertrieben! Erst jetzt wurde ihm klar, wie ernst diese Angelegenheit war. Hier ging es nicht um eine simple Schlamperei.
Der Mer-Ut stützte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte, und drohend senkte sich die Schakalmaske über Hori. »Das Herz kam allein in die Weryt, ohne den Leib, in dem es einst geschlagen hat, und niemand weiß, wie das geschehen konnte. Jeder Ut wurde befragt, selbst die Vorlesepriester verhört. Fehler können geschehen, gewiss, doch weiß jedermann innerhalb der Mauern, wie wichtig der richtige Ablauf ist. Hätte jemand vergessen, eines Toten Herz in das Gefäß zu legen, er hätte es noch vor Ende seiner Arbeit an dem Leichnam bemerkt und seine Nachlässigkeit auf die einzig richtige Weise behoben. Nein, wir müssen hier von Absicht ausgehen. Nur, was dahintersteckt, ist mir ein Rätsel.«
Jemand musste das Herz in die Balsamierungsstätte gebracht haben. Allein, das war ein Ding der Unmöglichkeit; niemandem aus der Welt der Lebenden war es gestattet, diese Pforten zu durchschreiten, nur dem Mer-Ut und – ihm selbst seit Kurzem. Ebenso wenig durfte jemand, der dort lebte, sie verlassen, außer beim Begräbniszug eines Angehörigen unter strenger Bewachung. Hori hatte das im vergangenen Jahr selbst leidvoll erfahren müssen. Aber halt! Er hatte doch einen Weg herausgefunden … Schuldbewusst senkte er den Blick. »Der Kanal.«
Der Vorsteher schüttelte bedächtig den Kopf. »Nachdem wir von deinem Schlupfloch erfahren hatten, haben der König und ich sofort dafür gesorgt, dass außerhalb der Mauer nachts Wachen ihre Runden ziehen.«
Die armen Kerle! Nur ungern erinnerte Hori sich an das Grauen, das ihn bei seinen nächtlichen Ausflügen oft befallen hatte. Die westliche Wüste war das Reich der Toten, und die Schatten der Verfemten und Verfluchten suchten sie heim. Freiwillig würde er dort nicht die Nacht verbringen wollen. Ob die Wachen nachlässig gewesen waren, sodass jemand unbemerkt unter der Mauer hindurch gekommen war? Aber nein, wer außer einer Handvoll Menschen wusste überhaupt von diesem Weg? Abgesehen von den Anwesenden nur noch der König, Ameny und Nachtmin. Keiner von denen würde etwas so Schreckliches tun. »Dann muss das Herz jemandem gehören, der in der Weryt gelebt hat und dort gestorben ist«, sinnierte er.
Die Schakalschnauze fuhr ruckartig zu ihm herum. »Ausgeschlossen. Niemand fehlt. Glaubst du nicht, daran hätte ich zuerst gedacht?«
Hori duckte sich unter der dröhnenden Vorhaltung. »Was genau erwartest du von mir?« Die Aufgabe schien ihm unlösbar.
»Kehre zurück in die Weryt, so als wollest du wie üblich deinen Dienst tun. Finde heraus, wer das Herz zu uns gebracht hat und wem es gehörte. Du weißt, was geschieht, wenn der Tote ohne sein Herz vor das Gericht tritt.«
Hori schluckte. »Kein Nachleben.«
Ernst nickte die spitze Schnauze. »Wir sind es demjenigen schuldig, dass dies nicht geschieht. Du gehst noch heute. Gleich jetzt.«
Nachtmin schlug die Pforte zu seinem Anwesen fester zu, als er beabsichtigt hatte. Der Knall machte den immer noch schwelenden Groll auf Hori nicht geringer. Spät war es, längst dunkel, aber so war das eben, wenn man für jemand anderen die Pflichten übernehmen musste, der auf der faulen Haut lag – oder was Hori auch sonst den ganzen Tag getrieben hatte. Ihm sein Glück zu neiden und ihn dann im Stich lassen – was war denn auf einmal mit seinem Freund los?
