Schatten der Verdammten - Kathrin Brückmann - E-Book

Schatten der Verdammten E-Book

Kathrin Brückmann

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  • Herausgeber: Qindie
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Hori und Nachtmin haben sich gerade in ihre neuen Aufgaben als Leibärzte des Pharaos eingearbeitet, da ereilt Hori ein dringender Ruf in die geheime Balsamierungsstätte. Dort wurde ein Herz gefunden, das zu keiner Leiche gehört, ein grausames Verbrechen, das den Toten seiner Möglichkeit auf ein Nachleben beraubt! Während der ahnungslose Nachtmin seinem verschwundenen Freund grollt und neue Bekanntschaften sucht, findet Hori einiges heraus. Das überzählige Herz ist längst nicht alles, das in der Weryt nicht stimmt: Die Geheimnisse der Totenstadt selbst sind in Gefahr! Natürlich wird auch Nachtmin schon bald in die schaurige Ermittlung hineingezogen, obwohl er sich besser um seine schwangere Frau kümmern sollte. Denn die Schatten der Verdammten rücken immer näher …

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Inhaltsverzeichnis

Karte des alten Ägypten

Personenregister

Prolog

Horus im Ei

Ein Rätsel

Zurück zu den Toten

Ein neuer Freund

Aufschlussreiche Besuche

Eine beeindruckende Erscheinung

Zwei Frauen

Kaum erwacht …

Unheilbar krank

Betrunkene Halunken

Erwischt

Des Königs Hyänen

Grausiger Fund

Das Geheimnis der Frau

Setkas Sandalenträger

Frauenprobleme

Komm schnell!

Schreckliches Ende

Seuche oder Gift?

Im Bienennest stochern

Ein Fluch

Die Biene sticht

Im Dunkel

Der Papyrus

Die Spur führt ins Hafenviertel

Einer gefasst

Der Fluch der Schatten

Epilog

Anhang ~ Ägyptische Götter

Anhang ~ Orte und Gebietsnamen

Anhang ~ Glossar

Kalender und Klima

Nachwort

Romane von Kathrin Brückmann

Impressum

Karte des alten Ägypten

Personenregister

Historische Personen sind fett gedruckt, in Klammern befindet sich eine Ausspra­chehilfe, und eine Übersetzung des Namens steht kursiv dahinter. Bestimmte Ad­jektive werden in diesem Roman großgeschrieben, weil sie festste­hende Begriffe sind oder Ehrentitel darstellen, insbesondere: die Beiden Länder, Große Königli­che Gemahlin, Erster Prophet, Schöner Westen, Heiliger Garten usw.

Das Königshaus

Sesostris III. (Se-sostris) – Mann der Göttin Useret

Ein König, der schwer an seinem Amt trägt.

Chenmetneferhedjet (Chenmet-nefer-hedjet) – Mit der weißen Krone vereinigt

Große Königliche Gemahlin, genannt Scherit, die Kleine. Ohne tragende Rolle.

Nofrethenut (Nofret-henut) – Schöne Herrin

Die Zweite Königliche Gemahlin trägt den Horus im Ei.

Senetsenebtisi, Menet, Sat-Hathor, Henut

Die Töchter von Sesostris tragen zur Unterhaltung bei.

Atef (Kurzform von Hori-hetep-em-Atef) – Horus ist zufrieden mit der Atefkrone

Königicher Leibdiener, dessen Betragen ohne Fehl ist.

Hori und seine Familie

Hori – Name des Gottes Horus

Ein Arzt, der die Krankheit seines Herzens nicht heilen kann.

Sobekemhat (Sobek-em-hat) – Sobek ist an der Spitze

Horis Vater und ein Wesir, krankhaft auf seine Würde bedacht.

Nofret, Teti und Puy

Horis Mutter und Brüder – krank vor Sorge? Eher nicht.

Heqet – Name der Froschgöttin

Horis Dienerin, schwer gekränkt.

Sheser – Pfeil

Horis Diener, auch mal Krankenträger.

Mesu – Kind, Kurzform von Ra-Mesu, Kind des Re

Horis Gärtner, liebeskrank.

Nachtmin und seine Familie

Nachtmin (Nacht-min) – Min ist stark

Arzt, der einen aussichtslosen Kampf zu führen hat.

Mutnofret (Mut-nofret) – (Die Göttin)Mut ist schön

Seine kämpferische Frau, die viel zu verlieren hat.

Baketamun (Baket-Amun) – Dienerin des Amun

Nachtmins Köchin, die wie eine Löwin zu kämpfen versteht.

Inti (Kurzform von Inen-Ka-i) – Mein Ka verweilt

Nachtmins Leibdiener ergibt sich seiner Frau kampflos.

Ameny und seine Familie

Ameny (Kurzform von Amen-em-het) – Amun ist an der Spitze

Zweiter Amunprophet, der unversehens große Verantwortung bekommt.

Isis – Name der Göttin Isis

Amenys Frau. Sie bekommt einiges mit, verliert aber selten ein Wort darüber.

Huni und Bata

Zwillingssöhne der beiden, denen Untätigkeit nicht bekömmlich ist.

Im Haus des Lebens/Amuntempel

Imhotepanch (Imhotep-anch) – Imhotep möge leben

Vorsteher der Ärzte, der gern alles schön klar hat.

Useret – Die Mächtige

Ärztin, die ein Rätsel umgibt.

Iriamun (Iri-Amun) – Der zu Amun gehört

Erster Prophet, der an Altersschwäche leidet.

Duamutef (Dua-Mut-ef) – Der seine Mutter verehrt

Der Dritte Prophet kann Männer gut leiden.

Djedefre (Djed-ef-Re) – Seine Dauerhaftigkeit ist Re

Der Vierte Prophet erleidet einen Schlangenbiss.

Kagemni (Ka-gemni) – Ich habe meinen Ka gefunden

Sein Nachfolger hat deswegen kein Mitleid.

Hemiunu (Hem-Iunu) – Diener des Gottes von Iunu (Re)

Vorsteher der Gottesdiener, der leidet, wenn seine Gehilfen ihn über­flü­geln.

Sehetep – Der zufriedenstellt

Seine Rechte Hand, der leidvolle Erfah­run­gen machen muss.

Neb-Wenenef, genannt Wenen – Herr seiner Existenzen

Gottesdiener, dem manches leidtut.

Setka (Set-Ka) – Sitz des Ka

Gottesdiener, der nicht wohlgelitten ist.

Neferka (Nefer-Ka) – Schöner Ka

Gottesdiener, der sich seine Studien nicht verleiden lassen will.

Bai – Mein Ba

Gottesdiener, der schnell beleidigt ist.

Im Haus des Todes

Hut-Nefer – Schönes Haus

Der Vorsteher der Balsamierungshalle, Hüter dunkler Geheimnisse.

Cheper – Entstehung, Wiedergeburt

Balsamierer, der Hori gern behüten würde.

Hornacht (Hor-nacht) – Horus ist stark

Balsamierer auf der Hut.

Nebkaure (Neb-kau-Re) – Der Herr der Kas ist Re

Ein Vorlesepriester, vor dem man sich hüten sollte.

Merit-Ib – Geliebtes Herz

Seine Frau, die sich hütet, etwas preiszugeben.

Weitere Personen

Thotnacht – Des Königs oberster Schreiber.

Tep-Ta – Einer der Leibärzte des Königs.

Senanch – Vorsteher der Medjay.

Monthnacht – Kommandant der Werytwache.

Sennedjem – Palastwache.

Rahotep – Sein Vetter, Werytwache.

Geheset – Hebamme.

Prolog

In der Stille des Totenreichs hallte jedes Geräusch überlaut. Rahotep schwitzte trotz der steten Brise vom nahen Fluss. Er sollte die Nordseite der im Dunkel auf­ragenden Mauern der Totenstadt abschreiten, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Ihr Götter, was hatte er nur getan, um das zu verdienen? Ein einziges Mal in sei­ner lang­jährigen Dienstzeit bei den Leibwächtern des Königs war er während ei­ner Nacht­wache einge­schlafen und gleich erwischt worden. Der Kommandant verstand bei so etwas keinen Spaß, hatte ihn eh schon auf dem Kieker. Rahotep dachte an seine Frau und ihrer beider jüngstes Kind, dessen Gebrüll ihn tagsüber daran hinderte, die ver­säum­ten Nachtruhe nachzuholen. Musste der Junge sich beim Zähnekriegen so an­stellen? Deswegen war er vorgestern in die Strafgarni­son versetzt worden, deren In­sassen den schaurigsten Dienst in den Beiden Län­dern versehen mussten: die Weryt bewachen. Zwar nur für einen Monat, aber schlimm genug.

Schon letzte Nacht hatte ihn diese Aufgabe mit Grauen erfüllt. Die Geräusche aus der Dunkelheit, das Heulen der Dämonen in den Bergen … Die Luft bestand hier nicht aus Leere, wie er sie kannte, sondern war körperlich, greifbar, angefüllt mit den Schatten der Verstorbenen. Er konnte spüren, wie sie um seine Beine stri­chen, seinen Nacken küssten –

Ein lautes Jaulen durchbrach die Stille. Rahotep machte einen Satz und rannte auf den Fluss zu, wo sich der Steg mit dem rettenden Boot befand. An der Ecke der Werytmauer wäre er beinahe mit einem seiner Leidensgenossen zusammenge­prallt.

