Black Box BRD - Andres Veiel - E-Book

Black Box BRD E-Book

Andres Veiel

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Beschreibung

Für seinen Film »Black Box BRD« hat Andres Veiel im deutschen Feuilleton ausnahmslos positive und begeisterte Kritiken bekommen. In dem Buch vertieft er seine Recherchen und liefert neue überraschende Einsichten in die jüngste deutsche Geschichte.

Die RAF führt einen Krieg gegen die Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland und ermordet im November 1989 Alfred Herrhausen, den Sprecher der Deutschen Bank. Andres Veiel schreibt »Black Box BRD« aus einer ungewöhnlichen Perspektive: Er stellt den Lebensweg eines der mächtigsten Männer Deutschlands der Geschichte von Wolfgang Grams, dem mutmaßlichen RAF-Terroristen, gegenüber. Seine Spurensuche führt ihn zurück in die Verstrickung der Deutschen in den Nationalsozialismus und die frühe Geschichte der Bundesrepublik. Beide Figuren, Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams, stehen beispielhaft für zwei gegensätzliche Lebenswege, deren unterschiedliche Bedingungen und Ausformungen von Andres Veiel in ein neues Licht gestellt werden. Noch nie ist die Geschichte von mutmaßlichen Tätern und Opfern in diesem Kampf so eindringlich und beklemmend beschrieben worden.

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Seitenzahl: 347

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»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«

Ingeborg Bachmann

zitiert von Alfred Herrhausen in einer Rede, die er im Januar 1989, zehn Monate vor seiner Ermordung, gehalten hat

Inhaltsverzeichnis

1 - Bad Homburg, 30. November 19892 - Bad Kleinen, 26. Juni 19933 - Nur noch der Verlust eint4 - »Herrhausen ist Opfer seiner eigenen Trugbilder geworden«5 - Es wird Krieg geben6 - Schrittmuster einer Karriere7 - Konsumfetischismus und die Haftbedingungen der RAF8 - »Wir sind das, was die Bank ist«9 - Ausmessen der Revolution I10 - Eine neue Ehe und der Mord an Hanns Martin Schleyer11 - Ausmessen der Revolution II12 - Der bewunderte Gast13 - Abtauchen in den Untergrund14 - Ums Überleben15 - »Zerstörung, Angriff, Unterminierung des Schweinesystems«16 - Entmachtung17 - Trauer in einer Bank18 - Der Fall auf die GleiseNachspannDankBildnachweisCopyright

1

Bad Homburg, 30. November 1989

8.32 Uhr. Ein kalter, klarer Morgen. Der Chauffeur Jakob Nix holt Alfred Herrhausen in seinem Bad Homburger Haus ab. Sie trinken noch eine Tasse Tee, dann treffen auch die beiden gepanzerten Begleitfahrzeuge mit jeweils zwei Personenschützern im Ellerhöhweg ein. Der Konvoi setzt sich in Bewegung: ein Begleitfahrzeug vorweg, der Mercedes 500 mit Jakob Nix und Alfred Herrhausen in der Mitte, ein weiteres Begleitfahrzeug dahinter. Der Fahrer des ersten Wagens zögert einen Moment, welche der drei Strecken zur Autobahn nach Frankfurt er nehmen soll. Schließlich entscheidet er sich gegen die Route über die Feldwege, auch gegen die, die direkt an den Kuranlagen vorbeiführt. Der Konvoi wählt die dritte, kürzeste Strecke über den Seedammweg. Der war während der letzten zehn Tage wegen Bauarbeiten gesperrt, ist nun aber wieder frei.

8.37 Uhr. Das vorausfahrende Begleitfahrzeug verlässt gerade den Seedammweg, als es einen dumpfen, krachenden Schlag gibt. Der gepanzerte Mercedes 500 mit Alfred Herrhausen auf der Rückbank wird drei Meter durch die Luft geschleudert und dreht sich dabei fast ganz um die eigene Achse.

