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Blut und böse Träume Fünf Studentinnen fahren zum Auswärtsspiel nach Kansas. Ihr Team siegt, es wird gefeiert. Am nächsten Morgen sind es nur noch vier. Privatdetektivin V. I. Warshawski muss auf die Suche gehen. Doch unter jedem Stein, den sie umdreht, kriechen neue Rätsel hervor. Sind die Ungeheuer, mit denen sie kämpft, real oder Produkt ihrer Albträume? Entsteigen sie der Gegenwart oder der Vergangenheit? »Paretskys phänomenale Gabe für relevante und fesselnde Storys, bissige Dialoge, facettenreiche Charaktere und stacheligen Humor erreicht hier die Wucht eines Tornados.« Booklist »Von allen heutigen Detektivfiguren kommt niemand an Warshawski ran.« Publishers Weekly »Mit ihrem unbezwingbaren Appetit aufs Verknüpfen scheinbar alltäglicher Verbrechen mit heißen Eisen aus Geschichte und Gegenwart verwurzelt Paretsky aktuellen Kleinstadtärger in den Schandtaten der Vergangenheit. Wer sich für Rassismus, Klimawandel, Wirtschaft und soziale Verantwortung interessiert, wird diesen Monsterfall atemlos verfolgen.« Kirkus Review
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Seitenzahl: 627
Veröffentlichungsjahr: 2025
Fünf Studentinnen fahren zum Auswärtsspiel nach Kansas. Ihr Team siegt, es wird gefeiert. Am nächsten Morgen sind es nur noch vier.
Privatdetektivin V. I. Warshawski muss auf die Suche gehen. Doch unter jedem Stein, den sie umdreht, kriechen neue Rätsel hervor. Sind die Ungeheuer, mit denen sie kämpft, real oder Produkt ihrer Albträume? Entsteigen sie der Gegenwart oder der Vergangenheit?
»Paretskys phänomenale Gabe für relevante und fesselnde Storys, bissige Dialoge, facettenreiche Charaktere und stacheligen Humor erreicht hier die Wucht eines Tornados.« Booklist
»Die bekannteste Privatdetektivin der Kriminalliteratur: Paretsky verknüpft ihre Erzählstränge mit unnachahmlicher Eleganz, die Spannung lässt nie nach.« Krimibestenliste
Sara Paretsky, eine der renommiertesten Krimiautorinnen weltweit, studierte Politikwissenschaft, war in Chicagos Elendsvierteln als Sozialarbeiterin tätig, promovierte in Ökonomie und Geschichte, arbeitete eine Dekade im Marketing und begann Anfang der 1980er Jahre, den Detektivroman mit starken Frauen zu bevölkern. In der Geschichte der feministischen Genre-Eroberung, die den Hardboiled-Krimi aus dem Macho-Terrain herausholte und zur Erzählung über die ganze Welt machte, gehört Paretsky zu den wichtigsten Vorreiterinnen: Ihre Krimis um Privatdetektivin Vic Warshawski wurden Weltbestseller, mit zahllosen Preisen geehrt und in 30 Ländern verlegt. Sara Paretsky gehört zu den Gründerinnen des internationalen Netzwerks Sisters in Crime
Sara Paretsky
Wunder Punkt
Kriminalroman
Deutsch von Else Laudan
Für Eve,
Sara Paretsky, von der Washington Post als Inbegriff der Perfektion im Genre gefeiert, ist eine von vier lebenden Autorinnen und Autoren, die sowohl den Grand Master Award als auch den Cartier Diamond Dagger erhalten haben. Als Pionierin des Detektivinnenromans schickt sie ihre Privatschnüfflerin aus Chicago bis heute dahin, wo es wehtut, und stattet sie mit einem humanistisch-feministischen moralischen Kompass aus, der in einer kaputten Welt Oasen der Zuversicht finden hilft – oder wenigstens den Mut zum Weitersuchen, zum Hinsehen statt Leugnen.
Doch gerade werden die Zeiten düsterer, und auch Warshawskis Welt ist voller Schatten: Ein Hassverbrechen stürzt die Detektivin in eine Krise. Trotzdem muss sie sich aufraffen und ermitteln, um eine junge Frau zu retten. Sie stößt in Kansas auf eine unwillkommene Blutspur und eine nervige Möchtegernhistorikerin, die allen auf die Füße tritt, bis sie den höchsten Preis bezahlt.
Wunder Punkt hat ein klassisches Hardboiled-Thema, ein plotstarker, actionreicher Roman um eine verkommene Kleinstadt. Aber – auch das gehört zur Hardboiled-Tradition – beiher kriegt Paretsky das ganze Unbehagen unserer Zeit zu fassen, die Gier, die Gewalt, das Trauma, die Unappetitlichkeiten des »Normalen« hier und heute. Ihre Detektivin folgt stur dem Faden des cui bono – wem nützt es? – und enthüllt so Schicht um Schicht Geschichtsklitterung und Schweigen. Sie dröselt Knoten auf, bis deutlich wird, wie eine Gesellschaft zur Arena verkommt, während die Puppenspielereien mächtiger Männer Leben kosten und ihre Erfolgslegende aalglatt in die Große Erzählung einfließt. Kann V. I. Warshawski das Rad herumreißen, oder ist sie zu ausgebrannt für diese Schlacht?
Unsere Welt, in der wir als Zivilgesellschaft jetzt erneut mit Hasspropaganda und Backlash ringen, ist auf Erzählungen gebaut. Für mich, die Hardboiled als unwiderstehliche Form des Erzählens von Konflikt, Unrecht und Gewalt empfindet und brüchige Heldinnen liebt, zählt dieses Buch zur großen feministischen Literatur unserer Zeit. Und ist dabei so unterhaltsam wie spannend. Ein Volltreffer.
Ein Schuss. Sobald du ihn hörst, weißt du, das war keine Fehlzündung und kein Böller. Im Sprint die Treppe hoch. Peter drängt sich an mir vorbei. Ich packe ihn am Arm. »Du kannst da nicht blind reinstolpern. Du weißt nicht, wer da schießt und auf wen.«
Er schubst mich beiseite und stürzt in den Raum.
Ein zweiter Schuss, ein dritter. Schreie. Ich folge ihm hinein.
Blut, Hirn, Knochen. Ich rutsche aus. Diese Luft, beißend, voller Rauch. Ich kann nicht sehen, wer noch lebt, wer verletzt ist, wer bewaffnet. Stolpere über Peter, der quer über Taylors Leiche liegt, und brülle los: »Nein! Nein!«
Der Schrei weckte mich. Ich weinte haltlos. Tastete nach dem Lichtschalter, griff ins Leere. Ich war an einem fremden Ort, allein. Panik. Taylors Mutter hatte mich gekidnappt, ich war in einer Chicagoer Gasse überfallen worden, ich saß in einem KGB-Knast. Ich versuchte aus dem Bett zu springen, war aber in Decke und Laken gewickelt wie eine Mumie und landete hart auf dem Boden.
Und da endlich fiel mir ein, dass ich in Kansas war. In Lawrence. Nicht in dem Dreckloch in Uptown Chicago, wo Taylor Constanza vom eigenen Vater ermordet worden war. Taylor war seit fünf Monaten tot, doch die Albträume ließen mich nicht los.
Ich selbst hatte mit meinem Gestrampel die Laken so verheddert. Ich befreite mich, machte das Bett. Mein Schlafshirt war klatschnass geschwitzt. Ich zog es aus, wusch mich in dem kleinen Bad der Pension, streifte ein T-Shirt über. Es war erst drei Uhr früh. Ich versuchte wieder einzuschlafen.
Ich war nach Lawrence gefahren, um zuzuschauen, wie Angela Creedy sich in die Elite der Basketballerinnen einreihte, die die 3000-Punkte-Marke geknackt hatten. Sie war ein Star im Team der Northwestern University und begann internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Und sie war außerdem Mitbewohnerin von Bernardine Fouchard, für mich Bernie, Eishockeyspielerin und so was wie meine Patentochter.
Angela und ihre Northwestern Wildcats hatten gestern Abend die hiesigen Jayhawks besiegt, aber es war knapp gewesen und sehr spannend. Jetzt scharten sich Dutzende Mädchen in Kansas-Kluft um Angela, als sie aus der Kabine kam, und streckten ihr Spielpläne zum Signieren entgegen. Entspannt und anmutig hockte sie sich hin, um mit ihnen auf Kopfhöhe zu sein, signierte und plauschte mit ihnen, dass die Mädchen hin und weg waren. Als der Andrang nachließ, kam sie zu mir und Bernie in die Eingangshalle. Auch ihre anderen Mitbewohnerinnen waren da. Angela und Bernie waren dick befreundet, daher war sie auch mir ans Herz gewachsen. Die drei anderen kannte ich nur flüchtig.
Angela umarmte mich. »Vic, ich weiß, das Kommen ist dir nicht leichtgefallen, aber danke! Es bedeutet mir viel, vor allem wo meine Mutter nicht konnte. Wir wollen gleich zum Feiern in die Stadt. Komm bitte mit, ja?«
Angelas Mutter war Krankenpflegerin in Shreveport. Ihre wenigen freien Tage gingen dafür drauf, ihre eigene alternde Mutter zu pflegen und ihre geschwollenen Füße in Eukalyptusbad einzuweichen.
