Blaues Netz - Jean-Pierre Kermanchec - E-Book

Blaues Netz E-Book

Jean-Pierre Kermanchec

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Beschreibung

Der Fischer Marc Gourin, musste lange auf die Flut warten um vom Aven ans Meer zu gelangen. Er befand sich gerade an einer engen Stelle des Aven, als er den Eindruck hatte, einen menschlichen Körper am Ufer zu sehen. Eine alte Eiche, mit ihren weit ausladenden Ästen reichte bis ins Wasser des Flusses. In einem ihrer Äste schien sich eine Leiche verfangen zu haben. Er alarmierte die Gendarmerie von Pont Aven. Wenig später war auch die Kriminalpolizei aus Quimper vor Ort. Schnell stand fest, der Mann war nicht hier ermordet worden. Spuren führten zu einem Felsen, aber auch der scheidet schlussendlich als Tatort aus. Seltsam, keine weiteren Spuren deuten an, dass der Körper vom Land an diese Stelle gebracht wurde. Warum macht jemand sich die Mühe, einen Toten auf einen 10 Meter hohen Felsen zu heben, um ihn dann wieder ans Ufer zu schleppen? Der Felsen ist nur bei Hochwasser vom Fluss aus zu erreichen. Kommissar Ewen Kerber steht vor einem Rätsel.

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Jean-Pierre Kermanchec

Blaues Netz

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Epilog

Bisher erschienen:

Impressum neobooks

Kapitel 1

Jean-Pierre Kermanchec

Blaues Netz

Blaues Netz

Jean-Pierre Kermanchec

Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

© 2021 Jean-Pierre Kermanchec, Ulrike Muller

Cover : Atelier Meerkunst 2022

ISBN: 978-3-8476-1551-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bibliothéque national du Luxembourg verzeichnet diese Publikation in der luxemburgischen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

Die Flut hatte zwar noch nicht ihren höchsten Stand erreicht aber der Aven war bereits wieder schiffbar für einen erfahrenen Skipper. Marc Gourin sah auf seine Uhr. Es war halb sechs und seit mehr als einer halben Stunde wartete er darauf, endlich aus dem kleinen Hafen von Pont Aven auslaufen zu können. Er wollte auf Sardinenfang gehen, um wieder etwas Geld in die Kasse zu bringen. Die letzten Wochen waren sehr hart gewesen.

Marc Gourin betrieb seit einigen Jahren eine Muschelzucht am Unterlauf des Aven, bei Kerdruc, auf den Sandbänken des Aven. In den letzten Jahren war es ihm gelungen, sich einen guten Namen als Muschelzüchter zu machen. Doch in den letzten Monaten waren die Verkäufe drastisch eingebrochen. Zuerst war der Preis für seine Muscheln stark gefallen, wegen ihrer zunehmend geringeren Größe und dann hatte auch noch eine seltsame Krankheit seine Bestände stark dezimiert. In den Jahren davor hatten sich die Muscheln prächtig entwickelt und die Ernte war stets sehr gut gewesen. Die Muscheln hatten genau die richtige Größe und die Leute waren bereit, angemessene Preise zu bezahlen.

Marc Gourin gehörte zu den Züchtern, die ihre Ware direkt an den Endverbraucher verkauften. Er betrieb einen kleinen Stand im Hafen von Kerdruc, in Sichtweite seiner Muschelzucht. Die Kunden kamen aus den umliegenden Weilern und Dörfern, auch die Bewohner von Pont Aven und Névez zählten zu seinen Stammkunden. Er war nicht nur wegen seiner Muscheln bestens bekannt in Pont Aven, auch seine Familie lebte schon immer hier. Seine Einnahmen waren beständig gestiegen, so dass er genug verdiente, um seine Frau Nicole und seine beiden Kinder Tanguy und Marie zu ernähren.

Sein Sohn war vorgestern zehn Jahre alt geworden und Marc ging davon aus, dass er einmal auch das Handwerk eines Fischers und Muschelzüchters ergreifen würde, so wie er seinem Vater nachgefolgt ist. Dann kam dieser Einbruch. Er konnte es sich nicht erklären.

Er steuerte sein Boot langsam den Aven hinunter. Die zahlreichen Mäander des Flusses verlängerten die Fahrt zum Meer. Aber für Marc gab es keinen schöneren Fluss und keine schönere Landschaft auf der Welt. Pont Aven und der Fluss waren der Mittelpunkt seines Lebens. An beinahe jeder Biegung gab es kleinere und größere Buchten, die teilweise bis ans Ufer mit Bäumen bewachsen waren. Eichen die bereits mehrere hundert Jahre an ihrem Platz standen, ebenso zahlreiche Birken, Kastanien und Buchen. Zwischen den Bäumen schien immer wieder ein Haus auf den Fluss sehen zu wollen.

Als Marc den Unterlauf des Flusses erreicht hatte und an seinen Muschelbänken vorbeikam sah er die langen hölzernen Markierungsstangen in dem abgelagerten Sand stecken. Er wurde wieder sehr nachdenklich und dachte über eine mögliche Ursache der Muschelkrankheit nach. Erste Untersuchungen, die er veranlasste hatten, kein brauchbares Ergebnis gebracht. Er war sich sicher, dass die Muscheln durch irgendeine Chemikalie geschädigt worden waren. Das sagte ihm sein Gefühl.