Traudl Herrhausen hört diesen Knall, als sie das Kaffeegeschirr wegräumt: »Es war so unheimlich, dass ich sofort zu unserer Haushälterin Sylvia gegangen bin und sie gefragt habe: ›Was war das jetzt?‹« Sie wählt die Autotelefonnummer ihres Mannes, dort hört sie eine automatische Ansage: »Dieser Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar.« »Das hat mir noch mehr Angst gemacht, weil ich genau weiß, wann das Autotelefon anspringt, und das musste entweder besetzt sein oder durchläuten. Und dann habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin einfach diesen Weg nachgefahren.«

Jakob Nix ist durch Metall- und Glassplitter am Kopf und am Arm verletzt, aber bei vollem Bewusstsein. Sofort bemerkt er, dass der Wagen noch rollt. »Es gab für mich in dieser Sekunde nur einen klaren Gedanken. Ich wusste, dass ich den Wagen anhalten muss. Also hab’ ich gebremst, und das funktionierte auch. Dann fing es rechts vorne an zu brennen. Ich wusste nur eines: Sofort raus!«

Nix versucht mit dem verletzten Arm, die vordere Tür zu öffnen. Sie klemmt. Schließlich gelingt es ihm, sie mit den Füßen aufzustoßen. Er läuft um den brennenden Wagen herum zur rechten hinteren Tür, die durch die Explosion aufgerissen ist. Jakob Nix versucht, den bewusstlosen Alfred Herrhausen aus dem Wagen zu ziehen, aber er muss aufgeben, mit seinem verletzten Arm kann er nicht zugreifen. »Das war der schlimmste Moment, mein Boss ringt mit dem Leben, und ich kann nichts tun. Ich hab’ mich umgeschaut, da war niemand. Die Bewacher aus den Begleitfahrzeugen bleiben in ihren Wagen sitzen, stehen unter Schock oder was weiß ich. Die haben gedacht, dass es erst richtig losgeht, dass das Ganze der Beginn einer Entführung ist, so wie damals bei Schleyer. Damals wurde ohne Vorwarnung von den Terroristen geschossen – auf alles, was sich bewegt hat.«

Ein Gärtner der Taunustherme, der in der Nähe gearbeitet hat, ist einer der Ersten, der sich an die Unglücksstelle wagt. Es bleibt ruhig. Kein Schuss fällt. Die Personenschützer steigen mit gezogener Waffe aus, sichern sich gegenseitig. Das gepanzerte Fahrzeug steht in einer Staub- und Qualmwolke. Es kann jeden Moment explodieren. Einer der Personenschützer: »Die erste Zeit ist man immer alleine, bis jemand kommt. Man denkt, das ist unendlich viel Zeit, es dauert und dauert.« Er führt Jakob Nix vom Wagen weg. Ein anderer Bewacher bekämpft mit einem kleinen Feuerlöscher die Flammen, die aus dem Motor schlagen. Nix wird zu einem Wartehäuschen der nahen Bushaltestelle gebracht. Ihm fällt auf, dass der Alarmton des gesprengten Fahrzeugs unentwegt aufheult. Der Gärtner ist der Einzige, der daran denkt, die Batterie abzuklemmen.

Alfred Herrhausen sitzt noch immer bewusstlos im Fonds des zerstörten Mercedes. Ein Personenschützer will sich um ihn kümmern. »Er wär’ mir bei der ersten Berührung beinahe unter den Händen zerfallen.« Die Ärzte stellen später fest, dass er durch eine aufgerissene Hüftarterie verblutet ist.

Traudl Herrhausen nähert sich zu Fuß der Unglücksstelle. Zwei Bewacher erkennen sie und gehen auf sie zu. »Beide haben sie mich festgehalten, und ich wollte unbedingt zu dem Auto und wollte unbedingt einfach hin. Ich hab’ gesagt: ›Ist er tot?‹ Und einer hat gar nichts gesagt … und ich hab’ gesagt: ›Lasst mich da hin, ich hab mehr in meinem Leben gesehen als ihr‹, und man hat mich einfach nicht hingelassen.«