»Ja, Vic, du solltest mitkommen«, sagte Bernie. »Wir gehen in einen Schuppen namens Lion’s Heart. Alle aus dem Team sind dabei.«
»Danke, Süße, aber der heutige Abend gehört Angela und deinen Freundinnen. Ich such mir doch lieber einen gesetzteren Zeitvertreib.«
Bernie Fouchard packte mich am Arm, als ich mich zum Gehen wandte. »Vic, du darfst nicht allein in deinem Zimmer hocken. Wenn du allein bist, machst du nur –« Sie warf die Hände in die Luft, versuchte auf Englisch zu denken, gab auf. »Tu broies du noir! Du musst unter Leute.«
Den Sinn dahinter konnte ich mir denken. Mein Lächeln wurde dünn. »Bernie, tu nicht, als wüsstest du, was ich brauche oder nicht. Mir geht’s allein besser als mit lauter betrunkenen Studis in einer lärmigen Bar.«
Sie legte mir beide Hände auf den Arm. »Vic, ich will nur, dass es dir gutgeht, nicht dich kränken!«
Ich machte mich unsanft los. »Du hast mich überredet, mit nach Kansas zu kommen. Ich bin ja froh, dass ich hier bin, dass ich Angelas Triumph miterlebt hab, aber jetzt ist mal gut. Geh mit deinen Freundinnen, amüsiert euch, nur schlagt nicht so über die Stränge, dass die Fahrt morgen zum Risiko wird. Schick mir eine Nachricht, wenn ihr zurück in Evanston seid.«
Sie sah mich lange an, ihre Miene untröstlich, aber schließlich trollte sie sich zu der Gruppe um Angela. Kurz war ich versucht, hinzugehen und mich zu entschuldigen, aber ehe ich dazu kam, waren sie weg.
Ich war im eigenen Wagen nach Lawrence gefahren, wollte meine Ruhe vor der hochtourigen Energie von fünf Uni-Spitzensportlerinnen, aber vor allem vor Bernies unablässigen Predigten: Wenn man hinfällt, wenn man sich verletzt, geht man immédiatement wieder aufs Eis! Sie hatte mir mächtig Druck gemacht, mitzukommen und Angela spielen zu sehen, was sicher sein Gutes hatte, aber das reichte ihr eben nicht. Sie zählte auf mich als Vorbild, als Inbegriff der starken Frau; sie brauchte mich so, wie ich bis letzten September gewesen war, nicht so, wie ich seit Peters und meinem Fiasko war.
Peter Sanson war Archäologe und Direktor eines berühmten Instituts an der Universität Chicago. Er war mein Liebster, und ich war in ihn so verliebt wie seit vielen Jahren nicht mehr. Das machte das Fiasko noch schwerer zu verkraften.
Taylor Constanza war eine seiner Studierenden und im zweiten Studienjahr. In der ersten Woche des Herbstsemesters verschwand Taylor. Die Eltern waren außer sich, drohten der Uni mit Klage wegen Verletzung der Fürsorgepflicht und bedrohten Peter mit Ausdrücken, die nichts Gutes ahnen ließen. Taylor war eine Transfrau und hatte im August mit Peter und fünf weiteren Studis an einer einmonatigen Ausgrabung teilgenommen. Die Eltern verkündeten, Peter habe ihren Sohn zu einer Geschlechtsumwandlung genötigt, um seine Sexfantasien zu befriedigen.
Es war eine abscheuliche Situation. Als die Polizei nicht fündig wurde, erklärte ich mich bereit zu suchen. Leider war Taylor nur allzu leicht zu finden. Sie hatte sich mit ein paar anderen Ausreißern in einer Feuerfalle in Uptown verkrochen. Taylor flehte mich an, die Adresse geheim zu halten; sie hatte Angst vor ihren Eltern, die gewalttätig geworden waren, als sie sich nach der Ausgrabung im August geoutet hatte.
Ich versprach es, allerdings fühlte Peter sich verpflichtet, Uni und Eltern wissen zu lassen, dass Taylor nichts zugestoßen war, sie nur von beiden Abstand brauchte. Die Eltern gingen wütend auf mich und die Universität los, die daraufhin Peter und mich unter Druck setzte, die Adresse preiszugeben. Als wir uns weigerten, beauftragten die Eltern einen anderen Privatdetektiv, der mühelos der gleichen Spur folgte wie ich. Dieser zweite Ermittler ignorierte Taylors Bitte um Sicherheit.
Am nächsten Tag bekam ich von Taylor eine panische Nachricht. Ihr Vater war aufgekreuzt, mit einer Knarre. Bis ein Rettungswagen eintraf, waren Vater und Kind tot.
Danach litt Peter in jeder Hinsicht. Eins der Geschosse hatte ihn gestreift. Er musste sich mehreren Operationen unterziehen, um seine Schulterwunde zu behandeln, und die Schmerzen ließen nicht nach.
Zudem ertrank er in Schuldgefühlen. Obwohl ich ihm gesagt hatte, dass Taylor sich vor ihren Eltern fürchtete, glaubte er Mrs. Constanza mitteilen zu müssen, dass ich ihr Kind aufgespürt hatte. Peter fühlte sich hochgradig verantwortlich für seine Studierenden; er hatte Taylor schrecklich im Stich gelassen. Die Universität machte es ihm auch nicht leichter. Ihre Anwälte ließen Peter und alle, die bei der Ausgrabung dabei gewesen waren, unter Eid aussagen, in der Hoffnung zu beweisen, dass Peter Taylor niemals angefasst hatte.
Peter war klar, dass er nicht mir die Schuld zuschieben sollte, aber genau das tat er. Wäre ich keine Detektivin, versiert im Aufspüren von Verborgenem, er hätte die Angelegenheit wohl der Uni überlassen. Er hätte nichts abgekriegt, hätte nie mit dem Blutbad zu tun bekommen.
Ich wusste, ich musste nachsichtig mit ihm sein, aber schließlich war ich es, die in der Wohnung blieb und die anderen Ausreißer tröstete. Ich war es, die den Cops auf dem Area-2-Revier stundenlang Fragen beantworten durfte, meine Klamotten voller Knochensplitter und Gehirnfetzen. Ich war es auch, die viele Stunden mit der Mutter der toten Studentin telefonierte. Meine Nerven lagen blank bis zu den Wurzeln. Irgendwann hatte ich aufgelegt, hatte auch die Forderungen der Universität ignoriert, mich pausenlos für die Anwälte beider Parteien zur Verfügung zu halten.
Peter und ich machten einander fertig. Wir stritten, versöhnten uns, stritten wieder. Peter war immer ein ausgeglichener Mensch gewesen, der nicht zu Wutanfällen neigte. Bei Meinungsverschiedenheiten hatte er ein fast schon nervtötendes Verständnis auch für meine Seite gehabt. Jetzt entsetzte es ihn selbst, wie leicht er dem Zorn erlag.
Ausgelaugt von seinen Dämonen, flüchtete er schließlich nach Málaga, um bei der Ausgrabung einer dreitausend Jahre alten phönizischen Siedlung an der Mittelmeerküste zu helfen. Es war für uns beide eine Erleichterung, als ich ihn kurz vor Weihnachten am O’Hare-Flughafen absetzte.
Erst nach seiner Abreise gingen meine Albträume los. Manchmal, so wie heute Nacht, durchlebte ich wieder den Moment von Taylors Ermordung. Manchmal träumte ich auch von meiner Mutter. Gabriella war an Eierstockkrebs gestorben, da war ich Teenagerin. Ein Einzelkind, nach etlichen Fehlgeburten zur Welt gebracht. Sie liebte mich kompromisslos, doch sie nötigte mich auch, unabhängig zu sein, für mich selbst einzustehen, mich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden zu geben. Ihr Verlust hinterließ eine klaffende Lücke, die keine andere Liebe je vollständig füllen konnte.
Gabriella war Immigrantin in einem Stadtteil voller Immigranten, aber sie war auch Jüdin in einem Stadtteil ohne Juden. Die Schlägereien, die ich auf South Chicagos Spielplätzen ausfocht, um sie gegen die von den Kids im Viertel mit Wonne skandierten Schmähungen zu verteidigen, machten ihr und meinem Vater viel Kummer. Jetzt, in meinen Albträumen, wurde sie angegriffen, und ich war unfähig, sie zu beschützen.
Nach Taylors Ermordung fing ich an, meine beruflichen Entscheidungen anzuzweifeln, vergaß wichtige Termine, schickte Rechnungen nicht ab. Ich zog mich von Freundinnen und Freunden zurück, machte mit den Hunden lange Märsche am Seeufer und mied sogar meinen alten Nachbarn im Erdgeschoss. Er war tausendprozentig auf meiner Seite, aber seine ständigen Ausfälle gegen Peter zermürbten mich. (Dachte, er wär besser als die Versager, die du sonst anschleppst, aber er ist genauso übel wie dieser Murray Ryerson, denkt immer nur an sich.)
Es war Bernie Fouchard, die meinen Panzer aufbrach, oder vielmehr Bernies Mutter Arlette. Bernie selbst trieb mich zur Weißglut, indem sie mir ständig zusetzte, »nach einem schweren Sturz wieder aufs Eis zu gehen«.
»Menschen zählen auf dich. Alle erfahren im Leben Schmerz, nicht bloß du, aber nur du kannst Leuten helfen, die in Schwierigkeiten sind.«
»Ich bin keine Superheldin und kein Roboter. An Trauma zerbreche ich genauso wie jede andere. Also heb dir deine Plattitüden und deine Naivität für die Eishockey-Arena auf.«
Sie sah schockiert und gekränkt aus, hielt aber endlich die Klappe und ließ von mir ab. Im Januar jedoch flog ihre Mutter mit dem Canadiens-Eishockeyteam nach Chicago. Ihr Mann war der engste Freund meines Cousins Boom-Boom gewesen, als beide für die Blackhawks spielten. Boom-Boom war Bernies Taufpate, und als er starb, ging die Patenschaft auf mich über.
