Blacklist - Sara Paretsky - E-Book

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Sara Paretsky

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der elfte Fall für die »Detektivin mit Seidenstrümpfen«   Eines Tages erhält die Privatdetektivin Vic Warshawski einen ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll ein altes, verlassenes Herrenhaus observieren, in dem nachts ungebetene Gäste ihr Unwesen treiben. Tatsächlich stößt Vic auf einen mysteriösen Eindringling - und wenig später auf die Leiche eines Mannes, die im Gartenteich versenkt wurde. Vic ahnt, dass sie in ein Wespennest gestochen hat - und es scheint, als stehe das nächste Opfer bereits auf der schwarzen Liste des Täters.

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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sybille Schmidt

 

ISBN 978-3-492-98381-5

© dieser Ausgabe Piper Verlag GmbH, 2018

© 2003 Sara Paretsky

Titel der amerikanischen Originalausgabe:"Blacklist"

© Delacorte Press, New York 2003

© der deutschsprachigen Erstausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH 2004

Published by Arrangement with Sara and two C-Dogs Inc

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Freedom Master/shutterstock

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Gratwanderung

Die eiserne Witwe

Reicht euch die Hände

Falsche Fährte, liebe Freunde

Zufallsabstecher

Kiezbekanntschaften

Keine Schonzeit für Kranke

Brenne auf, mein Licht

Eisgekühlter Chef

Einöde ohne Spuren

Kinderreime

Der Wabash Cannonball

Treibsand?

Nachrichten mit Lücken

Haus der Toten

Leichendiebe

Timmy ist in den Brunnen gefallen

Krokodil im Wassergraben

Im Bann des Drachen

Versteck eines Femerichters

Ein Puzzle

Doch wo sind die Teile des Puzzles?

Familienangelegenheit

Taucherin

Die Nordwand erklimmen

Der Schlund der Riesenmuschel

Oh, hallo, Lieutenant

Haben Sie’s eilig? Stehlen Sie einen Wagen!

Zurück ins Dornengestrüpp

Warm-ups

Superheld

Golfwagen – Leichenwagen

Patriotische Aktivitäten

Welche Grundrechte?

Unter Freunden – zur Abwechslung

Ein Händchen für Kranke

Die beste Freundin eines Jungen

Plausch zwischen Starrköpfen

Dreck am Stecken

Verworrene Lebenslinien

Wohltätigkeit unterm eigenen Dach

Schweigen ist –?

Abfuhr in der Leichenhalle

Wunderknabe

Der Eiswürfelmann kommt

Hamster im Rad

Schläge auf das dicke Fell

Anfälle

Geländewagen mit Terrorist

Der Preis des Geldes

Die Toten sprechen

Im Anschlag

Tod den Unwürdigen

Unnatürlicher Schlaf

Showdown im Eagle River Corral

Todesbotschaft

Liebende – getrennt und wieder vereint

DANK

Widmung

Für Geraldine Courtney Wright, Künstlerin und Schriftstellerin – mutig, klug und herausragend – eine wahre Grande Dame:

 

Ich kann nicht ruhen von der Reise:Ich will das Leben trinken bis zur Neige…

Gratwanderung

Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, sodass ich fast nichts mehr sah. Ich war tags zuvor schon auf dem Grundstück gewesen, aber im Dunkeln wirkt alles anders. Ständig stolperte ich über Baumwurzeln und Ziegelstücke auf den verwahrlosten Wegen.

Ich bemühte mich, keinen Krach zu machen, falls wirklich irgendwo jemand lauerte, aber in erster Linie lag mir meine Gesundheit am Herzen: Ich hatte keine Lust, mit verstauchtem Knöchel die weite Strecke zurück zur Straße zu kriechen. An einer Stelle stolperte ich über einen losen Ziegelstein und landete mit Karacho auf dem Steißbein. Tränen schossen mir in die Augen; ich atmete hastig ein, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Als ich die malträtierte Stelle rieb, fragte ich mich, ob Geraldine Graham meinen Sturz beobachtet hatte. Ihre Augen waren nicht mehr gut, aber sie benutzte ein Fernglas mit Bild- und Restlichtverstärker.

Ich war so müde, dass es mir schwer fiel, die nötige Konzentration aufzubringen. Es war Mitternacht, eigentlich keine ungewöhnliche Arbeitszeit für mich, aber seit einer Weile schlief ich schlecht – Angst plagte mich und das Gefühl, damit alleine zu sein.

In den ersten Wochen nach dem Anschlag auf das World Trade Center war ich so verstört und verängstigt wie jeder in Amerika. Dann, nachdem wir die Taliban in den Untergrund gescheucht hatten und das Anthrax sich als Werk eines einheimischen Irren erwies, schienen sich die meisten Leute in Rot-Weiß-Blau zu hüllen und zum Alltag zurückzukehren. Doch mir blieb das versagt, solange Morrell sich in Afghanistan aufhielt – auch wenn es ihm Spaß machte, auf der Jagd nach irgendwelchen Warlords, die sich zwischendurch mal in Diplomaten verwandelt hatten, in Höhlen zu übernachten.

Als die Ärzteorganisation Humane Medicine im Sommer 2001 nach Kabul reiste, schloss Morrell sich an, in der Tasche einen Buchvertrag zum Thema »Alltag bei den Taliban«. Ich hab schon Schlimmeres überstanden, sagte er, als ich meiner Sorge über Probleme mit den berüchtigten Sittenwächtern der Taliban Ausdruck gab.

Das war vor dem 11. September. Danach blieb Morrell zehn Tage lang verschwunden. Damals fing das mit der Schlaflosigkeit an, obwohl mich jemand von den Humane-Medicine-Leuten aus Peshawar anrief und mir ausrichtete, Morrell halte sich in einer Gegend auf, in der es keine Telefone gab. Die meisten Leute aus der Gruppe flohen gleich nach dem Terrorakt nach Pakistan, aber Morrell konnte mit einem alten Freund nach Usbekistan fahren und so über den Flüchtlingstreck nach Norden berichten. Die Chance meines Lebens, hatte Morrell laut Bericht meines Anrufers gesagt – das hatte ich auch schon bei seinem Ausflug in den Kosovo zu hören gekriegt. Vielleicht war das die Chance eines anderen Lebens gewesen.

Als wir im Oktober mit den Bomben loslegten, blieb Morrell zunächst in Afghanistan, um direkt von der Front zu berichten, und dann, um über das neue Regierungsbündnis zu schreiben. Margent.Online, die Web-Version der alten Monatszeitschrift Margent, bezahlte ihn für Auslandsreportagen, die er zu einem Buch verarbeiten wollte. Auch der Guardian nahm die eine oder andere Story ab. Manchmal hatte ich ihn sogar auf CNN gesehen. Sonderbar, das Gesicht des Liebsten zu sehen, obwohl er zwanzigtausend Kilometer entfernt ist, sonderbar zu wissen, dass hundert Millionen Menschen der Stimme zuhören, die mir Zärtlichkeiten ins Haar raunt. Oder vielmehr raunte.

Als er in Kandahar wieder auftauchte, heulte ich erst vor Erleichterung und schrie ihn dann per Satellit an. »Aber, Süße«, protestierte er, »ich bin in einem Kriegsgebiet ohne Strom und Mobilfunksender. Hat Rudy dich nicht aus Peshawar angerufen?«

In den nächsten Monaten reiste er so viel durch die Gegend, dass ich nie wusste, wo er sich aufhielt. Aber er meldete sich wenigstens regelmäßig, vor allem wenn er Infos brauchte: (V.l., kannst du checken, warum Ahmed Hazziz in Coolis in Isolationshaft gesteckt wurde? V.l., kannst du nachprüfen, ob das FBI Hazziz’ Familie davon in Kenntnis gesetzt hat? Ich muss los – wichtiges Interview mit dem ältesten Sohn der dritten Frau des Stammeshäuptlings hier. Rest folgt später.)

Ich war etwas verschnupft darüber, dass er mich wie ein kostenloses Recherchebüro behandelte. Ich hatte Morrell nie für einen Adrenalin-Junkie gehalten – diese Journalisten, die immer mitten in der Katastrophe sein müssen –, aber ich schickte ihm eine grantige E-Mail, in der ich ihn fragte, was er wohl beweisen wolle.

»Seit Kriegsbeginn sind mehr als zehn westliche Journalisten ermordet worden«, schrieb ich an einer Stelle. «Wenn ich den Fernseher einschalte, rechne ich jedes Mal mit dem Schlimmsten.«

Binnen Minuten hatte ich seine Antwort per E-Mail: »Victoria, geliebte Detektivin, wenn ich morgen nach Hause komme, versprichst du mir dann, künftig von jedem Fall Abstand zu nehmen, bei dem ich mir Sorgen um dich mache?«

Was mich noch mehr auf die Palme brachte, weil ich wusste, dass er recht hatte – ich war manipulativ und unfair. Aber ich brauchte ihn, ich wollte ihn sehen, spüren, hören – und zwar live, nicht im Cyberspace.

Ich ging dazu über, mich müde zu laufen. Jedenfalls schaffte ich es, die beiden Hunde müde zu laufen, die meinem Nachbarn von unten und mir gehören: Sie verkrochen sich jetzt immer in Mr. Contreras’ Schlafzimmer, sobald sie mich im Joggingzeug sichteten.