Inzwischen ist die Nachricht in der Frankfurter Zentrale der Deutschen Bank angekommen. Ein Vorstandskollege von Alfred Herrhausen fährt sofort nach Bad Homburg. Er findet den Attentatsort notdürftig abgesichert vor. »Es war niemand da sonst. Nur das zerstörte Auto und der tote Herrhausen, wobei man den Kopf so nach hinten gedreht hatte, dass man nichts sehen konnte. Er war im Gesicht nicht sehr entstellt, ein paar Flecken, aber man überlegt dann: Kann das das Ende sein?«

Vorstandskollege Hilmar Kopper ist nicht in Frankfurt, als er über das Attentat informiert wird. Kopper reagiert sofort sehr pragmatisch. Er bittet, alle Kollegen anzurufen – wo immer sie gerade sind. Vorstandskollege Eckart van Hooven: »Die Öffentlichkeit war über die Ermordung informiert, das zwang uns zum Handeln. Dann wurde also gleich über die nächste Sitzung und den Termin gesprochen. Man durfte der Öffentlichkeit gegenüber keine Ratlosigkeit zeigen.« Ein weiterer Vorstandskollege ergänzt: »Ich habe gebeten, im Auftrag des Vorstands alles zu unternehmen, um das Verhalten gegenüber den Medien zu kanalisieren, was aber gar nicht in unserer Hand lag. Das war ein absolut öffentliches Ereignis, mit dem hatte die Presseabteilung der Deutschen Bank eigentlich nichts mehr zu tun in diesem Moment.«

Gegen Mittag versammelt sich in Frankfurt der Vorstand der Bank: »Wir haben beraten, was jetzt zu tun sei, damit die Bank nicht infolge des Attentats in irgendeiner Weise Gefährdung erleiden könnte.« Ein Vorstandsmitglied sagt später über die Ermordung Herrhausens: »Ein schlichter Tod hätte nicht zu seinem Leben gepasst. Das Attentat war in diesem Sinne wie eine Krönung seines Lebens.«

Helmut Kohl, langjähriger Freund Alfred Herrhausens, sagt für den Nachmittag alle Termine ab. Er fährt zu Traudl Herrhausen nach Bad Homburg und nimmt sie wortlos in den Arm. Minutenlang hält der massige Mann die Frau und sagt schließlich: »Mensch Traudl, jetzt wein’ doch mal.«

In der Küche im Ellerhöhweg sitzen die Personenschützer. Die Haushälterin legt immer wieder Tempotaschent ücher nach. Die Bewacher sind hilflos und alleine mit ihrem Schmerz. Sie fühlen sich schuldig, werfen sich vor, den Tod ihres Chefs nicht verhindert zu haben, auch wenn alle in den wenigen Gesprächen immer wieder bekräftigen, dass dieser Tod nicht zu verhindern gewesen sei. Fast scheint das eigene Überleben zur Last zu werden: »Warum hat es nicht uns getroffen?« Dann beginnt eine andere Frage zu bohren: Würde Alfred Herrhausen noch leben, wenn sie an diesem Morgen eine andere Route gefahren wären? Herrhausen war für seine Personenschützer mehr als nur irgendein Vorstandsmitglied, für dessen Sicherheit sie zuständig waren. Für sie war es eine Arbeit »mit Familienanschluss«.

Nach und nach treffen noch am gleichen Tag weitere Freunde von Alfred Herrhausen ein. Pater Augustinus Graf Henckel von Donnersmarck gehört dazu, beleibt und scharfsinnig, er soll die Trauerrede bei der Feier im Frankfurter Dom halten. Pater Augustinus war viele Jahre ein enger Wegbegleiter von Alfred Herrhausen, der die offenen und angeregten Auseinandersetzungen mit dem Prämonstratenser schätzte.

Der Assistent Herrhausens, Matthias Mosler, kommt ebenfalls in den Ellerhöhweg. Er wusste, dass Alfred Herrhausen sich bedroht fühlte – und quasi sehenden Auges seiner Ermordung entgegengelebt hat.

Und noch jemand erscheint an diesen Tagen im Ellerhöhweg: Spontan kommt Bettina Herrhausen, Tochter aus der ersten, 1977 geschiedenen Ehe, auf dem Weg zu ihrer Mutter erstmalig für einige Stunden nach Bad Homburg.