Arlette Fouchard drängte sich an mir vorbei in meine Wohnung. »Bernardine hat mir von deinen Problemen erzählt.«
»Bernie glaubt, ich bin aus Titan und nicht aus Fleisch und Knochen. Sie will, dass ich übermenschlich bin. Sie und alle anderen.« Klienten, Freundinnen, Fremde, die mich online kontaktierten und entweder wissen wollten, wie sie ihre transsexuellen Kids beschützen konnten, oder mich verunglimpften, ich hätte einen Jungen durch Gehirnwäsche manipuliert, sich für ein Mädchen zu halten. Die Sprache dieser Anwürfe war beängstigend grausam und obszön.
»Bernardine ist weder dezent noch taktvoll«, sagte Arlette, »aber sie versteht dich besser, als du jetzt glauben magst.« Sie ging in meine Küche und fing an, das Geschirr abzuwaschen, das sich auf dem Tisch und in der Spüle türmte.
Ich schaute irritiert zu, kramte aber schließlich ein sauberes Handtuch aus einer Schublade, trocknete die Teller ab und räumte sie weg.
»Victoria, es stimmt, dass Menschen auf dich angewiesen sind, und im Moment ist das eine Belastung für dich«, sagte sie, als der letzte Topf blank geschrubbt war. »Ich bin nicht hier, um dich in dem Punkt umzustimmen. Du hast etwas Unerträgliches miterlebt, einen Mann, der sein eigenes Kind ermordet. Das ist – accablant – etwas, das den stärksten Menschen verstören kann.
Ich bin hier, um mit dir zu reden. Ich spreche nicht für deine Klienten oder Freunde, mir geht es darum, was du für dein eigenes Wohl brauchst. Wenn du kein Geld hast, musst du arbeiten, n’est-ce pas? Aber wenn die Ermittlungsarbeit dir nicht mehr guttut, dann such dir eine neue Arbeit. Nur musst du in Bewegung bleiben, außer du willst eine Opernheldin werden, eine Juliette oder Aida, die eingesperrt in einer Gruft den Märtyrerinnentod stirbt.«
Nach dem Abwasch kochte sie Tee, den trinke ich sonst nur, wenn ich krank bin. Aber ich war ja krank, ich machte mich krank, ich und all die Niedertracht und Gewalt ringsum.
Wir trugen den Tee ins Wohnzimmer, setzten uns auf die Couch, ohne viel zu reden. Nach einiger Zeit sagte sie dann: »Victoria, ich bitte dich nur um eins: Sei weniger hart. Mit dir selbst, bien sûr, aber auch mit anderen. Die Schrecken, die du erlebt hast, sind den meisten von uns erspart geblieben, aber es sind schwere Zeiten für alle. Die Ausfälle gegen dich in den sozialen Medien sind furchtbar, doch die Mehrheit der Leute meint es gut, auch meine Tochter. Wenn sie maladroite ist, dann nicht aus Bosheit. Wir alle haben zu viel Tod erlebt, zu viel Wut durch all den Stress mit Corona, durch den Stress von Krieg und anderen Formen von Gewalt, durch die Beschleunigung des Todes, dem wir alle ins Auge sehen müssen. Versuch, nicht so streng zu sein.«
Sie wartete einen Moment auf meine Antwort, aber ich konnte ihr keine geben. Sie verzog sich wieder in die Küche und machte ein Omelett, das sie mir ins Wohnzimmer brachte. Als ich anfing zu essen, ging sie. Ich brachte das schmutzige Geschirr zurück in die Küche. Es kam mir falsch vor, es in das geschrubbte und blitzende Waschbecken zu stellen, also spülte ich es ab.
Am nächsten Tag nahm ich meine Routinen wieder auf. Ich fühlte mich immer noch zerbrechlich, wie ein rohes Ei, dessen Schale jeden Moment platzen konnte, aber Arlette hatte recht: In Bewegung bleiben schuf einen Rhythmus, der als solcher heilsam war. Die Frage, ob ich weiter als Ermittlerin tätig sein wollte, schob ich einstweilen beiseite und ging wieder an die Arbeit.
Im Februar, als Bernie mich drängte, Angelas Moment des Ruhms beizuwohnen, war ich zwar noch wackelig, aber doch so weit im Gleichgewicht, dass ich mich imstande fühlte, in Kansas zu ihnen zu stoßen.
Im Verlauf des Spiels war der Februarabend kalt geworden, der Wind hatte aufgefrischt. Als ich aus der Uni-Sporthalle trat, presste eine Bö mir die Luft zurück in die Lungen. Ich krümmte mich hustend und wurde beinahe von einer Schar aufgeregter Mädchen umgerannt, die hinter mir rauskamen.
»Auf meinem Spielplan hat sie auch signiert. In Liebe, Angela«, sagte eine.
»Deswegen ist sie nicht gleich in dich verliebt, Rina – das hat sie uns allen auf den Spielplan geschrieben«, spottete eine andere.
»Ich denke, damit will sie sagen, sie liebt euch Mädchen alle dafür, dass ihr euer Weltbestes geben wollt«, steuerte eine Erwachsene bei.
Ich ging aus dem Weg und schmunzelte über den Austausch, als ein Mann mit Karacho in Richtung Sporthalle rannte und mich anrempelte.
»Ruhig Blut«, rief ich. »Hier ist genug Platz für alle.«
Er ignorierte mich und stürmte weiter zu den Mädchen. Dort packte er eine am Arm und zerrte sie von der Gruppe weg. »Sie haben in der Nähe meiner Tochter nichts zu suchen. Niemals!« Er blökte die Erwachsene so laut an, dass ich über den Wind und das Brummen der abfahrenden Autos hinweg jedes Wort mitbekam.
Perplex drehte ich mich um. Das Mädchen, das er gepackt hielt, war dieselbe, die so glücklich über Angelas Autogramm geseufzt hatte. Jetzt fing sie stumm zu weinen an, der Wind ließ die Tränen an ihren Wimpern kristallisieren. Die Antwort der Erwachsenen bei der Gruppe konnte ich nicht verstehen. Ich schob mich zurück in Hörweite.
»Sie sind ohne Gehalt suspendiert, Perec.« Der Mann pöbelte immer noch. »Das heißt, Sie halten sich in meinem Schulbezirk von Kindern fern.«
»Das County gehört Ihnen nicht, Santich, auch wenn Sie Ihren Schulrat dazu gekriegt haben, mich zu schassen. Ruthies Mutter hat mich ersucht, die Mädchen zu begleiten, weil sie positiv getestet wurde.«
»Cady Perec?«, platzte ich heraus, verblüfft von dem Wortwechsel. »Ich bin V. I. Warshawski.« Wir hatten uns vor ein paar Jahren kennengelernt, als ich wegen eines Falls in Lawrence war.
»Egal, und wenn Sie der Geist von Wyatt Earp sind «, brüllte der Mann jetzt mich an. »Ich rede mit Perec, also scheren Sie sich um Ihre Angelegenheiten.«
»Sie haben mich fast über den Haufen gerannt, so eilig hatten Sie es, Ihre Tochter zum Weinen zu bringen, damit sind Sie meine Angelegenheit«, sagte ich.
Zu meiner Überraschung schaute er sofort prüfend seine Tochter an. Als er ihre Tränen sah, legte er den Arm um sie und sagte mit sanfter Stimme: »Tut mir leid, Schätzchen, entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Ich versuche nur, dich zu beschützen.«
Genauso schnell nahm er seinen Angriff gegen Cady wieder auf. »Also wenn Lela Abernathy denkt, sie kann Ihnen ihre Tochter anvertrauen, muss ich mit ihr und Keith mal ein Wörtchen reden. Ich fahr den Rest von euch Mädchen jetzt nach Hause.«
Die Mädchen drängten sich dichter an Cady, die sagte: »Ihre Eltern kommen sie abholen, Santich, so wie Sie Rina abgeholt haben, also machen Sie sich hier nicht ins Hemd.«
Mehrere Leute waren neugierig stehen geblieben. Santich starrte Cady wütend an, dann mich, dann die Schaulustigen, während seine Tochter sich von den anderen wegdrehte, vielleicht war ihr Vater ihr peinlich. In diesem Moment kam eine der Mütter. Eine Welle der Erleichterung lief durch die Gruppe, als sie sich bei Cady für die Begleitung auf dem Ausflug bedankte.
»War es herrlich?«, wandte sie sich an die Mädchen. »Ich hab im Radio gehört, die Spielerin aus Chicago hat einen Rekord aufgestellt.«
»Sie war einsame Spitze, Mom«, sagte ihre Tochter, aber ohne große Begeisterung: Santich hatte die Euphorie der Gruppe verfliegen lassen.
In den nächsten Minuten trafen auch die anderen Eltern ein, bis nur noch ein Mädchen bei Cady war. Santich erklärte ihr, er fahre sie heim.
Sie sah ihn mit steinerner Miene an. »Meine Mutter will, dass Ms. Perec mich nach Hause bringt.«
Er streckte eine Hand nach ihr aus, ließ sie aber sinken, als er merkte, dass ich und die anderen Umstehenden zuschauten. Mit finsterem Blick führte er seine Tochter weg.
»Was war das denn?«, fragte ich. Ich kannte Cady nicht so gut, aber sexuelle Belästigung schien mir nicht zu ihr zu passen. Außerdem, wenn sie im Verdacht stand, eine Schülerin belästigt zu haben, welche Eltern würden ihr dann ihre Tochter anvertrauen?
»Er und ich haben politische Meinungsverschiedenheiten«, sagte sie knapp. »Ich muss jetzt Ruthie nach Hause bringen.«
Sie und Ruthie waren auf dem Weg zum Parkplatz, als wir Santich erneut herumschreien hörten. Er stand neben einem Kia-SUV, die Türen schon offen, aber er hatte jemanden an den Schultern gepackt und brüllte ihn an. Der andere Mann riss sich los.