Inti kam herbeigeeilt. »Willkommen daheim, Herr. Wünschst du heute noch, meine Dienste in Anspruch zu nehmen?«
Erschöpft wischte Nachtmin sich übers Gesicht und rieb mit dem Daumen die Stelle über der Nasenwurzel. »Hat dein Weib mir etwas zu essen zurückgestellt?«
»Selbstverständlich.«
Ja, selbstverständlich, dachte Nachtmin. Sie sind es gewohnt, dass ich als Arzt zu später Stunde außer Haus bin. Trotzdem plagte ihn das schlechte Gewissen. Er hätte zumindest Muti Bescheid geben sollen, wie spät es heute werden würde, war es doch seit der Mittagsstunde abzusehen gewesen, dass Hori keinen Finger mehr krumm machen würde. Wieso nur hatte er ihn auch noch gedeckt, indem er seine Patienten mit versorgte? Wenn der König erfuhr, wie Hori sich heute aufgeführt hatte … Nein, so gemein war er nicht, seinen Freund zu verraten. Aber er musste ein ernstes Wort mit ihm reden.
Seine Schritte führten ihn aufs Dach des Anwesens, wo Muti und er in der heißen Jahreszeit zu essen und manchmal auch zu schlafen pflegten. Vom Gesindeflügel des Anwesens nahm Nachtmins Nase noch den Geruch des ersterbenden Kochfeuers wahr, mit dem Baketamun die Speisen zubereitet hatte. Gerade legten sie und Inti sich dort drüben auf ihren Schilfmatten nieder.
Hier oben war die Luft frischer und kühler als in den Räumen, in denen die Ziegel die gespeicherte Hitze des Tages wiedergaben. Im Licht des Mondes steuerte er auf das Tischchen zu, auf dem unter einem feinen Tuch die Reste des Abendessens bereitstanden.
»Ein langer Tag, mein Gemahl?« Die grazile Gestalt Mutnofrets erhob sich von ihrem Lager. Hatte sie schon geschlafen oder auf ihn gewartet?
Nachtmin umarmte sie, bevor er sich auf einem der Schemel niederließ, und seufzte. »Muti. Ich hab gehofft, dass du mir Gesellschaft leistest.« Er ergriff ihre Hand und legte sie an seine Wange.
Sie hob das Tuch an, und verführerische Düfte stiegen auf. Er verspürte gewaltigen Hunger, doch bevor er zugriff, berichtete er ihr von dem Streit mit Hori.
Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Das passt gar nicht zu ihm. Er ist mir nie vorgekommen wie einer, dessen Herz vor Neid zerfressen ist, weil andere ihr Glück gefunden haben.« Sie ließ sich ihm gegenüber nieder.
Nachtmin schnaubte. »Oh doch, da sind durchaus Schatten auf seinem Herzen, ich habe sie bereits kennengelernt. Dabei könnte er jede haben! Er müsste nur mit dem Finger schnippen.« Seine Stimme verebbte. Hori war im Grunde einer, dem alles von selbst zufiel, wo er immer hatte kämpfen müssen. Und dann sah der Kerl auch noch unverschämt gut aus und war viel selbstsicherer als er. Kunststück, bei der hochgestellten Familie.
»Du wirst ihn doch nicht beneiden, obwohl ich dich erwählt habe?«
Er lachte. »Niemals.« Das war ganz seine schnippische Muti. Sie hatte allerdings recht. Schnell unterdrückte er die Anwandlung von Selbstmitleid. »Du hast ihn heute nicht gesehen, oder?«
»Wie sollte ich?« Sie zwackte ihn spielerisch in den Arm. »Er war doch mit dir im Palast, mein überaus kluger Mann.« Er wollte gerade einwenden, dass Hori sich aus dem Staub gemacht hatte, da fügte Muti an: »Oh, da fällt mir ein, es ist eine Nachricht für dich abgegeben worden. Sie müsste noch unten liegen. Ich hole sie eben.« Sie stand auf, und ihr Gewand raschelte leicht in der nächtlichen Brise.