Einer fehlt im Haus, der fast mit zur Familie gehört: der Fahrer Jakob Nix. Er liegt im Krankenhaus, die Verletzungen im Gesicht sind nicht lebensbedrohlich. Seelisch wird er sich aber von diesem 30. November nicht mehr erholen.

Seit dem Wechsel zur Deutschen Bank im Jahr 1970 wird Alfred Herrhausen von Jakob Nix gefahren, zunächst 14 Jahre in Düsseldorf, dann folgt ihm Nix 1984 gegen den Widerstand der eigenen Frau nach Frankfurt. Wenn er seinen Boss einmal nicht fährt, kümmert er sich um den Garten oder spielt mit der kleinen Tochter Anna. Jakob Nix sagt über Alfred Herrhausen: »Er war ein Mensch, wie es ihn nur alle 100 Jahre einmal gibt. Er konnte mit allen. Mit Leuten aus der Eckkneipe genauso wie mit Helmut Kohl.«

Traudl Herrhausen besucht Nix in den Tagen nach dem Attentat im Krankenhaus. Fast scheint es so, als ob sie ihn trösten muss, weil er überlebt hat. Sie ist gefasst, am Krankenbett von Jakob Nix, aber auch zu Hause in Bad Homburg. Es gibt ein Gerüst von Erfordernissen des Weiterlebens. Pater Augustinus hat zu ihr gesagt: »So schnell als möglich, so normal als möglich.«

Zu viel muss getan und organisiert werden: die Trauerfeier, die Beerdigung, der Andrang der Journalisten vor dem Haus muss bewältigt und der elfjährigen Tochter Anna zu einem halbwegs normalen Alltag verholfen werden.

2

Bad Kleinen, 26. Juni 1993

Am Abend steigen Mitglieder eines Wiesbadener Sportvereins vor einem Landhotel im Bayerischen Wald aus einem Reisebus. Darunter sind Ruth und Werner Grams, deren ältester Sohn Wolfgang seit neun Jahren im Untergrund lebt. Ein Kurzurlaub liegt vor ihnen.

Gegen 19 Uhr beginnt Ruth Grams ihre Koffer auszupacken. Um sich abzulenken, schaltet sie den Fernseher an. Der »Heute«-Sprecher berichtet von der versuchten Festnahme der mutmaßlichen RAF-Mitglieder Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld im Bahnhof der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen. Wolfgang Grams soll eine schwere Schussverletzung erlitten haben.

Die Eltern überfällt eine bange Ungewissheit, ob sie ihren Sohn noch einmal lebend wiedersehen werden. Sie sitzen vor dem Fernseher und warten – immer in der Angst und mit dem Wunsch, mehr zu erfahren. Kurze Zeit später zerschlägt sich die letzte Hoffnung. Am Ende der »Heute«-Sendung wird der Tod von Wolfgang Grams bekanntgegeben.

Rainer Grams, Wolfgangs Bruder, hat die Meldung in seiner Münchener Wohnung ebenfalls gehört. Er ruft die Eltern an und fährt noch in der Nacht zum Hotel, um sie abzuholen. Sie versuchen, mit dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden in Verbindung zu treten, und wollen Wolfgangs Leiche sehen. Man vertröstet sie auf den nächsten Tag. Ruth Grams: »Es gab niemand, der sich von offizieller Seite an uns gewandt hat. Sonst kommt doch immer ein Polizist oder ein Seelsorger oder ich weiß nicht was, um die Nachricht offiziell zu überbringen. Das hat man bei uns nicht für nötig befunden.«

Für Rainer Grams ist nach diesem Telefonat klar, dass er sich nicht abwimmeln lassen wird. Er will nach Bad Kleinen fahren, wo er in seiner Vorstellung dem Bruder noch einmal begegnen kann. Er will den Bahnhof sehen, den Bahnsteig. Auch Jahre später denkt er gelegentlich, er könne seinen Bruder noch einmal zurückholen, ihn am Arm greifen und auf die andere Seite ziehen, in Sicherheit.