»Zurück mit dir!«, schnauzte ihn der Kerl an. »Hast wohl gedacht, du kannst die Fliege machen? Das kostet aber, wenn wir wegsehen sollen, und ein Ersatz­boot musst du uns auch ranschaffen.«

Die Züge des Kerls konnte Rahotep nicht ausmachen, aber die Stimme hatte er er­kannt. »Schon gut, Tutu, ich dachte, wir könnten ein Schwätzchen halten.«

Der Dicke lachte nervös. »Hast Schiss. Haben wir alle. Na von mir aus.«

Rahotep warf einen unsicheren Blick über ihn hinweg zu der anderen Gestalt, die sich im Licht des Mondes abzeichnete. Am Tor zur Totenstadt waren die Män­ner zu zweit, anders als an Süd-, Rück- und Nordseite des Areals. Warum Month­nacht, der Kommandant, das angeordnet hatte, war ihm ein Rätsel. Wieso musste der Fluss be­sonders aufmerksam im Auge behalten werden? Welcher Dummkopf würde sich frei­willig nachts in die Gefilde der Toten wagen? Da bestand eher Ge­fahr, dass einer vom Wachtrupp die Beine in die Hand nahm. Er fühlte sich durch­schaut und war zu­gleich angewidert. Bestechung! Manche Leute befanden sich zu Recht an diesem Ort. Nein, das war nichts für ihn. Desertion bedeutete die Stein­brüche, wenn man er­wischt wurde, und er hatte doch Familie. »Schon gut. Ich werde es einfach durchste­hen. Ist ja nicht für lange.«

»Ja, du Glücklicher«, knurrte Tutu. »Ich habe noch ein ganzes Jahr vor mir.«

Widerwillig wandte Rahotep den Trost verheißenden Lichtern am andern Ufer den Rücken zu und begann seine Runde entlang der Mauer von Neuem. Je tiefer er ins Schattenreich vordrang, desto unheimlicher wisperten die Stimmen der ver­lorenen Seelen. In einem jähen Windstoß peitschten Sandkörner zischend gegen Stein. Es klang nach einer Schlange, der Schlange der Duat. Nicht mehr weit bis zu dem Ka­nal, der unter der Mauer hindurchfloss. Ihm graute davor, das Gewäs­ser zu über­sprin­gen, das nichts anderes als der Anfang des Flusses sein konnte, auf dem die Verstorbe­nen ihre Reise in die Unterwelt antraten und an dessen Ufern Dämonen lauerten. Jedes Mal befürchtete er, im aufgerissenen Rachen ei­nes Ungeheuers zu lan­den. Musste er wirklich die hintere Hälfte der Mauer ab­schreiten? Dort war nur pechschwarze Finsternis, in der wer weiß was auf ihn warten konnte … Doch es war seine Pflicht! Er erreichte die steinerne Umran­dung und schloss kurz die Augen. Komm, du schaffst das, sprach er sich selbst Mut zu und setzte zum Sprung an.

Prustend und schnaufend durchbrach etwas die Wasseroberfläche. Eine dunkle Ge­stalt erhob sich aus dem Totenfluss! Rahotep erstarrte. Er wollte sein Entsetzen hin­ausschreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er konnte sich nicht rüh­ren, obwohl der rasende Takt seines Herzschlags seine Beine anzubrüllen schi­en: Lauft doch, lauft! Das Ungeheuer stieg aus dem Kanal. Es fauchte, kam auf ihn zu, stürzte sich auf ihn …

Horus im Ei

Jahr 2 des Pharaos Sesostris, der Dritte dieses Namens, der den Horusthron be­stiegen hat. Tag 3 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit

»Schhhht.« Gebieterisch legte die Große Königliche Gemahlin Scherit einen Finger an die Lippen, und das Geplapper der Frauen im Raum verstummte.

Als könnte ich besser spüren, ob das Kind sich bewegt, wenn sie leise sind, dachte Hori. Seine Hand lag auf dem kaum gewölbten Bauch Nofrethenuts, der zweiten Ge­mahlin des Pharaos. Tatsächlich war die Stille wohltuend. Seine Finger konnten den Kopf des Kindes im Mutterleib ertasten, doch keine Bewe­gung der Gliedmaße. Nachdem er sich eine Weile vergeblich abgemüht hatte, er­fasste ihn Angst. Hoffent­lich hatten die Götter den Lebenshauch des Kindes nicht bereits vor der Geburt durchtrennt! Sie hätten Nachtmin rufen sollen, der es viel besser als er verstand, mit seinen Händen unter die Haut zu sehen. Pharao wünschte sich sehnlich einen Sohn und Erben des Horusthrons, nachdem Königin Scherit ihr Ungeborenes erst jüngst verloren hatte. Nicht nur der Verlust des Kin­des wäre schlimm, auch die Mutter wäre in Gefahr, wenn sich bestätigte, was er befürchtete. »Wie lange ist es her, dass du zum letzten Mal das Leben in deinem Leib gespürt hast?«, fragte er.

Nofrethenut schloss die Augen und runzelte die Stirn. »Ich … ich bin nicht si­cher. Drei Tage?« Sie riss die Lider auf und musterte ihn, als könne er ihr die Ant­wort ge­ben.

Hori seufzte. Es war die erste Schwangerschaft der zweiten Gemahlin, also war sie darin noch unerfahren, und das machte ihr Angst. Mehrfach schon waren er und Nachtmin in den vergangenen Wochen von aufgeregten Palastbediensteten gerufen worden, um nach der Königin zu sehen, denn als Geringste unter den Lei­bärzten des Pharaos oblag ihnen die Betreuung der Bewohnerinnen des Frauen­hauses. Hebam­mendienste gehörten eigentlich nicht dazu, doch in diesem Fall sah Hori seinem Kö­nig das nach. Sesostris war zwar noch jung und würde sicherlich viele Söhne zeu­gen; bislang aber waren seinen Lenden nur Töchter entsprossen, und ein Horus im Nest pflegte die Beiden Länder aufatmen zu lassen.

Bei ihren vorigen Besuchen hatten Nachtmin und er die werdende Mutter stets be­ruhigen können – und den nicht minder erregten königlichen Vater. Bei Bes, Schutzgott der Schwangeren – er wollte nicht derjenige sein, der dem Pharao die traurige Botschaft verkünden musste. Ein Windzug drang durch die hoch gelege­nen Belüftungsschlitze und erfasste das hauchfeine Leinen, das um das Lager der Köni­gin herum von der Decke hing, um ihr einen von Insekten ungestörten Schlaf zu ge­währen. Mit der Brise drang der schwere Duft von Blumen aus dem königli­chen Gar­ten herein, unterlegt mit einem für diese Jahreszeit typischen Geruch nach in der hei­ßen Sonne trocknendem Schlamm von den Ufern des zurückwei­chenden Flusses. Er roch anders als der frische Nilschlamm, der nach der Über­schwemmungszeit auf den Feldern zurückblieb, modriger. Plötzlich hatte er das Bild einer im Mutterleib faulen­den Frucht vor Augen, und das brachte seine Ge­danken zurück zu den Ereig­nissen vor sechs Monden. Verfaulte Früchte … Der Gedanke an das in Schande ge­zeugte Kind der Frau, deren Name verfemt war, ließ ihn noch immer schaudern, doch Sesos­tris liebte seine vierte Tochter trotz ih­rer Herkunft innig. Ein schönes Kind, aber der Blick aus ihren Augen … Da, ein Flattern, war das –? Nein. Reiß dich zusam­men!, ermahnte er sein Herz, dessen heftiges Pochen auch seine Finger erbeben ließ. Er musste sich auf die werdende Mutter konzentrieren. Vielleicht sollte er doch lieber seinen Freund mit den magi­schen Händen dazurufen lassen?

Er spürte, dass die Frauen ihn anstarrten. Wenn sie doch nur gehen würden und ihn mit der Patientin allein ließen! Ruckartig sah er auf, um sie hinaus zu scheu­chen. Vor Schreck fiel einer der Dienerinnen, noch ein halbes Kind, das Tablett mit Er­frischungen aus den Händen. Das Scheppern ging Hori durch Mark und Bein, aber bevor er schimpfen konnte, spürte er ein eindeutiges Zucken unter sei­nen Händen. Das Kind lebte! Vor Erleichterung lachte er auf. »Der kleine Prinz hat nur ein Schläf­chen gehalten. Dank dir ist er nun wach.«

Verlegen sammelte die Dienerin die Scherben auf.

Königin Scherit ließ den angestauten Atem entweichen. »Dieses Mal sollst du nicht bestraft werden, Anat, aber lege endlich deine Schreckhaftigkeit ab. Und nun raus mit euch, alle!« Sie wedelte Konkubinen und Dienerschaft hinaus. Als Hori mit den beiden Gemahlinnen allein war, neigte sie entschuldigend den Kopf. »Schon wieder hast du dich umsonst herbemüht.«

Hori erhob sich aus seiner Hockstellung und glättete mit einer Handbewegung sei­nen gestärkten Schurz. »Es ist stets eine Ehre, euren Majestäten zu Diensten zu sein.« Oh weh, das klang ja, als sei es eine lästige Pflicht! Schnell setzte er das Lä­cheln auf, von dem er wusste, dass es Frauenherzen schmelzen ließ wie einen Salb­kegel in der Sonne. »Und natürlich ist es immer eine Freude für meine Au­gen, sich an eurem An­blick zu laben.«

Nofrethenut kicherte hinter vorgehaltener Hand. So schnell vergaß sie die aus­gestandene Angst, war schon wieder die junge, unbeschwerte Frau, die er kannte und deren Mädchenhaftigkeit die gut zwei Ehejahre an der Seite des Herrn der Beiden Länder nicht hatten dämpfen können. Königin Scherit, um einiges älter als sie und auch ihr Gemahl, hob spöttisch die Brauen, dann wanderte ihr Blick über die am Bo­den verstreuten Datteln, die teils in der Pfütze aus Palmwein lagen, vermischt mit kleineren Scherben. »Soll ich dir etwas anderes bringen las­sen?«

Hori schüttelte den Kopf. »Es wird bald dunkel, und ich bin müde. Ich will nur dem Pharao Bescheid sagen, dass es seinem Erben gut geht, und dann in mein An­we­sen zurückkehren.«

