Bittersüße Realität - Kira Geiss - E-Book

Bittersüße Realität E-Book

Kira Geiss

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Beschreibung

Mit nur 20 Jahren wird Kira Geiss zur Miss Germany 2023 gewählt und taucht über Nacht in die Welt des Glamours ein. Doch hinter dem glitzernden Vorhang entdeckt sie auch die dunklen Seiten des Ruhms: Fremdbestimmung, Druck und Oberflächlichkeit. Sie berichtet von erschütternden Übergriffen, dem Kampf gegen den eigenen Körper und der Wahrheit hinter den Social-Media-Likes. Von ihren Abstürzen als Teenager, ihrer Suche nach Zugehörigkeit und darüber, wo sie schließlich Halt und Hoffnung fand. Authentisch und mitreißend teilt Kira ihre Erfahrungen und fasst in Worte, was viele bewegt: Wer bin ich, wenn keiner hinsieht? Wie kann ich echt und erfüllt leben?

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kira Geiss

Bittersüße Realität

Über mein Leben, Social Media und die Glamourwelt

adeo

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Copyright © 2024 adeo Verlag

in der SCM Verlagsgruppe GmbH,

Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im September 2024

ISBN 978-3-86334-881-6

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter

Umschlagfoto: Studio Wey / www.studiowey.at

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.adeo-verlag.de

Inhalt

TEIL 0

TEIL 1

Filmriss

Tiefpunkt

Neuanfang

Körperturbulenzen

TEIL 2

Top 80

Halbfinale

Finale

TEIL 3

Social Media Teil 1: Influencerin wider Willen

Grenzen und Grenzüberschreitungen

Wer ist die Schönste im Land?

Die Luxuslüge

Unerwünschte Nebenwirkungen

Der Blick hinter die Kulissen

Social Media Teil 2: Ein Experiment

Einundzwanzig Jahre

Anhang

TEIL 0

Bist du schon mal in das Leben eines fremden Menschen eingetaucht? So tief, dass es sich anfühlt, als hättest du manches davon selbst erlebt? Ist dein Herz schon mal mit dem Herz eines Buches verschmolzen?So sehr, dass sich etwas in dir leer anfühlte, als die Geschichte vorbei war?Ich lade dich ein auf eine Reise.

Ich öffne dir mein Herz.Nehme dich mit hinter die Kulissen.Erzähl dir meine Geschichte.Und wer weiß, vielleicht prägt meine ja deine?

Es ist dunkel. Ich drücke mich in den warmen Autositz. 22.36 Uhr. Noch eine Stunde, bis wir an der Ostsee ankommen. Eigentlich wollten wir nur essen gehen. Asiatisch. Aber als wir mit vollen Mägen gerade wieder ins Auto einstiegen, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: „Lasst uns noch nicht nach Hause gehen. Lasst uns lieber noch ein Abenteuer erleben!?“ Als ich in zwei grinsende Gesichter blickte, wusste ich, dass dieser Abend erst lange nach Mitternacht enden würde.

Wenig später starre ich mit einem zufriedenen Lächeln auf die roten Rücklichter des weit entfernten Autos vor uns. Eine meiner Freundinnen liest die nächste Karte des Fragespiels vor: „Bei wem von euch besteht das größte Potenzial, eine Berühmtheit zu werden.“ Ich kreische und lache, als eine von ihnen laut „Definitiv Kira“ ruft. „ICH?“ Zustimmendes Nicken und Kichern der anderen. Ich erwidere: „Niemals! Wofür sollte ich denn berühmt werden? Etwa für meine grauenhaft schlechten Kochkünste?“ Mittlerweile bin ich vor lauter Lachen den Tränen nahe.

Knapp ein Jahr später sitze ich einer MDR-Reporterin gegenüber, die eine Dokumentation über mein Leben und die Arbeit als Miss Germany dreht. Im Sekundentakt löchert sie mich mit persönlichen Fragen zu meiner Vergangenheit, Erlebnissen und Gedanken. Ich antworte karg. Weiche ihren Themen aus. Versuche, nicht zu viel preiszugeben. Ich will nicht, dass sie meine Geschichte erzählt und etwas völlig Neues daraus formt. Ich möchte sie viel lieber selbst erzählen!

Während des Schreibprozess dieses Buches habe ich sämtliche Emotionen durchlebt. Manche Kapitel habe ich unter Tränen geschrieben. Bei anderen hatte ich die pure Wut im Herzen und bei vielen habe ich nichts als tiefe Dankbarkeit und Freude gespürt. Es war, als würde ich abwechselnd in eine bittere Grapefruit beißen, die meine Zunge pelzig werden lässt, nur um dann im nächsten Moment einen zuckersüßen Honiglöffel abzuschlecken. In drei Teilen habe ich meine bittersüße Lebensrealität aufs Papier gebracht, mit dem Ziel, echtes Leben in den Mittelpunkt zu stellen. Ich spreche über Alkoholmissbrauch, Übergriffe, meinen Weg zur Miss Germany, ungesunde Körperbilder und zeige einen ganz ehrlichen und unverblümten Blick hinter die Kulissen von Social Media, Glitzer- und Glamourwelt sowie meines eigenen Lebens.

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass es sich bei allen Begebenheiten und Erlebnissen, die ich auf den folgenden Seiten erzähle, um meine subjektive Realität handelt. Mit diesem Buch möchte ich außerdem niemandem schaden, weshalb ich den Protagonisten in Teil 1 neue Namen zugeordnet habe. Zudem habe ich mich gemeinsam mit dem Verlag dazu entschieden, auf eine geschlechtergerechte Sprache zu verzichten, um den Lesefluss in den Erzählungen nicht zu stören. Gemeint ist aber ausdrücklich jede und jeder, die oder der dieses Buch in Händen hält.