Trotz meiner Mammuttouren – ich lief zur Zeit fünfzehn Kilometer statt acht oder neun wie sonst – war ich nicht erledigt genug, um zu schlafen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hatte ich fünf Kilo abgenommen, was Mr. Contreras beunruhigend fand: Er setzte mir Toast und gebratenen Speck vor, sobald ich vom Laufen kam, und bearbeitete mich so lange, bis ich zum Durchchecken zu Lotty Herschel ging. Lotty meinte, ich sei körperlich völlig in Ordnung, nur psychisch überanstrengt, wie so viele.

Wie man es auch nennen wollte, ich war jedenfalls zurzeit nicht wirklich bei der Sache, wenn es um meine Arbeit ging. Ich bin auf Wirtschafts- und Industriekriminalität spezialisiert. Früher war ich häufig zu Fuß unterwegs, marschierte zu Verwaltungsgebäuden, um etwas in Akten nachzuschlagen, machte Beschattungen und so fort. Seit es das Internet gibt, tappt man nur noch von Website zu Website. Wenn man stundenlang vor einem Computer sitzt, muss man sich konzentrieren können, und das fiel mir zurzeit schwer.

Deshalb strich ich nun im Dunkeln um Larchmont Hall herum. Als mein wichtigster Klient mich bat, nach Einbrechern Ausschau zu halten, die sich nachts in dem Haus herumtrieben, war ich so scharf auf Arbeit mit Körpereinsatz, dass ich auch die zerbröselnden Steinbänke am Rand des Zierteichs dort geschrubbt hätte.

Darraugh Graham war schon Klient von mir, als ich die Detektei gerade eröffnet hatte. Der New Yorker Ableger seines Unternehmens, Continental United, hatte drei Mitarbeiter im World Trade Center verloren. Darraugh setzte das schwer zu, aber er trauerte mit eiserner Miene und kalkweißem Gesicht, was anrührender war als manches Gezeter, das man dieser Tage zu hören bekommt. Er wollte nicht über den Verlust und die persönlichen Folgen für ihn sprechen, sondern ging mit mir in seinen Sitzungsraum, wo er eine Detailkarte von den Vorstädten im Westen aufrollte.

»Ich habe Sie aus persönlichen Gründen hergebeten, nicht aus geschäftlichen.« Er wies mit dem Mittelfinger auf einen grünen Fleck nordwestlich von Naperville in New Solway, das noch nicht zu Chicago gehört. »Das ist alles Privatbesitz hier. Große Villen von alten Familien, Sie wissen schon, die Ebbersleys, Felittis und so fort. Es ist ihnen gelungen, das Land zu erhalten wie eine Art privates Naturschutzgebiet. Auf diesem braunen Streifen hier hat Taverner ‘72 knapp sechzigtausend Quadratmeter an einen Makler verkauft. Es gab ein großes Geschrei damals, aber er war im Recht. Musste wahrscheinlich irgendwelche Steuern zahlen.« Mein Blick folgte Darraughs langem Zeigefinger einem braunen Streifen entlang, der sich in dem ganzen Grün wie eine Möhre ausnahm.

»Auf der Ostseite liegt ein Golfplatz. Im Süden der Gebäudekomplex, in dem meine Mutter lebt.« Darraugh ist ein kühler, distanzierter Mann – wenn er umgänglicher Stimmung ist. Es fällt schwer, sich ihn in normalen Lebenslagen vorzustellen, wie zum Beispiel beim Geborenwerden.

»Mutter ist einundneunzig. Sie kommt alleine zurecht, und außerdem will ich nicht – sie will nicht mit mir zusammenleben. Sie wohnt dort in einer Siedlung – Anodyne Park. Reihenhäuser, Apartments, ein kleines Einkaufszentrum, ein Pflegeheim, falls sie Hilfe braucht. Ihr scheint es zu gefallen. Sie ist ein geselliger Mensch. Wie mein Sohn – das scheint nicht jedem in der Familie gegeben zu sein.« Sein frostiges Lächeln zeigte sich flüchtig.

»Alberner Name für eine Siedlung, Anodyne Park, und geradezu geschmacklos, wenn man an die Alzheimer-Station im Pflegeheim denkt – Mutter behauptet, es heißt so etwas wie ›Lindern‹ oder ›Heilen‹. Sie kann von ihrer Wohnung aus Larchmont Hall sehen, eines der großen Anwesen dort. Es steht seit einem Jahr leer – früher gehörte es der Familie Drummond. Die Erben haben es vor drei Jahren verkauft, aber die neuen Besitzer gingen bankrott. Felitti hat verlauten lassen, er wolle es kaufen, um die Makler aus der Gegend rauszuhalten, aber daraus ist bislang nichts geworden.«

Er verfiel in Schweigen. Ich wartete, dass er zur Sache kam, wofür er sonst nicht lange braucht, aber nachdem eine Minute verstrichen war, sagte ich: »Und nun wollen Sie, dass ich einen Krösus auftreibe, damit es nicht an ordinäre Reiche verschachert wird?«

Er blickte finster. »Ich habe Sie nicht hergebeten, damit Sie sich über mich lustig machen. Mutter meint, dass dort nachts Leute ein und aus gehen.«

»Und sie will nicht die Polizei rufen?«

»Die Polizei war schon mehrmals da, hat aber niemanden gefunden. Die Grundstücksverwaltung, die sich für die Holding um das Objekt kümmert, hat eine Alarmanlage installieren lassen. Sie ist vollständig intakt.«

»Haben die Nachbarn was beobachtet?«

»In dieser Gegend kann man die Nachbarn nicht sehen, Vic. Da sind die Häuser, umgeben von hundert Jahre alten Bäumen und Gärten und so fort. Man könnte die Nachbarn natürlich fragen.« Er wies erneut auf die Karte, um mir die Entfernungen zu zeigen, aber er klang unsicher – was ihm gar nicht ähnlich sah.

»Worum geht es für Sie bei der Sache, Darraugh? Wollen Sie das Anwesen kaufen?«

»Großer Gott, nein.«

Mehr sagte er nicht dazu, sondern trat ans Fenster und blickte hinunter auf die Bauarbeiten am Wacker Drive. Ich starrte verblüfft seinen Rücken an. Selbst als er mich vor einigen Jahren darum gebeten hatte, seinen Sohn aus einer Anklage wegen Drogenbesitz rauszuhauen, hatte er nicht so um den heißen Brei herumgeredet.

»Mutter hat schon immer ihre eigenen Regeln aufgestellt«, murmelte er am Fenster. »Natürlich werden Leute aus ihrem – unserem – sozialen Umfeld von der Polizei meist besser behandelt als Leute – nun ja, andere. Aber sie ist konsterniert, weil keiner sie ernst nimmt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich etwas einbildet – sie ist schließlich über neunzig –, aber sie ruft mich inzwischen jeden Tag an und beklagt sich darüber, dass die Polizei nichts unternimmt.«

»Ich schau mal, ob ich irgendwas finde, was die Polizei übersieht«, sagte ich ruhig.

Seine Schultern entspannten sich, und er wandte sich zu mir um. »Ihr übliches Honorar, Vic. Den Vertrag bekommen Sie von Caroline. Und die genaueren Angaben über Mutter.« Er brachte mich hinaus zu seiner Assistentin, die ihm mitteilte, seine Konferenzschaltung nach Kuala Lumpur warte auf ihn.

Dieses Gespräch hatte an einem Freitagnachmittag stattgefunden, am ersten März, einem grauen, trüben Tag. Am Samstagmorgen machte ich meine erste Tour nach New Solway, der viele weitere folgen sollten. Bevor ich aufbrach, fuhr ich im Büro vorbei, um meine Generalstabskarten von den westlichen Vororten zu holen. Ich blickte auf meinen Computer und wandte ihm dann entschieden den Rücken zu: Ich hatte mich seit gestern Abend um zehn schon dreimal eingeloggt und keine Nachricht von Morrell vorgefunden. Ich fühlte mich wie eine Alkoholikerin mit der Flasche in Reichweite, aber ich schloss das Büro ab, ohne meine E-Mails zu checken, und machte mich auf, um siebzig Kilometer ins Land der Reichen und Mächtigen zu reisen.

Wenn ich in Chicago Richtung Westen unterwegs bin, komme ich mir immer vor wie auf Himmelfahrt, zum Kapitalistenhimmel jedenfalls. Zuerst kommt man durch die verqualmten Industriegegenden, durch Arbeiterviertel, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne – kleine Häuschen, in denen die Frauen mit vierzig alt aussehen und die Männer sich durch Maloche und schlechtes Essen frühzeitig ins Jenseits befördern. Dann fährt man in die gnadenlosen Vororte am Stadtrand – Cicero, Berwyn, wo es einem immer noch passieren kann, dass man wegen einem Dollar zusammengeschlagen wird. Wenn man diese Orte hinter sich lässt, wird die Luft sauberer, und der Wohlstand mehrt sich. Als ich in New Solway ankam, schlingerte ich quasi auf dicken Polstern aus Wertpapieren dahin.

Ich verließ die Mautstrecke und inspizierte meine Karten. Coverdale Lane war die Hauptstraße, die durch ganz New Solway führte. Sie fing im Nordwesten des Ortes an und führte in einem großen Bogen auf die Dirksen Road im Südosten. Von der Dirksen aus kam man weiter südlich auf die Powell Road zwischen New Solway und Anodyne Park, wo Geraldine Graham wohnte. Ich blieb auf der Hauptachse zum nordwestlichen Teil der Coverdale.