Das Leinen war so fein, dass das Mondlicht die Konturen ihres Körpers durchscheinen ließ, und mit einem Mal hatte er nur noch auf sie Appetit. »Warte«, sagte er und hielt sie fest. Seine Stimme klang rau vor Begehren.
Er rutschte mit dem Schemel ein Stück vom Tisch weg und zog sie auf seinen Schoß. Gierig küsste er sie. Nicht lange, und Muti hatte den Knoten seines Gürtels gelöst. Die Tuchbahn seines Schurzes glitt seine Hüften hinab und entblößte seine Erektion, auf die Muti sich mit einem lustvollen Stöhnen rittlings hinabgleiten ließ. Ihr Schlafgemach suchten sie an diesem Abend nicht mehr auf.
Erst beim Frühstück, das er im Garten einnahm, um Mutis Schlummer nicht zu stören, dachte Nachtmin wieder an die Botschaft, die sie erwähnt hatte, und bat Inti, sie ihm zu bringen. Mit offiziellem Siegel! Heiß fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Was, wenn es um etwas Wichtiges ging, und er hatte mit seiner Frau getändelt, statt seine Pflicht zu tun? Doch sobald er das Siegel erbrochen hatte, erkannte er Horis Handschrift und runzelte unwillig die Stirn. Was sollte das?
»An Nachtmin, Leibarzt seiner Majestät von Hori, der sein Freund ist.
Möge kein Schatten unsere Freundschaft trüben. Seine Majestät – er möge leben, heil und gesund sein – hat mich für einige Zeit in die Weryt befohlen. Dir und deiner Frau Gesundheit und Wohlergehen.«
Nachtmin ließ das Schreiben sinken, dann las er es noch einmal, ohne es recht zu begreifen. Sollte das eine Entschuldigung sein? Es klang fast so. Und war Hori deshalb gestern nicht zum Dienst gekommen, weil der König ihn gerufen hatte? Seit wann aber befahl Sesostris ihn in die Weryt? Horis regelmäßige Besuche dort waren seine freie Entscheidung, anders als damals, als das Urteil des Königs ihn verdammt hatte. Nur schweigen musste er weiterhin über diese geheimnisvolle Welt im Totenreich. Ärger wallte in ihm hoch. Noch mehr Heimlichkeiten? Als Mutnofret verschlafen die Nase zur Tür herausstreckte, reichte er ihr den Brief.
»Da siehst du es«, sagte sie.
»Ja, ich sehe es. Und verstehe es doch nicht. Aber es erklärt wohl, warum er gestern plötzlich verschwunden war. Ich musste all seine Patienten übernehmen. Was das zu bedeuten hat?«
»Wir werden es wohl nie erfahren.« Mutnofret setzte eine wichtigtuerische Miene auf und imitierte Horis Stimme, die manchmal etwas pompös klingen konnte. »Du weißt ja: Was in der Weryt ist …«
Er prustete los vor Lachen. »… bleibt in der Weryt, ja, ja.«
»Ob er daran gedacht hat, seinen Dienern Bescheid zu geben? Ich schicke Inti nachher hinüber.«
»Wie schaffst du es nur, immer an alles und jeden zu denken?« Liebevoll betrachtete er sie. Er hatte wirklich unglaubliches Glück.
»Jahrelange Erfahrung mit männlicher Nachlässigkeit.« Sie grinste.
Auf dem Weg in den Palast bereitete er sich darauf vor, wieder Horis Last mittragen zu müssen, während dieser alte Freunde besuchte. Er spürte den Stachel der Eifersucht in seinem Herzen und konnte ihn doch nicht herausziehen. Wenn Hori hinter den Mauern der Weryt weilte, blieb er ausgeschlossen. Verstohlen schüttelte er die Faust gen Westen. Hoffentlich kehrte er bald zurück.