Ich hätte nie damit gerechnet, mit 21 mein erstes Buch zu veröffentlichen, und sehe es als unglaubliches Privileg, auf diese Weise meine Geschichte erzählen zu dürfen, bei der die Süße meines Lebens rückblickend die Bitterkeit immer etwas übertrumpft hat! Von ganzem Herzen will ich deshalb meinen beiden Managerinnen und Freundinnen Ria und Katha danken. Ihr seid mein Rückgrat und begleitet mich in jeder Hoch- und Tieflage! Ohne eure Hilfe und den emotionalen Support wäre dieses Projekt kaum möglich gewesen. Mein zweiter Dank geht an Johannes. Danke, dass du an mich geglaubt und in mich investiert hast! Ohne deine Arbeit und die Gemeinde würde ich heute nicht hier stehen.

Und jetzt würde ich sagen: Film ab. Oder eben: Buch ab. Viel Spaß mit meiner Geschichte!

TEIL 1

Damals mochte ich meine Die-jugendliche-Naivität-ist-so-schön Phase, aber heute weiß ich, dass die Ich-habe-Kontrolle-über-mein-Leben-Phase noch viel schöner ist.

Filmriss

Ich bin dreizehn. Die bunten Lichter tanzen im Kreis um mich herum. Der Bass hämmert laut in meinem Schädel, sodass ich meine eigenen Gedanken kaum hören kann. Mir ist schlecht. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich taste nach den kalten Fläschchen in der Kängurutasche meines Pullovers. Sie stammen aus dem kleinen Kellerraum neben meinem Zimmer, in dem mein Vater verschiedene Spirituosen lagert. Trinken möchte ich sie jetzt eigentlich nicht, ich will mich nur vergewissern, dass sie noch da sind. Ich habe zwei Geschmacksrichtungen dabei: Käsekuchen und Blaubeere, einen für Celine und einen für mich. Sie hat mich hierhin mitgenommen. Gerade weiß ich aber nicht, wo sie sich rumtreibt. Ich will nach ihr suchen, aber jeder Schritt stellt eine Herausforderung dar. Ich stehe auf und versuche es trotzdem. Ich laufe wenige Schritte. Ich stolpere. Ich falle. Als letzter Gedanke schießt mir durch den Kopf, dass sich genau hier im Gras erst vorhin noch jemand erleichtert hat. Ekel kommt in mir auf, dann wird alles schwarz.

Als ich wieder zu mir komme, fühlt sich mein Körper taub an. Ich sitze am Lagerfeuer. Mittlerweile ist es dunkel geworden, meine Kehle brennt und meine Wangen sind nass. Ich glaube, ich habe geweint. Die Menschen um mich herum tanzen. Unter ihnen entdecke ich auch Celine. Das Zusammenspiel der schimmernden Lichterketten mit dem flackernden Lagerfeuer lässt ihre langen blonden Haare glänzen. Sie ruft mir etwas Unverständliches zu, lacht laut und winkt mich zu sich. Ich will antworten, doch die Wörter, die in meinem Kopf so klar klingen, ergeben ausgesprochen überhaupt keinen Sinn. Je öfter ich versuche, ihr etwas zuzurufen, desto wirrer wird das, was ich von mir gebe. Es fühlt sich an, als würde ich gegen mich selbst kämpfen. Als würde ich die Kontrolle über meinen Körper verlieren. Wieder wird alles schwarz.

Ich renne. Panik bricht aus – die Polizei kommt. Die Menschen stürmen durcheinander. Ich bin komplett verunsichert. Alles fühlt sich fremd an, die wenigen Gesichter, die ich kenne, verschwimmen in der Dunkelheit. Ich folge einer Gestalt mit hochgezogener Kapuze. Plötzlich gibt der Boden unter meinen Füßen nach, ich stürze eine Böschung hinunter und bleibe stumm im klammen Laub liegen. Mein Herz pocht, ich habe Angst und verstehe nicht, was gerade vor sich geht. Um mich herum raschelt und flüstert es, sehen kann ich aber nur die Äste, die sich in mein Gesicht bohren, und das gedimmte Licht der weit entfernten Lichterkette. Alle waren in Deckung gegangen. Niemand wollte dabei erwischt werden, weniger noch, niemand konnte es sich erlauben, erwischt zu werden. Volljährigkeit war schließlich auf dieser Party im Wald eher optional. Meine restlichen Erinnerungen an den Abend sind verschwommen. Nach einiger Zeit verlasse ich mein Waldversteck wieder, um mit schweren Beinen die Böschung hochzukrabbeln. Meine Leggings ist mit einer Schicht Schlamm überzogen. Meine Handflächen sind rot und brennen, als wären sie über Asphalt geschrammt, um einen Sturz abzufangen. Es ist kalt und mein Herz pocht so laut, dass ich es fast hören kann. Langsam spüre ich meinen Körper wieder und beginne mir eine Geschichte zu überlegen, die ich meiner Mutter morgen erzählen könnte, um den Zustand meiner Klamotten zu erklären.

***

Acht Jahre später besuche ich mit einer Freundin spontan ein großes EDM Indoor-Festival. Schon seit einigen Jahren konsumiere ich Alkohol nur noch gelegentlich. Die erste Hälfte des Jahres gar nicht. Erst ab dem 24.06., meinem Geburtstag, gestatte ich es mir, hin und wieder mit einem Cocktail anzustoßen. Denn heute ist Alkohol für mich ein Genussmittel, das in Maßen genossen werden kann. Nicht mehr und nicht weniger. Selbst, wenn ich während der zweiten Jahreshälfte auf Festivals bin, trinke ich mittlerweile fast nie etwas. Ich mag es, die Musik zu hören und zu tanzen, und all das bei vollem Bewusstsein, um Erinnerungen zu schaffen und diese auch zu behalten.