Die Flut tauschte das Wasser regelmäßig aus und falls sich zu irgendeinem Zeitpunkt etwas Schädliches im Wasser befunden hatte, dann war es schon lange wieder verschwunden. Nur seine Muscheln, die hatten die Substanz abgekriegt und aufgenommen. Er würde mehr als ein Jahr warten müssen, bis sich die Bestände wieder erholten.

Da es noch sehr früh am Morgen war und die Flut noch nicht vollständig aufgelaufen war, konnte der Aven noch nicht auf ganzer Länge befahren werden und so waren nur wenige Boote unterwegs. Eine Yacht, die schon ein gutes Stück flussabwärts fuhr, schien früh zu einer längeren Fahrt aufgebrochen zu sein. Durch sein Fernglas konnte er vier Männer auf dem prächtigen Boot sehen. Marc meinte, auch ein blaues Fischernetz zu erkennen, wie es die Fischer rund um Concarneau benützen. Vielleicht täuschte er sich aber auch auf diese Entfernung.

Die vielen Freizeitsegler, die am Aven ihre Boote liegen hatten waren noch nicht unterwegs. In den letzten Jahren hatte sich die Anzahl der Liegeplätze stark erhöht, aber es waren immer noch viel zu wenige. Er könnte seinen Platz für eine große Summe verkaufen. Die Warteliste für einen Liegeplatz in Pont Aven war so lang, dass man bis zu zehn Jahre darauf warten musste. Aber natürlich dachte er nicht daran den Platz zu veräußern. Sein Urgroßvater, sein Großvater und sein Vater waren Fischer gewesen und der Liegeplatz gehörte schon immer zur Familie und daran sollte sich nichts ändern. Sein kleiner Sohn Tanguy würde bestimmt auch einmal Fischer werden.

Das Wetter war heute wieder bretonisch durchwachsen. In der Nacht war ein heftiger Sturm mit ergiebigem Regen über das Gebiet zwischen Bénodet und Lorient niedergegangen und jetzt wehte immer noch ein ordentlicher Wind. Schwarze Wolken schienen im Wettlauf über den Himmel zu ziehen und Marc Gourin konnte sich ausmalen, wie es in einer Stunde im Hinterland aussehen würde.

Marc sah den Wolken zu, während sein Boot sich weiter den Aven hinunterbewegte. Er achtete darauf, sein Boot genau in der Mitte der Fahrrinne des Aven zu halten. Die Fahrrinne war nicht sehr breit und durch grüne und rote Bojen markiert. Wenn man vom Meer heraufkam, dann hatte man die grüne Boje rechts und die rote links des Bootes, jetzt fuhr er den Aven hinunter zum Meer, da war es genau umgekehrt. Die rote Boje war nun auf der rechten Seite. Ihm war das in Fleisch und Blut übergegangen, so dass er sich darüber überhaupt keine Gedanken machte. Er lächelte manchmal, wenn er den Ausflugsbooten auf dem Aven begegnete und den Erklärungen der Bojen für die Touristen zuhörte. Die Lautsprecher an Bord der Boote waren so laut, dass man trotz des Getuckers der Motoren alles hören konnte.

Er befuhr gerade eine sehr enge Stelle des Aven bevor dieser in die Anse de Poulguin übergeht, als er den Eindruck hatte, einen menschlichen Körper nahe des Ufers zu sehen. Die Fahrrinne konnte er mit seinem Boot nicht verlassen, um näher heran zu kommen, da er ansonsten sofort auf eine Sandbank laufen würde. Er stoppte den Motor und griff erneut zu seinem Fernglas, das immer griffbereit lag. Sorgfältig suchte er das Ufer ab. Ein Ast einer alten Eiche mit ihren weitausladenden Ästen reichte bis ins Wasser des Flusses. In diesem Ast schien sich ein Körper verfangen zu haben. Marc betrachtete das Ufer ganz genau. Ja da lag ein Mensch, Marc Gourin konnte ihn genau sehen. Er griff zu seinem Handy und wählte die Notrufnummer der Polizei.

„Marson, Gendarmerie Pont Aven.“ meldete sich der diensthabende Beamte.

„Marc Gourin hier, ich habe eine Leiche entdeckt am Ufer des Aven.“

„Sie machen Witze, für so etwas bin ich zu so früher Stunde nicht zu haben!“

„Was heißt hier Witze, ich habe eine Leiche entdeckt. Sie müssen sie sofort bergen lassen. Ich kann mit meinem Boot nicht heranfahren.“

„Sie haben tatsächlich eine Leiche entdeckt?“ Marson war jetzt verunsichert.

„Natürlich, ich mache mit so etwas doch keinen Spaß.“

„Wo genau liegt die Leiche?“ fragte Marson.