Für den Rückweg nach Hause brauchte Hori nicht lange; sein prächtiges An­wesen lag im Viertel der Beamten unweit des Palastes. Er war schon fast da, als er aus kei­nem bestimmten Grund einen Schlenker machte und statt durch das Tor die Mauer entlang zum Nilufer hinabschritt, von wo ihm der dumpfe Geruch des Schlamms in die Nase stieg. Über den westlichen Bergen funkelten die ersten Sterne, und Hori drehte sich zur Stadt zurück, um zu schauen, ob der Mond be­reits am Himmel er­schienen war. Aber nur die Fackeln und Glutbecken auf den Hausdächern erhellten die Finsternis, die während der letzten Minuten abrupt her­eingebrochen war. Es wirkte, als schwebten einige der Flammen körperlos in der Dunkelheit. »Magisch«, murmelte er und schüttelte sich. Die Macht der Magie war etwas, das er seit seiner Lehrzeit in der geheimen Balsamierungsstätte, der Weryt, zu fürchten gelernt hatte. Was war das heute nur? Warum konnte er das Gefühl kommenden Unheils nicht los­werden? Den Pharao hatte er beruhigen können, sein eigenes Herz jedoch nicht. Er streifte seine Binsensandalen von den Füßen und schlüpfte an der Mauer vorbei, die sein Grundstück bis zum Wasser von ungebetenen Gästen abschirmte. Um diese Jah­reszeit stand der Fluss aller­dings so niedrig, dass er fast trockenen Fußes in seinen Garten gelangen konnte. Sobald er das Uferschilf hinter sich gelassen und den Kies des Weges zum Haus unter seinen Sohlen spürte, wischte er sich den Schlamm von den Füßen und zog die Sandalen wieder an. Sein Gesinde würde es nicht zu schätzen wissen, wenn er den mit Gemälden geschmückten Fußboden in der Halle verunzier­te. Sein Gesin­de – noch immer hatte er sich nicht recht daran gewöhnt, jetzt einen eige­nen, nicht unbeträchtlichen Hausstand zu besitzen, manchmal Segen, bisweilen läs­tige Verantwortung. Sein Leibdiener Sheser, wie immer besorgt um ein seiner Stel­lung angemessenes Auftreten, würde bei seinem Anblick missbilligend mit der Zunge schnalzen. Die Dienerin Heqet allerdings … Hori lächelte. Das Mädchen ver­süßte ihm bereitwillig die einsamen Nächte. Ja, er würde sie heute zu sich rufen.

Gemächlich schlenderte er auf den Lichtschein zu, der aus seinem Haus drang, als ihn ein Pfiff von der jenseitigen Gartenmauer innehalten ließ. Er trat näher heran. »Nachtmin?«

»Wer sonst?«, kam die Antwort, gedämpft durch die Ziegelwand zwischen ih­nen.

Hatte sein Freund auf seine Rückkehr gewartet? Hori fühlte das Holz der Pfor­te unter seinen tastenden Händen, öffnete sie und trat hindurch. »Ich dachte, ihr seid heute Abend bei Ameny.« Wenn Nachtmins Schwiegervater Tochter und Ei­dam ein­lud, wurde es meist weit später als kurz nach Einbruch der Nacht. All­mählich konnte er die Gestalt seines Freundes ausmachen, und jetzt sandte auch der Mond sein blas­ses Licht in den Garten.

Die Schatten um Nachtmins Mund flohen vor seinem breiten Grinsen in das Netz aus Fältchen, das sich um die Augenwinkel herum bildete. »Muti ist un­wohl …«

Einen Moment stutzte Hori, dann knuffte er seinen Freund in die Seite. »Na so was! Lange habt ihr euch nicht Zeit gelassen. Gerste oder Emmer?«

»Gerste.« Nachtmins Strahlen schien sich noch zu vertiefen.

Man musste kein Arzt sein, um diesen einfachen Test durchzuführen. Glaubte eine Frau, schwanger zu sein, benetzte sie jeden Morgen zwei Getreidesäckchen mit ihrem Urin. In einem befand sich Gerste, im anderen Emmer. Keimte das Ge­treide, so war die Frau guter Hoffnung, und sogar das Geschlecht des Kindes ließ sich able­sen, je nachdem, was zuerst spross. Nachtmin würde einen Sohn bekom­men!

»Ich gratuliere. Habt ihr es Ameny schon gesagt?« Er spürte Nachtmins Kopf­schütteln nur am leichten Luftzug, denn sie schlenderten nebeneinander her.

»Nein, du weißt doch, wie sehr er sich immer sorgt. Du warst aus?«

Hori schnaubte. »Mal wieder ein Notruf aus dem Palast. Diesmal habe ich selbst bereits befürchtet, dass etwas nicht stimmt. Die Königin hatte schon einige Tage keine Kindsbewegungen mehr gespürt. Ich konnte erst auch nichts fühlen.« Er ver­stummte und glaubte fast, Nachtmins Gedanken hören zu können, ein Echo seiner ei­genen.

»Es hat sehr lange gedauert, bis sie schwanger geworden ist«, murmelte sein Freund schließlich. »Mehr als zwei Jahre.«

Unausgesprochen hing zwischen ihnen das Wissen, dass Frauen, die schwer emp­fingen, oft auch Probleme hatten, die Kinder auszutragen. Hori zupfte eine Blüte von einem Busch und sog tief den süßen Duft ein – Jasmin. »Jedenfalls war dann doch al­les gut. Es gab einen Krach, und da ist unser kleiner Prinz erwacht.«

Nachtmins Lachen klang halbherzig. »Ich werde Ameny bitten, ihr ein beson­ders wirkmächtiges Amulett herzustellen. Mit dem Segen von Amuns Gemahlin Mut viel­leicht?«

Noch ein Amulett – Hori hätte lieber mehr als das getan. Der Schutz der Götter war wichtig, aber er allein würde kaum ausreichen, wenn Nofrethenuts Leib die Frucht nicht zur Reife bringen konnte. Mehr als stärkende Tränke oder Klistiere, um die Metu genannten Gefäße ihres Körpers von üblen Krankheitsablagerungen zu rei­nigen, konnte er der Königin jedoch auch nicht verabreichen. »Es wird sie zumin­dest beruhigen und ihre Ängste beschwichtigen, die das Herz des Ungebo­renen be­schwe­ren könnten. Die Götter mögen über den Horus im Ei ihre schüt­zenden Schwingen halten.« Vor ihnen schälten sich die Konturen von Nachtmins Anwesen aus dem Dunkel. Hori hatte gar nicht gemerkt, wohin sie gingen.

»Ich habe einen Krug Oasenwein in meiner Speisekammer eingelagert«, ver­kündete Nachtmin. »Lass uns die düsteren Gedanken vergessen und auf meinen Sohn an­stoßen.«

Hori nickte erfreut. Das war genau das Richtige, um die dunkle Stimmung ab­zuschütteln. Als er etliche Zeit später in seine Schlafkammer torkelte, erinnerte er sich kurz, dass er Heqet in sein Bett hatte holen wollen. Nein, heute brauchte er sie nicht.

Dröhnende Kopfschmerzen weckten Nachtmin und erinnerten ihn daran, dass Hori und er den Krug gestern bis zur Neige geleert hatten. Er verzog das Gesicht. Seine Zunge war trocken und pelzig, und er hatte einen unangenehmen Ge­schmack im Mund. Mit einer Hand griff er den tönernen Becher, der auf dem kleinen Tisch­chen mit den Elfenbeinintarsien stand, und trank einen Schluck des frischen Was­sers. Schon besser. Zum Glück schlummerte Muti noch. Sie war morgens immer er­schre­ckend munter, während er schon unter normalen Umstän­den den Schlaf nur mühsam abschütteln konnte. Gäbe es doch einen Trank, der einen auf einen Schlag munter machte!, dachte er und mühte sich von der Lager­statt. Sein Schädel dröhnte noch hef­tiger, sobald er aufrecht stand; der Türrahmen musste als Stütze herhalten. Noch fiel kein Sonnenlicht durch die Belüftungs­schlitze in der Wand, die den Nord­wind einfin­gen, und das war gut so. Die Hel­ligkeit würde in seinen Augen nur schmerzen. Doch die Dämmerung nahte be­reits. Ächzend schlurfte er den Gang hin­unter zum Abort. Während er sich er­leichterte, hörte er eine Tür schlagen und Schritte den Korridor entlangtappen – zu schwer für Muti, sicher die Köchin. Wenn Baketamun auf war, wäre es auch ihr Mann Inti. Der Gedanke an kaltes Wasser auf seiner Haut ließ Nachtmin woh­lig aufstöhnen. Die Badeeinrichtung war dasjenige, das er wohl an sei­nem neuen Haus am meisten genoss. Inti pflegte ihn morgens kalt abzuduschen, sein Bart- und Haupthaar zu rasieren und, wenn Nachtmins Zeit es zu­ließ, ihn zu massie­ren. Ja, das würde den Kopfschmerz vertreiben! Er ging nach unten.