Timmy Trumpet, Meduza und weitere bekannte Namen treten im Laufe des Abends auf und ich entscheide mich dazu, dieses Mal eine Ausnahme zu machen.

Während ich auf der Toilette bin, besorgt meine Freundin die zweite Runde an unverschämt teuren Getränken. In der Warteschlange zum Damen-WC fällt mir ein Plakat auf, das sich an die Besucherinnen des Festivals wendet: „Wenn du dich sexuell belästigt fühlst oder Hilfe brauchst, kannst du dich bei der Security oder unserem Personal mit dem Codewort ‚Luisa‘ melden“, steht dort groß und schwarz geschrieben. Ich muss schmunzeln. Es gab in der Vergangenheit schon einige Situationen, in denen ich ein solches Schutzwort gebraucht hätte. Ich probiere die beiden Getränke, die sie besorgt hat. „Wodka-Bull oder Wodka-Lemon?“, fragt sie mich. Ich erinnere mich durch den Geschmack des Wodka-Lemon schlagartig und ungewollt an meinen ersten Filmriss vor einigen Jahren zurück.

***

Mein Schädel brummt und ich kneife die Augen zusammen, um klar denken zu können. Das mit der Polizei war wohl eine Fehlinformation. Die Musik beginnt wieder zu dröhnen und die Party geht weiter. So wirklich viel bekomme ich davon jedoch nicht mehr mit. Eigentlich hätte ich heute gar nicht hier sein sollen, zumindest wenn es nach Anton gegangen wäre. Er ist Schülersprecher, um einiges älter als ich und seit Kurzem auch mein Freund. In diesen Kreisen aber ist er vor allem für eins bekannt: Er kann mehr trinken als alle anderen an unserer Schule. Dieselbe Erwartungshaltung gilt natürlich auch für seine Freundin und heute ist der Abend, an dem ich mich beweisen kann. Das Stück Wald, in dem gefeiert wird, gehört den Eltern von Antons Freunden. Hier stehen zwei heruntergekommene Bauwagen und alle zwei Wochen findet eine ordentliche Party statt. Der Alkohol wird, soweit ich weiß, entweder von älteren Geschwistern oder mit gefälschten Ausweisen besorgt.

Es ist ein Privileg, heute Abend hier sein zu können. Schon seit einer ganzen Weile ist es mein Ziel, zu einer dieser Partys eingeladen zu werden. Anton ist jedoch der Meinung, dass ich noch nicht so weit wäre und ihn nur blamieren würde. Deshalb bin ich auch mit Celine und nicht mit ihm gekommen. Celine ist traumhaft schön, schlank, blond, hat große Brüste, blaue Augen und sieht jetzt schon aus, als wäre sie achtzehn. Barbie wäre sicherlich neidisch auf sie gewesen, wenn sie Celine in ihrem Freundeskreis gehabt hätte. Sie lebt in meinen Augen den absoluten Traum. Ihre Eltern sind geschieden, sie wohnt mit ihrer Mutter, zwei älteren Halbschwestern und drei Chihuahuas in einem gigantischen Haus und so viele Regeln wie bei mir zu Hause gibt es nicht. Ihre Mutter erlaubt natürlich nicht alles, manches bekommt sie aber auch einfach nicht mit. Sie wirkt auf mich insgesamt eher wie eine beste Freundin als wie eine Erziehungsberechtigte. Gerade was die Jungsgeschichten betrifft.

Celine versteht es genau, ihre Attraktivität zu nutzen, und datet oft ältere Männer, die manchmal sogar zehn oder fünfzehn Jahre Altersunterschied zu ihr haben. Ich verbringe unglaublich viel Zeit mit und auch bei ihr. Oft mit dem heimlichen Wunsch, ein Stück mehr ihr Leben leben zu können. Und all das, obwohl ich sie noch gar nicht lange kenne. Es ist schließlich erst ein paar Wochen her, dass ich die Schule gewechselt habe. Das Endprodukt meines monatelangen Boykotts gegen die mahnenden Worte meiner Mutter und das Lernen grundsätzlich. Doch bereuen tue ich all das nicht, denn Celine ist schon jetzt das Beste, was mir hier hätte passieren können.

Es ist kurz nach drei Uhr nachts. Celine und ich machen uns auf den Heimweg. Anton und sein bester Freund Tom begleiten uns. Mir ist übel und ich sehne mich nach meinem Bett und einem Glas Wasser. Denn der Inhalt der Wasserflasche, die ich vorhin bekommen hatte, als ich neben dem Lagerfeuer auf dem Boden lag, war nur purer Vodka gewesen.

Wir kommen nur langsam voran. Es fällt mir schwer, geradeaus zu laufen. Der Feldweg, auf dem wir uns befinden, ist uneben und ich stolpere von Zeit zu Zeit über Maulwurfshügel oder meine eigenen Füße. Immer, wenn ich meinen Blick aufrichte und auf die Bäume entlang des Weges schaue, fühlt es sich an, als würden sie um uns herumtanzen und ebenfalls langsam nach Hause taumeln. Ich versuche, mich auf den Weg zu konzentrieren und Celines hysterischen Anfall auszublenden. Sie ist aufgewühlt, weil es hier mitten im Wald kein Netz gibt. Falls unsere Handys nicht irgendwann wieder Empfang bekommen sollten, müssen wir die restlichen zehn Kilometer vollständig zu Fuß bewältigen. Den Jungs ist das egal. Sie hatten ohnehin geplant, bis in die Morgenstunden nach Hause zu laufen. Sie nennen das ihre „Ausnüchterungsstrecke“.