„Wenn ich das richtig sehe, dann müsste sie ziemlich exakt am Ufer des Aven, genau unterhalb des Lieu dit Coat Melen liegen.“

„Sagen Sie mir nochmals Ihren Namen und wie ich Sie erreichen kann.“

„Marc Gourin, aus Pont Aven. Ich bin zurzeit mit meinem Boot unterwegs zum Fischen. Sie erreichen mich über Handy oder über Funk. Mein Boot heißt «Bihan mal».“

Marc Gourin gehörte zu den Bretonen, die Wert auf das Bretonische legten. Übersetzt bedeutete der Name des Bootes «kleiner Mann». Er hatte das Boot von seinem Vater geerbt, der hatte ihm diesen Namen gegeben, weil er lediglich 1,55 Meter groß gewesen war, somit ein kleiner Mann.

Marson überlegte nur kurz und entschied sich, sofort die police judiciaire in Quimperlé zu informieren. Zu Marc Gourin sagte er nur, dass er sich nach seiner Rückkehr bei der Gendarmerie in Pont Aven melden sollte, damit man seine Aussage protokollieren könne.

Nachdem Marson erfahren hatte, dass der Commissaire von Quimperlé wegen Krankheit von seinen Kollegen in Quimper vertreten würde, rief er dort an.

Als Marson den Hörer wieder aufgelegt hatte und sich gerade auf den Weg machen wollte, seinen Kollegen zu suchen, der ihn zur Fundstelle am Aven begleiten sollte, trat Claude Ylian in das Zimmer. Frohgelaunt pfiff er ein Liedchen als.

„Wir haben das große Los gezogen, es gibt schon wieder eine Leiche.“ empfing ihn Marson und setzte sich seine Mütze auf.

„Netter Scherz, aber damit kannst du mir meine gute Laune nicht verderben!“ meinte Ylian und wollte zu seinem Schreibtisch gehen.

„Auf geht’s, “ sagte Marson, „das ist kein Scherz, ein Fischer hat auf der Fahrt von Pont Aven nach Port Manec`h eine Leiche gefunden. Er sagt, sie läge ziemlich exakt am Ufer, bei dem Lieu dit Coat Melen.“

„Merde, ich wollte doch heute einmal früher nach Hause. Immer erwischt es uns. Bei den letzten Leichen von Rospico, du kannst dich bestimmt noch erinnern an die Toten mit den Fischabfällen, da waren wir auch immer im Dienst. Der Täter ist ja nie gefunden worden. Als wir dann vor einem Jahr von Névez hierher nach Pont Aven versetzt wurden dachte ich, dass es damit nun ein Ende hätte. In Pont Aven ist doch noch nie etwas passiert. Kaum sind wir hier, fallen die Toten vom Himmel! Wer bearbeitet denn diesmal den Fall bei der police judiciaire?“

„Ich habe keine Ahnung, aber Quimperlé wird es wieder einmal nicht sein. Der Commissaire ist erkrankt. Man wird uns jemanden aus Quimper schicken. Lass uns gehen.“

Marson und Ylian setzten sich in ihren Wagen und fuhren von Pont Aven aus zu der beschriebenen Stelle an der Straße von Coat Melen.

Die beiden Polizisten brauchten nicht lange. Der von dem Fischer beschriebene Ort lag nur wenige Kilometer von Pont Aven entfernt. Nachdem sie ihren Wagen verlassen hatten begannen sie mit dem Abstieg, um von der etwas mehr als zwanzig Meter höher gelegenen Straße hinunter an das Ufer des Aven zu gelangen. Das Unwetter in der Nacht hatte den Boden durchnässt und das Gras war so glitschig wie selten. Sie mussten achtgeben als sie den Abhang hinunterkletterten. Sie brauchten nicht lange zu suchen, um die Leiche zu finden. Die Kleider des Toten hatten sich in den unteren Ästen einer Eiche verfangen. Ylian, der das Absperrband mitgenommen hatte, um die Fundstelle sofort weiträumig zu sichern, begann mit der Arbeit. Marson versuchte die Leiche näher ans Ufer zu ziehen, um ein Abtreiben zu verhindern. Auch ohne größere Erfahrung konnte man sehen, dass es sich um keinen Unfalltot handelte.

„Claude“, rief Marc Marson, „hilf mir zuerst einmal die Leiche an Land zu ziehen. Ich schaffe es alleine nicht.“ Claude Ylian ließ sein Absperrband ins Gras fallen und ging zu seinem Kollegen, um ihn zu unterstützen. Nachdem sie die Leiche an das Ufer gezogen hatten, sahen sie sofort, dass der Mann einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.

Der Körper wies eine Stichverletzung an der Halsschlagader auf. Ob es noch weitere Einstiche gab konnten sie nicht sehen.

Kapitel 2

Ewen Kerber sah zu seinem Kollegen Paul Chevrier auf, als dieser das Büro betrat. An seinem Gesichtsausdruck erkannte er sofort, dass Paul mit einer unangenehmen Nachricht kam. Ewen und Paul arbeiteten schon seit mehr als zwölf Jahren zusammen.

„Was gibt es Paul?“ fragte Ewen.

„Nun, du wirst es nicht glauben, aber wir haben einen Toten in Pont Aven und der Kollege von Quimperlé ist krank. Wir dürfen wieder mal ran.“

Ewen Kerber schien nachzudenken, bevor er etwas erwiderte.