Tag 6 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit
Über Hori wölbte sich derselbe blaue Himmel wie sonst auch, und doch erwachte er in einer anderen Sphäre. Um ihn daran zu gemahnen, hätte es nicht Chepers Schnarchens bedurft. Er war froh, wieder bei seinem Lehrmeister unterkommen zu können, und noch froher, dass Chepers Tochter Nut inzwischen bei ihrem Ehemann ein paar Häuser weiter lebte. Hori hatte sich bei ihm früher immer etwas unbehaglich gefühlt, weil er wusste, der Ut hätte ihn gern als Schwiegersohn gesehen. Diesen Wunsch hatte er zum Glück aufgegeben, sobald Hori die Weryt verlassen durfte. Nachdenklich betrachtete er den kahlen Schädel des älteren Mannes auf der Pritsche neben ihm. Er richtete sich auf.
Cheper schien sich stets ehrlich über seine Besuche zu freuen, und doch stand jetzt etwas zwischen ihnen, sein Anderssein. Er war eben nur mehr ein Gast, den man gern beherbergte, aber um dessen baldigen Abschied man bereits wusste. Keiner, an den ein Mann seine Kenntnisse an Sohnes statt weitergeben konnte. Die Enttäuschung darüber ließ der Ut ihn nicht spüren, und doch war sie bestimmt da. Sobekemhat hielt jedenfalls mit seiner nicht zurück, weil Hori nicht den vorgezeichneten Weg eingeschlagen hatte.
Er zupfte ein Stück aus dem Innern des Fladenbrots, das allerdings über Nacht nur mit einem Tuch bedeckt gewesen und nicht mehr weich und saftig war. Na, machte nichts. Mit einem Schluck Wasser rutschte es trotzdem seinen Schlund hinab. Eine Fliege ließ sich summend auf Chepers Schädel nieder und erkundete die glänzende Fläche, die keines Rasiermessers mehr bedurfte. Lediglich ein schmaler Kranz Stoppeln, mehr grau als schwarz, war über Nacht gesprossen. Die Lider des Schläfers zuckten. Während die Fliege die weite Ödnis von Chepers Stirn überquerte, befühlte Hori seinen eigenen Schädel, der alles andere als glatt rasiert war. Er hatte diesen Teil der Körperpflege am Vortag ausgelassen und sich einfach die Perücke übergestülpt. Heute müsste er jedes Haar an seinem Körper gründlich entfernen, bevor er seinen Dienst an den Toten aufnehmen durfte, damit sich keine bösen Geister in ihnen festsetzen konnten, die Tod und Verderben über die Lebenden brachten.
Die Fliege hatte die Nasenspitze erreicht, und Cheper schlug nach ihr. »Mh?« Verschlafen richtete er sich auf. »Oh, oh weh! Warum hast du mich nicht geweckt!«
»Ich bin selbst gerade erst aufgewacht.«
Sie hatten seine Ankunft gestern Abend mit Bier gefeiert – und dem Krug Dattelwein, den Hori aus dem Palast hatte mitgehen lassen. Es war später geworden, als Cheper es gewöhnt war, und vermutlich brummte ihm der Schädel wegen des süßen Weins, den sie in der Weryt nur selten bekamen.
»Du hast wohl vergessen, wann das Tagwerk eines Ut beginnt, du Faulpelz«, schimpfte Cheper und stolperte beim Ankleiden ungeschickt über die eigenen Füße.