Anton ist in der Schule unglaublich beliebt. Seitdem wir uns kennen, schreiben wir uns täglich Nachrichten. Angefangen hat all das vor einer Weile an einem heißen Tag am See, bei dem wir und einige andere mit Tretbooten aufs Wasser hinausgefahren sind. Als die anderen schon im See waren, gab es so einen Moment zwischen uns. Ich kann ihn gar nicht richtig in Worte fassen. Es war einfach besonders. Danach hat er mich hochgenommen, in den See geworfen und ist lachend hinterhergesprungen. Den restlichen Tag hat er gar nicht mehr aufgehört, mit mir zu flirten. Seitdem haben wir beide den Kontakt intensiviert und gemerkt, dass da mehr ist. Deswegen hat er mir auch versprochen, die Freundschaft Plus mit einem anderen Mädchen zu beenden, damit er sich auf mich konzentrieren kann. Vor Kurzem hat er mich dann bei einem Spaziergang beim Sonnenuntergang gefragt, ob ich seine Freundin sein möchte. Natürlich habe ich ja gesagt. Man hat schließlich nicht jeden Tag die Möglichkeit, mit dem beliebtesten Jungen der Schule zusammen zu sein.

Und dann ist da noch Tom. Antons bester Freund, der direkt neben ihm wohnt. Es ist mir in diesem Moment zwar nicht bewusst, aber mit diesen drei Personen werde ich für die nächsten Jahre einen Großteil meiner Zeit verbringen.

Ich stecke meine Hände in die Tasche meines Pullovers. Die kleinen Fläschchen von vorhin sind nicht mehr da. Ich erinnere mich düster daran, wie Celine und ich uns die winzigen Deckel auf die Nase gesteckt haben und daraufhin die Fläschchen zwischen unsere Zähne klemmten. Gerne hätte ich gewusst, wie der Cheesecake-Schnaps schmeckt, doch jegliche Erinnerung ist verpufft. Stattdessen halte ich eine rote Packung Zigaretten in der Hand. Anton ist wütend auf mich, da ich nicht einmal vier Becher Wodka Lemon vertragen habe, ohne völlig besoffen zu sein. An den ersten kann ich mich noch gut erinnern. Ich hatte ihn so schnell getrunken, dass die süße, klebrige Flüssigkeit mein Kinn heruntergelaufen und auf den Kragen meines Pullovers getropft ist. Einer der Jungs, der die Party veranstaltet hat, stand neben mir und hat laut gerufen: „Das ist Antons Freundin. So wie die trinkt, erkennt man das sofort!“ Ich bin stolz gewesen. Wie viel ich aber danach noch getrunken habe, verschwindet wieder im Nebel.

Wir laufen schweigend nebeneinander her. Tom reicht mir sein Feuerzeug, um die Zigarette in meinem Mund anzuzünden. Ich habe noch nie geraucht. Glaube ich zumindest. Wer weiß schon, was heute Abend alles passiert ist. Ich nehme einen langen Zug und puste den Rauch aus. Anton schaut zu mir und lacht. Er bleibt stehen und sagt: „Wenn du schon rauchen musst, dann aber auch richtig. Du paffst ja nur.“ Die Flamme des Feuerzeugs leuchtet erneut in der Dunkelheit auf. Er zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Eine, die er selbst gedreht hat. Das ist günstiger, hat er mir vor einigen Tagen erklärt. Er nimmt ein paar Züge und pustet den Rauch in kleinen Ringen aus seinem Mund, die er kurz danach wieder mit seinen Händen einfängt und zerdrückt. „Eigentlich ist es ganz einfach“, sagt er und grinst, während er den Rauch des nächsten Zuges aus der Nase ausbläst. „Wenn du an der Zigarette ziehst, musst du dir einfach nur vorstellen, dass deine Mutter plötzlich in der Tür steht. Du sagst: ‚AAAAH, die Mama kommt‘ und atmest den Rauch tief in deine Lunge ein. Dann bemerkst du aber, dass es doch nicht deine Mutter, sondern nur eine fremde Frau gewesen ist. Erleichtert sagst du ‚OOOOH doch nicht‘ und atmest den Rauch langsam wieder aus.“

Das klingt plausibel. Ich nehme einen Zug, atme tief ein und denke an seine Worte ‚AAAAH, die Mama …‘. Meine Kehle brennt, ich bekomme keine Luft. Mein Husten ist laut. Dabei fühlt es sich so an, als ob Risse in meiner Lunge entstehen. Aus meinem Mund kommen keine Kreise, sondern kleine Wölkchen, die in meinen Augen brennen. Ich kneife sie zusammen, aber dadurch schmerzt es nur noch mehr. Einzelne Tränen tropfen auf den Boden. Anton lacht, die anderen schmunzeln. Ich bin wütend und versuche es erneut. Dieses Mal gelingt es mir, den Rauch einigermaßen kontrolliert auszuatmen. Aber die Schmerzen in meinem Hals lassen nicht nach. Die restliche Zigarette rauche ich paffend zu Ende, aber so, dass es keiner der anderen mitbekommt.

Ein paar Minuten später brettert Celines Schwester mit ihrem roten Auto schwungvoll um die Kurve. Erleichterung macht sich in mir breit. Meine Beine fühlen sich taub an und mein Knöchel schmerzt vom Sturz in die Böschung. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, bis zu Celine nach Hause zu laufen. Die Jungs setzen ihre Ausnüchterungsstrecke ohne uns fort.