Am nächsten Tag fährt Rainer Grams in die Lübecker Universitätsklinik. Dorthin war Wolfgang Grams geflogen worden. Der Arzt, der seinen Bruder behandelt, will nicht allein Stellung nehmen. Rainer Grams muss warten, bis mehrere Ärzte bereit sind, ihm Auskunft zu geben. Sie erklären, dass sein Bruder nicht mehr zu Bewusstsein gekommen sei. Gegen 18 Uhr sei er gestorben, etwa drei Stunden nach dem Schusswechsel.

Rainer Grams bittet darum, den Toten sehen zu dürfen. In der Gerichtspathologie wird ihm abgeraten, doch er besteht darauf.

Nach längerem Warten wird Grams in einen karg eingerichteten Andachtsraum geführt. In einem offenem Sarg wird der Leichnam seines Bruders hereingefahren. Rainer Grams ist unsicher, ob es sich tatsächlich um Wolfgang handelt. Der Kopf ist verbunden, an einer Stelle sieht er schwarze Haare. Er hat seinen Bruder blond in Erinnerung. Die Hände sind nicht zu sehen – daran hätte er ihn sicher erkennen können. Im Kieferbereich ist die Mundhöhle durch einen Gegenstand unnatürlich gewölbt. Er erkennt Wolfgang schließlich an der Form des Ohres und der Nase, die ihm von Kindheit an vertraut sind.

»Erst dann habe ich bemerkt, dass ihm das Gebiss und das Gehirn entfernt worden waren. Auch die Hände waren ihm für eine weitere Untersuchung abgeschnitten worden.«

Im Nachhinein deutet Rainer Grams die nachträglich durchgeführten Untersuchungen als einen Versuch, die ersten Versäumnisse und Pannen der Ermittlungsbehörden zu kaschieren. So waren Wolfgang Grams sofort nach der Festnahme von Mitarbeitern des Bundeskriminalamts die Hände gereinigt worden. Fahrlässig oder vorsätzlich wurde damit eine der möglichen Erkenntnisquellen über den Tathergang vernichtet. Anhand von Schmauchspuren an den Händen hätte man feststellen können, ob Wolfgang Grams den aufgesetzten Nahschuss wirklich, wie von den Sicherheitsbehörden behauptet, in Selbsttötungsabsicht eigenhändig abgab.

Zweifelsfrei geklärt ist heute nur, dass Wolfgang Grams in eine Schießerei mit Mitgliedern der GSG 9 verwickelt war, bei der der Polizeibeamte Michael Newrzella umkam und Wolfgang Grams selbst von mehreren Schüssen in Brust und Bauch getroffen wurde, die jedoch nicht tödlich waren. Durch die Wucht der Einschüsse fiel er rückwärts auf das Gleisbett. Über das weitere Geschehen gibt es zwei unterschiedliche Darstellungen. Zwei Zeugen haben gesehen, dass zwei GSG-9-Beamte Wolfgang Grams nachgesprungen sind und dass danach von einem der beiden Beamten noch ein Schuss abgegeben wurde. Nach dieser Version wäre Wolfgang Grams vorsätzlich ermordet worden. Ein anderer Zeuge entlastet die GSG-9-Beamten: Er ist sicher, dass kein Schuss mehr gefallen ist, als Wolfgang Grams auf den Gleisen lag. Laut Abschlussbericht der Bundesregierung hat Wolfgang Grams den Nahschuss selbst abgegeben. Nach dieser Variante hat er sich selbst getötet, indem er sich während des Falls auf das Gleisbett erschossen hat.

Bei späteren Befragungen sagte allerdings kein Mitglied der GSG-9-Festnahmeeinheiten aus, diesen Schuss beobachtet zu haben. Auch nach Grams’ Sturz auf die Gleise hat keiner mehr von ihm einen Schuss gehört oder gesehen. Die GSG 9 liefert damit keinen Beleg für die Selbstmordthese.