Hori grinste. »Warte, ich hole dir was, das den Schmerz vertreibt.«
»Ah bah, ich brauche nichts als etwas Wasser. Sieh lieber zu, dass du ins Ibu kommst.« Sein Blick glitt über Horis behaarte Beine. »Du wirst lange brauchen, um dich vorzubereiten. Bis dahin wird Res Barke schon hoch am Himmel stehen.«
Er scheuchte Hori geradezu die Stiege hinab und aus dem Haus. Im Trab eilten sie zu der Reinigungshalle der Balsamierer, die scherzhaft Ibu genannt wurde wie das Zelt, in dem die Waschungen der Leichen stattfanden. Als Hori sich noch außer Atem den kundigen Händen des Dieners überließ, der ihn von Kopf bis Fuß rasierte, verfluchte er es, dass er seine Zeit mit der normalen Arbeit unter den Utu vertrödeln musste, statt das Rätsel um das überzählige Herz zu klären. Hut-Nefer hatte ihm verboten, jemandem zu erzählen, warum er hier war. Nicht einmal Cheper durfte es wissen, denn vorerst war jeder verdächtig. Wo aber sollte er beginnen? Einerseits würden die Männer sicher freimütiger mit ihm reden, wenn sie nichts von seinem Auftrag ahnten, andererseits war die Arbeit an den Leichen eine einsame Tätigkeit. Lediglich der monotone Singsang der Vorlesepriester und das gelegentliche Klopfen, wenn ein Ut den Schädel eines Toten durch die Nase öffnete, um die graue Masse abzulassen, waren tagsüber zu hören. Mit den Utu und Heriu-Heb unterhalten könnte er sich so oder so erst abends. Zu dumm, dass sein letzter Besuch in der Weryt nur eine Woche her war. Seither war niemand neu erkrankt, niemand brauchte einen Arzt. Sobald er den ersten Leichnam auf dem steinernen Tisch vor sich hatte, lenkten ihn die Erfordernisse seiner Arbeit von den fruchtlosen Grübeleien ab, und er fand die alte Freude wieder, die er stets verspürte, wenn er die Geheimnisse des Körperinnern mit seinen Händen er+-forsch+-te.
Am Abend lauschte er im Ibu den Stimmen der Männer, die sich wie er den Schmutz vom Leib rieben. Erst mit Sand und dann mit kaltem Wasser und einer Schaum bildenden Masse, welche die Frauen der Utu herstellten, indem sie Öl mit Pottasche kochten. Das erinnerte Hori daran, dass er sich von Nut zeigen lassen wollte, wie genau man das machte, denn das Zeug brannte zwar furchtbar, wenn man es in offene Wunden bekam, aber es schien auch heilende Kräfte zu haben. Jedenfalls entzündeten sich die so behandelten Verletzungen weit seltener und weniger heftig. Die Masse roch allerdings nicht besonders gut, doch möglicherweise könnte man dem mit Parfümölen beikommen? Er sollte das mit Mutnofret besprechen.
Der Klang des Wortes ›Herz‹ ließ ihn aufmerken. Worüber sprachen die beiden dort drüben? Hori blinzelte das Wasser aus seinen Augen. Es waren zwei Brüder, die sich über eine Liebelei des Jüngeren unterhielten. Hori wandte sich ab und widmete sich wieder seiner Reinigung. Von Hut-Nefer wusste er, dass der junge Hornacht das Herz gefunden hatte, und der bewohnte mit seiner Frau das Haus direkt neben Chepers. Vielleicht sollte er mit seinen Nachforschungen dort beginnen? Da Hornacht ihm im Alter recht nahe stand, hatte er sich mit dem Ut in den vergangenen Monden angefreundet, also würde es auch nicht auffallen, wenn er ihn besuchen ging. Ja, das war ein guter Plan. Er trocknete sich ab und suchte Cheper, der draußen auf dem Platz vor dem Ibu mit einigen Männern seines Alters schwatzte.
»Ah, da bist du ja endlich!«, rief er schon von Weitem und ließ sein keckerndes Lachen hören.
Hori gesellte sich zu ihm. »Ähm, macht es dir was aus, wenn ich heute Abend auf ein Schwätzchen zu Hornacht gehe?«
Zu seiner Erleichterung zeigte Cheper keine Enttäuschung. »Ach, gar nicht. Nut hat ihren alten Vater sowieso zum Essen gebeten. Eigentlich hätte ich dich mitgenommen, aber du weißt ja, wie Frauen sind. Erst tun sie so, als sei ein unerwarteter Gast gar kein Problem, und dann wirbeln sie den ganzen Abend herum und sitzen nicht einen Moment still, bis allen unbehaglich wird.« Er zwinkerte verschmitzt.