Die Musik aus den Autoboxen ist laut. Angestrengt versuche ich, dem Gespräch von Celine und ihrer Schwester zu folgen. Ich kann die Augen vor Müdigkeit kaum aufhalten, weshalb ich mich quer auf die Rückbank lege. Unsanft werde ich aus dem Halbschlaf gerissen, als ich durch ein abruptes Bremsen in den Fußraum stürze. Kraftlos ziehe ich mich mühsam zurück auf die Sitzbank. Plötzlich bin ich hellwach. Ich schmecke etwas Säuerliches in meinem Mund. „Ich glaub, ich muss kotzen“, sage ich laut. Celines Schwester wird hysterisch, steigt abrupt auf die Bremse und schreit: „Kurbel das Fenster herunter, verdammt! Wehe, da landet was auf meinem Sitz!“ Als ob das hier drin einen Unterschied machen würde. Das Auto ist nicht gerade der Inbegriff von Sauberkeit. Leere Getränkedosen gesellen sich im Fußraum zu Lidschattenpaletten und McDonalds-Verpackungen.

Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster, während Celine meine Haare hält. Verschiedene Substanzen, bei denen ich mich nur zum Teil daran erinnern kann, sie heute Abend gegessen zu haben, verlassen meinen Körper.

Am nächsten Tag erzähle ich meiner Mutter von einem gelungenen Abend am Lagerfeuer. Den Zustand meiner Klamotten führe ich darauf zurück, dass wir Celines Chihuahuas im Wald suchen mussten und ich dabei aus Versehen hingefallen bin. Während ich meiner Mutter diese Lüge erzähle, plagt mich das schlechte Gewissen. Ehrlichkeit wurde in meiner Familie immer großgeschrieben. Aber wenn ich diese neue Freiheit behalten möchte, bleibt mir nichts anderes übrig.

***

Seitdem Anton seinen Mopedführerschein bestanden hat, sehen wir uns häufiger. Einmal nehmen wir uns eine vierstündige Fahrt auf seiner kleinen Maschine vor, um den Tag im Europapark zu verbringen. Dieser Ausflug bedeutet mir viel, denn er lässt an diesem Wochenende eine große Party sausen, um mit mir Zeit zu verbringen. Das Aufheulen des Motors und das vibrierende Gefühl unter mir versetzen mein Herz in einen aufgeregten Rhythmus. Es ist, als hätten wir eine Art Freiheit auf zwei Rädern, die uns überall hinbringen kann und nur uns beiden gehört. Die Morgensonne wärmt mein Gesicht und ich habe den Duft von Benzin in der Nase. Vor lauter Vorfreude auf die Achterbahn und all die Leckereien fange ich leise an zu kichern und ein erwartungsvolles Kribbeln zieht sich durch meinen ganzen Körper.

Dass ich hier Jahre später im glitzernden Kleid auf dem roten Teppich stehen würde, hätte ich mir nie erträumt. Es bringt mich zum Schmunzeln, was für verrückte Wege das Leben manchmal nimmt.

Im Park kauft mir Anton ein kleines Lebkuchenherz mit rosa Zuckeraufschrift „Schatz“. Als ich es in meiner Tasche verstaue grinse ich über beide Ohren. Diese liebe Geste lässt die fiesen Worte, die er mir während unseres gestrigen Streits an den Kopf geworfen hat, verblassen. In der Hoffnung, mit dem süßlich duftenden Brot auch die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit aufbewahren zu können, binde ich es am nächsten Tag an das Geländer meines Bettes. Doch im Gegensatz zu unseren Stunden im Freizeitpark ist die Rückfahrt der reinste Albtraum. Meine romantischen Frühlingsgefühle, die sich im Laufe des Tages wie eine Decke über mich gelegt hatten, verpuffen, als ich die pechschwarze Wolke entdecke, die sich vor uns auftürmt. Wir fahren auf direktem Wege in das totale Unwetter.

Nur Minuten später peitscht der Wind so sehr, dass die kleine Maschine gefährlich zu wackeln beginnt. Als es dann noch anfängt zu regnen, zieht Stück für Stück die Angst vor einem Unfall in mir ein. Die Straße ist unter den Wassermassen kaum mehr sichtbar und meine Klamotten sind vom strömenden Regen völlig durchnässt. Die Sicht ist so schlecht, dass wir uns an den roten Rücklichtern der Autos vor uns orientieren müssen. Ich kneife die Augen zusammen, um etwas sehen zu können. Zum Regen gesellen sich Blitz und Donner. Mit der linken Hand klammere ich mich um Antons Bauch, mit der rechten halte ich mich am kleinen Griff unter meinem Sitz fest. Wir legen uns gemeinsam in die Kurven und im nächsten Moment gegen die Windböen, um nicht umzukippen.

Ich bin dankbar, in einer „Motorradfamilie“ aufgewachsen zu sein. Bevor ich laufen konnte, habe ich schon auf großen Maschinen gesessen. Zu Hause am Kühlschrank hängt ein altes Bild von meiner Mutter, wie sie mit mir im Bauch auf einer schwarzen Harley Sportster sitzt. Als ich älter wurde, habe ich viele Stunden mit meinem Vater auf der Straße verbracht und mit der Zeit gelernt, wie ich mich in solchen Momenten bewegen muss. Ein kleiner weißer LKW rast an uns vorbei und ein Wasserschwall schwappt über unsere Köpfe. Während Anton etwas Unverständliches flucht, lacht der kleine Junge auf dem Beifahrersitz und zeigt uns den Mittelfinger. Sein frecher Ausdruck mitten im Chaos lässt mich schmunzeln.