„Pont Aven, das ist nicht sehr weit von dem Ort Kerliou entfernt, dort, wo sich die Morde mit den Fischabfällen vor einigen Jahren ereignet haben?“

„Stimmt, nur einige Kilometer.“

„Der Fall lässt mich immer noch nicht in Ruhe. Wir konnten damals den Mord nicht aufklären, dabei war ich mir sicher, dass diese Frau aus Concarneau, …wie hieß sie noch?“

„Hmmm, ich glaube Julie…“

„Stimmt, Julie Pegues, die muss es gewesen sein, da bin ich mir heute noch sicher. Aber beweisen konnten wir es leider nicht.“

„Hoffentlich haben wir es nicht wieder mit so einem Unfall zu tun.“

Dieser Fall lag nun schon einige Jahre zurück, aber Ewen Kerber hasste es Fälle ad Acta zu legen, bevor sie gelöst waren. Damals hatte es eine Reihe von Morden gegeben, die als Unfälle durchgegangen wären, wenn nicht Fischabfälle über den Leichen verteilt gewesen wären. Bis heute wusste Ewen nicht, was es damit auf sich hatte.

Ewen Kerber erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und folgte Paul Chevrier zum Wagen.

Kapitel 3

Marc Marson und Claude Ylian hatten den Fundort gesichert, nachdem sie die Leiche ans Ufer geholt hatten und warteten jetzt auf die Kommissare aus Quimper. Sie wussten, dass es dauern würde, bis die Herren die Strecke von Quimper bis hierher zurückgelegt hätten. Sie brauchten bestimmt eine dreiviertel Stunde für den Weg. Als sie die Sirenen der Fahrzeuge der police judiciaire lauter werden hörten, stieg Marson nach oben, um den Kollegen von der Mordkommission die Fundstelle zu zeigen. Von dem letzten Fall, von dem Ylian zuvor gesprochen hatte, war ihm der Kommissar aus Quimper, der jetzt aus dem Fahrzeug stieg noch gut bekannt.

Ewen Kerber ging zum Kofferraum und zog sich seine Gummistiefel an, als Marson zu ihm trat.

„Bonjour Monsieur le Commissaire! “ begrüßte er Ewen Kerber.

„Bonjour!“ antwortete Kerber und fragte dann sofort nach dem Fundort.

„Führen Sie mich bitte zur Leiche. Wer hat den Toten gefunden?“

„Hier entlang Monsieur le Commissaire, geben Sie acht, das Gras ist sehr rutschig.“ Marson ging voraus und fuhr dann fort:

„Das war ein Fischer, ein Monsieur Marc Gourin. Er hat die Leiche von seinem Boot aus gesehen und uns benachrichtigt. Er konnte nicht bleiben, er muss ja das Hochwasser ausnutzen, um aufs Meer zu gelangen. Er wird sich aber bei uns melden nach der Rückkehr.“

Als Kerber bei der Leiche angekommen war, versuchte er sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Sein Kollege, Dustin Goarant von der Spurensicherung würde jeden Augenblick hier eintreffen und er wollte auf keinen Fall etwas verändern. Dennoch wollte er sich den Leichnam schon einmal vorsichtig ansehen. Die Stichverletzung an der Halsschlagader fiel ihm sofort auf. Ein Unfall war damit ausgeschlossen. Es handelte sich um einen Mord. Damit lag der Fall bei ihm.

„Bonjour Ewen.“ begrüßte ihn Yannick Detru, der Pathologe, der mit seinem Alu-Koffer gerade den Steilhang heruntergekommen war und sich jetzt Handschuhe anzog um sich einen ersten Eindruck des Toten zu verschaffen. Dustin Goarant war ebenfalls mit seinen Assistenten eingetroffen und hatte sofort mit der Sicherung aller möglichen Spuren begonnen. Yannick Detru sah sich die Leiche genau an. Nachdem er den Körper auf den Rücken gelegt hatte, konnten er und Kommissar Kerber sofort den großen Blutfleck in der Herzgegend sehen. Die Leiche zeigte an den Handgelenken deutliche Spuren, die von einer Fesselung stammen mussten.

„Wie lange ist der Mann bereits tot?“ fragte Kerber Yannick Detru.

„Genau kann ich es noch nicht sagen, aber der Körpertemperatur nach zu urteilen, würde ich meinen, dass er sicher nicht länger als drei Stunden tot ist. Durch den Regen in der Nacht dürfte er etwas schneller abgekühlt sein, deshalb könnte es sein, dass sein Tod auch weniger als drei Stunden her ist. Genaueres erst nach der Obduktion.“

„Schau Ewen,“ Detru hatte die Ärmel des Jacketts des Toten hochgeschoben, um sich die Arme genauer anzusehen “diese Spuren an den Handgelenken zeigen, dass der Mann zuvor gefesselt gewesen war und diese Brandspuren am Unterarm stammen von Zigaretten oder etwas ähnlichem. Ich würde meinen, dass man versucht hat ihn zu foltern, um etwas von ihm zu erfahren.“

„Hmmm, ja das sieht danach aus. Ich bekomme von dir ja so schnell wie möglich das Ergebnis der Obduktion?“

„Wie immer Ewen, du hast ja nie Zeit.“ Yannick Detru lachte als er sich auf dem Weg nach oben machte und zurück nach Quimper fuhr.