Auf der war ich erst ein paar Meter unterwegs, als mir auffiel, was Darraugh gemeint hatte: In dieser Gegend bekamen sich die Nachbarn nicht zu Gesicht. Pferde grasten auf Koppeln; in Obstgärten hingen einzelne schrumplige Äpfel vom letzten Herbst. Da die Bäume kahl waren, konnte man ab und an von der Straße aus ein Haus entdecken, doch meist sah man nur die langen Auffahrten. Die ärmeren Anwohner hatten vielleicht Ausblicke auf die Zufahrt der Nachbarn, doch die meisten Anwesen befanden sich auf Grundstücken, die sechzig- oder siebzigtausend Quadratmeter umfassten. Und sie waren alt. Hier gab es kein neues Geld. Keine McVillas, die protzige Klötze auf winzige Grundstücke bauten.

Als ich zweieinhalb Kilometer nach Süden gefahren war, machte die Coverdale Lane einen Bogen Richtung Osten. Ich fuhr weiter fast bis zum Ende und entdeckte schließlich an einem steinernen Pfosten ein diskretes Schild, das auf Larchmont Hall verwies.

Ich fuhr daran vorbei bis zur Dirksen Road und hielt mich Richtung Südwesten, um einen Blick auf den Gebäudekomplex zu werfen, in dem Darraughs Mutter lebte. Ich wollte mich davon überzeugen, dass sie das Larchmont-Anwesen tatsächlich sehen konnte. Von unten versperrte eine Hecke den Ausblick auf die Anwesen von New Solway, aber Ms. Graham wohnte im vierten Stock eines kleineren Apartmenthauses, von dem sie durchaus das Grundstück überblicken konnte.

Ich fuhr zur Coverdale Lane zurück und bog dann auf die kurvige Zufahrt zu Larchmont Hall ein. Den Wagen stellte ich so ab, dass ihn jeder, der das Gelände betrat, sofort sehen konnte, und stattete mich mit meiner perfekten Tarnung aus: Schutzhelm und Klemmbrett. Wenn die Leute einen Schutzhelm sehen, glauben sie, man sei vom Bau oder für die Wartung der Klimaanlage zuständig. An Orten wie diesen sind die Leute an Service gewöhnt; sie erkundigen sich nicht nach Ausweisen. Hoffte ich zumindest.

Als ich mir einen ersten Eindruck vom Gelände verschaffte, pfiff ich vor mich hin: Die ursprünglichen Eigentümer hatten nicht geknausert. Außer der Villa befanden sich eine Garage, Stallungen, ein Gewächshaus und ein kleineres Haus auf dem Grundstück, in dem wohl das Personal wohnte – oder gewohnt hätte, wenn sich jemand so einen Lebensstil noch leisten konnte. Die Grundstücksverwaltung schien kein Geld in die Wartung zu stecken, denn in dem Zierteich zwischen Haus und Nebengebäuden trieben Blätter und verrottete Lilien. Sogar ein Karpfen driftete kieloben im Wasser. Die formellen Gärten waren mit Unkraut überwuchert, und die Wiesen waren schon lange nicht mehr gemäht worden.

Die Anzahl der Gebäude und der verwahrloste Zustand des gesamten Anwesens war bedrückend. Selbst wenn man vermögend genug war, sich so ein Anwesen zuzulegen – wie sollte man sich darum kümmern können? Die Vorstellung, jedes dieser Gebäude auf Löcher in Fenstern und Wänden zu untersuchen, war niederschmetternd. Ich richtete mich auf. Wer jammert, braucht doppelt so lang, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich mit dem Abspülen haderte. Ich beschloss, klein anzufangen, und nahm mir als Erstes das Dienstbotenhaus vor.

Als ich bei allen kleineren Gebäuden an den Fenstern gerüttelt hatte, beim Gewächshaus auf Zaunpfählen balanciert war, um zu checken, ob im Dach Glasscheiben zerbrochen waren, und mich vergewissert hatte, dass die Türen und Tore zu den Stallungen und der Garage nicht nur verschlossen waren, sondern auch keinerlei Einbruchspuren aufwiesen, war es früher Mittag. Ich hatte Hunger und Durst, aber in der ersten Märzwoche wird es noch früh dunkel. Da ich keine Zeit mit der Suche nach Essbarem vergeuden wollte, nahm ich mir zähneknirschend das Hauptgebäude vor.

Es war riesig. Aus der Ferne sah es elegant aus, erinnerte mit seinen schlanken Säulen und eckigen Elementen an der Fassade an die Bauten des Federal Style, aber ich hatte nur Augen für die vier Stockwerke mit Fenstern, Türen auf allen vier Seiten im Erdgeschoss, Flügeltüren an Balkonen in den oberen Geschossen – ein Paradies für Einbrecher.

Doch an allen Fenstern der unteren beiden Stockwerke schien die Alarmanlage intakt. Im Erdgeschoss prüfte ich einige mit einem Strommesser, fand aber nirgendwo eine Stelle, wo der Stromkreis unterbrochen war.

Zweifellos gab es Besucher hier: Bierflaschen, Alufolie von Chipstüten, zerknüllte Zigarettenpackungen und das eine oder andere Kondom erzählten eine deutliche Geschichte. Vielleicht hatte Ms. Graham nur Kids aus der Gegend bemerkt, die sich hier zum Stelldichein trafen.

Ich sinnierte gerade, ob ich eine der Säulen hochkraxeln sollte, um die Balkontüren zu überprüfen, als ein Streifenwagen vorfuhr. Ein Cop mittleren Alters stieg aus und kam gemächlich angeschlendert.

»Haben Sie irgendeinen Grund, sich hier aufzuhalten?«

»Vermutlich denselben wie Sie.« Ich wies mit meinem Strommesser auf das Haus. »Ich arbeite für Florey und Kapper, die Maschinenbaufirma. Wir haben gehört, dass eine Frau meint, hier lungern nachts kleine grüne Männchen rum. Da wollte ich mal die Alarmanlage in Augenschein nehmen.«

»Sie haben in der Garage irgendwas ausgelöst«, sagte der Cop.

Ich grinste. »Ach herrje, da bin ich wohl zu forsch gewesen. Davor haben sie uns während der Ausbildung gewarnt, aber ich wollte wissen, ob man diese Tore anheben kann. Tut mir Leid, dass Sie umsonst herkommen mussten.«

»Kein Problem. Sie haben mir den dreiundachtzigsten Hinweis auf verdächtige Briefe erspart.«

»Furchtbarer Stress, nicht«, sagte ich und hoffte, dass er keinen Ausweis sehen wollte. »Ich habe Freunde bei der Polizei in Chicago, die sind am Ende ihrer Kräfte dieser Tage.«

»Uns geht’s nicht anders. Wir haben das Reservoir hier und ein paar Elektrizitätswerke, die wir im Auge behalten müssen. Wird Zeit, dass das FBI diesen Anthrax-Scheißer schnappt. Wir verschleißen unsere Arbeitskraft mit hysterischen Anrufen, nur weil Tantchen Madge vergessen hat, den Absender auf den Brief zu schreiben.«

Wir ließen uns über die allgemeine Lage aus, wie jedermann dieser Tage. Die Polizei war am übelsten dran, weil sie sich gegen etwaige Terrorangriffe wappnen musste und mit der tagtäglichen Verbrechensbekämpfung nicht mehr nachkam. Seit sechs Monaten nahm die Zahl der Drive-By-Shootings, die zuvor auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten gewesen war, wieder rapide zu.

Das Handy des Cops klingelte. Er grummelte etwas hinein. »Ich muss los. Sie kommen zurecht hier draußen?«

»Ja, alles klar. Aber ich werd auch verschwinden. Sieht alles okay aus hier, vom üblichen Müll mal abgesehen.« Ich wies mit der Fußspitze auf eine leere Zigarettenpackung an der Hauswand. »Wüsste nicht, wie jemand ins Haus kommen sollte.«

»Wenn Sie Osama bin Laden auf dem Dachboden finden, sagen Sie Bescheid: Ich hätte nichts gegen ein bisschen Ruhm einzuwenden.« Er hob die Hand zum Abschied und schlenderte zu seinem Wagen.

Mir fiel nichts mehr ein, wonach ich Ausschau halten konnte, und es war ohnehin zu dunkel für Feinheiten. Ich wanderte zu der Stelle, wo der Garten in ein Waldstück überging, und blickte zum Haus hinüber. Von hier aus konnte ich die Fenster des Dachbodens sehen, doch sie blickten nur dunkel zum Himmel auf.

Die eiserne Witwe

Ich musste mehrere Wachposten passieren, um zu Geraldine Graham vorzudringen. Anodyne Park war eine solide abgeschirmte Siedlung; der Wachmann an der Zufahrt notierte sich meine Autonummer und erkundigte sich nach meinem Anliegen, bevor er Ms. Graham anrief. Als ich eine dieser kurvigen Zufahrten entlangkroch, die bei Immobilienmaklern von Vororten hoch im Kurs stehen, stellte ich fest, dass der Gebäudekomplex weitläufiger war, als er auf den ersten Blick wirkte. Außer Reihenhäusern, Apartments und einem Pflegeheim von der Größe einer kleineren Klinik gab es eine Reihe Geschäfte. Grüppchen von Golfern, denen das miese Wetter nichts auszumachen schien, stellten ihre Wagen vor einer Bar am Ende der Einkaufszeile ab. Ich flitzte in einen Lebensmittelladen, der auf Almhütte gestylt war, und erstand eine Flasche überteuertes Wasser und eine Banane. Es konnte nicht schaden, meinen Blutzuckerspiegel für das Gespräch mit der Mutter meines Klienten etwas anzuheben.