Vor Angst, einer der Blitze könnte uns treffen, stellen wir uns bei der nächstbesten Brücke unter. Obwohl die Rückfahrt zweifellos ein Reinfall war, schlüpfe ich abends glücklich und zufrieden neben Anton unter die schwere Bettdecke.

Wir liegen gemeinsam in seinem kleinen Bett. Eigentlich ist es eher ein Klappsofa, das selbst für eine Person zu schmal ist. Es ist stickig und eng. Seine Eltern haben keine Gästematratze, geschweige denn ein Gästezimmer, weshalb ich keine andere Wahl habe, als mir mit ihm den begrenzten Raum zu teilen. Wenn ich hier bin, fällt es mir schwer, gut zu schlafen. Heute kommt mir die Luft besonders trocken vor, was das Atmen und Einschlafen zusätzlich erschwert. Ich starre an die schwarze Decke, während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen. Antons Arm liegt um meinen Nacken. Ich bekomme langsam einen Krampf, aber es ist die einzige Position, die es uns ermöglicht, gemeinsam in diesem Bett zu liegen. Während er leise schnarcht, höre ich seine Eltern im Wohnzimmer dumpf sprechen. Ich kann nur Wortfetzen und keine ganzen Sätze verstehen. Ich finde sie seltsam und versuche Gespräche mit ihnen zu meiden.

Eigentlich ist hier alles seltsam. Das Haus gehört seiner Großmutter. Die Eltern wohnen hier nur zur Miete. Es riecht modrig. Die Inneneinrichtung sieht aus wie aus den 1980er-Jahren und in der Küche hängt ein verstaubtes Bild vom Papst. Freitags gibt es immer Fisch. Ich bin nicht gerne hier. Den Großteil unserer Zeit verbringen wir aber sowieso bei Tom. Schließlich wohnt er nur fünfzehn Meter weiter in einem riesigen Haus. Dort gibt es einen gigantischen Garten, einen großen Balkon und seine Eltern sind richtig sympathisch. Manchmal wünschte ich mir sogar, sie wären Antons Eltern. Dann hätte ich eine absolute Bilderbuch-Beziehung. Aber das kann ich natürlich niemandem verraten.

Tom und ich sind mittlerweile ziemlich gute Freunde. Er versteht mich am besten, wenn es mit Anton mal nicht so rund läuft, schließlich kennt er ihn schon sein Leben lang. Mit ihm kann ich über alles reden, was ich meinen Eltern oder Celine nicht anvertrauen kann. Ich habe schon öfter in der Küche seiner Eltern am Tresen gesessen und ihm mein Herz ausgeschüttet, während er Pancakes oder Grilled-Cheese-Sandwiches für uns gemacht hat.

Celine hat ein grundsätzliches Problem mit Anton, weshalb ich sie häufig nicht als Ratgeberin einbeziehe. Nach unserem letzten Beziehungsstreit hat sie mir diese Nachricht geschickt:

“Hey bby, also ich hab dich ja echt mega lieb, aber das mit Anton hat mir heute einfach schon wieder gezeigt, dass der einfach nur ein dummes Stück Dreck ist. Der denkt immer, er ist so toll, weil er so viel saufen kann, und übersieht dabei, was er da tagtäglich für ne beschissene Show abzieht. Wenn der so Sachen sagt wie: „Den Typen schlage ich zusammen, wenn er mir nochmal so kommt. Ich habe schon ne Narbe von ’nem Älteren, noch eine macht mir nichts aus“ bla bla bla, da bekomme ich das große Kotzen. Das ist doch einfach lächerlich. Sein Gelaber und wie der mit dir umgeht ist einfach unter aller Sau. Der kann einfach keine Kompromisse eingehen! Da kann ich nicht länger leise sein. Du bist mein Mädchen und wenn der nochmal sowas abzieht, raste ich echt aus.“

Auch wenn sie es lieb meint, ist sie vermutlich zu befangen. Vor unserer Beziehung war Anton in einer Freundschaft Plus mit einer guten Freundin von ihr. Damals hat er zwar nicht immer die besten Entscheidungen getroffen, aber das macht ihn ja nicht direkt zu einem schlechten Menschen. Außerdem ist Celine auch nicht gerade für ihre durchdachten Entscheidungen bekannt. Anton ist einfach temperamentvoll, aber das bin ich auch. Wenn sie wüsste, wie liebevoll er sein kann, wenn wir beide allein sind, würde sie sicher anders über ihn denken. Außerdem raucht er kein Cannabis mehr, seitdem wir zusammen sind, weil ich es nicht gutheiße. Alkohol ist das eine, aber mit härteren Drogen möchte ich nichts zu tun haben. Dass er auf mich eingeht, zeigt am Ende doch nur, wie wichtig ich ihm bin und dass er bereit ist, in unsere Beziehung zu investieren. Sie wird das irgendwann auch noch sehen.

***

Ich stehe vor dem großen Regal der Spirituosenabteilung und gehe im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch. Malibu, Berentzen oder doch Weinschorle? Eigentlich würde ich gerne den neuen blauen Hugo kaufen, den gerade alle trinken. Heute ist es nämlich endlich soweit! Das alljährliche Stadtfest namens „Rutenfest“ steht an und ich kann die Party, das Feuerwerk und vor allem den Käfig auf dem blauen Platz, eine Art Outdoor-Club mit gigantischer Tanzfläche, kaum erwarten. Denn über die Geschichten, die hier passieren, wird noch das ganze nächste Jahr gesprochen. Und ich bin bereit für einen legendären Abend!