Nicht dein Bier, ermahnte ich mich, ging aber trotzdem hin. Zwei der Umstehenden, die Santich mit Cady beobachtet hatten, folgten mir.
»Hol Sie der Teufel, Garrity! Verschandeln mein Eigentum, und das in aller Öffentlichkeit!«
»Ich hab es nicht verschandelt, Arschloch. Ich hab es verschönert. Sie sollten sich bedanken.«
Garrity war ein dünner Mann mit einem Heiligenschein aus wildem Haar. Er trug einen alten Armeeparka, dessen offener Reißverschluss ein verblichenes Sweatshirt mit dem allgegenwärtigen Jayhawk-Logo sehen ließ.
»Ich rufe die Polizei«, keifte Santich. »Sie landen gleich morgen früh vor dem Richter.«
Ein Streifenwagen fuhr vor, aber nicht von der Stadtpolizei, sondern mit dem Siegel der Universität an der Tür. Der Fahrer stieg aus.
»Was ist hier los, Leute?«, fragte er. Sein Südstaatler-Näseln war so stark, dass ich die Worte kaum verstand, aber es war die herkömmliche Ansprache von Cops bei einem Familienstreit.
»Ich will, dass er eine Geldstrafe bekommt«, sagte Santich. »Wegen Sachbeschädigung.«
»Was hast du jetzt wieder angestellt, Trig?«, fragte der Campuspolizist.
»Wie ich schon zu seinem königlichen Hintern sagte, hab ich seine Spritschleuder nur verschönert. Oder ihm wenigstens geholfen, der Welt mitzuteilen, dass ihm klar ist, was er tut.«
Santich zeigte zum Heck des Wagens. Ich folgte dem Polizisten und sah, dass Garrity einen Sticker an die Stoßstange gepappt hatte, die Sorte, die Stadtguerillas schon vor zwanzig Jahren auf dicke Geländewagen klebten: ICH BIN EIN KLIMAWANDLER, FRAG MICH WIE.
»Schon dass Sie finden, ich entweihe Ihren Spritfresser, verrät mir: Sie wissen genau, dass Sie den Planeten zerstören«, sagte Garrity. »Fall erledigt.«
Santich verlangte, dass Garrity festgenommen wurde oder zumindest eine Strafe wegen Verschandelung fremden Eigentums bekam.
»Daddy, bitte«, rief Rina vom Rücksitz des SUVs. »Können wir nicht nach Hause fahren? Mir ist kalt, und Mom hat auch schon getextet, sie will wissen, wo wir bleiben.«
»Ja, warum bringen Sie nicht erst mal Ihre Kleine heim, Mr. Santich?«, sagte der Campus-Cop. »Wenn Sie morgen immer noch Anzeige erstatten wollen, nehmen wir das auf, aber vorher schlafen wir alle mal drüber. Du auch, Trig. Und jetzt verschwinde von diesem Parkplatz, bevor ich dir wegen Landstreicherei eine Geldstrafe aufbrumme.«
»Wo warst du, als Lord Santich hier Cady Perec schikaniert hat?«, ging Garrity ihn an. »Er darf sie vor einem Haufen Kinder attackieren, aber es ist gegen das Gesetz, wenn ich ihm die Stirn biete? Das ist Gerechtigkeit in Amerika, schlicht und einfach, bevor ihr sie in ein hübsches Bündel verfassungsmäßiger Grundrechte einwickelt, in deren Genuss leider nur die Reichen kommen. Kein Wunder, dass Sie Perec haben feuern lassen, Santich: Sie haben Angst, dass sie Ihrem Kind das Denken beibringt.«
Santich stürzte sich auf ihn und wollte zuschlagen, doch der Campuspolizist packte seinen Arm. »Ich sag nicht, dass Trig es nicht verdient hat, aber Sie fahren jetzt heim. Sie wollen doch nicht, dass Ihr Kind sieht, wie ich Ihnen eine Anzeige wegen Körperverletzung verpasse.«
»Was?«, schrie Trig. »Ihm gehört das County, deshalb verdiene ich Schläge mit seinem Platin-Arm, aber du passt auf, dass er unbehelligt nach Hause fährt?«
Die Lippen des Campus-Cops wurden schmal. »Trig, du verziehst dich binnen fünf Minuten vom Unigelände oder du verbringst die Nacht in einer Arrestzelle.«
Trig duckte sich in den Parka und blickte genauso grimmig drein wie Santich, aber er schlurfte davon in Richtung Campus. Santich stieg in seinen Kia und röhrte mit lautem Gummiquietschen vom Parkplatz.
»Scheint eine langjährige Fehde zu sein«, sagte ich zu dem Campus-Cop. »Was war das mit Cady Perec?«
»Wenn Sie es nicht wissen, ist es nicht an mir, es Ihnen zu erklären.« Der Mann stieg wieder in seinen Wagen. Er schloss die Tür, fuhr aber erst los, als Trig das Gelände verlassen hatte. Die verbliebenen Schaulustigen brachen auf und ließen mich mit meinem Mustang allein auf dem Parkplatz.
Die Unterkunft, die ich gefunden hatte, war so an den Hang gebaut, dass die Rückseite unter der Erde lag. Die Vorderseite mit eigenem Eingang war verglast.
Als ich zurückkam, setzte ich mich ans Panoramafenster mit Blick auf die Stadt und suchte im Internet nach Meldungen über Cady Perec. Eine Lokalzeitung, der Douglas County Herald, hatte was über ihre Schwierigkeiten gebracht. Bei meinem vorigen Aufenthalt hier hatte Cady in Lawrence Sozialkunde unterrichtet, inzwischen war sie an eine neue Verbundschule in Yancy gewechselt, nordwestlich der Stadt.
Unter Beschuss geraten war Cady wegen einer Unterrichtseinheit über Douglas County in den 1850ern und 1860ern. Gemäß dem von ihr zusammengestellten Lehrplan sollten die Kids Debatten über Sklaverei führen, eine Nachbildung der Baracken bauen, in denen die Free State-Ansiedler in Kansas lebten, und sogar versuchen, eine Woche mit den mageren Rationen auszukommen, die die Free Staters damals zusammenkratzten.
Eltern aus Yancy waren aufgebracht über den Teil des Kurses, wo es um die Delaware Nation ging, die den Free Staters im Bürgerkrieg geholfen hatte. Aus den lückenhaften Meldungen im Herald ging nicht hervor, was genau schiefgelaufen war, aber ich las einen Bericht über eine hitzige Schulratssitzung, nach der das Gremium dafür gestimmt hatte, Cady bis zu einer umfassenden Untersuchung ihrer Lehrmethoden zu suspendieren.
In der Woche darauf begann eine Frau namens Clarina Coffin, vor der Schule zu demonstrieren und dem Herald weitschweifige Briefe über die Rechte indigener Völker zu schreiben. Trig Garrity demonstrierte mit ihr. In den ersten paar Tagen schlossen sich ihnen Studierende an und forderten, man solle die vollständige Geschichte der indigenen Völker und der Schwarzen Siedler in Kansas erzählen. Und dann kreuzten pöbelnde Eltern auf und verbaten sich wütend, dass ihre Kinder mit Critical Race Theory indoktriniert würden.
Ach, und der Vorsitzende des Schulrats war Brett Santich. Böses Blut allerorten.
Das war ein alter Hut, jedenfalls eine ältere Meldung, denn es war letzten Herbst passiert, gleich zu Anfang des Schuljahrs. Ich fand nichts aus der letzten Zeit über Cady, dafür tauchte immer wieder Trigs Name auf, weil er bei Gemeinde- oder Ausschusssitzungen zu den verschiedensten Themen herumbrüllte oder auf Baustellen demonstrierte. Cady Perecs Sorgen schien er hinter sich gelassen zu haben, aber eine spätere Meldung, eigentlich nur ein Absatz, tat kund, dass Yancy sie für den Rest des Jahres ohne Bezüge suspendiert hatte und ihr Vertrag mit Wirkung zum nächsten Juni beendet wurde.
Ich machte mich bettfertig, zog aber die Vorhänge nicht zu. Ich lag da und betrachtete die blinkenden Lichter der Stadt, dazwischen hin und wieder das Stroboskop eines Polizeieinsatzes. Vielleicht galt das ja Bernie und ihren Freundinnen, die die Stadt in Brand setzten und klarstellten, wer hier gewonnen hatte. Oder vielleicht galt es Trig Garrity. Wütend auf Santich, den Mann mit dem Platin-Arm, schmiss er in der Innenstadt Scheiben ein, um Dampf abzulassen.
Ich glitt in den Schlaf und dachte an die glücklichen Mädchen, denen Santich die Stimmung ruiniert hatte. Vielleicht weckte mich deshalb um drei mein Dämonentraum. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlief, aber es war kein richtiger Schlaf, nur dieser körnige Zustand eine Stufe vor dem Wachsein.
Um sechs rüttelte mein Telefon mich vollends wach. Ich hoffte auf Peter, doch das Display zeigte Bernie Fouchard an. Ich ließ die Voicemail rangehen, aber als ich wieder eindöste, rief sie ein zweites Mal an, dann ein drittes Mal.
»Okay, Bernie, du hast mich geweckt. Wo brennt es?«
»Es brennt nicht, Vic, es geht um Sabrina. Wir können Sabrina nicht finden.«
Mein Hirn war benebelt vom Schlafmangel. »Sabrina?«, echote ich.
»Vic, bitte! Sabrina! Du kennst sie, meine Mitbewohnerin, sie spielt Fußball, du hast sie erst gestern Abend gesehen, du musst dich doch an sie erinnern!«
Ich erinnerte mich tatsächlich, jetzt, wo Bernie mir auf die Sprünge half. Sabrina war Stürmerin, offenbar eine der führenden Torschützinnen in der Universitätsliga. In dem Restaurant, wo ich vor dem Spiel mit Bernie und ihren Freundinnen zum Essen war, hatte Sabrina zu dünn gewirkt, beinahe schon anorektisch, mit einer wächsernen Blässe. Schwer vorzustellen, wie sie die gegnerische Abwehr durchbrach und ein Tor schoss.