Als sie die Tür öffnete, war ich ziemlich verblüfft: Geraldine Graham sah ihrem Sohn so ähnlich, dass ich im ersten Moment dachte, ich hätte Darraugh in einem rosa Seidenkleid vor mir. Sie hatte dasselbe lange, schmale Gesicht mit markanter Nase, und ihre Augen waren so eisblau wie seine, wenn auch im Alter trübe geworden. Nur die Haare unterschieden sich: Darraugh ist längst nicht mehr blond, sondern weiß, und Geraldines Haare waren nussbraun mit weißen Strähnen, ohne chemische Zusätze. Sie hielt sich ebenso stramm aufrecht wie ihr Sohn. Vielleicht hatte ihre Mutter sie als Kind an ein viktorianisches Rückenbrett gebunden, und sie hatte die Prozedur bei Darraugh wiederholt.

Erst als Geraldine Graham zurücktrat, um mich einzulassen und Licht auf ihr Gesicht fiel, sah ich die vielen Fältchen. »Sie sind wohl die junge Frau, die mein Sohn geschickt hat, um nachzusehen, wer in Larchmont Hall einbricht, wie?« Wie viele alte Menschen hatte sie eine hohe, brüchige Stimme. »Ich habe mich gefragt, ob der Polizist Sie wohl festnimmt, aber Sie scheinen sich gut herausgeredet zu haben. Was wollte er?«

»Sie haben mich beobachtet, Ma’am?«

»Der Zeitvertreib der Alten. Aus dem Fenster spähen, durch Schlüssellöcher linsen. Wiewohl Sie mit meinem Hobby ja offensichtlich Ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich koche mir gerade eine Tasse Tee. Sie können auch eine haben, wenn Sie möchten. Oder auch Bourbon: Ich weiß, dass Detektive stärkere Getränke als Tee bevorzugen.«

Ich lachte. »Nur Philip Marlowe. Wir modernen Detektive vertragen keinen Alkohol am helllichten Tag, davon schlafen wir ein.«

Sie ging mir voraus durch einen kurzen Gang zur Küche. Ich empfand einen Anflug von Neid angesichts des Kühlschranks mit der zweiflügeligen Tür und des modernen Herds. Meine eigene Küche hatte zwei Mietergenerationen vor mir die letzten Neuerungen gesehen. Ich fragte mich, was es wohl kosten würde, sich so eine frei stehende Kochgelegenheit mit diesen schicken Ceranfeldern, die wie aufgemalt aussahen, einbauen zu lassen. Vermutlich zwei Jahre Ratenzahlungen.

Ms. Graham bemerkte meinen Blick und sagte: »Die sollen die Alten davon abhalten, das Haus in Brand zu stecken. Sie schalten automatisch ab, wenn kein Topf darauf steht, oder spätestens nach ein paar Minuten, wenn man den Timer nicht entsprechend programmiert hat. Obwohl es ja heißt, die Alten sollen brennen und rasen, wenn die Dämmerung lauert.«

Als sie sich umständlich eine kleine Trittleiter zurechtschob, um an ihre Teebeutel zu kommen, machte ich Anstalten, ihr zu helfen. Sie wies mich im selben barschen Ton zurecht, wie ihr Sohn das gerne tat.

»Nur weil ich alt und langsam bin, heißt das noch lange nicht, dass die Jungen und Fixen mich wegschubsen müssen. Mein Sohn will mir eine Haushälterin auf den Hals hetzen, damit ich vor dem Fernseher oder hinter dem Fernglas vor mich hin vegetieren kann. Sie sehen ja, wir würden uns den ganzen Tag in den kleinen Räumen hier auf die Füße treten. Ich war froh, dass ich diesen ganzen Kokolores hinter mir lassen konnte, als ich aus dem großen Haus auszog. Haushälterinnen, Gärtner, auf Schritt und Tritt muss man die Gefühle und Zeitpläne von anderen beachten. Eines meiner Mädchen von früher kommt jeden Tag zum Saubermachen und Kochen – und um nachzuschauen, ob ich nicht nachts gestorben bin. Das reicht mir.«

Sie hängte die Teebeutel in elegante Porzellanbecher und goss heißes Wasser darüber. »Meine Mutter wäre zutiefst schockiert, wenn sie diese Teebeutel und die Becher sehen würde. Noch als sie neunzig war, mussten wir jeden Nachmittag das Crown-Derby-Service herunterholen. Becher und Teebeutel sind für mich gleichbedeutend mit Freiheit, aber ich bin mir nie ganz sicher, ob es wirklich Freiheit ist oder nicht doch Nachlässigkeit.«

Diese Tassen mit Goldrand und zartem Muster stammten auch nicht gerade aus der Bahnhofsmission. Als Ms. Graham mich mit einem Kopfnicken anwies, sie zu transportieren, bekam ich die zierlichen Henkel kaum zu fassen. Das Porzellan war so hauchdünn, dass ich mir die Finger verbrannte. Ms. Graham unter diesen Umständen Schritt für Schritt ins Wohnzimmer zu folgen, war eine Art biblische Strafe inklusive Höllenfeuer.

Wenn Geraldine Graham früher in einem Anwesen wie der Villa gegenüber gewohnt hatte, empfand sie ihr Apartment vermutlich als beengend, aber alleine das Wohnzimmer war so groß wie meine gesamte Behausung. Helle chinesische Teppiche schmiegten sich an das glänzende Parkett. Sessel mit blassgelben Satinbezügen umringten einen offenen Kamin an einer Wand, aber Ms. Graham ging weiter zu einem Erkerfenster, von dem man auf Larchmont Hall blickte. Dort stand ein Polstersessel nebst rundem Piecrust-Tischchen. Hier schien sie sich am häufigsten aufzuhalten: Auf dem Tisch fand sich ein Sammelsurium aus Lesebrille, Fernglas, Telefon und Büchern. Hinter dem Stuhl hing ein Ölgemälde von einer Frau. Sie trug ein Kleid, das um die Jahrhundertwende modern gewesen war. Ich versuchte, Ähnlichkeiten zwischen ihr und dem Rest der Familie zu erkennen, aber sie war eine klassische Schönheit. Nur die kalten, blauen Augen erinnerten an Darraugh.

»Meine Mutter. Es war eine große Enttäuschung für sie, dass ich meinem Vater ähnlich sehe. Als sie jung war, galt sie als schönste Frau von Chicago.« Mühsam platzierte Geraldine Graham das Fernglas und die Brille auf die Bücher und legte Untersetzer für die Becher zurecht. Sie ließ sich im Sessel nieder und sagte, ich solle mir auch einen vom Kamin holen. Sie begann zu sprechen, als ich mich noch im anderen Teil des Raums aufhielt.

»Ich hätte mir wohl keine Wohnung mit Blick auf das Haus zulegen sollen. Meine Tochter sagte schon, dass es mir nicht gut tun würde, Fremde dort zu sehen, was ja gar nicht der Fall war, bis auf die paar Monate, in denen sie sich die Kosten leisten konnten. Ein Computer-Mogul, dessen Millionen sich in den wirtschaftlichen Turbulenzen letztes Jahr in Luft aufgelöst haben. Wie demütigend für die Kinder, denke ich immer, wenn ihre Pferde verkauft werden. Doch seit diese Leute ausgezogen sind, habe ich niemanden mehr gesehen. Erst in den letzten Nächten. Tagsüber passiert gar nichts. Mein Sohn hat das zwar nie laut gesagt, aber er denkt wohl, ich habe Alzheimer. Das nehme ich wenigstens an, weil er mich tatsächlich am Donnerstagabend besuchen kam, was ein außergewöhnliches Ereignis ist. Aber ich leide nicht an Demenz, ich weiß genau, was ich sehe. Sie habe ich schließlich auch gesehen heute Nachmittag.«

Dem letzten Satz ihres Statements ignorierte ich. »Sie haben selbst in Larchmont Hall gewohnt? Davon hat Darraugh mir nichts gesagt.«

»Ich bin dort geboren. Und aufgewachsen. Doch keines meiner Kinder wollte sich mit einem solchen Anwesen belasten, nicht einmal, um es für die eigenen Kinder zu erhalten. Meine Tochter lebt nicht hier, sondern in New York, mit ihrem Mann; sie haben diesen Besitz in Rhinebeck, aber ich dachte, Darraugh wollte wenigstens seinem Sohn die Möglichkeit lassen, hier zu leben. Doch er war unerbittlich in dieser Sache, und wenn Darraugh sich stur stellt, ist nichts zu machen.«

Warum hatte Darraugh mir verschwiegen, dass er hier groß geworden war? Ich war so ärgerlich über diese Unterlassung, dass ich Geraldine nicht mehr zuhörte. Was hatte er sonst noch zu verbergen? Natürlich war die Betreuung von Larchmont Hall ein Fulltime-Job, den ein mit seinem Beruf verheirateter Witwer sich nicht aufhalsen wollte. Ich stellte mir Darraugh in einer Kindheit à la Daphne du Maurier vor, beim Reiten, Jagen, Versteckspielen in den Stallungen. Vielleicht geben sich nur Leute aus ärmlichen Verhältnissen wie ich der Illusion hin, dass man an einer solchen Kindheit hängt und sich die Erinnerung daran bewahren möchte.