Meiner Mutter habe ich erzählt, dass ich bei Celine übernachte. Ob das auch so sein wird, weiß ich allerdings noch nicht. Als wir vor ein paar Wochen auf einem anderen Stadtfest waren, ist sie einfach mit dem Sohn des Inhabers eines Fahrgeschäftes verschwunden. Ihre ältere Schwester und ich haben sie dann nach Ewigkeiten in seinem Wohnwagen gefunden oder besser gesagt gehört. Also saßen wir eine halbe Ewigkeit mit unseren leeren Cocktailgläsern auf den kleinen, kalten Treppen seines Wohnwagens und warteten, bis sie ihr Techtelmechtel beendet hatten. Als sie uns später entdeckte, begrüßte sie uns lediglich mit einem verschmitzten Grinsen und hat bis heute kein weiteres Wort über diesen Abend verloren. Solche Geschichten sind keine Seltenheit bei Celine und aktuell ist sie auch in keiner Beziehung, weshalb ich nicht garantieren kann, dass sie heute Nacht überhaupt nach Hause kommt.

Am liebsten würde ich aber sowieso bei Anton übernachten, um sicherzugehen, dass er auch wirklich in seinem Bett landet. Schließlich ist er mir erst neulich bei einer Bauwagenparty fremd gegangen. Es war nur ein Kuss und trotzdem ein schreckliches Gefühl, das mir zuvor unbekannt war. Nie hätte ich gedacht, dass mir so etwas passieren würde, geschweige denn, dass er mir so etwas antun könnte.

Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Nachmittag. Antons Nachricht erschien auf meinem Display: „Wir müssen reden. Gestern Abend hatte ich was mit einer anderen. Wir haben uns nur geküsst, aber ich weiß, dass es dich trotzdem verletzen wird. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“ Nachdem ich die wenigen Worte immer und immer wieder in meinem Kopf wiederholt hatte und mir langsam bewusst wurde, was sie bedeuteten, fiel ich in eine Art Schockstarre. Ich stand regungslos da und hatte nicht einmal die Kraft, richtig zu weinen. Eine Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Wut durchzog meinen gesamten Körper und machte es mir unmöglich, in der darauffolgenden Nacht einzuschlafen. Eine Vielzahl an Fragen drehte sich wie ein Karussell, Runde für Runde, in meinem Kopf, bis mir davon fast schwindelig wurde. Ich dachte immer wieder: Hat er sie geküsst, weil er etwas für sie empfindet? Ist sie attraktiver als ich? Habe ich etwas falsch gemacht? Vor allem aber hat mich die Angst davor wachgehalten, durch diesen Vorfall all das Gute in meinem Leben zu verlieren. Die Freiheit, meine Beziehung und den Freundeskreis. Die Dinge, die mich ausmachten, die mich glücklich machten und die ich nicht bereit war aufzugeben. Schließlich waren es mehr seine als meine Freunde. Würde ich ihn verlieren, würde ich auch sie verlieren. Wie sollte ich also darauf reagieren? Ihn zur Rede stellen, eine Beziehungspause oder sogar die Trennung einfordern? Oder doch lieber schweigen und so tun, als wäre nichts gewesen? Ich wünschte mir, es gäbe ein festes Regelwerk bei so etwas. Ein Handbuch, in dem ich nachschlagen könnte. Wenn ich nochmal beim Schwänzen erwischt werden würde, gäbe es einen Eintrag ins Klassenbuch, und wenn ich die Zeit vergessen und abends mal wieder zu spät nach Hause kommen würde, gäbe es für die nächsten zwei Tage Handyverbot. Aber in dieser Situation wusste ich einfach nicht, wie man sich korrekt verhält.

Zum Glück kann ich mich in solchen Momenten auf Tom verlassen. In einem langen Gespräch hat er mich beruhigt und mein schreckliches Karussell zum Anhalten gebracht. „Das war nichts Ernstes, nichts was von Herzen kommt, Kira!“, meinte er immer wieder. „Du weißt doch, wie viel Jägermeister Anton trinkt. Der war bei dem Kuss nicht einmal richtig anwesend. Du bist die Einzige für ihn, da bin ich mir sicher!“ Seine Worte waren wie Balsam auf meiner Seele und trotzdem hat es sich so angefühlt, als ob sich durch dieses Erlebnis etwas in mir verändert hätte. Etwas, das vermutlich nicht allzu schnell wieder verschwinden würde. So richtig viel darüber geredet haben Anton und ich bis jetzt nämlich noch nicht. Ich weiß, dass es ihm unangenehm ist, aber das soll sich heute im Laufe des Abends ändern. Nach unserem Gespräch wird sicherlich alles wieder gut werden, oder zumindest besser.

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Mir ist kalt und ich reibe über die Gänsehaut auf meinen Armen. Ich brauche etwas, dass ich schnell trinken kann, ohne davon direkt betrunken zu sein. Ziel ist schließlich ein guter Rausch, mit dem es sich lange tanzen lässt. Später werde ich wegen der Security nicht mehr ganz so einfach an Alkohol kommen und im Käfig ist es verboten, eigene Flaschen mitzubringen. „Kommst du bby?“, säuselt mir Celine zu, die plötzlich mit einer Flasche Weinschorle im Arm neben mir steht. Sie trägt wie so oft eine schwarze Skinny Jeans in Lederoptik, einen Spitzen-Body mit tiefem Ausschnitt und lange rote Gelnägel. Sie sieht damit wie immer einfach nur fantastisch aus. Ich greife schnell nach einer weißen Flasche, auf der Tropica Fruchtwein – Pina Colada steht und folge ihr zur Kasse, wo eine ältere Mitschülerin schon auf uns wartet, um den Alkohol für Celine und mich zu kaufen. Kokosnuss ist immer gut.