Hori wurde es ganz warm ums Herz, weil der alte Mann so unkompliziert war. »Ja, so sind die Frauen. Sicher wird Hornachts Weib auch um mich herumflattern. Wo steckt der Halunke denn? He, Hornacht, da bist du ja.«
Breit grinsend kam der schlaksige Kerl auf ihn zu. »Hori! Dachte ich mir doch, dass ich deinen Eierkopf heut früh auf Chepers Dach gesehen habe.«
»Ich habe sogar gewunken, aber wie immer hattest du nur Augen für Amaunets Schönheit«, flachste Hori zurück. »Würde es dein holdes Weib in Verlegenheit stürzen, wenn ich gleich bei dir auf einen Krug Bier vorbeikäme? Der alte Mann hier wird bei seiner Tochter speisen und glaubt, meine Gegenwart könnte sie zu sehr verwirren, wo sie doch gerade geheiratet hat.«
Cheper meckerte wie eine Ziege. »Das werde ich ihr verraten!«
Hori tat entsetzt. »Nur das nicht!« Sein Herz aber war zufrieden. Jetzt fühlte er sich wieder zu Hause.
Hornacht hakte ihn unter und zog ihn mit sich. »Ach was, Krug! Du kommst gleich mit zum Essen. Der alte Bock hat sicher nur trocken Brot in seiner Speisekammer.«
»Alter Bock? Das habe ich gehört!«, waberte Chepers Stimme hinter ihnen her.
Als Nachtmin an diesem Tag seinen Dienst im Frauenhaus antrat, gesellte sich ein Kollege zu ihm.
»Tep-Ta!«, rief er überrascht.
Die Mundwinkel des klein gewachsenen Arztes sackten noch tiefer hinab. Oh nein, ich weiß gar nicht, wie er richtig heißt, wurde Nachtmin klar. Jeder nannte ihn nur Tep-Ta, Kopf auf der Erde, wegen seines geringen Wuchses und weil er diesen Mangel dadurch wettzumachen suchte, indem er sich Höhergestellten übertrieben andiente.
»Der Imi-Ra hat mich für die Dauer von Horis Abwesenheit ins Frauenhaus befohlen«, schnarrte er. »Als dein Vorgesetzter werde ich selbstredend die Königinnen und hochrangigsten Konkubinen betreuen.«
»Wie du wünschst.« Na wunderbar! Hätte der Vorsteher der Palastärzte nicht einen anderen als ausgerechnet diesen aufgeblasenen Wicht wählen können, unter dessen Würde es war, niedere Patienten zu versorgen? Hori und er pflegten zusammenzuarbeiten, doch mit Tep-Ta würde das sicher eher ein Gegeneinander als Miteinander. Leider gab es auch hier eine klare Hierarchie, die sich nach dem Dienstalter richtete. Ach du Schreck! Wenn der König selbst sich bemüht hatte, den Imi-Ra über Horis Abwesenheit in Kenntnis zu setzen, würde sein Freund wohl länger als nur eine Woche fortbleiben. Nachtmins Ärger über Horis Verschwinden verblasste hinter seiner Neugier, welche außergewöhnlichen Umstände dieses Arrangement hervorgerufen haben mochten.
Während Tep-Ta hinter der Tür zu den Gemächern der Königinnen verschwand, versorgte Nachtmin die Wehwehchen der übrigen Damen. Nicht zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es ohne seinen Freund recht still bei der Arbeit war. Die alte Tefnut, deren erklärter Liebling Hori war, ließ sich heute gar nicht erst blicken. Eigenartig, dass Horis Abwesenheit ihr Gliederreißen besser kurierte als seine kundigen Hände. Nachtmin grinste in sich hinein.