»Sie haben also das Haus beobachtet, um zu sehen, wie es ohne Sie zurechtkommt, und dabei ist Ihnen aufgefallen, dass sich jemand dort aufhält?«

»Nicht direkt.« Sie schluckte geräuschvoll und stellte den Becher so abrupt auf den Untersetzer, dass Tee herausspritzte. »Wenn man alt ist, schläft man nicht mehr viel. Ich wache nachts auf, gehe zur Toilette, lese ein bisschen und döse in diesem Sessel hier. Etwa vor einer Woche«, sie zählte die Tage an den Fingern ab, »es muss letzten Dienstag gewesen sein, war ich gegen ein Uhr wach. Ich sah ein Licht aufflackern und wieder ausgehen. Zuerst dachte ich, es sei ein Wagen auf der Coverdale Lane gewesen. Die Straße sieht man von hier aus nicht, aber die Reflexion des Scheinwerferlichts auf der Fassade.«

Reflexion des Scheinwerferlichts auf der Fassade. Ihre geschliffene Redeweise war noch imposanter als ihr herrisches Benehmen. Ich trat zum Fenster und hielt mir die Hände als Fernglas vor die Augen, um in dem winterlichen Dämmerlicht besser sehen zu können. Auf der anderen Seite der Powell Road konnte ich die Hecke erkennen, die New Solway vom ordinären Rest der Welt abschirmte. Larchmont Hall lag dahinter, direkt in meinem Blickwinkel. Es war weit genug entfernt von der Straße, dass ich auch im Zwielicht das gesamte Anwesen sehen konnte.

»Nehmen Sie das Fernglas, junge Frau; damit kann man im Dunkeln sehen, selbst eine alte Frau wie ich.«

Das Fernglas war ein hübsches Teil aus dem Hause Rigel mit Restlichtverstärker, was gewöhnlich von Jägern benutzt wird. »Haben Sie das gekauft, damit Sie im Dunkeln besser sehen können, Ma’am?«

»Ich habe es nicht erstanden, um mein einstiges Zuhause damit zu beobachten, falls Sie das meinen. Mein Enkel MacKenzie hat es mir geschenkt, als ich noch in Larchmont lebte. Er fand, es könnte mir nützlich sein, weil meine Augen schlechter werden, und er hatte recht.«

Mit dem Fernglas sah man deutlich die Mansardenfenster im Dachboden. Ich konnte ein Oberlicht im Dach erkennen, aber keine weiteren Details. An den kleinen Fenstern unter dem Dachvorsprung hingen keine Vorhänge. Der Haupteingang, vor dem der Cop und ich geparkt hatten, lag linker Hand, im rechten Winkel zu der Hausfront nach Anodyne Park. Wer sich auf der Zufahrt dem Gebäude näherte, konnte von hier aus beobachtet werden, doch wenn man über die Wiesen auf der anderen Seite kam, war man von den Stallungen und dem Gewächshaus verdeckt.

»Ich habe leere Flaschen und solches Zeug gefunden, als ich mich dort umgeschaut habe«, sagte ich, während ich das Haus weiter im Auge behielt. »Auf dem Grundstück sind auf jeden Fall Leute unterwegs. Haben Sie die vielleicht gesehen?«

»Oh, ich nehme an, Menschen aus der Unterschicht finden Gefallen daran, sich auf dem einstigen Besitz der Drummonds zu verlustieren«, sagte sie abfällig, »aber ich habe mitten in der Nacht Licht auf dem Dachboden gesehen. Durch das Oberlicht kann man hineinschauen. Als Larchmont noch von meiner Mutter geführt wurde, wohnte dort oben das Personal. Als Kind schlich ich gerne hinauf und sah den Hausmädchen beim Pokern zu. Mutter wusste nichts von diesen Kartenspielen, aber Kinder und Hausangestellte sind natürliche Verbündete.

Als Mutter gestorben war, schloss ich den Dachboden zu und verlegte die verbliebenen Angestellten in den dritten Stock. Ich gab keine großen Gesellschaften, die Schlafzimmer dort wurden nicht gebraucht. Und auch nicht die vielen Dienstboten, die Mutter für unerlässlich hielt, als sei Larchmont Blenheim Palace.

Es war sonderbar, dieses Licht dort zu sehen, als seien Mutters Dienstboten zurückgekehrt. Mein Sohn hat mir versichert, dass Sie eine versierte Ermittlerin sind. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mein Anliegen ernst nehmen, im Gegensatz zur hiesigen Polizei. Mein Sohn bezahlt Sie schließlich.«

Ich wandte mich um und legte das Fernglas auf den kleinen Tisch. »Haben Sie oder Darraugh der Grundstücksverwaltung oder dem Makler davon berichtet? Die müsste das eigentlich am meisten interessieren.«

»Julius Arnoff. Er ist höflich, glaubt mir aber nicht. Mir ist bewusst, dass mir dieses Haus nicht mehr gehört«, sagte sie. »Aber ich bin immer noch an seinem Wohlergehen interessiert. Ich sagte Darraugh, wenn die Polizei sich als so wenig hilfreich erweist, möchte ich einen eigenen Detektiv, der mir Bericht erstatten muss. Apropos, ich glaube, Sie haben mir Ihren Namen noch nicht gesagt, junge Frau. Darraugh sagte ihn mir, aber ich habe ihn vergessen.«

»Warshawski. V. I. Warshawski.«

«Oh, diese polnischen Namen. Die rutschen einem von der Zunge wie Aale. Was sagte noch mein Sohn, wie er Sie nennt? Vic? Ich werde Sie Victoria nennen. Schreiben Sie mir Ihre Telefonnummer auf diesen Block? Große Ziffern, bitte, ich möchte keine Lupe benutzen müssen, wenn ich Sie in Eile anrufen will.«

Die Horrorvision, dass Ms. Graham mich nachts um drei anrufen würde, wenn sie an Schlaflosigkeit litt oder sich einsam fühlte, veranlasste mich dazu, ihr nur meine Büronummer aufzuschreiben. Da würde sich mein Auftragsdienst die meiste Zeit mit ihr befassen.

»Ich hoffe, Darraugh hat Ihre Fähigkeiten nicht übertrieben. Ich werde heute Nacht nach Ihnen Ausschau halten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann heute nicht hier bleiben. Ich komme morgen wieder.«

Das passte ihr gar nicht; wenn ich für ihren Sohn tätig sei, hätte ich gefälligst anzutreten, wann sie es wünschte.

»Und wenn ich morgen einen anderen Auftrag bekomme, soll ich dann meine Arbeit für Darraugh wegen des anderen Klienten liegen lassen?«, fragte ich.

Die Falten an ihrer Nase vertieften sich. Sie versuchte, aus mir herauszubekommen, welche Verpflichtung wohl wichtiger sein könnte als ihre Bedürfnisse, doch ich hatte nicht die Absicht, ihr das mitzuteilen. Man musste ihr zugute halten, dass sie nicht lange herumredete, als sie merkte, dass sie auf verlorenem Posten war.

»Aber Sie werden mir persönlich berichten, was Sie herausfinden. Ich möchte mir das nicht von Darraugh anhören müssen; manchmal wünsche ich mir, er wäre mehr wie sein Vater.«

Ihrem Ton nach zu schließen, war das nicht als Kompliment gedacht. Als ich aufstand, bat sie mich – oder befahl mir –, die Tassen in die Küche zu tragen. Ich drehte sie um, bevor ich sie in die Spüle stellte: Coalport, feines englisches Porzellan. Becher, wahrhaftig.

Auf der Rückfahrt nach Chicago sann ich über Geraldine Grahams erstaunliche Mitteilungen nach. Ich fragte mich, warum Darraugh Larchmont so sehr hasste, und ertappte mich beim Konstruieren schaurig-düsterer Szenarios. Darraugh war Witwer. Vielleicht war seine heiß geliebte Frau dort gestorben, während sein Wüstling von Vater sich mit den Preziosen von Darraughs Gattin und der Sekretärin davonmachte. Oder vielleicht hatte Darraugh Geraldine im Verdacht, seine Frau – oder auch seinen Vater – im Zierteich ertränkt zu haben, und hatte sich geschworen, nie wieder auch nur einen Fuß auf Drummond-Land zu setzen.

Als ich mich zwischen den kleinen Einfamilienhäusern an der West Side von Chicago wiederfand, kam ich zu dem Schluss, dass die Geschichte vermutlich weniger melodramatisch war. Darraugh und seine Mutter hatten wahrscheinlich nur die üblichen Konflikte, die es in jeder Familie gab.

Wie die Geschichte auch aussah – Ms. Graham passte es jedenfalls überhaupt nicht, dass ihr Sohn sie so selten besuchte. Ich fragte mich, ob sie Darraugh vielleicht mit den Phantomlichtern auf dem Dachboden zwingen wollte, sich mehr mit ihr zu befassen. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich zwischen diesen beiden massiven Persönlichkeiten ordentlich in Stress kommen könnte. Was aber immer noch besser war, als mir Sorgen um Morrell zu machen.