Wir sind spät dran. Als wir zu den anderen stoßen, haben die meisten nur noch Reste in ihren Flaschen. „Hurra, die Welt geht unter“, dröhnt laut aus den Boxen und beschallt die ganze Straße. Einige trinken die erste Runde Klopfer und schlagen die kleinen Flaschen gegen ihre Handballen. Andere spielen Bier Pong zwischen Gehweg und Straße und ein Paar aus Antons Stufe lehnt an der Hauswand und knutscht wild miteinander. Ich beneide sie. Bei solchen Veranstaltungen ist jede Spur von Romantik und Zärtlichkeit zwischen Anton und mir verschwunden. Im Gegenteil, manchmal ignoriert er mich fast schon. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Flasche. Der leicht künstliche Kokosgeschmack wird von dem brennenden Gefühl des Alkohols in meinem Hals begleitet. Mit jedem weiteren Schluck wird mein Bauch immer wärmer und das angenehme und altbekannte Kribbeln in mir breitet sich aus. Nicht mehr lange, bis sich der Alkohol auch in meinen Kopf ausbreitet und all das Chaos der letzten Wochen egal wird. Bei dem Gedanken zieht sich ein Lächeln über mein Gesicht, heute Abend würde alles gut werden, dafür ist gesorgt! Ich nehme einen weiteren Schluck und reiche die Flasche an Celine weiter. Doch sie rümpft nur die Nase und schüttelt den Kopf.

„Ex, ex, ex.“ Im Augenwinkel sehe ich, wie Anton unter lauten Anfeuerungsrufen Schluck für Schluck eine Flasche Jägermeister leert, den Kopf wild schüttelt und eine Art Jubelschrei ausstößt. Im nächsten Moment öffnet er schwungvoll eine Bierflasche mit Hilfe seiner Backenzähne und setzt erneut an. Tom steht mit dem Biertrichter in der Hand daneben und heult auf wie ein Wolf. Die restlichen Jungs stimmen ein und brechen danach in tosendes Gelächter aus. „Sehen wir uns beim Feuerwerk“, rufe ich Anton hinterher, bevor er mit den Jungs in der Menschenmenge verschwindet. Er nickt und formt mit seinen Lippen ein leises „Versprochen“.

Es hatte mich verletzt, als Anton meinte, er würde heute nicht mit mir feiern gehen, damit ich ihn nicht erneut blamiere. Er spielt immer noch auf die Bauwagenparty vor anderthalb Jahren an, bei der ich meinen ersten Filmriss hatte. Bis heute wird mir übel, wenn ich Wodka Lemon nur rieche. Doch anstatt mir vor lauter Frust den Abend versauen zu lassen, puste ich ihn mit dem Rauch der Menthol-Zigarette aus meiner Nase aus. Rauchen habe ich gemeinsam mit Celine nach einigen heimlichen Ausflügen in den Wald inzwischen gelernt.

Ein Ellenbogen bohrt sich zwischen meine Rippen und das Mädchen vor mir dreht seinen Kopf so schwungvoll, dass seine Haare quer durch mein Gesicht fegen. Mit der einen Hand halte ich meine kleine Glitzertasche und mit der anderen die weiche Hand von Celine. Wir stehen in der langen Schlange vor dem Käfig an. Die Security kontrolliert alle Besucher haargenau. „Können die nicht ein bisschen schneller machen?“, frage ich genervt, als der erste DJ bereits zu spielen beginnt. Es ist heiß, eng und der Typ hinter mir atmet ständig seinen feuchten Bieratem in meinen Nacken. Ich will hier weg und endlich tanzen!

Die großen Hände des breit gebauten Security-Mannes tasten meine Arme, Beine und Taille grob ab, während er mich kritisch mustert. Selbst in meine kleine Tasche will er einen Blick werfen, obwohl mein Handy schon kaum Platz darin findet. Ich habe Angst, dass er in meinem Atem den süßen Alkohol von vorhin riecht, und presse die Lippen aufeinander. Seine Worte „Ausweis bitte!“ reißen mich aus meinen Gedanken. Als er mein Geburtsjahr sieht, zieht er eine Augenbraue hoch, greift nach einem der roten Papierbänder und legt es um mein Handgelenk. Jetzt wissen alle, dass ich unter sechzehn bin und keinen Alkohol kaufen kann. Ich schäme mich. Genauso gut hätte ich es mir auf die Stirn schreiben können! Das Band ist zu eng und das Papier schneidet in meine Haut. Ich spüre meinen Puls und versuche es zu lockern. Doch vergebens. Hoffentlich wirkt der Alkohol bald, dann wird auch meine Hand taub und der Schmerz vergeht.

Der Käfig ist überwältigend. Die Musik ist laut, Menschentrauben bilden sich um die Getränkebuden und ein paar Jungs breakdancen oberkörperfrei auf dem blauen Boden. Ich fühle mich elektrisiert. Am liebsten würde ich mich direkt in die Menge stürzen und bis zum Feuerwerk den ganzen Abend durchtanzen. Doch Celine greift wieder nach meiner Hand und zieht mich stattdessen durch die Menschenmenge hinter sich her.

Wir sitzen auf der Wiese in der Nähe des Metallzauns und ich beginne mich zu langweilen. Es dämmert bereits und ich bin immer noch nicht tanzen gewesen. Die anderen wollen lieber weiter trinken und mit den Jungs neben uns flirten. Entstehen so die legendären Partygeschichten? Ich hatte mir von diesem Abend mehr erhofft. Mehr tanzen, mehr singen, einfach insgesamt mehr Action.