Ewen sah sich weiter an der Fundstelle um, er versuchte Spuren zu finden, die darauf hinweisen konnten, wie der Tote an diese Stelle gekommen ist. Hier war er nicht getötet worden. An keiner Stelle fand sich eine größere Blutlache. Der Stich ins Herz und der an der Halsschlagader mussten sehr stark geblutet haben.

Ewen suchte vorsichtig in den Taschen des Toten nach Papieren. Das Portemonnaie befand sich in der Innentasche des Jacketts. Ewen zog es heraus und öffnete es. Er sah den Personalausweis und las, Charles Morgat, Trégunc.

Ewen ging zu seinem Kollegen der Spurensicherung.

„Ich habe seinen Ausweis gefunden. Der Mann heißt Morgat und ist aus Trégunc. Im Portemonnaie sind über dreihundert Euro. Ein Raubmord war dies also nicht. Dustin, hast du schon etwas Brauchbares gefunden?“

„Ja, hier vorne gibt es eine Schleifspur.“ Dustin Goarant zeigte auf eine Stelle unweit der Fundstelle der Leiche. Er war seit ewigen Zeiten bei der Spurensicherung in Quimper. Er und Ewen waren seit Jahren gute Freunde und Ewen wusste, dass er sich auf Dustin absolut verlassen konnte.

Dustin war Junggeselle und sein Leben bestand nur aus seiner Arbeit. Sein einziges Hobby war das Fischen. In seiner Freizeit ging er häufig ans Meer. Bei Mousterlin gab es auf der schmalen Landzunge, die sich parallel zum Meer erstreckte und etwa dreieinhalb Kilometer lang war und sicherlich nicht mehr als hundert Meter breit eine Stelle, die er sehr gerne aufsuchte. Der Strand hatte etwas gröberen Sand und war im Frühjahr und im Herbst oder Winter nicht sehr stark von Spaziergängern frequentiert, so dass er in Ruhe dort seine Angeln auslegen konnte. Dustin hatte stets mindestens drei Angeln dabei, wenn er ans Meer fuhr.

Ewen folgte Dustin zu der Schleifspur und betrachtete sie sehr genau. Er konnte jetzt sehen, was Dustin meinte. Das Gras hatte sich bereits wieder aufgerichtet, aber der Boden wies Vertiefungen auf, die von den Absätzen der Schuhe des Toten stammten. Durch den starken Regen war der Boden aufgeweicht und die Schuhe des Toten hatten eine deutliche Spur hinterlassen. Die Spur führte aber überraschenderweise nicht zur Straße, sondern verlief in nördlicher Richtung, beinahe parallel zum Aven. Ewen Kerber folgte der Spur. Nach etwa einhundert Metern stand er auf einem Felsen, der an dieser Stelle etwa zehn oder zwölf Meter über den Aven ragte und den Blick auf den Fluss und das nahe Ufer freigab.

Ewen sah die zahlreichen Zerklüftungen und die Grotten, die sich hier entlang des Aven gebildet hatten. Den Touristen wurden bei den Bootsfahrten auf dem Aven diese Grotten gezeigt. Sie waren aber nicht so groß, dass man sie hätte besuchen können, wie man dies aus anderen Regionen kannte.

Wir Bretonen sind schon sehr eigenartige bodenständige Menschen, dachte er sich, als er auf die Grotten sah. Viele seiner Freunde waren noch nie aus dem Département Finistère herausgekommen, so auch sein Freund, der Sardinenfischer Claude. Er war noch nicht über Quimper hinausgekommen. Ewen kannte viele Menschen, die das Finistère noch nie verlassen hatten, geschweige denn die Bretagne. Die Menschen schienen zufrieden. Wenn man von den Ereignissen in Paris oder Lyon hörte, dann war das weit entfernt. Aus Paris, dem Sitz der Regierung kam sowieso selten etwas Vernünftiges. Wenn dann doch einmal etwas die Bretonen betraf, dann war es in der Regel etwas, das sie eher auf die Barrikaden brachte. Erst kürzlich hatten die Bauern gegen die Milchpreise demonstriert. In Quimper wurde kurzerhand ein Kreisverkehr lahmgelegt, die Bäume darauf abgesägt und ein Feuer angezündet. Der Schaden belief sich auf mehrere hunderttausend Euro und die Stadträte diskutierten darüber, wer für den Schaden aufkommen sollte.

Auch in der Urlaubszeit, wenn ganz Frankreich sich auf die Fahrt in den Süden aufmachte und der Verkehr regelmäßig zum Erliegen kam, konnte der Bretone zu Hause bleiben. Das Meer liegt vor der Haustür, so dass man seinen Urlaub auch hier verbringen kann.

Ewen Kerber widmete sich nun wieder der Umgebung. Der Felsen, auf dem er stand, zeigte keine Blutspuren, auch hier, da war sich Keber sicher, war der Mann nicht ermordet worden. Ewen Kerber sah sich die nähere Umgebung des Felsen an. Wie ist der Tote hierhergekommen? Wenn man ihn nicht hier ermordet hatte, dann mussten doch weitere Spuren zu sehen sein. Er suchte den feuchten Boden rings um den Felsen ab. Nicht einmal Schuhabdrücke waren zu sehen. Über einen so feuchten Boden war es unmöglich zu gehen und keine Spuren zu hinterlassen. Für Kerber stand fest, dass der Tote nur über den Aven hierhergebracht worden sein konnte. Kerber ging zurück zu seinen Kollegen.