»Sabrina ist nicht hier. Hat sie denn gesagt, dass sie zu mir will?«
»Sie hat gar nichts gesagt, weil sie seit gestern Abend niemand mehr gesehen hat.« Bernie schrie, ihre Stimme schrill vor Angst. »Hör mir doch zu! Wir wissen nicht, wo sie ist.«
»War sie nicht bei euch im Motel untergebracht?«
»Eigentlich ja, aber Amber sagt, sie ist gar nicht ins Bett gekommen. Wir müssen jetzt losfahren. Um fünf müssen wir wieder in Chicago sein – Angela und ich haben Training, wir sind alle mit Hausarbeiten überfällig.«
»Schick Sabrina eine Nachricht, dass ihr ohne sie losmüsst.«
»Das haben wir natürlich gemacht! Das ist nicht der Punkt.«
Ich legte das Handy hin und machte mich lang. Ich wusste, was der Punkt war. Ich wollte es nicht hören. Bernie sprach eine Minute lang weiter, so laut, dass ich ihre Forderung, ich müsse nach Sabrina suchen, klar und deutlich vernahm. Schließlich verstummte das Telefon.
Ich sehnte mich so sehr nach Schlaf, nach der sauberen, kühlen Ruhe, die den verworrnen Knäul der Sorgen entwirrt, nicht nach dem fiebrigen Zustand, bevor mein Telefon geklingelt hatte. Ich lag still, versuchte zu atmen, aber ich wurde die Angst nicht los, Angst, wenn ich mich einmischte, wäre Sabrina am Ende tot. Ich würde mit Blut und Knochen bedeckt sein. Alle Freundinnen und Freunde würden sich gegen mich wenden, aber nicht annähernd so gnadenlos wie ich mich gegen mich selbst.
Ich sah zu, wie der Himmel im Osten hell wurde und überm Tal des Kansas River eine kränkliche Sonne aufging. Ich wollte später ebenfalls nach Chicago zurückfahren. Vor der Abreise hatte ich noch einen Lauf und einen Cortado im Decadent Hippo geplant, aber als ich in die Jogginghose steigen wollte, fühlten sich meine Beine viel zu schwer an. Ich versuchte es mit Aufwärmübungen, brach jedoch immer wieder mitten im Bein- oder Armheben ab, weil ich meine Bewegungen nicht koordiniert bekam.
Ich schlurfte in die Dusche, die meine Vermieterin in eine Schranknische hatte einbauen lassen. Kaffee und was zu essen konnte ich mir auch auf der Fahrt stadtauswärts besorgen. Als ich nur in ein Handtuch gehüllt zurück ins Zimmer kam, stand meine Vermieterin da. Norma Sowieso. Ich hatte mit ihr wegen des Zimmers korrespondiert, konnte mich aber nicht an ihren Nachnamen erinnern.
Sie entschuldigte sich barsch für ihr unangemeldetes Erscheinen. »Ich bin auf dem Sprung zur Arbeit. Oben ist eine junge Frau. Sie sagt, sie ist Ihre Nichte und muss Sie sehen. Ich wollte sie nicht reinlassen, ohne erst zu –«
»Vic!« Bernie platzte hinter ihr ins Zimmer. »Vic, bitte! Du musst uns helfen.«
»Na sicher muss ich das«, sagte ich eisig. »Auf keinen Fall darf Rücksicht auf meine eigenen Verpflichtungen, ganz zu schweigen vom Zustand meines Gemüts oder meiner Kleidung, je Vorrang haben vor dem, was du brauchst.«
»Oh, Vic, nicht. Red nicht so gemein. Ich kann nicht hierbleiben, und ich hab sowieso keine Ahnung, wie ich es anstellen soll, Sabrina zu suchen, du dagegen schon.« Bernie war keine, die oft weinte, und als sie es bemerkte, wischte sie mit wütender Hand die Tränen weg.
»Wer wird vermisst?«, fragte Norma.
Ich hielt immer noch das Handtuch vor meinen Brüsten umklammert. Während ich mein T-Shirt wieder überstreifte, erklärte Bernie meiner Vermieterin, wer Sabrina war. »Sie ist Fußballerin an der Northwestern University – wir sind alle Sportlerinnen in verschiedenen Disziplinen. Sabrina ist mit uns aus Chicago gekommen, um unserer Freundin Angela Creedy bei ihrem Basketballspiel zuzuschauen. Jetzt ist sie nicht auf ihrem Zimmer, und sie geht nicht an ihr Telefon. Wir müssen heute zurück, jetzt, enfin, und wo ist sie?«
»Sie denken nicht, dass sie mit jemandem angebandelt hat?«, fragte Norma trocken.
Die offensichtliche Erklärung. Taylors Tod hatte mich so aus dem Tritt gebracht, dass ich nicht mehr geradeaus denken konnte.
»Vielleicht«, sagte Bernie zweifelnd. »Das ist natürlich möglich. Angela sagt sogar, sie hat Sabrina in der Bar mit drei Jungs gesehen. Keine aus unserer Gruppe hat sie weggehen sehen, aber wenn sie mit denen mitgegangen ist –« Sie wandte sich wieder mir zu und rang verzweifelt die Hände. »Oh, Vic, bitte! Kannst du mit der Rückfahrt nicht bis zum Nachmittag warten? Kannst du wenigstens die Polizei anrufen, ob jemand sie gefunden hat? Vielleicht haben diese Jungs – Rohypnol oder noch Schlimmeres – sie ist so – so faible –«
»Ich frage im Krankenhaus nach, nur für alle Fälle«, sagte meine Vermieterin. »Ich gehöre dort zum Pflegepersonal. Wie ist der Name Ihrer Freundin? Ihr Geburtsdatum?«
»Sabrina Granev. Ihren Geburtstag weiß ich nicht.«
Bernie trat von einem Fuß auf den anderen, während sie besorgt zusah, wie meine Vermieterin telefonierte. »Norma Rolfson hier. Ich komme ein paar Minuten später, aber ich muss überprüfen, ob es letzte Nacht eine Neuaufnahme gab.«
Sie buchstabierte Sabrinas Nachnamen, warf Bernie jedoch beim Auflegen ein Kopfschütteln zu.
»Ich muss mich sputen, aber wenn Sie noch bleiben wollen, Ms. Warshawski, ich habe für die nächsten zwei Tage keine andere Buchung. Sagen Sie mir Bescheid.«
Sie ging, wie sie gekommen war, durch die Tür, die in ihren Keller und zur Garage führte. Bernie sah mich flehend an.
»Bernie, weißt du, was du da von mir verlangst? Ich soll versuchen, eine vermisste Studentin zu finden?« Meine Kehle fühlte sich an, als würde etwas Großes darin feststecken, vielleicht ein Basketball. Ich brachte die Worte kaum heraus.
Sie blinzelte neue Tränen weg. »Es tut mir leid, Vic. Maman hat gesagt, ich soll dich nicht darum bitten, aber ich bin so dran gewöhnt, dass du ruhig bleibst und weißt, was zu tun ist, wenn es ein Problem gibt – und wenn du das nicht weißt, wie soll ich es dann wissen?«
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, die Hände über den Augen.
Bernie kam mit hängenden Schultern näher. »Es tut mir leid, Vic. Ich verstehe – Maman hat recht. Du bist ein verwundeter Adler, hat sie gesagt, und das ist wahr. Wir müssen jetzt los, aber ich melde Sabrina beim Fußballtrainer als vermisst, sobald wir zu Hause sind.«
Schon seit einigen Minuten hupte ein Auto vor Normas Haus. »Amber und Chantel warten auf mich. Ich muss unbedingt los.«
Ich zwang mich, sie anzusehen. Ihr Gesicht war verkniffen und bleich vor Sorge.
Ich stand auf, schlang mir das Handtuch um die Taille, legte ihr einen Arm um die Schultern. »Okay, Baby. Ich krieg raus, ob sie wegen irgendwas aufgegriffen wurde, aber die Polizei betrachtet eine Person, die nur eine Nacht weg ist, nicht als vermisst. Weißt du die Namen von Sabrinas Eltern? Wo sie wohnen?«
»Also Sabrina gehört nicht so richtig zu unserer Clique. Sie ist erst im Oktober bei uns eingezogen, als wir eine fünfte Person für die Miete suchten, ich kenne sie noch nicht gut. Außerdem brach sie sich kurz danach den Knöchel. Da kam ihre Mutter, bien sûr, aber Madame Granev übernachtete im Hotel, also sprachen wir eigentlich nur miteinander, um zu sagen: Hallo, ja, wir können Ihnen Kaffee bringen. Sie war ständig an ihrem Handy, ihrem Computer, außer wenn sie Sabrina antrieb, an ihrer Reha zu arbeiten.
Alle in unserem Haus sind ernsthafte Sportlerinnen, und Sabrina war es auch. Sie war mit einer nationalen Jugendauswahl auf Tour, sie wird bereits von verschiedenen Vereinen gescoutet, und so hat sie am Anfang der Reha hart trainiert, aber irgendwas stimmte nicht mit dem Gelenk. Je härter sie trainierte, desto mehr verschlechterte sich der Knochen. Das war der Zeitpunkt, wo sie anfing, sich so anders zu verhalten.