»Du solltest öfter lächeln«, sagte das Mädchen, dessen aufgeschlagenes Knie er gerade verbunden hatte. »Das steht dir.«
Überrascht sah er auf. Hübsch, mit der dunklen Haut der Kuschitinnen, und von der war viel zu sehen. Die Träger ihres Kleides waren verrutscht und ließen keck die Warzen ihrer vollen und festen Brüste hervorblitzen. Hatte die Kleine das mit Absicht gemacht? Ihr Fuß, der in seinem Schoß lag, beantwortete seine unausgesprochene Frage und rieb an seinem Glied. Nun stand ihm noch etwas ganz anderes. Er errötete. »Uhm, oh … Ich …« Ihr Götter!, dachte er und schielte zur offen stehenden Tür hinaus. Hoffentlich hatte niemand es gesehen. Er war doch ein verheirateter Mann. Fast schon brüsk erhob er sich und ließ das verletzte Bein einfach fallen.
Armes Ding. Verdenken konnte er ihr nicht, dass sie es versuchte. Vermutlich würde der König sie nie als Gefährtin für die Nacht auswählen; es gab einfach zu viele schöne Frauen hier, und Sesostris bevorzugte die Gesellschaft seiner beiden Königinnen. Was Nachtmin allerdings blühte, wenn er dabei erwischt würde, wie er eine der Frauen beglückte … Jedes Kind, das im königlichen Harem geboren wurde, bekam schließlich den Status eines Prinzen oder einer Prinzessin mit der Möglichkeit, eines Tages den Horusthron zu besteigen, sollten die Gemahlinnen des Pharaos ihm nicht lebende Töchter und Söhne schenken. Der Pharao musste sich auf seine Ärzte verlassen können!
Die restlichen Patientinnen behandelte er schnell. Selten gab es etwas Ernstes, und viele der Beschwerden ließen sich auf den Müßiggang zurückführen, den die Damen hier im Überfluss pflegten. Das Fieber eines kleinen Prinzen war noch das Dramatischste, mit dem er es heute aufnehmen musste, doch der Junge bekam lediglich Zähne. Als Nachtmin sein Tagwerk beendete, stand die Sonnenscheibe hoch am Himmel. Kurz überlegte er, selbst noch einmal bei den Königinnen vorbeizuschauen, dann verlockte ihn die Aussicht auf etwas freie Zeit mehr. Tep-Ta würde es ihm zudem nicht danken, wenn er sich in seine Kuren einmischte.
Er suchte das königliche Badehaus auf und ließ sich von den Dienern gründlich reinigen. Das kühle Wasser war eine Wohltat! Ein muskelbepackter Kuschite, dessen Haut so dunkel war wie Augenschminke, walkte ihn anschließend ordentlich durch und rieb seinen Körper mit kostbaren Ölen ein. Nachtmin seufzte behaglich. Dieses Dasein hatte ganz gewiss etwas für sich. Da er seiner Pflichten ledig war, könnte er noch kurz im Tempel des Amun vorbeisehen. Ja, das war ein guter Gedanke. Ameny würde sich freuen, wenn er ihn abholte und mit ihm gemeinsam ins Villenviertel schlenderte.
Er fand Mutis Vater im grünen Schatten des Tempelgartens ins Gespräch mit einem Hem-Netjer vertieft. Sein Schwiegervater bemerkte ihn schon von Weitem und winkte ihm zu. Als Nachtmin die beiden erreicht hatte, legte Ameny dem Gottesdiener eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich werde deinen Vorschlag in meinem Herzen erwägen. Nur musst du verstehen, dass ich diese Entscheidung nicht allein treffen kann. Morgen Abend werden sich die Propheten sowie alle Hemu-Netjer der obersten Einweihungsstufe, die sich derzeit in der Residenz aufhalten oder bis dahin anreisen können, in meinem Haus versammeln. Du gehörst selbst zu ihnen und wirst auch kommen, nehme ich an?«
Der Gottesdiener lächelte erfreut, als sei dies eine Einladung nur für ihn. »Natürlich!« Er nickte Nachtmin zu und entfernte sich zwischen zwei Jasminbüschen.