»Heute steht dein wöchentlicher Besuch im Haus des Lebens an, Herr. Ich sollte dich doch an die Arznei für den wunden Euter unserer Ziege erinnern.«

Nachtmin fuhr auf. »Was?« Auf der Bank war er unter Intis kundigen Händen er­neut weggedöst. Nur allmählich sickerten die Worte seines Dieners in seinen Ver­stand. »Ach richtig. Ja, ich werde daran denken.«

Einige seiner Arztkollegen verstanden sich recht gut darauf, Salben und Tinkturen für kranke Tiere herzustellen, und im Grunde war die Kunst, Vieh zu heilen, nicht so verschieden von der, Menschen zu kurieren. Ein gebrochener Lauf musste ge­nauso geschient werden wie ein Beinbruch beim Menschen. Und besaßen nicht auch sie einen Ka und einen Ba? Die himmlischen Gefilde waren gewiss von mannigfachem Getier bevölkert, sonst wäre es dort recht öde. Seine Gedanken begannen über die­sen Fragen zu verschwimmen. Hori. Hori würde es wissen, ob ein Tier eine Mumifi­zie­rung brauchte, um das Totengericht zu passieren. Ein Name … Das Tier brauchte einen N …

»Herr? Du solltest dich sputen, willst du noch dem letzten Teil des Morgen­hymnus an Amun beiwohnen.«

Als Nachtmin benommen den Kopf hob, sah er eine kleine Speichelpfütze auf der Bank und fuhr sich verlegen über Mund und Wange. War er schon wieder ein­geschlafen! In seinem Kopf schien ein Steinmetz zu sitzen, der einen Holzschle­gel mit dem Hammer bearbeitete. Da half wohl alles nichts, er würde sich selbst im Haus des Le­bens verarzten müssen, bevor er irgendjemand anderen kurieren könnte. Äch­zend schwang er sich von der Liegefläche und stützte sich schnell an der Wand ab, wäh­rend Inti unter missbilligenden Zischgeräuschen den Schurz um seine Lenden wi­ckelte. Das gestärkte Leinen knisterte leicht, als Nachtmin es glatt strich. Inti reichte ihm seine Perücke, aber Nachtmin wehrte kopfschüttelnd ab – und bereute es so­gleich. Nein, heute könnte er keinen weiteren Druck auf dem Schädel ertragen. Ein prachtvoller Halskragen mit Perlen aus Türkis, Lapis­lazuli und Karneol rundete sein Erscheinungsbild ab. Muti schlief noch, als er sich von ihr verabschieden wollte. Die Schwangerschaft beanspruchte ihren Kör­per bereits, also gab er ihr nur einen zarten Kuss. Im Speisezimmer nahm er etwas Obst und einen großen Schluck Wasser zu sich, bevor er in seine Sandalen schlüpfte und sich auf den Weg machte.

Die frische Morgenluft trug eine kühle Brise vom Nil herauf und machte ihn mun­ter. Weit musste er nicht gehen, bis er in die von Sphingen gesäumte Pracht­straße zum Amuntempel einbog. Die ersten Strahlen Res ließen die men­schen­köp­figen Häupter rosig aufglühen. Noch waren die Schatten lang, und unter dem mächti­gen Pylon war es nachgerade finster. Gleißend strahlte die Spitze des Obelisken in der Mitte des Tempelhofs. Sesostris’ Vorfahre Sesostris I. hatte ihn er­richten und seine Spitze mit Elektron verkleiden lassen, damit der Glanz und die Macht des Sonnengottes Amun-Re sich darin spiegelten. Nachtmin wusste als Wab­priester auch, dass der Verlauf des Schattenwurfs der spitzen Steinnadel ein Sinnbild für Amun-Res tägliche Himmelsreise in der Sonnenbarke war.

Er überquerte den Hof und betrat den Tempel, aus dessen Allerheiligsten die Klänge des Morgenhymnus drangen. Jeden Tag begrüßte der Erste Prophet des Amun den Gott mit diesem feierlichen Gesang, der Nachtmin stets mit einem Ge­fühl des Friedens und der Hoffnung erfüllte. Das Allerheiligste selbst durfte er als Wab, also Priester des niedersten Ranges, natürlich nicht betreten, das oblag al­lein den vier Pro­pheten des Gottes und den hochrangigen Gottesdienern, welche die Statue Amuns nach dem Gebet waschen, sie mit kostbaren Ölen salben, her­nach in feinstes Leinen kleiden und dem Gott Nahrung und Trank anbieten wür­den. Nachtmin lehnte sich an eine der reich bebilderten Säulen und ließ die Klän­ge auf sich wirken. Durch ein aus­geklügeltes System an Öffnungen oben in der Wand des Schreins konnten sie unge­hindert in die Halle filtern und sich dort ihren Weg zwischen den Pfeilern su­chen, bis sie die Ohren der Andächtigen erreichten.

Er war nicht der einzige Arzt an diesem Morgen, der dem Gesang lauschte. Als er sich umsah, entdeckte er unter den Anwesenden Weni, mit dem er seine Ausbil­dung gemacht hatte, und nickte ihm knapp zu. Wie erwartet wandte der einstige Freund sich ab. Die Geschehnisse von damals, als Weni eine Falschaussage zu Horis Un­gunsten getätigt hatte, standen zwischen ihnen, sicher auch Neid. Weni, der wegen Nachtmins geringer Herkunft immer ein wenig auf ihn herabgeblickt hatte, miss­gönnte ihm seine neue Stellung als einer der Leibärzte des Pharaos. Je­denfalls glaubte Nachtmin das, doch wenn er ehrlich zu sich war, ging das Unbe­hagen viel­leicht mehr von ihm selbst aus. Noch immer konnte er die unglaubliche Erhöhung nicht fassen, die der Pharao – er möge leben, heil und gesund sein – ihm hatte ange­deihen lassen. Das war auch der Grund, warum er einmal wöchent­lich ins Haus des Lebens zurückkehrte, um die Armen zu behandeln, obwohl er dies nicht mehr ge­musst hätte. Die Zeiten, da der Vorsteher der Ärzte ihn zu die­sem schlecht entlohn­ten Dienst hatte einteilen dürfen, waren lange vorbei. Heute war er nicht mehr auf die kümmerlichen Gaben der Bedürftigen angewiesen, um seinen Lebensunterhalt zu fristen, und so sah er es als eine Art Opfer, Abbitte und Dank dafür, dass er, der arme Junge aus Chenmet-Min in Oberägypten, nun in feines Linnen gewandet einherschreiten und den König selbst berühren durfte.

Weni drehte sich um und ging. Das Klatschen seiner Sandalen hallte laut von den Wänden wider, und da bemerkte Nachtmin, dass der Gesang verstummt war. Rings um ihn herum raschelten gestärkte Schurze, weitere Priester, Wabu und Hemu-Netjer, die sich ihrem Tagwerk zuwandten. Die Wabu versahen die niedri­gen Dienste im Tempel, hielten das Tempelgelände sauber und sorgten für die Be­dürfnisse der Hemu-Netjer genannten Gottesdiener, aus deren Reihen der Pharao die vier Prophe­ten eines Gottes ernannte. Der Rang eines Wab war außerdem nö­tig, um im Haus des Lebens studieren zu können, in dem Schreiber und Ärzte ebenso ausgebildet wurden wie künftige Priester höherer Ränge. Zwei Gottesdie­ner gingen an Nachtmin vorbei, ohne ihn zu beachten, ganz in ein Gespräch ver­tieft, das sich um die Einlagerung der Opferspenden drehte.

Aus dem Gang, an dem das Heiligtum lag, kamen die ersten der hochrangigen Hemu-Netjer geschlendert. Offenbar war das Morgenritual vollendet. Während Nachtmin sich verbeugte und die Hände in Kniehöhe vorstreckte, schielte er nach den Schwänzen der Pantherfelle, die ihre Träger als einen der Propheten auswie­sen, von denen sein Schwiegervater einer war. Plötzlich drängte es ihn, Ameny die frohe Botschaft zu verkünden, dass Muti ein Kind erwartete. Er blieb in der unbequemen Bückhaltung, bis alle Hemu-Netjer an ihm vorbei waren, doch scheinbar hatten die vier Propheten einen anderen Weg genommen. Sein Schädel pochte wieder dumpf, und als er sich aufrichtete, war ihm schwindelig. Ich sollte mich mit dem Wein mehr zurückhalten, und wenn es noch so nett ist, mit Hori zu zechen, dachte er missmutig.

Beim Verlassen des Tempels kam er an einem Gottesdiener vorbei, der in ein Gebet versunken schien. Der hatte wohl nicht be­merkt, dass das Ritual bereits be­endet war. Oder wartete er auf etwas? Na, der Vorsteher würde ihm schon Beine machen, wenn er ihn erwischte. Gebete waren für das Volk; Priestern aber oblag es, für die Bedürfnisse der Götter zu sorgen. Nachtmin grinste bei der Vorstel­lung, wie der dicke Hemiunu seinen Stock auf dem Rücken des armen Kerls tan­zen lassen würde, und wurde für seine Schadenfreude gleich selbst mit einem ste­chenden Schmerz in der Schläfe bestraft. Höchste Zeit für den Trank aus Weiden­rinde mit einem Hauch Mohnkapseln, der wahre Wunder bewirkte.

Etwas später war Nachtmins Kopf kuriert und seine grüblerische Laune verflo­gen. Während er die Wunden seiner Patienten versorgte, widmete er seine Auf­merksamkeit ganz ihnen und ihren Problemen. Als er Stunden später das nächste Mal an sei­nen Schwiegervater dachte, verschob er die Verkündigung von Mutis Zustand lie­ber auf einen anderen Tag. Seiner Liebsten wäre es vielleicht nicht recht, wenn er das ohne sie täte, und Mutnofrets Unmut zu erregen, war etwas, das er nicht gern in Kauf nahm.

Ein Rätsel

Tag 5 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit

Während Nachtmins Besuchen im Haus des Lebens vermisste Hori die Gesell­schaft seines Freundes. »Gut, dass du heute wieder da bist«, hieß er seinen Freund will­kommen und knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite. »Wie lange willst du eigent­lich noch im Haus des Lebens Dienst tun? Niemand verlangt es von dir.«

Sie hatten gerade den Palast durch das große Doppeltor betreten und wandten ihre Schritte in Richtung Frauenhaus. Nachtmin sah ihn verwundert an. »Du bist doch selbst jeden Monat für einige Tage in der Weryt, um dort die Kranken zu versorgen und dich in den geheimen Künsten zu üben.«

Immer dieser bissige Unterton, wenn er auf die Balsamierungshalle zu spre­chen kam! Konnte man Nachtmins Freiwilligendienst mit seinen Besuchen dort verglei­chen? »Nein, das ist etwas ganz anderes. Die geheimen Künste, wie du sie zu nennen beliebst, nützen mir auch als Arzt. Und du weißt, dass ich dir mehr dar­über nicht sa­gen darf.« Zudem fühlte er sich Cheper gegenüber verpflichtet, dem Mann, der ihm mehr Vater geworden war als sein eigener. Von solchen Din­gen verstand Nachtmin nichts, der nach dem frühen Tod seiner Familie in Ameny und dessen Frau Isis liebe­volle Ersatzeltern gefunden hatte und außerdem mit Mutnofret glücklich war. Doch er wollte sich nicht streiten, also ließ er es dabei bewenden.