„Wir sollten sofort die Bewohner der Häuser in der näheren Umgebung befragen, ob ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist. In Gebieten mit einer so geringen Bebauung fällt den Leuten sofort auf, wenn sich ein Fremder hier bewegt.“

Ewen Kerber hatte diese Worte an Marson und seinen Kollegen Ylian gerichtet.

„Vor allem sollten wir klären, ob der Tote sich mit jemandem hier getroffen hat oder treffen wollte.“

„Machen wir, Monsieur le Commissaire, soll ich nicht ein Bild von dem Toten mit meinem Handy machen, dann können wir den Leuten gleich das Bild zeigen?“

„Gute Idee!“ meinte Ewen und deutete an, dass Marson fotografieren konnte.

Danach drehte Marson sich zu Claude Ylian und winkte ihn heran. Bevor die Beiden gingen, wandte Marson sich aber nochmals zu Ewen um.

„Monsieur le Commissaire, wissen Sie, wer da oben in dem ersten Haus wohnt?“

„Natürlich nicht, aber Sie werden es mir gleich sagen, nehme ich an.“ Kerber sah Marson an.

„Da wohnt dieser berühmte Maler, Corentin Murat. Er hat erst vor einigen Jahren zu malen begonnen und jetzt ist er schon fast weltberühmt. Er verkauft seine Bilder zu horrenden Preisen in einer Galerie in Paris. Der Mann ist schwerreich, aber etwas skurril, sagen die Leute in Pont Aven. In Pont Aven hat er einige Male ausgestellt. Aber weil er für seine Bilder 100.000 € und mehr verlangt, hat niemand etwas gekauft. Das macht ihm aber nichts aus.“

„Ein berühmter Maler, ich habe noch nichts von ihm gehört!“ sagte Ewen und interessierte sich jetzt wieder mehr für die Spuren im Gras. Allerdings ging ihm das Gehörte nicht aus dem Kopf. Ein noch lebender Maler, der für seine Bilder über 100.000 € erhielt, das war selten.

Rund um Pont Aven wimmelte es nur so von Künstlern. Egal welche Kunstrichtung man suchte, hier wurde man fündig. Ob Öl, Acryl, Aquarell, ob Fotografie oder Skulptur, alles konnte man in Pont Aven erwerben. Unzählige Galerien zeugen von der Vielzahl der Künstler, die sich hier aufhalten und aufhielten, seitdem Gauguin hier gearbeitet hatte und gemeinsamen mit anderen Künstlern seiner Zeit die Schule von Pont Aven gegründet hatte. In Pont Aven und dem nahegelegenen Le Pouldu hatten sich die Künstler niedergelassen und damit der Region den Kunststempel aufgedrückt.

Ewen Kerber und Paul Chevrier machten sich auf den Weg nach oben. In seinen Gummistiefeln ging Ewen ganz gut auf dem feuchten Gras. Er dachte an den letzten Fall, da hatte er mit normalen Straßenschuhen über die Felsen an der Küste bei Rospico klettern müssen und von den anwesenden Polizisten nur ein müdes Lächeln kassiert. Als Ewen und Paul wieder auf der Straße standen sahen sie sich die Umgebung genauer an. Ewen konnte vereinzelte größere Anwesen sehen, die von wohlhabenden Leuten bewohnt schienen. Das Haus von diesem Maler, das der Polizist Marson erwähnt hatte, gehörte sicherlich zu den teuersten. Ewen schätzte, dass sich der Preis des Anwesens jenseits der Million Euro bewegte. Das Haus musste einen fantastischen Blick über den Aven und das Meer haben.

Aber jetzt war nicht die Zeit für Gedanken an Immobilien. Sie hatten einen Mord aufzuklären. An ihrem Fahrzeug zogen sie die Stiefel aus, schlüpften wieder in ihre Straßenschuhe, stiegen in den Citroën C5 und machten sich auf den Weg nach Quimper.

Auch wenn Ewen kein ganz so fanatischer Bretone war, so fuhr er doch ein «bretonisches» Auto. Der Citroën C5 wurde schließlich in der Hauptstadt der Bretagne gebaut. In Rennes befand sich seit 1961 das große Werk. Charles de Gaulle hatte es seinerzeit noch eingeweiht. Seit dieser Zeit werden die großen Fahrzeuge von Citroën hier gebaut. Auch wenn die Marke zuvor hauptsächlich rund um Paris ihre Produktion hatte, so betrachten die Bretonen dennoch die Fahrzeuge als bretonisch.

Die Fahrt nach Quimper dauerte nicht sehr lange. Über die voie express waren sie in knapp vierzig Minuten in Quimper. Gerade als sie aus dem Wagen ausstiegen, klingelte sein Handy. Ewen blieb stehen und holte es aus dem Jackett. Paul deutete nur an, dass er bereits nach oben ins Büro gehe.