Wir hofften, die Mutter würde über Weihnachten was merken, aber nach den Winterferien war es noch schlimmer. Sabrina blieb die ganze Zeit in ihrem Zimmer. Wir haben versucht, mit ihr darüber zu reden, da wurde sie wütend. Noch wütender. Warum sie dann beschlossen hat, mit nach Kansas zu kommen – keine Ahnung.«
Das Hupen draußen wurde nachdrücklicher, dann ging oben die Türklingel. Bernie blinzelte mich nervös an.
»Ich muss echt los, tut mir leid. Wo die Eltern wohnen, da bin ich mir nicht sicher. Im Westen, so viel weiß ich. Colorado? Vielleicht auch New Mexico?«
»Frag die anderen, ob eine weiß, wo ihre Eltern leben. Ich versuch sie zu erreichen. Und ich rufe Angela an, vielleicht kann sie die Jungs aus der Bar beschreiben.«
»Ich – danke, Vic. Ich frage die anderen. Angela fährt im Mannschaftsbus mit, aber Chantel oder Amber, die wissen vielleicht, wo die Eltern zu finden sind.« Sie umarmte mich krampfhaft und hastete durch die Außentür auf die Straße.
Als sie weg war, ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte jemand ein Eisengewicht auf mich gelegt, das mir den Bauchnabel in die Wirbelsäule drückte. Reglos lag ich da, schlief nicht, dachte nichts. Vielleicht fühlte sich so eine Raupe im Kokon. Keine tickende Uhr, keine Verpflichtungen, bloß Wabern zu einer Musik, die nur die Natur hören konnte.
Nach einer Weile verschob sich etwas in mir, und mein Verstand wandte sich zögernd der vermissten Studentin zu. Vermisst, nicht tot, nicht erschossen. Arlette Fouchard hatte ihrer Tochter gesagt, ich sei ein verwundeter Adler. Das war mir zu pompös. Ich war einfach nur verwundet, so wie derzeit ein Großteil des Planeten.
Die Zeitungen sind voller Berichte über Menschen, die nicht mehr arbeiten wollen, aber die meisten Leute gehen weiter ihrem Job nach. Irgendwas hält sie am Laufen, selbst wenn sich der Job bloß noch wie Schinderei anfühlt. Vor Corona war es vielleicht Kameradschaft am Arbeitsplatz oder Verantwortung für die Familie. Jetzt, angesichts von Krankheit, politischen Verwerfungen und wirtschaftlicher Unsicherheit, war es schwer, weiterzumachen.
Ich persönlich war die Verantwortung so leid. Ich war nicht Privatdetektivin geworden, um die Bürde von anderer Leute Sorgen zu tragen, sondern weil es mich reizte, die Hintergründe bestimmter Verbrechen aufzudecken. Mehr noch, ich genoss es, wenn ich für etwas Gerechtigkeit sorgen konnte.
Mein Vater war ein Cop gewesen. Nach dem Jurastudium hatte ich drei Jahre als Pflichtverteidigerin gearbeitet, Schwerpunkt Straßenkriminalität, daher hatte ich keine blauäugigen Vorstellungen von Recht und Ordnung. Während ich sprachschwache Straßenkids verteidigte und sie davon abzuhalten suchte, sich für den Rest ihres Lebens reinzureiten, machte es mich wahnsinnig, dass die großen Rechtsbrecher, die hunderte oder tausende Leben zerstörten, fröhlich pfeifend davonspazierten und noch ein paar Milliarden mehr einstrichen. Ich entschied mich für die Detektivarbeit, um diesem Gepfeife ein bisschen die Luft abzudrehen.
Die Herausforderungen waren heute größer als in meiner Anfangszeit, denn die Pfeifer hatten nicht nur die besseren Karten, sondern bekamen auch noch immer mehr davon. Das hieß im Klartext, ich musste entweder ganz aussteigen oder noch schlauer und gewiefter werden.
Schlauer und gewiefter. Die Mindestanforderung dafür war aus dem Bett kommen und meinen Kopf wieder zum Laufen bringen. Ich kramte in meiner Übernachtungstasche nach sauberen Jeans und einem langärmligen Stricktop. Beim Anziehen spürte ich immer noch Gewicht auf der Brust, aber es reduzierte sich auf einen kleinen Punkt unterm Herzen. Ich konnte es fast ignorieren und mich auf das konzentrieren, was ich über Sabrina Granev wusste.
Bernie zufolge war Sabrina eher eine Außenseiterin in der Gruppe junger Frauen, die sich das Haus in Evanston teilten. Sie waren alle Sportlerinnen, alle besuchten die Uni mit einem Sportstipendium, nur in verschiedenen Disziplinen. Während sie sich bei Heimspielen oft gegenseitig anfeuerten, hatten sie nicht die Zeit, auch zu den Auswärtsspielen zu fahren. Der gestrige Abend war eine Ausnahme: Sie alle wollten Angelas großen Moment im Rampenlicht miterleben.
Beim Essen vor dem Spiel hatte ich nicht versucht, mich am Gespräch zu beteiligen, das in einer Art Code geführt wurde, eine Jungvolk-Unterhaltung in Schnipseln, durchbrochen von Losprusten oder »Geht gar nicht«-Rufen.
Die gesellige Runde hatte mein Durchhaltevermögen strapaziert. Im Überschwang der jungen Frauen fühlte ich mich unsichtbar, wäre am liebsten weggegangen. Nur meine Zuneigung zu Bernie hielt mich noch am Tisch. Sabrina Granev fiel mir auf, weil sie wie ich lustlos wirkte, sich zwang, bei Witzen mitzulachen, aber mit dem Essen herumspielte.
Depression wegen ihres Knöchels, dachte ich. Es war nur natürlich, wenn sie, die auf der Bank bleiben musste, ihre gesunden Mitbewohnerinnen beneidete.
Beim Essen war sie fahrig gewesen, zappelig. Drogen? Keine bewusste Beobachtung von mir, aber natürlich war genau das Bernies Sorge – nicht, dass Sabrina sich einen One-Night-Stand erlaubte, sondern dass sie dringend Stoff brauchte. Bernie und die anderen Mitbewohnerinnen beschützten Sabrina, aber sie wussten, dass sie drauf war.
Ich textete meiner Vermieterin, dass ich noch eine Nacht blieb. Ich textete meinem Gassi-Service in Chicago und buchte noch einen Tag für Mitch und Peppy. Ich rief Mr. Contreras an, meinen Nachbarn. Er hat mein Kommen und Gehen minutiös im Blick – seit dem Fiasko letzten Herbst noch minutiöser –, aber er ist in den Neunzigern und nicht mehr imstande, lange Spaziergänge mit den Hunden zu machen.
Er liebt mich, aber in Bernie ist er vernarrt; er war vehement dafür, dass ich ihr half.
»Ich will ihr nicht helfen«, knurrte ich. »Ich will mit den Hunden an einem warmen Strand rumsitzen, wo ich nichts finden muss außer einem trockenen Handtuch, wenn ich aus dem Meer komme.«
»Sprich nicht so, Cookie. Du wärst nicht zufrieden mit dir, wenn du die kleine Bernie im Stich lassen würdest, das weißt du.«
Ich legte auf, bevor ich in eine längere Litanei verfiel, dass ich auch mal dran war damit, umsorgt zu werden. »Niemand wird Sabrina erschießen«, beteuerte ich meinem Gesicht im Spiegel. »Sie wird nicht in deinen Armen verbluten. Du findest sie rechtzeitig, weil du eine clevere Detektivin bist.«
Ich versuchte mir klarzuwerden, wo ich mit meiner Suche ansetzen sollte. In Chicago hatte ich Bekannte bei der Polizei, die könnten mich informieren, ob über Nacht jemand eingebuchtet wurde. Hier aber war ich eine Fremde, hatte keine Kontakte, die mir vielleicht sagen konnten, wo eine junge Frau auf der Jagd nach – was? Oxys? Fentanyl? – hingegangen sein mochte. Trotzdem war das Polizeihauptquartier der logische erste Schritt.
Für meinen Kaffee fuhr ich zum Decadent Hippo, wo sie ihn so machen, wie ich es mag. Dann fuhr ich zum Revier. Die Cops waren umgezogen, seit ich zuletzt hier gewesen war, in einen schicken nagelneuen Bau auf der expandierenden Westseite der Stadt. Am Informationsschalter legte ich allerlei Ausweise vor, auch meine Detektivinnenlizenz, und fragte, ob sie Sabrina Granev im System hatten.
Die Frau hinterm Tresen konsultierte ihre Datenbanken. Sabrina war nicht in Gewahrsam, jedenfalls nicht unter ihrem richtigen Namen.
»Haben Sie irgendwelche Namenlosen?«
Die Frau schaute auf ihren Monitor und stieß ein kleines schnaubendes Lachen aus. »Nur einen, und der kann nicht Ihr vermisstes Mädel sein. Mal abgesehen davon, dass die ganze Stadt weiß, wer er ist.«
»Trig Garrity?«, riet ich spontan.
Sie legte beide Hände auf den Tresen. »Was für Spielchen spielen Sie hier, Ms. Detektivin aus Chicago?«
»Entschuldigung. Keine Spielchen, nur ein Schuss ins Blaue. Gestern Abend ist er vor der Uni-Sporthalle auf jemanden losgegangen. Der Campus-Sicherheitsdienst hat sie getrennt, aber ich hab mich schon gefragt, ob er sauer genug war, sich den Kerl später noch mal vorzuknöpfen.«
Sie verpasste mir den alten Bullenblick: Man hat mir schon viele Märchen erzählt, und ich weiß, wann ich eins höre. Ich schaute ihr direkt in die Augen: Ich bin eine gesetzestreue Bürgerin, die nichts als die Wahrheit sagt.