Wie aufs Stichwort kam ihnen sein Bruder Teti entgegen, der als neuer Schatz­meister seiner Majestät ebenfalls von Horis Abenteuer im letzten Jahr profitiert hatte. Trotzdem war seine Dankbarkeit über die Beförderung nicht von langer Dauer gewe­sen.

»Sei gegrüßt«, sagte Hori und blieb stehen. Nachtmin tat es ihm gleich.

»Hori …?« Teti drängte sich an ihnen vorbei. Er hatte nicht nur an Würde, son­dern auch an Leibesfülle gewonnen.

Hori presste die Lippen zusammen. Manche Dinge änderten sich nie. »Zu Hau­se alle wohlauf?«

Teti grunzte unverbindlich.

»Grüße Mutter von mir. Und Vater …«, rief er dem enteilenden brüderlichen Rü­cken nach.

»Du solltest deine Eltern öfter besuchen«, stellte Nachtmin fest. »Dann wüss­test du auch, wie ‑«

Gereizt fiel Hori ihm ins Wort und sagte nun doch das, was er zuvor aus gutem Grund unausgesprochen gelassen hatte: »Was weißt du schon davon? Du mit dei­ner Frau und jetzt bald deinem K …« Schon bereute er es. »Warte! Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Ich wünschte nur, ich hätte, was du hast.«

Doch Nachtmin war bereits steifen Schrittes um die nächste Ecke gebogen. Trä­nen brannten in Horis Augen. Dabei tat er sich nur selbst leid, wie erbärmlich. Sein Bru­der war ein kaltherziger Mistkerl, doch er hätte seinen Ärger nicht an Nachtmin aus­lassen sollen, der oft etwas empfindlich war. Und dabei hatte er sich so auf die heu­tige Zusammenarbeit gefreut! Er stürmte um die Ecke und prallte mit voller Wucht in einen Mann, der es wohl seinerseits eilig hatte.

Während Hori sich die Stirn rieb, begann der andere, dessen Perücke und Insi­gnien ihn als Palastboten auswiesen, zu zetern: »Was fällt dir ein? Kannst du nicht auf­passen?« Er stöhnte und fasste sich ebenfalls an die Stirn.

Hori erschien es, als sähe er sein Spiegelbild im Wasser eines Teiches. »Ver­zeih«, murmelte er. »Lass mich das ansehen. Ich bin Arzt.«

Der Bote ließ die Hand sinken. »Oh. Dann kannst du mir vielleicht helfen. Ich su­che den Heiler Hori, Sohn des Sobekemhat.«

»Du hast ihn gefunden.« Horis Finger glitten über die leichte Schwellung, die sich über der linken Augenbraue des Mannes abzuzeichnen begann. »Nicht weiter schlimm, nur eine Beule. Ich kann dir einen Trank zubereiten, der Kopfweh lin­dert, wenn du Schmerzen bekommst.«

»Hab Dank!« Ein Lächeln glitt über die Züge des Boten und verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Dafür wird dir leider keine Zeit bleiben. Mein Auf­trag lautet, dich zum Pharao – er möge leben, heil und gesund sein – zu brin­gen.« Sein Arm wies auffordernd in den Gang, aus dem Hori gerade gekommen war, wäh­rend er sich schon in Bewegung setzte.

»Warte!«, rief Hori. »Nur mich, nicht auch den Arzt Nachtmin?«

Sein Begleiter hielt inne und wandte den Kopf. »Nur dich. Nun komm.«

Der Mann hatte es wirklich eilig, seinen Auftrag zu besorgen. Was konnte so drin­gend sein? Und hatte da eben etwas wie Furcht in den Augen des Kerls gefla­ckert? »Ähm, ich würde gern noch jemandem Bescheid geben, wo ich bin. Man erwartet mich.«

Selbst der Rücken des Mannes strahlte Verärgerung aus. Ohne ihn einer Ant­wort zu würdigen, marschierte er weiter. Hori stapfte widerstrebend hinterdrein. Zu dumm, nun musste er den kleinen Streit mit Nachtmin ungelöst lassen. Er kannte sei­nen Freund gut genug, um zu wissen, dass er auf der Kränkung herum­kauen würde wie ein Hund auf einem Knochen, und am Ende des Tags wäre er Hori gegen­über nicht milder gestimmt. Dass er ohne ein Wort der Erklärung sei­nen Pflichten fern­blieb, würde auch nichts zu Nachtmins Besänftigung beitragen, doch was sollte er tun? Dem König den Gehorsam verweigern?

Der Bote führte ihn sicheren Schritts durch das Labyrinth des Palasts, das Hori nicht einmal zur Hälfte kannte. Noch immer verirrte er sich leicht in den Fluren mit den zahllosen Türen, hinter denen sich die Amtsstuben der Verwaltungsbeam­ten der Beiden Länder verbargen: Steuer- und Provinzverwaltung, Schreibstuben, Archiv, das Schatzamt und vieles mehr, dazu kamen die Lager und Werkstätten, die zum kö­nigli­chen Haushalt gehörten. Wer konnte schon sagen, in welchem Gang sich was befand? Das Große Haus war eine Stadt inmitten der Residenz. Als er jedoch auf einer Tür, an der sie vorbeischritten, die Bezeichnung Tjati, We­sir, entziffern konnte, wusste er, dass sie dem Herzen der Beiden Länder ganz nahe waren, dem Arbeits­zimmer des Pharaos. Hori drehte den Kopf in der Hoff­nung und Furcht zugleich, die Tür des We­sirs werde sich öffnen, denn der höchste Beamte Kemets war Sobekem­hat, sein Vater. Vielleicht sollte sich dieser ebenfalls beim König einfinden. Welches Anliegen mochte es sein, das Horis Anwesenheit erforderte? Er war sicher nicht we­gen einer Behandlung gerufen worden, und aus­gefressen hatte er auch nichts. Wie das klang – er war doch kein Bengel mehr, den man herzitierte, um sich Rutenstrei­che abzuholen.

»Da sind wir.« Der Bote öffnete die Tür an der Stirnseite des Gangs und entle­digte sich seiner wie einer Lieferung Stroh. Während Hori noch neugierig in das Vor­zim­mer spähte, stob der Mann davon, als hätten sich die Ungeheuer der Duat an seine Fersen geheftet.

Merkwürdig. Er durchschritt den Raum bis zur Pforte, neben der Sesostris’ Diener Atef stand, dessen Aufgabe es war, den Besuchern des Königs den Weg freizugeben oder zu versperren. Auf den Bänken saßen allerdings keine Bittstel­ler, nicht einmal ein Bote aus einem der Gaue der Beiden Länder. Meist wimmel­te das Vorzimmer des Königs vor Menschen, sogar Ausländern, Gesandtschaften der Wüstenvölker aus dem fernen Retjenu oder Kusch. Wo waren die Leute alle – oder hatte sie jemand vertrieben?

Atef hatte die Hand schon zum Klopfen erhoben, da dämmerte Hori endlich, wer ihn außer dem König auf der anderen Seite erwartete. Er trat in das schlicht einge­richtete Zimmer, das ihm inzwischen recht vertraut war, und verbeugte sich tief vor dem Pharao. Aus dem Augenwinkel aber hatte er den anderen Besucher bereits gese­hen, dessen Antlitz das des Totengottes Anubis selbst zeigte. Dies war natürlich der Grund für die Furcht des Boten und das leere Vorzimmer. Nur selten betrat der Vor­steher der Weryt die Gefilde der Lebenden, und wenn, so trug er die Schakalmaske. Die Menschen der Beiden Länder erfüllte sein Anblick mit Schre­cken, war es doch, als begegneten sie dem leibhaftigen Totengott.

»Erhebe dich, Hori, und setz dich«, forderte Sesostris ihn auf.

»Ich grüße den Starken Stier Ägyptens und auch dich, Hut-Nefer.« Er zog den Stuhl heran. Was führte den Werytvorsteher aus der Totenstadt heraus? Etwas musste in der Balsamierungsstätte vorgefallen sein, etwas Ernstes, sonst hätte eine Nach­richt genügt. Eine Krankheit? Ein Unglück? »Wird meine ärztliche Kunst im Haus des To­des verlangt?«, platzte er heraus, unfähig, seine Neugier länger zu zügeln.

Der König zog unwillig die Brauen zusammen.

»Nicht der Arzt Hori ist es, den wir suchen, noch der Balsamierer Hori«, dröhnte die tiefe Stimme Hut-Nefers aus der Maske.

»Nicht?« In Horis Herzen wirbelten die Fragen durcheinander.

»Es ist ein Vorfall von großer Tragweite, der den Vorsteher der Weryt hierher führt. Du allein scheinst imstande, das Rätsel zu lösen.« Sesostris wirkte ange­spannt.