„Kerber.“ meldete er sich.

„Carla hier, Ewen ich wollte nur wissen, ob wir später noch in die Crêperie du Frugy gehen können und dort zu Abend essen. Ich bin ziemlich eingespannt bei der Bank und komme nicht sehr früh nach Hause.“

Ewen hatte Carla vor wenigen Monaten geheiratet. Sie hatten sich einige Monate vor seinem letzten großen Fall kennengelernt. Ihr Mann war verstorben. Ihre Tochter war vor einigen Jahren vergewaltigt worden. Diese Vergewaltiger waren damals, einer nach dem anderen ermordet worden. Aber Carla und ihre Tochter hatten, Gott sei Dank nichts damit zu tun gehabt.

„Klar, Carla, ich freue mich sogar darauf.“

„Sagen wir, so gegen 19 Uhr?“

„Ist mir recht, ich komme dann direkt vom Kommissariat aus ins Restaurant.“

Die kleine Crêperie war von außen nicht sehr einladend. Aber war man erst einmal in Innern, dann befand man sich in einer schönen bretonischen Crêperie und wurde ausgezeichnet bedient. Carla war der Meinung, dass sie zu den besten Crêperien in Quimper gehörte.

Ewen legte auf und ging in sein Büro. Er hatte noch nichts von den beiden Polizisten gehört, die die Bewohner von dem Lieu dit Coat Melen befragen sollten. Er überlegte kurz, ob er sich über diesen Maler informieren sollte, verschob es aber auf einen späteren Zeitpunkt. Der Mann war sicherlich nicht so wichtig im Augenblick.

Kapitel 4

Corentin Murat stand in seinem Atelier als es an der Haustür klingelte. Er legte seinen Pinsel und seine Palette ab und ging zur vorderen Tür. Geld für eine Haushälterin hätte er, die würde ihm solche Arbeiten, wie das Öffnen der Tür abnehmen. Aber er konnte zurzeit niemanden in seinem Haus gebrauchen. Es wäre einfach zu gefährlich. Murat öffnete und sah zwei Polizisten vor der Tür stehen.

„Sie wünschen?“ fragte er beinahe schon etwas unhöflich und mürrisch.

„Monsieur Murat, mein Name ist Marson und das ist mein Kollege Ylian, wir sind von der Gendarmerie in Pont Aven. Heute Morgen wurde eine Leiche direkt unterhalb der Straße, am Ufer des Aven gefunden. Wir müssen in diesem Zusammenhang alle Bewohner des Coat Melen fragen, ob Sie etwas gesehen haben oder ob Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist in den letzten Tagen? Vor allem interessieren wir uns für fremde Fahrzeuge, die sich hier aufgehalten haben könnten.“

„Mir ist nichts aufgefallen, schon gar kein Fahrzeug. Hier kommen so gut wie nie Autos vorbei. Es gibt nur sehr wenige Anwohner hier und wir kennen uns alle. Ein Fremder würde sofort auffallen. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, vielleicht kann mein Nachbar Ihnen etwas sagen. Ich war in den letzten Tagen nur in meinem Atelier und habe gemalt und mich nicht mit der Straße beschäftigt.“

„Haben Sie vielleicht diesen Mann schon einmal gesehen?“ Marson zeigte ihm das Bild auf seinem Handy.

„Nein, kenne ich nicht. War das alles?“

Marson nickte und wollte noch etwas erwidern. Aber Corentin Murat hatte bereits die Tür geschlossen. Marson sah seinen Kollegen an.

„Der ist die Höflichkeit in Person, nicht wahr?“ Ylian stimmte ihm zu und sie gingen zum nächsten Haus.

An der Klingel des Gartentores stand der Name André Germay. Marson sah Ylian an.

„Sag mal, ist das der Germay aus Concarneau? Du weißt schon, der der diese große Konservenfabrik betreibt.“

„Keine Ahnung Marc, der Typ hat aber bestimmt genug Geld, um sich so ein Anwesen zu leisten.“ Claude Ylian zeigte dabei auf das riesige Terrain, das sie hinter dem Tor sahen. Das Haus lag ungefähr dreihundert Meter vom Tor entfernt. Ein Kiesweg führte in einem leicht geschwungenen Bogen zum Haus. Links und rechts des Weges waren herrliche Rhododendren gepflanzt und dazwischen immer wieder große Hortensien. Dahinter, in zweiter Reihe standen schöne Birken und bildeten eine Baumallee.

Marson hatte geklingelt und die beiden Gendarmen warteten auf eine Antwort. Oberhalb der Klingel befand sich eine Kamera und die Hausbewohner konnten die beiden vor dem Tor sicherlich gut sehen. Eine Stimme ertönte aus dem Lautsprecher.

„Sie wünschen?“ Es war die Stimme einer Frau.

„Marc Marson und Claude Ylian, Madame wir sind von der Gendarmerie in Pont Aven und müssten mit Monsieur Germay sprechen.“

„Einen Augenblick bitte.“Marson vernahm, wie die Sprechanlage abgestellt wurde. Dann dauerte es einige Minuten, bis sich die Frau wieder meldete.