Reicht euch die Hände

Der Gedanke an Geraldine Grahams Fernglas veranlasste mich dazu, Sonntagabend ohne Taschenlampe auf dem Grundstück von Larchmont Hall herumzustromern und auch keinen Krach zu machen, indem ich beispielsweise stürzte und mir einen Knöchel brach. Ms. Graham hatte tagsüber angerufen, um sicherzugehen, dass ich tatsächlich kommen würde. Ich fragte sie, ob sie das Licht in der Nacht zuvor beobachtet habe; Nein, sagte sie, aber sie hatte nicht die ganze Nacht danach Ausschau gehalten, da ich das ja nun tun würde. Als ich gerade eingeschnappt reagieren wollte, weil sie mit mir umsprang wie mit Dienstboten, nahm sie mir den Wind aus den Segeln, indem sie sagte: »Noch vor zehn Jahren wäre ich die ganze Nacht aufgeblieben, um nach Einbrechern zu suchen, aber heute kann ich das nicht mehr.«

Ich war in meiner Nachtschwärmer-Kluft unterwegs: schwarze Jeans, dunkle Windjacke über Sweatshirt, schwarze Kappe, die meine Haare andrückte, kohlegeschwärztes Gesicht, damit meine Haut nicht im Mondlicht schimmerte. Ms. Graham würde sich anstrengen müssen, um mich zu entdecken, auch mit ihrem Rigel-Fernglas.

Für die Tour heute Nacht hatte ich den Wagen in einer Wohnstraße im Nordosten von New Solway geparkt. Die restlichen drei Kilometer bis zu Larchmont Hall ging ich die Dirksen Road entlang, die zwischen New Solway und einem Golfplatz verlief.

Es gab keine Gehsteige an der Dirksen Road; vielleicht hatte die Gemeinde kein Geld dafür oder wusste nicht, was Fußgänger waren. Ich musste immer wieder in den Straßengraben springen, um Autos auszuweichen. Als ich schließlich die Zufahrt zu Larchmont Hall erreichte, war ich außer Atem und gereizt. Ich lehnte mich an einen der wuchtigen Steinpfeiler, um mir Kletten von der Hose zu klauben.

Kaum hatte ich die Straße verlassen, umhüllte mich tiefste Dunkelheit. Die Lichter von Häusern, Straßenlaternen, Autos blieben zurück. Die Zufahrt war so weit von der Hecke entfernt, die Larchmont abschirmte, dass man vom Verkehr und vom Straßenlicht nichts mehr mitbekam.

In der Dunkelheit fühlte ich mich völlig losgelöst von der Welt. Der Mond spendete etwas Licht, das jedoch von Wolken geschluckt wurde, sodass es mir schwer fiel, auf der Zufahrt zu bleiben. Immer wieder geriet ich in das Unkraut am Rand. Ich hatte die Entfernung von der Dirksen Road bis zum Haus gestern im Auto abgeschätzt: ein Kilometer. Etwa zwölfhundert Schritte für mich, aber als ich etwa bei sechshundert war, geriet ich durcheinander, und in der Dunkelheit verlor ich jedes Gefühl für Distanzen. Die Wesen der Nacht, die hier ihren Geschäften nachgingen, begannen bedrohliche Gestalt anzunehmen vor meinem geistigen Auge.

Etwas raschelte im Gebüsch, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Als ich wartete, war auch das Rascheln nicht mehr zu hören, doch dann fing es wieder an. Es näherte sich, und ich bekam schweißnasse Hände. Ich umklammerte den Griff der Taschenlampe, bereit, sie als Waffe einzusetzen, und schaltete sie mit dem kleinstmöglichen Radius ein. Ein Waschbär blieb stehen und starrte mich eine volle Minute lang an, dann tappte er, scheinbar achselzuckend, ins Gebüsch zurück.

Nach ein paar weiteren Schritten kam Larchmont Hall in Sicht, fahl wie ein unheimliches Geisterschiff im Mondschein. Ich machte jetzt Gebrauch von meinem eigenen Nachtsichtglas, entdeckte aber niemanden. Vorsichtig umrundete ich die Nebengebäude, stöberte aber nur weitere Waschbären und einen Fuchs auf, keine Menschen.

Ich zog mich an den Rand des Gartens zurück, um die Rückseite des Anwesens zu beobachten. In den Fenstern am Dachboden war kein Licht zu sehen. Ich hockte mich auf eine Bank und wartete.

Darraughs Familiengeschichte hatte mich neugierig gemacht, und ich war nachmittags in der Bibliothek der Chicago Historical Society gewesen und hatte mir alte Zeitungsartikel und Klatschspalten angeschaut. Es war irgendwie tröstlich, mit anderen Menschen in einer Bibliothek zu sitzen und Papier zu berühren, statt einsam und alleine auf einen blinkenden Cursor zu starren. Ich hatte viel erfahren über die Geschichte der Region, war mir aber nicht sicher, was das über Darraughs Leben aussagte.

Geraldine Grahams Großvater hatte 1877 am Illinois River eine Papierfabrik gegründet, mit der er in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten ein Vermögen verdiente. In den Fabriken der Drummonds in Georgia und South Carolina waren einmal neuntausend Menschen beschäftigt gewesen. Während der Wirtschaftsflaute der letzten zehn Jahre waren die Werke bis auf ein größeres in Georgia alle geschlossen wurden. Ich hatte sogar einmal für Darraugh dort gearbeitet, aber er hatte nichts über die Verbindung zur Familie seiner Mutter gesagt. 1940 hatte Drummond Paper mit Continental Industries fusioniert; der Name Drummond war nur bei dem Papierunternehmen erhalten geblieben.

1903 hatte Geraldines Vater Larchmont Hall für seine Frau bauen lassen; Geraldine, ihr Bruder Stuart und eine Schwester, die jung gestorben war, kamen dort zur Welt. Der Chicago American berichtete damals über das Einweihungsfest, bei dem die Taverners, McCormicks, Armors und andere Gesellschaftsgrößen aus Chicago einen glamourösen Abend verbrachten. Die ganze Geschichte erinnerte mich an diese Historienschinken im Fernsehen.

 

Unsere reisende Reporterin scheute keine Mühen, um von der Einweihung von Larchmont Hall berichten zu können; mit der Straßenbahn reiste sie zur Eisenbahn, um in entlegenstes Gebiet zu fahren, wo sie von einem offenen Omnibus in Empfang genommen und mitsamt den Lieferanten, die Pflanzen, Hummer und allerhand köstliche Leckerbissen für das große Fest brachten, zu dem Anwesen verfrachtet wurde. Notgedrungen traf sie so vor den erhabeneren Gästen ein und fand reichlich Gelegenheit, das Gelände in Augenschein zu nehmen, wo Tische und Stühle aufgestellt waren, da der Tee im Freien serviert wurde. Das Diner wurde selbstverständlich im großen Esszimmer eingenommen, wo dreißig Personen an dem mit Schnitzereien verzierten Nussholztisch Platz fanden.

Italienische Handwerker arbeiteten acht Monate an dem Mosaik im Entree, doch es war die Mühe wert, denn die grünen, ziegelroten und erlesen beigefarbenen Kacheln geben dem Gast einen edlen und doch unaufdringlichen Vorgeschmack auf die Pracht im Inneren. Unsere Reporterin konnte einen Blick ins Studierzimmer des Mr. Drummond erhaschen, ein männliches Reich, in dem man den Geruch von Leder wittert und in dem die schweren dunkelroten Vorhänge vor den großen Fenstern geschlossen sind, damit der bedeutende Mann nicht von der Schönheit der Natur an der Ausführung seiner wichtigen Aufgaben gehindert wird.

Doch die größte Schönheit findet man im Inneren des Anwesens. Mrs. Matthew Drummond, geborene Miss Laura Taverner, zog die Blicke aller Anwesenden auf sich, als sie in einem Kleid in Erscheinung trat, das perlenbestickten Tüll mit kornblumenblauem Satin vermählte. Ihr goldfarbener Chiffonumhang war mit Strasssteinen gesäumt (von Worth darselbst, meine Lieben, und erst letzte Woche aus Paris eingetroffen, wie Mrs. Drummonds Zofe mir zuraunte), und ihre Straußenfedern und Diamanten erregten den Neid aller anwesenden Damen. Mrs. Michael Taverner, Mrs. Drummonds Schwägerin, fiel fast in Ohnmacht vor Scham in ihrem rosa Kunstseidenkleid. Und gewiss hat Mrs. Edwards Bayard wenig Sinn für Äußerlichkeiten, wie jeder bezeugen kann, der ihr malvenfarbenes Bombasingewand zum tausendsten Male zu Gesicht bekam – vielleicht bestreitet der Gatte aber auch mit ihrem Kleideretat seine außerhäuslichen Vergnügungen!

 

 

Die vorwitzige Reporterin beschrieb weiter detailliert die dreizehn Schlafzimmer des Anwesens, das Billardzimmer, das Musikzimmer, in dem Mrs. Drummonds exquisites Klavierspiel die Gäste bezauberte, den mit blauem Ton gesäumten Zierteich und die drei Automobile, die Mr. Drummond »in der Garage, wie die Engländer dieses Gebäude für die neuartigen Gerätschaften nennen«, unterstellte.

Wie ungemein modern vom altem Matthew Drummond. Die Garage, die zu meiner Rechten aufragte, war groß genug für sechs neuartige Automobile sowie eine Werkstatt für deren Wartung. Damals wie heute verlangt Wohlstand offenbar Überfluss. Wie sollten auch die anderen sonst Wind davon bekommen?