Die Eltern und Rainer Grams haben in einem jahrelangen Rechtsstreit vergeblich versucht, Licht in die Todesumstände zu bringen. Wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen sowie der Pannen und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden lässt sich die Todesursache nicht mehr eindeutig ermitteln.

3

Nur noch der Verlust eint

Am 10. Juli 1993, zwei Wochen nach den Ereignissen in Bad Kleinen, werden in der Wiesbadener Innenstadt Bretter vor die Schaufenster genagelt. Die Stadt rüstet sich ein, der Ausnahmezustand ist ausgerufen. Zahlreiche linke Gruppen haben zu einer Demonstration »gegen die Ermordung von Wolfgang Grams« aufgerufen. Frühere Freunde von ihm treffen nach langer Zeit erstmals wieder zusammen. Ruth, Werner und Rainer Grams führen den Zug an. Es hat den Anschein, dass jeder der 2500 Demonstranten von einem Polizisten begleitet wird.

Gerd Böh stammt aus Wiesbaden und war wie Wolfgang Grams Mitte der siebziger Jahre Mitglied der »Roten Hilfe« – einer Gruppe, die sich gegen die in ihren Augen unmenschlichen Haftbedingungen der RAF-Häftlinge engagierte. Für Gerd Böh ist es das erste Mal, dass er wieder auf seine früheren Freunde trifft. Vor denen, so sagt er heute, hatte er »mehr Angst als vor der Konfrontation mit den Einsatzkräften«. Den Kontakt zu seinen ehemaligen Gefährten brach er bis auf wenige Ausnahmen ab. 1986 verließ er Wiesbaden und fing in Hamburg neu an. Wolfgang Grams war einer seiner engsten Freunde. Gerd Böh bekennt sich durch die Teilnahme an dieser Demonstration erstmals öffentlich dazu.

Böh trifft dabei auf Kurt Rehberg, einen weiteren ehemaligen Freund. Er hatte sich bereits 1977 von der Szene getrennt, nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Kurt Rehberg empfindet es bis heute dennoch wie einen Verrat, seinem Freund Wolfgang Grams nicht in den Untergrund gefolgt zu sein.

Auch die früheren Freundinnen sind nach Wiesbaden gekommen, Roswitha Bleith und Ulli Heep. Birgit Hogefeld, die mehr als elf Jahre mit Wolfgang Grams zusammen war und 1984 mit ihm in den Untergrund ging, kann an der Demonstration nicht teilnehmen. In Bad Kleinen war sie an der Seite von Grams und ließ sich widerstandslos festnehmen. Seit dem 27. Juni 1993 ist sie in Bielefeld in strenger Einzelhaft.

Die Wiesbadener Demonstration ist ein Versuch der Beteiligten, aus einem doppelten Schock herauszukommen – zum einen verursacht durch den gewaltsamen Tod von Wolfgang Grams und den Verlust eines politischen Weggefährten, zum anderen durch die Umstände seines Todes. Denn der im Fiasko endende Festnahmeversuch war nur möglich mit der Hilfe eines Verfassungsschutzagenten: Klaus Steinmetz. Erst er bringt die Ermittler auf die Spur von Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. In Wiesbaden ist Klaus Steinmetz kein Unbekannter, er galt als guter Kumpel, einer, der sich mit Computern auskennt. Als in den Tagen vor der Demonstration der Verdacht immer lauter wurde, dass Klaus Steinmetz als Spitzel des Verfassungsschutzes am Tatort war, wollen das die meisten Freunde und Unterstützer nicht wahr haben. Sie schreiben in Flugblättern, dass sie »die Hand für ihn ins Feuer legen«. Doch die Verunsicherung ist groß, unerträglich die Vorstellung, dass der Verrat aus den eigenen Reihen gekommen sein könnte. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum die von allen erwartete Straßenschlacht ausbleibt. Bis auf ein paar Handgreiflichkeiten mit den Ordnungskräften verläuft die Demonstration friedlich.