»Welches Rätsel?«

Hut-Nefer räusperte sich unbehaglich. »In einem der Krüge, in denen die Or­gane der Verstorbenen in Natron eingelegt werden, fanden sich zwei Herzen.«

»Oh.« Einen Moment wusste Hori, nicht was er darauf erwidern sollte. Dann ver­suchte er, Erklärungen zu finden. »Ein Versehen? Hat einer der Utu es falsch abge­legt?« Noch während er das sagte, wurde ihm klar, dass so etwas niemals ge­schehen konnte. Das zischende Schnauben aus der Maske bestätigte es. Hori kannte die Ab­läufe während der Balsamierung genau. Jeder Ut stellte die leeren Gefäße, die mit den Hieroglyphenbezeichnungen für Lunge, Leber, Magen, Ge­därm und Herz be­schriftet waren, neben seinem Tisch bereit, bevor er den Bauch­schnitt vollzog und die Organe entnahm. Und zwar für jeden Toten von Neuem. Sobald die Körperteile mit dem trocknenden Salz bedeckt waren, wurden die Krüge versiegelt, und Etiket­ten mit dem Namen des Toten sorgten dafür, dass kei­ne Verwechslung stattfinden konnte. Wenn also jemand in eines der Gefäße zwei Herzen gelegt hatte, so musste entweder der Verstorbene ein zweites gehabt ha­ben – höchst unwahrscheinlich ‑, oder jemand hatte sich nachträglich an einem der Krüge zu schaffen gemacht und ihn danach wie­der versiegelt. Derjenige konnte nur jemand innerhalb der streng ab­geschirmten Mauern der Weryt sein. »Warum sollte jemand so etwas mit Absicht tun?« Er sah den beiden Männern ins Gesicht.

Pharao und Werytvorsteher schwiegen, vielleicht um Hori Zeit zu geben, selbst die richtigen Schlüsse zu ziehen. Jetzt erhob sich Hut-Nefer und ging ein paar Schritte. »Das, mein lieber Hori, ist genau die Frage. Warum sollte jemand so et­was tun?«

»Aber … Dann müsste es auch einen Körper geben, dessen Herz fehlt.«

Sesostris unterbrach ihn. »Bevor ihr über Geheimnisse sprechen müsst, die nicht einmal meine königlichen Ohren vernehmen dürfen, lasse ich euch allein.« Er erhob sich.

»Majestät …« Hut-Nefer verbeugte sich.

Der König verließ das Zimmer durch einen Seitenausgang, der, wie Hori wuss­te, zum Palastgarten führte. Gern wäre auch er an die frische Luft gegangen, denn es war stickig im Raum, und um Hut-Nefer hing der Geruch des Todes. Den Pha­rao aus seinem eigenen Arbeitszimmer vertrieben! Erst jetzt wurde ihm klar, wie ernst diese Angelegenheit war. Hier ging es nicht um eine simple Schlamperei.

Der Mer-Ut stützte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte, und drohend senkte sich die Schakalmaske über Hori. »Das Herz kam allein in die Weryt, ohne den Leib, in dem es einst geschlagen hat, und niemand weiß, wie das geschehen konnte. Jeder Ut wurde befragt, selbst die Vorlesepriester verhört. Fehler können geschehen, ge­wiss, doch weiß jedermann innerhalb der Mauern, wie wichtig der richtige Ablauf ist. Hätte jemand vergessen, eines Toten Herz in das Gefäß zu le­gen, er hätte es noch vor Ende seiner Arbeit an dem Leichnam bemerkt und seine Nachlässigkeit auf die einzig richtige Weise behoben. Nein, wir müssen hier von Absicht ausgehen. Nur, was da­hintersteckt, ist mir ein Rätsel.«

Jemand musste das Herz in die Balsamierungsstätte gebracht haben. Al­lein, das war ein Ding der Unmöglichkeit; niemandem aus der Welt der Le­benden war es gestattet, diese Pforten zu durchschreiten, nur dem Mer-Ut und – ihm selbst seit Kurzem. Ebenso wenig durfte jemand, der dort lebte, sie verlassen, außer beim Begräbniszug eines Angehörigen unter strenger Bewachung. Hori hat­te das im ver­gangenen Jahr selbst leidvoll erfahren müssen. Aber halt! Er hatte doch einen Weg herausgefunden … Schuldbewusst senkte er den Blick. »Der Ka­nal.«

Der Vorsteher schüttelte bedächtig den Kopf. »Nachdem wir von deinem Schlupf­loch erfahren hatten, haben der König und ich sofort dafür gesorgt, dass außerhalb der Mauer nachts Wachen ihre Runden ziehen.«

Die armen Kerle! Nur ungern erinnerte Hori sich an das Grauen, das ihn bei sei­nen nächtlichen Ausflügen oft befallen hatte. Die westliche Wüste war das Reich der Toten, und die Schatten der Verfemten und Verfluchten suchten sie heim. Freiwillig würde er dort nicht die Nacht verbringen wollen. Ob die Wachen nachlässig gewe­sen waren, sodass jemand unbemerkt unter der Mauer hindurch gekommen war? Aber nein, wer außer einer Handvoll Menschen wusste über­haupt von diesem Weg? Abge­sehen von den Anwesenden nur noch der König, Ameny und Nachtmin. Keiner von denen würde etwas so Schreckliches tun. »Dann muss das Herz jemandem ge­hören, der in der Weryt gelebt hat und dort gestorben ist«, sinnierte er.

Die Schakalschnauze fuhr ruckartig zu ihm herum. »Ausgeschlossen. Niemand fehlt. Glaubst du nicht, daran hätte ich zuerst gedacht?«

Hori duckte sich unter der dröhnenden Vorhaltung. »Was genau erwartest du von mir?« Die Aufgabe schien ihm unlösbar.

»Kehre zurück in die Weryt, so als wollest du wie üblich deinen Dienst tun. Finde heraus, wer das Herz zu uns gebracht hat und wem es gehörte. Du weißt, was ge­schieht, wenn der Tote ohne sein Herz vor das Gericht tritt.«

Hori schluckte. »Kein Nachleben.«

Ernst nickte die spitze Schnauze. »Wir sind es demjenigen schuldig, dass dies nicht geschieht. Du gehst noch heute. Gleich jetzt.«

Nachtmin schlug die Pforte zu seinem Anwesen fester zu, als er beabsichtigt hat­te. Der Knall machte den immer noch schwelenden Groll auf Hori nicht geringer. Spät war es, längst dunkel, aber so war das eben, wenn man für jemand anderen die Pflichten übernehmen musste, der auf der faulen Haut lag – oder was Hori auch sonst den ganzen Tag getrieben hatte. Ihm sein Glück zu neiden und ihn dann im Stich las­sen – was war denn auf einmal mit seinem Freund los?

Inti kam herbeigeeilt. »Willkommen daheim, Herr. Wünschst du heute noch, meine Dienste in Anspruch zu nehmen?«

Erschöpft wischte Nachtmin sich übers Gesicht und rieb mit dem Daumen die Stelle über der Nasenwurzel. »Hat dein Weib mir etwas zu essen zurückgestellt?«

»Selbstverständlich.«

Ja, selbstverständlich, dachte Nachtmin. Sie sind es gewohnt, dass ich als Arzt zu später Stunde außer Haus bin. Trotzdem plagte ihn das schlechte Gewissen. Er hätte zumindest Muti Bescheid geben sollen, wie spät es heute werden würde, war es doch seit der Mittagsstunde abzusehen gewesen, dass Hori keinen Finger mehr krumm ma­chen würde. Wieso nur hatte er ihn auch noch gedeckt, indem er seine Patienten mit versorgte? Wenn der König erfuhr, wie Hori sich heute aufge­führt hatte … Nein, so gemein war er nicht, seinen Freund zu verraten. Aber er musste ein ernstes Wort mit ihm reden.

Seine Schritte führten ihn aufs Dach des Anwesens, wo Muti und er in der hei­ßen Jahreszeit zu essen und manchmal auch zu schlafen pflegten. Vom Gesinde­flügel des Anwesens nahm Nachtmins Nase noch den Geruch des ersterbenden Kochfeuers wahr, mit dem Baketamun die Speisen zubereitet hatte. Gerade legten sie und Inti sich dort drüben auf ihren Schilfmatten nieder.

Hier oben war die Luft frischer und kühler als in den Räumen, in denen die Ziegel die gespeicherte Hitze des Tages wiedergaben. Im Licht des Mondes steu­erte er auf das Tischchen zu, auf dem unter einem feinen Tuch die Reste des Abendessens be­reitstanden.

»Ein langer Tag, mein Gemahl?« Die grazile Gestalt Mutnofrets erhob sich von ihrem Lager. Hatte sie schon geschlafen oder auf ihn gewartet?

Nachtmin umarmte sie, bevor er sich auf einem der Schemel niederließ, und seufzte. »Muti. Ich hab gehofft, dass du mir Gesellschaft leistest.« Er ergriff ihre Hand und legte sie an seine Wange.

Sie hob das Tuch an, und verführerische Düfte stiegen auf. Er verspürte gewal­tigen Hunger, doch bevor er zugriff, berichtete er ihr von dem Streit mit Hori.

Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Das passt gar nicht zu ihm. Er ist mir nie vorgekommen wie einer, dessen Herz vor Neid zerfressen ist, weil andere ihr Glück gefunden haben.« Sie ließ sich ihm gegenüber nieder.

Nachtmin schnaubte. »Oh doch, da sind durchaus Schatten auf seinem Herzen, ich habe sie bereits kennengelernt. Dabei könnte er jede haben! Er müsste nur mit dem Finger schnippen.« Seine Stimme verebbte. Hori war im Grunde einer, dem al­les von selbst zufiel, wo er immer hatte kämpfen müssen. Und dann sah der Kerl auch noch unverschämt gut aus und war viel selbstsicherer als er. Kunst­stück, bei der hochge­stellten Familie.

»Du wirst ihn doch nicht beneiden, obwohl ich dich erwählt habe?«

Er lachte. »Niemals.« Das war ganz seine schnippische Muti. Sie hatte aller­dings recht. Schnell unterdrückte er die Anwandlung von Selbstmitleid. »Du hast ihn heute nicht gesehen, oder?«

»Wie sollte ich?« Sie zwackte ihn spielerisch in den Arm. »Er war doch mit dir im Palast, mein überaus kluger Mann.« Er wollte gerade einwenden, dass Hori sich aus dem Staub gemacht hatte, da fügte Muti an: »Oh, da fällt mir ein, es ist eine Nach­richt für dich abgegeben worden. Sie müsste noch unten liegen. Ich hole sie eben.« Sie stand auf, und ihr Gewand raschelte leicht in der nächtlichen Brise.