Nachdem ich mich über die Errungenschaften von Larchmont informiert hatte, sah ich diverse Indexe nach Geraldines Namen durch. Ich wollte wissen, wer Darraughs Vater war und woher die Verachtung in Geraldines Stimme kam, als sie über ihn sprach. Und zwar nicht aus Klatschsucht, sondern um zu sondieren, mit welchen Strömungen unter der Oberfläche ich es hier zu tun hatte, damit ich nicht davon weggeschwemmt wurde.

1912 stieß ich auf die Erwähnung von Geraldines Geburt – »ein freudiges Ereignis«, wie man sich damals auszudrücken pflegte, eine kleine Schwester für Stuart Drummond. Als Nächstes fand ich einen Artikel von 1929 über ihren Debütantinnenball mit anderen Mädchen von der Vina Fields Academy. Ihr Tüllkleid von Poiret war ausführlich beschrieben, inklusive der Diamantsplitter auf dem Oberteil. Offenbar hatte der Börsenkrach die Familie nicht davon abgehalten, alle Register zu ziehen. Es hatte Leute gegeben, die an der Krise verdienten – vielleicht war Matthew Drummond einer von ihnen gewesen.

Die Familie fand zum nächsten Mal Erwähnung, als Geraldine im Frühjahr 1931 von einem Aufenthalt in der Schweiz zurückkehrte, diesmal in einem weißen Balenciaga-Kostüm und »nach ihrer Erkrankung auf aparte Art dünn«. Ich zog die Augenbrauen hoch: Hatte sie Tbc gehabt, oder hatte Laura Taverner Drummond ihre Tochter nach Europa verfrachtet, um eine ungewollte Schwangerschaft zu vertuschen?

In den Dreißigerjahren befand sich Amerika in einer schlimmen Wirtschaftskrise, doch wenn man die Gesellschaftsspalten aus dieser Zeit las, merkte man nichts davon. Immer wieder war die Rede von Kleidern, die fünf- oder zehntausend Dollar kosteten. Von einem solchem Betrag hätte die Familie meines Vaters bequem ein Jahr lang leben können. 1931 war er neun Jahre alt und trug morgens vor der Schule Kohlen aus, um Geld zu verdienen, nachdem der Vater seine Arbeit verloren hatte. Ich hatte meinen Großvater nie kennengelernt, denn die Belastung, seine Familie nicht ernähren zu können, hatte seine Gesundheit ruiniert. Er starb 1946, kurz nach der Hochzeit meiner Eltern.

Geraldine Drummonds Hochzeit mit MacKenzie Graham im Jahre 1940 wurde durch solche Widrigkeiten nicht getrübt. Die Trauung war eine opulente Zeremonie in der Fourth Presbyterian Church an der North Michigan Avenue mit acht Brautjungfern und zwei jungen Ringträgern. Darauf folgte ein Empfang in Larchmont Hall, bei dem es ein Wunder war, dass die Böden nicht unter der Last des Kaviars zusammenbrachen. Danach ging das glückliche Paar für zwei Monate auf Hochzeitsreise nach Südamerika – Flitterwochen in Frankreich waren aufgrund des Kriegs in Europa nicht möglich.

Zwischen den Zeilen konnte man lesen, dass es sich wohl um eine Zweckheirat mit dem Sohn eines Geschäftsfreundes von Geraldines Vater handelte. Ihr einziger Bruder, Stuart, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatte keine Kinder hinterlassen, sodass Geraldine wohl sämtliche Unternehmen der Drummonds erben würde. Vielleicht hatten Matthew und Laura Drummond sich einen Schwiegersohn ausgesucht, dem sie zutrauten, das Familienerbe zu bewahren. Oder vielleicht hatte Laura sich für einen Mann entschieden, den sie beeinflussen konnte – der Bräutigam sah auf den Fotos gehetzt und unglücklich aus.

MacKenzie Graham lebte in Larchmont Hall bis zu seinem Tod im Jahre 1957. Ordentliche Nachrufe in allen Zeitungen, eines natürlichen Todes zu Hause gestorben. Was alles heißen konnte von Krebs bis zu Verbluten nach einem Unfall mit einer Waffe. Vielleicht wollte Darraugh nichts mehr mit Larchmont Hall zu tun haben, weil er dort den Tod seines Vaters erlebt hatte.

Die Kälte drang durch meine Jacke und das Sweatshirt. Trotz des beunruhigend milden Winters – kein starker Frost den ganzen Winter und kein Schnee Anfang März – war es zu kalt, um lange irgendwo herumzusitzen. Ich stand auf und wanderte zum Ende der Wiese, um die Dachbodenfenster zu überprüfen. Nichts.

Ich umrundete noch einmal das Haus, wobei ich mir am selben losen Ziegel den Fuß anstieß wie bei den beiden ersten Rundgängen. In mich hineinfluchend setzte ich mich auf eine Stufe am Teich und horchte. Eine Weile hörte ich nur kleine Nachttiere im Gebüsch am Rande des Grundstücks umherhuschen. Dann und wann fuhr auf der Coverdale Lane ein Wagen vorbei, aber niemand hielt an. Ein Reh stelzte über den Rasen. Als es im Mondlicht eine Bewegung von mir wahrnahm, flitzte es davon.

Plötzlich hörte ich ein lauteres Knacken im Gebüsch hinter der Garage. Das war kein Waschbär und auch kein Fuchs. Mein Herz hämmerte. Ich sprang auf. Das Knacken war nicht mehr zu hören. Hatte der Neuankömmling mich bemerkt? Ich versteckte mich hinter den Sträuchern am Rande des Ziergartens und versuchte, nicht zu atmen. Kurz darauf hörte ich Schritte auf Ziegeln: Der Neuankömmling war nicht mehr auf raschelnden Blättern unterwegs, sondern auf dem Weg. Und er ging auf zwei Beinen, nicht auf vieren. Eine Person, die sich hier auskannte und zielstrebig aufs Haus zuging.

Ich ließ mich auf den Bauch fallen und kroch um den Teich herum Richtung Haus, wobei ich auf den Wegen blieb, damit mich das Rascheln dürrer Blätter nicht verriet. Im Schutz einer breiten Birke hob ich den Kopf und starrte auf die Schatten von Bäumen und Büschen. Plötzlich tauchte ein weiterer Schatten auf, die Glieder schlackerten und waberten verzerrt im Mondlicht. Eine schmale Gestalt mit einem Rucksack, der im Schattenriss aussah wie ein Buckel. Sie bewegte sich leichtfüßig wie ein junger Mensch.

Ich presste das Gesicht an den Rasen, damit meine Nase im Mondlicht nicht weiß schimmerte. Die Gestalt ging wenige Meter vor mir vorbei, ohne stehen zu bleiben. Als ich den Burschen an der Nordseite des Hauses hörte, stand ich auf und schlich ihm nach. Er musste die Bewegung in den Verandatüren gesehen haben, denn er wirbelte schlagartig herum. Bevor er abhauen konnte, rannte ich los, hechtete mich auf ihn und bekam ihn an den Knien zu fassen. Er schrie auf und ging zu Boden.

Es war kein Junge, sondern ein Mädchen mit einem schmalen, blassen Gesicht und einem dunklen Zopf. Sie verströmte den sauren Geruch von Angst. Ich rollte beiseite, ohne ihre Schulter freizugeben. Als sie wegrennen wollte, packte ich fester zu.

»Was machst du hier?«, fragte ich sie.

»Was machen Sie hier?«, fauchte sie verängstigt, aber giftig. Unser Atem hinterließ kleine weiße Wölkchen in der Luft.

»Ich bin Ermittlerin. Ich bin hier, weil jemand einen Einbruch gemeldet hat.«

»Verstehe. Sie arbeiten für die Bullenschweine.«

»Der Ausdruck war schon verstaubt, als ich noch in deinem Alter war. Bist du Patty Hearst, die von den anderen Schwerreichen klaut, um Terroristen zu finanzieren, oder bist du Jeanne d’Arc und willst dein Land retten?«

Der Mond stand jetzt hoch am Himmel; sein kaltes Licht fiel auf das weiche, junge Gesicht des Mädchens und ließ es marmorweiß leuchten wie eine Statue. Sie blickte finster, ging mir aber nicht auf den Leim.

»Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten. Das sollten Sie auch tun.«

»Bist du diejenige, die hier mitten in der Nacht im Haus Licht macht?«

Es fiel mir schwer, ihre Miene zu deuten, aber sie wirkte erschrocken, ängstlich sogar, und sagte rasch: »Ich bin wegen einer Mutprobe hier. Die anderen meinten, ich hätte zu viel Schiss, um mich nachts auf dieses verlassene Gelände zu wagen.«

»Und nun lauern sie hinter den Hecken, um dich beim Wort zu nehmen. Lass dir was Besseres einfallen.«

»Sie haben kein Recht, mich auszufragen. Ich verstoße gegen kein Gesetz.«

»Das stimmt, jedenfalls bis jetzt noch nicht, obwohl es aussieht, als hättest du als Nächstes ins Haus einbrechen wollen. Triffst du dich hier zum Techtelmechtel mit deinem Freund?«

Sie kniff angewidert die Augen zusammen. »Sind Sie bei der Sexpolizei? Wenn ich mit meinem Freund vögeln will, dann mach ich das in Ruhe zu Hause und wälze mich nicht auf irgendeinem Dachboden.«

»Du weißt also, dass das Licht vom Dachboden kommt. Das finde ich sehr interessant.«

Sie rang um Fassung, hielt sich aber tapfer. »Sie haben gesagt, es war auf dem Dachboden.«

»Nein. Ich habe nur vom Haus gesprochen. Aber du und ich wissen, was hier abgeht, also lass uns nicht um den heißen Brei herumreden.«

Sie presste empört die Lippen zusammen. »Ich verstoße nicht gegen das Gesetz, lassen Sie mich los. Dann verklage ich Sie auch nicht, weil Sie mich angegriffen haben.«

»Du bist zu jung, um mich zu verklagen, aber deine Eltern werden das wohl für dich übernehmen. Da du zu Fuß hergekommen bist, wohnst du wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Ich gehe mal davon aus, dass du so verzogen bist wie die anderen Kinder aus reichem Hause, die ich kenne, und niemals selbst Verantwortung für etwas übernimmst, was du ausgefressen hast.«

Damit hatte ich sie. »Das tue ich sehr wohl!«, schrie sie.