In kurzen Reden kommt die Wut und Empörung über die »Ermordung« von Wolfgang Grams zum Ausdruck. Es ist spürbar, dass sich hier Menschen treffen, die nur noch der Verlust eint. Es ist der endgültige Abschied von Wolfgang Grams, den die Freunde aber längst mit ihrer Entscheidung verloren hatten, nicht in den Untergrund zu gehen. Schon damals war ihnen klar, dass sie Wolfgang Grams, wenn überhaupt, dann im Gefängnis oder eben gar nicht wiedertreffen würden.

Viele, die an diesem Samstag durch die Wiesbadener Straßen ziehen, meinen, dass sich Wolfgang Grams stellvertretend für all die opferte, die nur redeten. Es geht ihnen nicht darum, wie nachvollziehbar oder wie unsinnig die Motive für diesen Schritt waren. Grams wählte die Tat. »Mit dem möglichen Einsatz seines Lebens im bewaffneten Kampf hatte er uns, die wir diesen Schritt nicht gemacht hatten, alle am Haken«, so ein guter Freund.

4

»Herrhausen ist Opfer seiner eigenen Trugbilder geworden«

Die Reaktionen auf den Tod von Alfred Herrhausen innerhalb der Bank sind widersprüchlich. Am 6. Dezember 1989 sagt das Vorstandsmitglied Helmut Burgard während des Trauergottesdienstes im Frankfurter Dom:

»Unser toter Kollege hinterlässt uns und der Bank eine Vision. Wir werden mit Optimismus, den er uns so oft anempfohlen hat, hart daran arbeiten, diese Vision, im Gedenken an ihn, zu verwirklichen. Wie sagte er immer: Wenn man nicht mit Optimismus an eine Aufgabe herangeht, wird man diese Aufgabe nicht lösen. Der Abschied von diesem vortrefflichen Kollegen fällt uns sehr, sehr schwer und erfüllt uns mit tiefer Trauer. Die Erinnerung an ihn wird in uns und in unserer Bank lebendig bleiben. … Wir haben unseren besten Mann verloren.«

Es gibt tiefe und aufrichtige Trauer um Alfred Herrhausen in der Deutschen Bank. Spontan formiert sich am Tag nach dem Attentat, dem 1. Dezember, ein Schweigemarsch von mehr als tausend Mitarbeitern und zieht durchs Frankfurter Bankenviertel. In vielen Gesichtern spiegeln sich Entsetzen und Hilflosigkeit, in manchen offene Verzweiflung. Vor allem für die jüngeren Kollegen, die sich von Herrhausen anregen und begeistern ließen, bricht eine Welt zusammen. Einer seiner Mitarbeiter erinnert sich, wie er am 30. November vor Wut weinte. »Ich bin ans Fenster und hätte am liebsten die Scheibe eingeschlagen. Das Gefühl war, da knallen irgendwo aus Freude Sektkorken, weil sie ihn zur Strecke gebracht haben.« Die Stimme spielt auf den anderen Teil der Bank an, den, der nicht nur Trauer über Herrhausens Tod empfindet. Die in der zitierten Rede gepriesenen »Visionen« von Alfred Herrhausen sind in den Augen vieler Mitarbeiter in der Bank schon lange eine unerträgliche Bürde. Einer seiner Kollegen lächelt milde, wenn er darauf angesprochen wird: »In der Etymologie steht Vision für Trugbild. In diesem Sinne ist Herrhausen längst Opfer seiner eigenen Trugbilder geworden. Herrhausen ist nicht an dem Widerstand in der Bank gegen diese Visionen gescheitert, sondern an seinem eigenen Ehrgeiz. Er wollte partout eine Spur im Leben für die Nachwelt hinterlassen. Er wollte etwas Unauslöschliches gestalten. Jetzt hat er mit seinem außergewöhnlichen Tod genau das erreicht.«

Das Attentat auf Alfred Herrhausen wird mit großer Präzision und Professionalität ausgeführt. Die Wucht der Bombe ist durch einen Trichter punktgenau auf die hintere Tür des Mercedes 500 gerichtet, dorthin, wo Alfred Herrhausen sitzt. Im Gegensatz zu früheren Bombenattentaten der RAF hat der Fahrer des Fahrzeugs eine gute Chance zu überleben. Auch die Gefährdung von Passanten und anderen Unbeteiligten ist durch die technische Konstruktion verringert.