Das Leinen war so fein, dass das Mondlicht die Konturen ihres Körpers durch­scheinen ließ, und mit einem Mal hatte er nur noch auf sie Appetit. »Warte«, sagte er und hielt sie fest. Seine Stimme klang rau vor Begehren.

Er rutschte mit dem Schemel ein Stück vom Tisch weg und zog sie auf seinen Schoß. Gierig küsste er sie. Nicht lange, und Muti hatte den Knoten seines Gür­tels gelöst. Die Tuchbahn seines Schurzes glitt seine Hüften hinab und entblößte seine Erektion, auf die Muti sich mit einem lustvollen Stöhnen rittlings hinabglei­ten ließ. Ihr Schlafgemach suchten sie an diesem Abend nicht mehr auf.

Erst beim Frühstück, das er im Garten einnahm, um Mutis Schlummer nicht zu stören, dachte Nachtmin wieder an die Botschaft, die sie erwähnt hatte, und bat Inti, sie ihm zu bringen. Mit offiziellem Siegel! Heiß fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Was, wenn es um etwas Wichtiges ging, und er hatte mit seiner Frau ge­tändelt, statt seine Pflicht zu tun? Doch sobald er das Siegel erbrochen hatte, er­kannte er Horis Handschrift und runzelte unwillig die Stirn. Was sollte das?

»An Nachtmin, Leibarzt seiner Majestät von Hori, der sein Freund ist.

Möge kein Schatten unsere Freundschaft trüben. Seine Majestät – er möge le­ben, heil und gesund sein – hat mich für einige Zeit in die Weryt befohlen. Dir und deiner Frau Gesundheit und Wohlergehen.«

Nachtmin ließ das Schreiben sinken, dann las er es noch einmal, ohne es recht zu begreifen. Sollte das eine Entschuldigung sein? Es klang fast so. Und war Hori des­halb gestern nicht zum Dienst gekommen, weil der König ihn gerufen hatte? Seit wann aber befahl Sesostris ihn in die Weryt? Horis regelmäßige Besuche dort waren seine freie Entscheidung, anders als damals, als das Urteil des Königs ihn verdammt hatte. Nur schweigen musste er weiterhin über diese geheimnisvolle Welt im Toten­reich. Ärger wallte in ihm hoch. Noch mehr Heimlichkeiten? Als Mutnofret ver­schla­fen die Nase zur Tür herausstreckte, reichte er ihr den Brief.

»Da siehst du es«, sagte sie.

»Ja, ich sehe es. Und verstehe es doch nicht. Aber es erklärt wohl, warum er ges­tern plötzlich verschwunden war. Ich musste all seine Patienten übernehmen. Was das zu bedeuten hat?«

»Wir werden es wohl nie erfahren.« Mutnofret setzte eine wichtigtuerische Miene auf und imitierte Horis Stimme, die manchmal etwas pompös klingen konnte. »Du weißt ja: Was in der Weryt ist …«

Er prustete los vor Lachen. »… bleibt in der Weryt, ja, ja.«

»Ob er daran gedacht hat, seinen Dienern Bescheid zu geben? Ich schicke Inti nachher hinüber.«

»Wie schaffst du es nur, immer an alles und jeden zu denken?« Liebevoll be­trachtete er sie. Er hatte wirklich unglaubliches Glück.

»Jahrelange Erfahrung mit männlicher Nachlässigkeit.« Sie grinste.

Auf dem Weg in den Palast bereitete er sich darauf vor, wieder Horis Last mit­tragen zu müssen, während dieser alte Freunde besuchte. Er spürte den Sta­chel der Eifersucht in seinem Herzen und konnte ihn doch nicht herausziehen. Wenn Hori hinter den Mauern der Weryt weilte, blieb er ausge­schlossen. Verstohlen schüt­telte er die Faust gen Westen. Hoffentlich kehrte er bald zurück.

Zurück zu den Toten

Tag 6 des Monats Ipet-hemet in der Jahreszeit Schemu, der Erntezeit

Über Hori wölbte sich derselbe blaue Himmel wie sonst auch, und doch erwachte er in einer anderen Sphäre. Um ihn daran zu gemahnen, hätte es nicht Chepers Schnarchens bedurft. Er war froh, wieder bei seinem Lehrmeister unterkommen zu können, und noch froher, dass Chepers Tochter Nut inzwischen bei ihrem Ehe­mann ein paar Häuser weiter lebte. Hori hatte sich bei ihm früher immer etwas unbehag­lich gefühlt, weil er wusste, der Ut hätte ihn gern als Schwiegersohn ge­sehen. Die­sen Wunsch hatte er zum Glück aufgegeben, sobald Hori die Weryt verlassen durfte. Nachdenklich betrachtete er den kahlen Schädel des älteren Mannes auf der Pritsche neben ihm. Er richtete sich auf.

Cheper schien sich stets ehrlich über seine Besuche zu freuen, und doch stand jetzt etwas zwischen ihnen, sein Anderssein. Er war eben nur mehr ein Gast, den man gern beherbergte, aber um dessen baldigen Abschied man bereits wusste. Kei­ner, an den ein Mann seine Kenntnisse an Sohnes statt weitergeben konnte. Die Ent­täuschung darüber ließ der Ut ihn nicht spüren, und doch war sie be­stimmt da. Sobekemhat hielt jedenfalls mit seiner nicht zurück, weil Hori nicht den vorgezeich­neten Weg einge­schlagen hatte.

Er zupfte ein Stück aus dem Innern des Fladenbrots, das allerdings über Nacht nur mit einem Tuch bedeckt gewesen und nicht mehr weich und saftig war. Na, machte nichts. Mit einem Schluck Wasser rutschte es trotzdem seinen Schlund hin­ab. Eine Fliege ließ sich summend auf Chepers Schädel nieder und erkundete die glänzende Fläche, die keines Rasiermessers mehr bedurfte. Lediglich ein schmaler Kranz Stop­peln, mehr grau als schwarz, war über Nacht gesprossen. Die Lider des Schläfers zuckten. Während die Fliege die weite Ödnis von Chepers Stirn überquer­te, befühlte Hori seinen eigenen Schädel, der alles andere als glatt rasiert war. Er hatte diesen Teil der Körperpflege am Vortag ausgelassen und sich einfach die Perü­cke übergestülpt. Heute müsste er jedes Haar an seinem Körper gründlich entfernen, bevor er seinen Dienst an den Toten aufnehmen durfte, damit sich keine bösen Geis­ter in ihnen fest­setzen konnten, die Tod und Verderben über die Lebenden brachten.

Die Fliege hatte die Nasenspitze erreicht, und Cheper schlug nach ihr. »Mh?« Ver­schlafen richtete er sich auf. »Oh, oh weh! Warum hast du mich nicht ge­weckt!«

»Ich bin selbst gerade erst aufgewacht.«

Sie hatten seine Ankunft gestern Abend mit Bier gefeiert – und dem Krug Dat­telwein, den Hori aus dem Palast hatte mitgehen lassen. Es war später geworden, als Cheper es gewöhnt war, und vermutlich brummte ihm der Schädel wegen des süßen Weins, den sie in der Weryt nur selten bekamen.

»Du hast wohl vergessen, wann das Tagwerk eines Ut beginnt, du Faulpelz«, schimpfte Cheper und stolperte beim Ankleiden ungeschickt über die eigenen Füße.

Hori grinste. »Warte, ich hole dir was, das den Schmerz vertreibt.«

»Ah bah, ich brauche nichts als etwas Wasser. Sieh lieber zu, dass du ins Ibu kommst.« Sein Blick glitt über Horis behaarte Beine. »Du wirst lange brauchen, um dich vorzubereiten. Bis dahin wird Res Barke schon hoch am Himmel ste­hen.«

Er scheuchte Hori geradezu die Stiege hinab und aus dem Haus. Im Trab eilten sie zu der Reinigungshalle der Balsamierer, die scherzhaft Ibu genannt wurde wie das Zelt, in dem die Waschungen der Leichen stattfanden. Als Hori sich noch au­ßer Atem den kundigen Händen des Dieners überließ, der ihn von Kopf bis Fuß rasierte, ver­fluchte er es, dass er seine Zeit mit der normalen Arbeit unter den Utu vertrödeln musste, statt das Rätsel um das überzählige Herz zu klären. Hut-Nefer hatte ihm ver­boten, jemandem zu erzählen, warum er hier war. Nicht einmal Che­per durfte es wis­sen, denn vorerst war jeder verdächtig. Wo aber sollte er begin­nen? Einerseits wür­den die Männer sicher freimütiger mit ihm reden, wenn sie nichts von seinem Auf­trag ahnten, andererseits war die Arbeit an den Leichen eine einsame Tätigkeit. Lediglich der monotone Singsang der Vorlesepriester und das gelegentliche Klopfen, wenn ein Ut den Schädel eines Toten durch die Nase öffnete, um die graue Masse ab­zulassen, waren tagsüber zu hören. Mit den Utu und Heriu-Heb unterhalten könnte er sich so oder so erst abends. Zu dumm, dass sein letzter Besuch in der Weryt nur eine Woche her war. Seither war niemand neu erkrankt, niemand brauchte einen Arzt. So­bald er den ersten Leichnam auf dem steinernen Tisch vor sich hatte, lenkten ihn die Erfordernisse seiner Arbeit von den fruchtlosen Grübeleien ab, und er fand die alte Freude wieder, die er stets verspürte, wenn er die Geheimnisse des Körperin­nern mit seinen Händen er+-forsch+-te.

Am Abend lauschte er im Ibu den Stimmen der Männer, die sich wie er den Schmutz vom Leib rieben. Erst mit Sand und dann mit kaltem Wasser und einer Schaum bildenden Masse, welche die Frauen der Utu herstellten, indem sie Öl mit Pottasche kochten. Das erinnerte Hori daran, dass er sich von Nut zeigen las­sen wollte, wie genau man das machte, denn das Zeug brannte zwar furchtbar, wenn man es in offene Wunden bekam, aber es schien auch heilende Kräfte zu haben. Je­denfalls entzündeten sich die so behandelten Verletzungen weit seltener und weniger heftig. Die Masse roch allerdings nicht besonders gut, doch mögli­cherweise könnte man dem mit Parfümölen beikommen? Er sollte das mit Mutno­fret besprechen.