Sie entwand sich meinem Griff, der lockerer geworden war, und rollte sich herum. Ich versuchte, ihren Arm zu packen, erwischte aber nur noch den Rucksack. Irgendetwas Weiches, Pelziges löste sich, als sie sich losriss. Sie rannte in Richtung Garten. Ich sprintete ihr nach und stopfte mir beim Laufen das pelzige Ding in die Jeanstasche.

Als ich durch den Garten raste, verschwand sie hinter dem Teich und hielt auf das Waldstück hinter den Nebengebäuden zu. Ich rannte ihr auf dem Weg nach und stolperte wieder über den losen Ziegelstein. Ich war zu schnell, um mich zu fangen. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen, um auf den Beinen zu bleiben, stürzte aber seitwärts in den Teich.

Er war bedeckt mit Ranken und Blättern. Das Wasser war nur anderthalb Meter tief, aber ich geriet in Panik, weil ich fürchtete, mich nicht mehr aus dem Gestrüpp befreien zu können. Als es mir schließlich gelang, mich aufzurichten, war ich mehrere Meter vom Rand entfernt. Ich fror entsetzlich, und meine Kleider hatten sich mit dem fauligen Wasser voll gesogen und klebten an mir wie ein eisernes Leichentuch. Ich rutschte auf dem glitschigen Boden aus und griff nach den Pflanzen, um nicht wieder unterzugehen. Stattdessen bekam ich kaltes Fleisch zu fassen. Der tote Karpfen. Entsetzt wich ich zurück und verlor wieder den Halt. Als ich mich aufrichtete, wurde mir klar, dass es kein Fisch war, was ich da spürte, sondern eine menschliche Hand.

Falsche Fährte, liebe Freunde

Ich arbeitete mich zum Kopf der Gestalt vor. Es handelte sich um einen Mann, der vom Gewicht seiner Kleider nach unten gezogen wurde und nur wegen des Gestrüpps aus Wasserpflanzen unter ihm an der Oberfläche trieb. Ich griff unter seine Achseln und zerrte ihn zum Rand des Teiches, wobei ich darauf achtete, dass sein Kopf über Wasser blieb, falls er noch nicht tot war. Ich glitt immer wieder aus, und mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren von der Anstrengung, dieses enorme Gewicht durch die verfaulten Pflanzen auf dem Wasser zu bewegen. Nach einer halben Ewigkeit war es mir gelungen, ihn zum Rand zu befördern. Zwischen Erdboden und Wasserspiegel war ein Abstand von etwa zwanzig Zentimetern. Ich holte tief Luft, ging zwischen den modrigen Gewächsen in die Hocke und stemmte den Mann mit einem gewaltigen Schwung nach oben.

Meine Arm- und Beinmuskeln brannten vor Erschöpfung. Jedes meiner Beine schien eine Tonne zu wiegen. Ich legte mich mit dem Oberkörper auf die Marmorkacheln am Rand des Teichs und zog mühsam die Beine nach. Meine Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass ich am ganzen Körper zitterte. Einen Moment lang blieb ich liegen, doch das durfte ich mir nicht erlauben. Hier war niemand, der mir helfen würde; wenn ich mich nicht bewegte, erfror ich.

Ich rappelte mich hoch und kroch auf allen vieren zu dem Mann hinüber. Ich rollte ihn auf den Rücken, pulte die Algen aus seinem Mund, lockerte seine Krawatte, drückte auf seinen Brustkorb und pustete ihm zitternd kalte Luft in den Mund. Nach fünf Minuten war er noch immer so tot wie in dem Moment, als ich seine Hand zu fassen bekam.

Mittlerweile fror ich so heftig, dass es mir vorkam, als schneide mir jemand mit einem Messer den Schädel auf. Ich zog den Reißverschluss meiner Windjacke auf und fummelte mein Handy aus einer der Innentaschen. Ich konnte mein Glück kaum fassen: Das kleine Display blinkte grün und munter, und ich konnte den Notruf anwählen.

Der Mann in der Zentrale verstand mich nur mit Mühe, weil meine Zähne so laut klapperten. Larchmont Hall, wo sollte das sein? Das erste Haus am Übergang von Dirksen Road zu Coverdale Lane? Ob ich die Scheinwerfer meines Wagens einschalten könne oder das Licht im Haus, damit die Sanitäter mich finden konnten? Ich war zu Fuß? Was machte ich denn da?

»Sagen Sie der Polizei von New Solway, sie sollen nach Larchmont Hall kommen«, krächzte ich. »Die wissen schon, wo das ist.«

Ich beendete das Gespräch und blickte sehnsüchtig zum Haus hinüber. Vielleicht hatten die DotCom-Millionäre einen Bademantel oder wenigstens ein Küchenhandtuch vergessen, als sie auszogen. Ich war schon auf halbem Weg zum Haus, als mir einfiel, dass ich in Kürze nicht mehr mit dem toten Mann alleine sein würde. Larchmont Hall dagegen war so unzugänglich wie eine Festung. Ohne Werkzeug und mit halb erfrorenen Händen würde ich vielleicht gerade mal eine Tür aufkriegen, bis die Polizei hier war, aber in dieser Zeit konnte ich eventuell die Identität des Toten ermitteln.

Ich fand meine Taschenlampe bei der Verandatür, wo ich mit dem Mädchen gerungen hatte, und nahm sie mit.

War der Tote der Freund meiner kleinen Einbrecherin? Hatten sie sich trotz ihrer rotzigen Bemerkung über die Sexpolizei in dem verlassenen Haus getroffen und irgendwie einen Weg gefunden, die Alarmanlage außer Betrieb zu setzen? Vielleicht hatte er die Verabredung heute Abend nicht einhalten können, weil er über denselben Stein stolperte wie ich, in den Teich fiel und sich nicht mehr aus dem Gestrüpp befreien konnte. Er hatte nicht versucht, sich seiner Schuhe oder Kleider zu entledigen; ich hatte seine Krawatte gelöst und sein Hemd aufgeknöpft, um die Herzmassage auszuführen, aber Gürtel und Reißverschluss seiner Anzughose waren geschlossen. Es schien sich um einen hochwertigen Anzug zu handeln, eine braune Wolle-Leinen-Mischung. Und er trug Budapester, nicht das passende Schuhwerk für einen nächtlichen Streifzug im Wald.

Ich leuchtete ihn mit der Taschenlampe an. Er war etwa eins dreiundachtzig, schlank, aber nicht sonderlich durchtrainiert. Er hatte nussbraune Haut und krause Haare, was vielleicht eine Erklärung war für heimliche Treffen in verlassenen Häusern. Vielleicht war auch sein Alter interessant für das Mädchen – er schien Mitte dreißig zu sein. Ich konnte mir gut vorstellen, dass dieses Mädchen eine Liebesbeziehung mit einem Afroamerikaner reizen würde; sie wirkte, als sei sie sehr erpicht auf dramatische Abenteuer.

Wer war der Mann? Wie konnte er unter so scheußlichen Umständen an einem derart entlegenen Ort zu Tode kommen? Ich untersuchte vorsichtig seine Taschen, was nicht leicht war, weil sie durch das Wasser zugepappt waren. Mit halb erfrorenen Händen war das eine mühsame Angelegenheit, die mir überdies nicht viel einbrachte. In seiner Jacke und seinen vorderen Hosentaschen befand sich nichts außer ein paar Münzen. Ich biss die Zähne zusammen und schob die Hand unter sein Gesäß. In den hinteren Taschen förderte ich auch nichts zutage außer einem Bleistift und einem Streichholzbriefchen.

Heutzutage geht kein Mann, der Anzug und Krawatte trägt, ohne Brieftasche oder wenigstens seinen Führerschein auf die Straße. Aber wo war sein Wagen? Hatte er wie ich drei Kilometer entfernt geparkt und war zu Fuß zu seinem heimlichen Stelldichein gegangen?

Mir war so kalt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, aber in wohlig-warmem Zustand hätte mir die Sache zu denken gegeben. Ich weiß, dass Leute manchmal in der Badewanne ertrinken, und ich selbst war einen Moment in Panik geraten, als ich mich nicht von diesen Wasserpflanzen befreien konnte, aber warum hatte der Mann keinerlei Papiere bei sich? Hatte er sich hier das Leben genommen? War dies die Inszenierung eines Dramas, an die Adresse des jungen Mädchens gerichtet? Bekenne dich endlich zu mir, oder ich bringe mich um? Doch er sah mir eher wie ein solider Mensch aus, zu dem ein derart melodramatisches Verhalten nicht passte. Ich konnte ihn mir schwer als Romeo zu meiner jungen Julia vorstellen.