Die hohe Professionalität der Attentäter und die Tatsache, dass ein bestens ausgestatteter Fahndungsapparat in den Jahren nach 1989 ohne Ergebnis arbeitet, nährt bei vielen die Zweifel, ob die RAF allein für diesen Anschlag verantwortlich sei. Trotz zahlreicher Zeugenaussagen und Spuren ist es dem Bundeskriminalamt auch mehr als elf Jahre nach dem Attentat nicht gelungen, die Tat aufzuklären. Ein Vorstandsmitglied der Bank steht für viele, wenn er sagt: »Ich kann es nicht fassen, dass es den Tätern gelingen sollte, unerkannt zu entkommen und in elf Jahren sich gar keine Spur findet, die nur in irgendeiner Weise dahin führt, dass man ein bisschen Licht in das Dunkel bringt.«

Anfang der neunziger Jahre wird in den Medien die These diskutiert, ob die RAF nicht von Geheimdiensten unterwandert, sie als solche vielleicht gar nicht mehr existent sei. Die Ermittlungsbehörden haben bis dato allenfalls Mutmaßungen, wer der RAF faktisch angehört. Einige der auf den Fahndungsplakaten gesuchten RAF-Mitglieder werden in dieser Zeit in der ehemaligen DDR festgenommen, wo sie mit Hilfe der Stasi ein neues Leben angefangen und sich längst von der RAF losgesagt hatten.

Könnte es nicht sein, so eine Überlegung in diesen Jahren, dass Geheimdienste mit dem Tarnmantel einer Terrororganisation Alfred Herrhausen liquidiert haben? Motive für einen Mord durch diese Stellen gebe es durchaus, habe Herrhausen sich doch durch seine eigenwilligen Visionen jenseits der banküblichen Konventionen erbitterte Feinde gerade bei den US-Kreditinstituten gemacht.

1993, mit dem Auftauchen von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams in Bad Kleinen, kommen die Verschwörungstheoretiker in Erklärungsnot. Plötzlich gibt es wieder leibhaftige Vertreter einer angeblich längst von Geheimdienstlern übernommenen Vereinigung, die sich zu ihrer Geschichte bekennen. Birgit Hogefeld wehrt sich von Anfang an gegen die Verschwörungstheorien. Sie selbst spricht 1993 in diesem Zusammenhang »von dem Versuch, unsere Geschichte auszulöschen«. In der Differenziertheit ihrer Auseinandersetzung mit der RAF und ihrer eigenen Geschichte kann man sie schwerlich zu einem Klon der Geheimdienste erklären. Auch Wolfgang Grams ist nach Aussagen derjenigen, die ihn noch im Untergrund getroffen haben, keine durch Geheimdienste fremdgesteuerte Marionette. Er wird beschrieben als jemand, der die RAF und ihre Politik reflektiert und sich dazu bekannt hat.

Bis heute ist nicht klar, wer in der RAF für den Tod von Alfred Herrhausen verantwortlich ist. Für seine Angehörigen und Freunde bleibt der brennende Wunsch, sich nicht länger mit einem Phantom auseinander setzen zu müssen. Sie fragen sich, warum keiner der Täter sich bis heute zur Tat bekannt hat. »Was sind das für Menschen, die sich herausnehmen, über den Tod eines Menschen zu entscheiden, ohne dafür persönlich Verantwortung zu übernehmen?«

5

Es wird Krieg geben

An einem Sommertag des Jahres 2000 fährt Rainer Grams zum BKA nach Meckenheim bei Bonn, um die Gegenstände abzuholen, die sein Bruder Wolfgang am 26. Juni 1993 bei sich trug. Erst sieben Jahre nach der versuchten Festnahme gibt die Ermittlungsbehörde die Asservate frei. Vor der Pforte kommen ihm mit Motorradkappen vermummte Beamte der GSG 9 oder anderer Sondereinsatzkommandos entgegen. Von jedem dieser Polizisten denkt Grams, dass er in Bad Kleinen dabei gewesen sein könnte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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