»Wenn Sie wegen Garrity hier sind: Seine Kautionsanhörung ist um elf im Gerichtssaal von Richter Bhagavatula. Wenn Sie wirklich wegen einer vermissten Studentin hier sind, wie sieht sie aus?«
»Etwa eins siebzig, dünn genug zum Durchgucken, weiß, stumpfe Haut, lange braune Haare, als Pferdeschwanz getragen, jedenfalls als ich sie zuletzt sah.«
Die Frau schrieb sich nichts davon auf. Vielleicht hatte sie mich nur auf die Probe gestellt – wenn ich nicht schnell eine Beschreibung fabrizieren konnte, war mein Anliegen nicht legitim. Dafür wiederholte sie die These meiner Vermieterin, Sabrina hätte sich mit jemandem eingelassen und ginge deshalb auch nicht ans Telefon.
»Ich kenne die junge Frau nicht näher«, sagte ich. »Ich bin die Patentante einer der Freundinnen, mit denen sie hergefahren ist, aber ich frag mich, ob es ihr nicht eher um Drogen ging als um Sex. Wenn eine Ortsfremde hier was kaufen will, wo würde sie hingehen?«
Die Frau ergriff eine Aktenmappe und klatschte damit auf den Tresen. »Ach, darauf sind Sie aus? Einen Tipp, wo Sie Stoff kriegen? Wenn es das ist, was Sie brauchen, sind Sie auf sich allein gestellt, Chicago.«
Ich kannte in Lawrence einen Sergeant bei der Truppe, einen Mann namens Deke Everard, den ich seinerzeit hier getroffen hatte. Ist nicht im Haus, sagte die Frau. Ich glaubte ihr nicht, hatte aber keinerlei Handhabe gegen sie.
Zurück im Wagen blieb ich noch auf dem Polizeiparkplatz stehen und rief Angela an. Im Mannschaftsbus war es laut, aber mit Ohrhörern konnten wir ein Gespräch führen.
»Bernie hat schon erzählt, dass sie dich überredet hat, Sabrina zu suchen. Es tut mir leid, Vic – tut mir leid, dass sie dich unter Druck gesetzt hat, wo du gerade so – na ja, verletzlich bist. Ich liebe sie, aber manchmal ist sie wie eine Riesenmücke, so dass die einzig angemessene Reaktion darin besteht, nach ihr zu schlagen.«
Über das Bild musste ich lachen und fühlte mich gleich etwas besser. »Sie meinte, dass du Sabrina in der Bar mit drei weißen Typen gesehen hast. Wie sahen die aus?«
»Die reinsten Gockel. Die Sorte Jungs, um die wir einen möglichst großen Bogen gemacht haben, als ich auf der Highschool war. Die reiten dich in die Grütze und lachen dich dann aus, während du wieder rauszukrabbeln versuchst. Und bloß weil eine Frau weiß ist, wie Sabrina, schützt sie das noch nicht vor solchen Typen. Ich hab Sabrina zugerufen, sie soll zurück an unseren Tisch kommen, und einer der Jungs meinte: ›Bist du etwa ihr Kindermädchen?‹«
Ich holte unwillkürlich scharf Luft.
»Genau.« Angelas Ton war so trocken wie der Staub auf meiner Windschutzscheibe. »Sabrina sagte: ›Sie ist doch unser Star. Ich bin bloß einer ihrer Trabanten.‹ Also verzog ich mich. Ich hab mich nicht mehr nach ihnen umgesehen. Vielleicht ist Sabrina mit denen mitgegangen. Wahrscheinlich ist sie mit ihnen mitgegangen, aber ich wollte es nicht wissen. Sie hat dafür gesorgt, dass ich nicht die Hüterin meiner Schwester sein mochte.«
»Ich ahne es«, sagte ich. »Ich musste an Drogen denken, als ich sie gestern beim Essen vor dem Spiel rumzappeln sah. Deine Gockel-Jungs könnten ihr ein bisschen Oxy oder Fent angeboten haben.«
»Kann gut sein«, stimmte Angela zu.
»Kannst du einen von ihnen genauer beschreiben, außer dass sie protzig waren?«
»Du meinst, hatte einer ein Proud-Boy-Tattoo im Nacken? Die Bar war voll, und ich wollte wieder gut draufkommen. Ich hab nicht versucht, mir ihre Gesichter zu merken. Der eine hatte lockige dunkle Haare, das ist das einzige Detail, das ich noch weiß. Und sie trugen Sportkluft von Tom Brady. Deshalb dachte ich, die sind reich.«
Ich dankte ihr. »Und jetzt vergiss die Jungs, vergiss Sabrina, schwing dich zurück in dein wohlverdientes Hochgefühl. Wir sehen uns im Big Garlic.«
»Big Garlic?«, echote sie.
»Du weißt doch, New York ist der Big Apple. In der fünften Klasse wurde uns beigebracht, dass Chicago nach einer Art wildem Knoblauch benannt wurde. Also warum nicht?«
Da musste sie lachen. »Alles klar, Vic. Danke für – na, für alles.«
Zurück im alten Stadtkern stieß ich auf einen kostenlosen städtischen Parkplatz. Welch unglaublicher Luxus – umsonst Parken im zentralen Geschäftsviertel. Ahnten die Leute hier überhaupt, was für ein Glück sie hatten?
Ich dachte mir, in der Bibliothek könnte ich einige sinnvolle Recherchen machen. Auf dem Weg dorthin sah ich viel zu viele Obdachlose in den Ladeneingängen, noch in Decken oder Schlafsäcke gewickelt, während die Stadt zum Leben erwachte.
Dann kam ich am Meadowlark vorbei, halb Bäckerei, halb Sandwich-Laden. Seit dem Fiasko schien ich nie hungrig zu sein, aber ich hatte nicht gefrühstückt. Ein Sauerteigbrötchen mit Espresso würde genügen. Der Espresso war dünn und bitter, aber ich zwang mich, das ganze Brötchen zu essen.
Ich trug mich für einen der Computerarbeitsplätze im Untergeschoss der Bibliothek ein und loggte mich in die Datenbank der Strafverfolgungsbehörden ein, um die Polizeimeldungen aus der Stadt und dem County einzusehen. Rief die letzten sechs Monate auf und suchte nach Drogenrazzien. Ich fand etliche. In einem anderen Fenster öffnete ich eine Karten-App und sah mir die Orte an. Eine Razzia war in einem Neubau-Stadtteil im Südosten durchgeführt worden, aber die Mehrzahl in den am dünnsten besiedelten Ecken des Countys. Ich notierte die Koordinaten, auch wenn die Cops nach einer erfolgreichen Razzia solche Läden dichtmachten.
Ich stieß auch auf Selbstmordmeldungen. Die Anzahl wirkte hoch für ein County dieser Größe. Wie bei den Drogenrazzien ereigneten sich die meisten in entlegenen Gegenden, aber auch einige auf dem College-Campus. Das beschwor eine neue Sorge um Sabrina Granev herauf. Statt zu heilen, war ihr Knöchel schlimmer geworden. Eine junge Frau, vor sechs Monaten noch ein internationaler Star, die (vielleicht) Opioide nahm – sie mochte ernstlich gefährdet sein.
Bernie hatte mir noch nichts zu Sabrinas Familie rückgemeldet, aber ich spürte sie in einer meiner Abo-Datenbanken auf. Ihre Eltern lebten in einem Vorort von Albuquerque. Beide waren ehemalige Sportler – ihr Vater ein aufstrebender Fußballstar in Zagreb, bis der Kroatienkrieg seine Eltern bewegte, in die USA auszuwandern. Auch ihre Mutter war Fußballerin gewesen. Das Paar traf an der University of New Mexico zusammen. Sabrina war ihr einziges Kind.
Fotos von Sabrina waren leicht zu finden – auf Instagram, TikTok, Facebook –, alle zeigten eine vergnügt dreinblickende, athletische junge Person, nicht die graue, ausgelaugte Frau am Restauranttisch gestern.
Ich ging nach draußen, um die Eltern anzurufen. Unter beiden Nummern landete ich bei der Voicemail. Die Nachricht, die ich aufsprach – wer ich war, wo ich war, an Sabrinas Handy ging niemand ran –, klang dünn.
Ich stapfte zurück zu dem kostenlosen Parkplatz, wo mein Wagen stand, die Schultern krumm, die Stimmung düster. Nicht zum ersten Mal hatte Bernie Fouchard mich zu etwas überredet, das mich zermürbte.
Die Cops hier waren nicht hilfreich gewesen, aber die Uni besaß ja ihre eigene Truppe, wie ich gestern Abend mitbekommen hatte. Ich rief an, statt persönlich vorzusprechen. Ich war eine besorgte Tante, angereist aus Chicago, um das gestrige Spiel zu sehen. Der Diensthabende ging die Meldungen der letzten vierundzwanzig Stunden durch. Sie hatten drei Betrunkene aufgegriffen und ein Opfer von Körperverletzung, aber die konnten sie identifizieren. Es war nicht Sabrina.
Ich legte auf, unsicher, was ich als Nächstes tun sollte. Es war elf Uhr. Laut der Frau am Informationsschalter der Polizei hatte Trig Garrity jetzt seine Kautionsanhörung. Etwas umwegig, aber im Gerichtssaal waren bestimmt Cops. Je nachdem, wofür Trig verhaftet worden war, könnte Deke Everard selbst anwesend sein. Wenn nicht, fand sich vielleicht ein Streifenpolizist bereit, eine Nachricht zum Sergeant zu schmuggeln.
Das County-Gericht lag in einem alten Steingebäude nur wenige Schritte vom Hippo entfernt. Bis ich die Sicherheitskontrolle passiert und den Gerichtssaal von Richter Bhagavatula gefunden hatte, war es Viertel nach, aber der Richter verhandelte so viele Fälle, dass Garrity noch im Saal wartete. Obwohl ich ihn nur nachts im Straßenlicht gesehen hatte, sprangen mir seine wilden Haare und sein dreckiger Parka gleich ins Auge.