Der Klang des Wortes ›Herz‹ ließ ihn aufmerken. Worüber sprachen die beiden dort drüben? Hori blinzelte das Wasser aus seinen Augen. Es waren zwei Brüder, die sich über eine Liebelei des Jüngeren unterhielten. Hori wandte sich ab und widmete sich wieder seiner Reinigung. Von Hut-Nefer wusste er, dass der junge Hornacht das Herz gefunden hatte, und der bewohnte mit seiner Frau das Haus di­rekt neben Chepers. Vielleicht sollte er mit seinen Nachforschungen dort begin­nen? Da Hor­nacht ihm im Alter recht nahe stand, hatte er sich mit dem Ut in den vergangenen Monden angefreundet, also würde es auch nicht auffallen, wenn er ihn besuchen ging. Ja, das war ein guter Plan. Er trocknete sich ab und suchte Cheper, der draußen auf dem Platz vor dem Ibu mit einigen Männern seines Al­ters schwatzte.

»Ah, da bist du ja endlich!«, rief er schon von Weitem und ließ sein keckern­des Lachen hören.

Hori gesellte sich zu ihm. »Ähm, macht es dir was aus, wenn ich heute Abend auf ein Schwätzchen zu Hornacht gehe?«

Zu seiner Erleichterung zeigte Cheper keine Enttäuschung. »Ach, gar nicht. Nut hat ihren alten Vater sowieso zum Essen gebeten. Eigentlich hätte ich dich mitge­nommen, aber du weißt ja, wie Frauen sind. Erst tun sie so, als sei ein uner­warteter Gast gar kein Problem, und dann wirbeln sie den ganzen Abend herum und sitzen nicht einen Moment still, bis allen unbehaglich wird.« Er zwinkerte verschmitzt.

Hori wurde es ganz warm ums Herz, weil der alte Mann so unkompliziert war. »Ja, so sind die Frauen. Sicher wird Hornachts Weib auch um mich herumflattern. Wo steckt der Halunke denn? He, Hornacht, da bist du ja.«

Breit grinsend kam der schlaksige Kerl auf ihn zu. »Hori! Dachte ich mir doch, dass ich deinen Eierkopf heut früh auf Chepers Dach gesehen habe.«

»Ich habe sogar gewunken, aber wie immer hattest du nur Augen für Amaunets Schönheit«, flachste Hori zurück. »Würde es dein holdes Weib in Verlegenheit stür­zen, wenn ich gleich bei dir auf einen Krug Bier vorbeikäme? Der alte Mann hier wird bei seiner Tochter speisen und glaubt, meine Gegenwart könnte sie zu sehr ver­wirren, wo sie doch gerade geheiratet hat.«

Cheper meckerte wie eine Ziege. »Das werde ich ihr verraten!«

Hori tat entsetzt. »Nur das nicht!« Sein Herz aber war zufrieden. Jetzt fühlte er sich wieder zu Hause.

Hornacht hakte ihn unter und zog ihn mit sich. »Ach was, Krug! Du kommst gleich mit zum Essen. Der alte Bock hat sicher nur trocken Brot in seiner Speise­kammer.«

»Alter Bock? Das habe ich gehört!«, waberte Chepers Stimme hinter ihnen her.

Als Nachtmin an diesem Tag seinen Dienst im Frauenhaus antrat, gesellte sich ein Kollege zu ihm.

»Tep-Ta!«, rief er überrascht.

Die Mundwinkel des klein gewachsenen Arztes sackten noch tiefer hinab. Oh nein, ich weiß gar nicht, wie er richtig heißt, wurde Nachtmin klar. Jeder nannte ihn nur Tep-Ta, Kopf auf der Erde, wegen seines geringen Wuchses und weil er diesen Mangel dadurch wettzumachen suchte, indem er sich Höhergestellten übertrieben an­diente.

»Der Imi-Ra hat mich für die Dauer von Horis Abwesenheit ins Frauenhaus be­foh­len«, schnarrte er. »Als dein Vorgesetzter werde ich selbstredend die Köni­ginnen und hochrangigsten Konkubinen betreuen.«

»Wie du wünschst.« Na wunderbar! Hätte der Vorsteher der Palastärzte nicht einen anderen als ausgerechnet diesen aufgeblasenen Wicht wählen können, unter dessen Würde es war, niedere Patienten zu versorgen? Hori und er pflegten zu­sammenzuarbeiten, doch mit Tep-Ta würde das sicher eher ein Gegeneinander als Mit­einander. Leider gab es auch hier eine klare Hierarchie, die sich nach dem Dienstal­ter richtete. Ach du Schreck! Wenn der König selbst sich bemüht hatte, den Imi-Ra über Horis Abwesenheit in Kenntnis zu setzen, würde sein Freund wohl länger als nur eine Wo­che fortbleiben. Nachtmins Ärger über Horis Ver­schwinden verblasste hinter seiner Neugier, welche außergewöhnlichen Umstände dieses Arrangement hervorgerufen haben mochten.

Während Tep-Ta hinter der Tür zu den Gemächern der Königinnen ver­schwand, versorgte Nachtmin die Wehwehchen der übrigen Damen. Nicht zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es ohne seinen Freund recht still bei der Arbeit war. Die alte Tefnut, de­ren erklärter Liebling Hori war, ließ sich heute gar nicht erst blicken. Eigenartig, dass Horis Abwesenheit ihr Gliederreißen besser kurierte als seine kundigen Hände. Nachtmin grinste in sich hinein.

»Du solltest öfter lächeln«, sagte das Mädchen, dessen aufgeschlagenes Knie er gerade verbunden hatte. »Das steht dir.«

Überrascht sah er auf. Hübsch, mit der dunklen Haut der Kuschitinnen, und von der war viel zu sehen. Die Träger ihres Kleides waren verrutscht und ließen keck die Warzen ihrer vollen und festen Brüste hervorblitzen. Hatte die Kleine das mit Ab­sicht gemacht? Ihr Fuß, der in seinem Schoß lag, beantwortete seine unausgespro­chene Frage und rieb an seinem Glied. Nun stand ihm noch etwas ganz anderes. Er errötete. »Uhm, oh … Ich …« Ihr Götter!, dachte er und schielte zur offen stehenden Tür hin­aus. Hoffentlich hatte niemand es gesehen. Er war doch ein verheirateter Mann. Fast schon brüsk erhob er sich und ließ das verletzte Bein einfach fallen.

Armes Ding. Verdenken konnte er ihr nicht, dass sie es versuchte. Vermutlich würde der König sie nie als Gefährtin für die Nacht auswählen; es gab einfach zu viele schöne Frauen hier, und Sesostris bevorzugte die Gesellschaft seiner beiden Kö­niginnen. Was Nachtmin allerdings blühte, wenn er dabei erwischt würde, wie er eine der Frauen beglückte … Jedes Kind, das im königlichen Harem geboren wurde, be­kam schließlich den Status eines Prinzen oder einer Prinzessin mit der Möglich­keit, eines Tages den Horusthron zu besteigen, sollten die Gemahlinnen des Pharaos ihm nicht lebende Töchter und Söhne schenken. Der Pharao musste sich auf seine Ärzte verlassen können!

Die restlichen Patientinnen behandelte er schnell. Selten gab es etwas Ernstes, und viele der Beschwerden ließen sich auf den Müßiggang zurückführen, den die Damen hier im Überfluss pflegten. Das Fieber eines kleinen Prinzen war noch das Drama­tischste, mit dem er es heute aufnehmen musste, doch der Junge bekam le­diglich Zähne. Als Nachtmin sein Tagwerk beendete, stand die Sonnenscheibe hoch am Him­mel. Kurz überlegte er, selbst noch einmal bei den Königinnen vor­beizuschauen, dann verlockte ihn die Aussicht auf etwas freie Zeit mehr. Tep-Ta würde es ihm zu­dem nicht danken, wenn er sich in seine Kuren einmischte.

Er suchte das königliche Badehaus auf und ließ sich von den Dienern gründ­lich reinigen. Das kühle Wasser war eine Wohltat! Ein muskelbepackter Kuschite, dessen Haut so dunkel war wie Augenschminke, walkte ihn anschließend ordent­lich durch und rieb seinen Körper mit kostbaren Ölen ein. Nachtmin seufzte be­haglich. Dieses Dasein hatte ganz gewiss etwas für sich. Da er seiner Pflichten le­dig war, könnte er noch kurz im Tempel des Amun vorbeisehen. Ja, das war ein guter Gedanke. Ameny würde sich freuen, wenn er ihn abholte und mit ihm ge­meinsam ins Villenviertel schlenderte.

Er fand Mutis Vater im grünen Schatten des Tempelgartens ins Gespräch mit ei­nem Hem-Netjer vertieft. Sein Schwiegervater bemerkte ihn schon von Weitem und winkte ihm zu. Als Nachtmin die beiden erreicht hatte, legte Ameny dem Got­tesdie­ner eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich werde deinen Vorschlag in mei­nem Herzen erwägen. Nur musst du verstehen, dass ich diese Entscheidung nicht al­lein treffen kann. Morgen Abend werden sich die Propheten sowie alle Hemu-Netjer der obersten Einweihungsstufe, die sich derzeit in der Residenz auf­halten oder bis dahin anreisen können, in meinem Haus versammeln. Du gehörst selbst zu ihnen und wirst auch kommen, nehme ich an?«

Der Gottesdiener lächelte erfreut, als sei dies eine Einladung nur für ihn. »Na­türlich!« Er nickte Nachtmin zu und entfernte sich zwischen zwei Jasminbüschen.