In der ersten Reihe saßen drei Uniformierte, alle männlich. Von hinten konnte ich nicht erkennen, ob einer davon der Sergeant war. Nur wenige Zuschauer verteilten sich auf den Bänken.
Zwei Leute wurden vor Trig aufgerufen, der eine hatte einen Mann mit einer zerbrochenen Bierflasche angegriffen, der andere einen Getreidesilo mit einem Bagger. Für den Bagger wurde eine höhere Kaution fällig als für die Flasche. Ein Besoffener mehr oder weniger machte keinen Unterschied, aber das hier war Farmland, und der Baggerfahrer zerstörte die Lebensgrundlage vieler Farmer.
Eine Frau in der vordersten Reihe hielt ihr Smartphone nach vorn gerichtet. In Illinois durften die Medien bei Gerichtsverhandlungen nicht aufnehmen, in Kansas offenbar schon.
Der Rechtsanwalt des Baggerfahrers versuchte mildernde Umstände geltend zu machen, nämlich dass der Kläger den Bagger seinem Mandanten gestohlen und dieser ihn sich zurückgeholt habe. Der Richter wies den Einwand zurück und fertigte ihn mit einer Kaution von fünfzigtausend Dollar ab. Die Frau mit dem Handy kritzelte eine Notiz.
»Irwin Garrity«, verlas der Gerichtsdiener. »Angeklagt wegen Verstoß gegen ein Betretungsverbot durch vorsätzliches Eindringen auf das Grundstück« – er rasselte eine Reihe Koordinaten herunter – »mit der Absicht, besagtes Grundstück zu beschädigen. Worauf plädieren Sie?«
Die Frau mit dem Handy richtete ihr Gerät auf Garrity, der sitzen blieb. Der Anwalt, der für den Baggerfahrer gesprochen hatte, huschte an seine Seite und begann eine geflüsterte Diskussion mit ihm.
»Irwin Garrity, wenn Sie nicht vortreten, belange ich Sie wegen Missachtung des Gerichts und spreche eine Geldstrafe aus, die so hoch ist wie Ihr Haupthaar«, sagte der Richter.
»Ich höre nicht auf den Namen Irwin.«
»So steht es in Ihrem Führerschein«, sagte der Staatsanwalt.
»Ich hab dem unterbezahlten Handlanger, der mich verhaftet hat, gesagt, er soll ›Trig‹ schreiben, was der Name ist, den ich seit dreißig Jahren trage.«
»Dann sollten Sie ihn behördlich ändern lassen«, sagte der Staatsanwalt.
Der Richter schloss die Augen und rieb sich die Stirn. »Mr. Garrity, würden Sie jetzt zur Richterbank kommen und uns sagen, worauf Sie plädieren?«
Garrity erhob sich und trat mit einem lebensüberdrüssigen Seufzer vor. »Nicht schuldig. Egal was die Handlanger des Milliardärs sagen.«
»Keine Leitartikel, Mr. Garrity«, sagte Bhagavatula.
Der Staatsanwalt erklärte, Garrity sei auf Privatgrund gewesen. Jemand hatte ihn an einem Baum innerhalb des Geländes ein Schild annageln sehen und den Sheriff gerufen.
Der Deputy, der die Festnahme durchgeführt hatte, war nicht im Gerichtssaal. Der Richter fragte, was auf dem Schild stand.
Der Staatsanwalt schaute auf sein Tablet. »›Mörder! Zerstört Leben für Profit.‹«
»Es wurden keine unmittelbaren Drohungen gegen die Person oder den Besitz der Eigentümer ausgesprochen, ist das korrekt?«
»Nein, Euer Ehren, aber der Angeklagte befand sich auf Privatland, von dem er sich fernzuhalten hatte.«
»Warum können Sie nicht Farbe bekennen und es Brett Santichs Land nennen? Ist sein Name zu heilig, um ihn vor Gericht laut auszusprechen?«
»Mr. Santichs Name steht nicht in der Anzeige«, sagte der Richter. »Deputy Hanover hat die Ordnungswidrigkeit eingetragen, auf einen Anruf des Nachtwächters von Kirmek Construction hin.«
»Typischer Schwachsinn«, sagte Trig. »All diese Schichten zwischen Santich und der Öffentlichkeit, an deren Vergiftung er arbeitet.«
»Sie verbessern Ihre Lage nicht, indem Sie mit Verleumdungen um sich werfen«, sagte der Richter.
Trig begann zu argumentieren, dass Wahrheit ein Schutz vor Verleumdung sei, aber der Richter brachte ihn zum Schweigen. »Mr. Garrity, Sie waren vor fünf Monaten hier, weil Sie eine Sitzung der Planungskommission gestört haben. Vor drei Monaten standen Sie vor mir, weil Sie die Verwaltungsangestellten der Verbundschule Yancy belästigt haben. Vor sechs Wochen haben Sie mutmaßlich gegen Betreten-verboten-Schilder am Wakarusa-Kohlekraftwerk verstoßen. Was machen Sie sonst noch mit Ihrer Zeit, außer öffentliches Ärgernis zu erregen?«
»Ich bin ein Wachhund. Auf dieses County und diese Stadt muss man ein scharfes Auge haben, denn jedes Mal, wenn ich auch nur blinzele, unternimmt eine reiche, mächtige Person Schritte, um die Meinungsfreiheit zu zerstören, oder die Luft, die wir atmen, oder den Fluss, aus dem wir unser Trinkwasser beziehen.«
Bhagavatula blätterte in Unterlagen, die ihm sein Gerichtsdiener mit einer geflüsterten Bemerkung reichte. Der Richter blickte wieder zu Trig. »Wenn Sie Ihren Job als Wachhund ernst nehmen würden, Mr. Garrity, würden Sie mit den grundlegenden Recherchen beginnen. Brett Santich gehört dieses Land nicht.«
»Weil er es an einen genauso schamlosen Milliardär verkauft hat.«
»Weil er es an einen schamlosen Milliardär verkauft hat, Euer Ehren«, sagte Bhagavatula. »Dieses Land war mit drei Hypotheken belastet. Der Eigentümer hat es vor sechs Jahren an einen Trust verkauft, der von der Pioneer State Bank verwaltet wird.«
Garrity starrte den Richter mit großen Glubschaugen an.
»Da der festnehmende Beamte nicht anwesend ist, lasse ich die Anklage fallen. Aber auch wenn Sie sich selbst als Wachhund bezeichnen, haben Sie nicht zu entscheiden, was in Douglas County oder im Staat Kansas Recht und Gesetz ist. Wenn Sie das nächste Mal vor mir stehen, sperre ich Sie zum Wohl der Gemeinschaft für sechzig Tage ein.«
Garrity vollführte eine schwungvolle Verbeugung, die Parodie eines Höflings im Kostümfilm. »Der Richter des Königs ist ein Avatar der Person des Königs.« Er paradierte rückwärts den Mittelgang hoch.
»Lucas, wenn du deinen Mandanten nicht in den Griff bekommst, brumme ich dir auch eine Geldstrafe auf«, knurrte Bhagavatula.
Der Verteidiger packte Garrity an der Schulter. Er drehte ihn um und schleppte ihn zum Ausgang. Die Frau mit dem Handy folgte ihnen.
»Ich verteidige Sie nicht, wenn man Sie das nächste Mal festnimmt«, fauchte der Anwalt beim Öffnen der Tür. »Sie brechen absichtlich das Gesetz. Dann machen Sie einen Zirkus aus dem Gerichtssaal. Ich unterstütze keinen Angeklagten, dessen einziges Ziel es ist, das Gesetz zu verhöhnen.«
»Zu schade, dass Martin Luther King Sie nicht als Anwalt hatte«, sagte Garrity. »Oder John Lewis. All diese Rechtsbrüche wegen einer Lappalie wie dem Wahlrecht. Oder in meinem Fall einer Lappalie wie der Zerstörung des Planeten.«
Der Anwalt sah mordlustig drein, versuchte aber nicht, das Gefecht zu verlängern. Als die Tür sich wieder schloss, beraumte der Richter eine zehnminütige Pause an.
Wir standen alle auf. Als ich rauskam, sagte der Verteidiger zum Staatsanwalt: »Ich wünschte, Bhagavatula würde ihn wegsperren. Ich bin es leid, Arschlöcher zu verteidigen, die keine Verteidigung wollen.«
Aus meiner Zeit als Pflichtverteidigerin in Cook County erinnerte ich mich gut an dieses Gefühl, aber ich empfand trotzdem ein gewisses Wohlwollen für Trig.
Die drei Polizisten traten auf den Flur. Ich folgte ihnen in der Hoffnung, sie für Sabrinas Verschwinden zu interessieren oder eine Nachricht an Deke Everard auf den Weg zu bringen. Sie waren nicht unhöflich, aber auch nicht willens zu helfen.
Ein Stück weiter im Flur interviewte die Journalistin mit dem Handy gerade Garrity. Ich suchte mir eine ruhige Ecke und checkte meine Nachrichten. Sabrinas Eltern hatten sich nicht gemeldet. Ich versuchte es erneut bei ihnen und bei Sabrina, landete aber bei allen dreien nach wie vor auf Voicemail. Dafür hatte ich eine Nachricht von Bernie – sie hatte den Namen einer Freundin von Sabrina aufgetrieben.
Ich erwischte Bernie, als ihre Clique gerade in Des Moines Essenspause machte. »Wir haben der Freundin eine Nachricht geschickt, Darla Browder heißt sie. Sie spielt für Iowa, aber sie und Sabrina sind Freundinnen seit ihrem ersten Fußballcamp«, berichtete Bernie. »Darla hat nichts mehr von Sabrina gehört, schon bevor wir in Evanston losgefahren sind.«