„Kommen Sie bitte zum Haus, meine Herren. Monsieur Germay erwartet sie.“

Der Summer an dem Gartentor zeigte an, dass sich das Tor jetzt öffnen ließ. Die beiden Gendarmen traten in den Garten und gingen den Kiesweg hinauf zum Haus, das leicht erhöht lag. Schon bevor sie die Haustür erreichten, wurde sie von einer jungen Frau geöffnet.

„Ich bin die Haushälterin, meine Herren, Herr Germay erwartet Sie im Salon. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

André Germay erhob sich aus einem schweren Ledersessel als die beiden Polizisten in den Salon traten.

„Wie kann ich der Polizei helfen? Bitte nehmen Sie doch Platz meine Herren.“ Germay zeigte auf zwei Sessel, die seinem gegenüberstanden.

Marson und Ylian sahen sich im Zimmer um. Die Holztäfelung an den Wänden und die maßgeschneiderten Bücherwände deuteten darauf hin, dass sie sich in der Bibliothek des Besitzers befanden. Die Wände waren mit unzähligen Büchern gefüllt. Marson fielen die zahlreichen alten Bücher auf, die in Leder gebunden und mit einem Golddruck versehen waren.

Die beiden großen Fenster mit den typischen Karos alter englischer Landhäuser, die aber auch in der Bretagne zu finden waren, verliehen dem Raum etwas sehr Gemütliches. Dennoch fehlte es an Helligkeit. Die Fenster waren nach Norden ausgerichtet und das Holz an den Wänden war dunkles Mahagoni. Auf kleinen runden englischen Tischchen standen Lampen, die auch jetzt am helllichten Tag brannten. Auf einem ebenfalls im englischen Stil gehalten Beistelltisch, neben dem Ledersessel von Germay lag ein offenes Buch, das er wohl gerade gelesen hatte, bevor die beiden Polizisten den Raum betraten.

Marson und Ylian nahmen Platz. Dann begann Marson das Gespräch. Er war es schon gewohnt die Fragen zu stellen. Sein jüngerer Kollege war eher zurückhaltend und überließ das Fragen ihm, warum wusste er nicht so genau. Er machte sein höheres Alter dafür verantwortlich.

„Monsieur Germay, wir haben heute Morgen eine Leiche am Ufer des Aven gefunden und befragen nun alle Anwohner, ob sie vielleicht etwas gesehen haben, ob ihnen etwas aufgefallen ist, ob sich fremde Fahrzeuge hier befanden und so weiter. Können Sie uns mitteilen, ob Ihnen etwas aufgefallen ist.“

„Nun meine Herren, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Nur, gestern am späteren Abend war mir ein Renault Megan aufgefallen, als ich mit dem Hund die Straße hinunter ging. Das Fahrzeug war aus dem Finistère, was man unschwer an der Nummer 29 sehen konnte. Ich habe aber nur einen kurzen Blick auf den Fahrer werfen können.“

Marson stand auf und ging mit seinem Handy zu Monsieur Germay.

„War dies vielleicht der Fahrer?“ Er zeigte ihm das Bild des Toten.

Germay sah sich das Bild sehr genau an und überlegte.

„Das könnte er gewesen sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher.“ antwortete Monsieur Germay.

„Haben Sie vielleicht gesehen, wohin der Mann fuhr?“

„Oh ja, das habe ich genau gesehen. Er hat den Wagen etwas weiter unten am Straßenrand abgestellt und war ausgestiegen. Danach konnte ich sehen, wie er den Hang hinunter zu den Grotten ging. Ich dachte mir noch, was er wohl dort will. Die Grotten sind praktisch nicht zugänglich, da das Wasser bei Flut die Grotten völlig ausfüllt, sind diese dann sehr gefährlich. Das war aber das Letzte, was ich von dem Mann gesehen habe. Aber wie schon gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob es sich um denselben Mann handelt.“

„Haben Sie ihn danach nicht doch noch einmal gesehen?“

„Nein, als ich zurückkam von meinem Spaziergang mit dem Hund, da stand das Auto immer noch genau an derselben Stelle. Den Fahrer habe ich aber nicht mehr gesehen. Ich ging davon aus, dass er wohl auch einen längeren Spaziergang am Aven machen würde. Am nächsten Tag war sein Auto fort. Ich nahm an, dass er nach seinem Spaziergang weggefahren war.“

„Vielen Dank, Monsieur Germay, Sie haben uns sehr geholfen. Wir werden dieser Spur weiter nachgehen.

Sie haben ein wunderschönes Haus und eine herrliche Bibliothek. Das muss ich Ihnen einfach sagen.“

„Gefällt sie Ihnen? Ich fühle mich in diesem Raum am wohlsten. Er ist zwar etwas dunkel und ich glaube, er würde mich depressiv machen, wenn das ganze Haus so eingerichtet wäre. aus so wäre,

Aber da habe ich Glück, nach Süden hin ist es sehr hell und ich habe eine wunderbare Sicht auf den Aven und das Meer.“

Die beiden Polizisten erhoben sich, dankten für die Auskünfte, verabschiedeten sich und gingen zur Tür. Monsieur Germay rief seine Haushälterin und bat sie, die beiden Herren zur Haustüre zu begleiten. Marson wollte schon sagen, dass es nicht nötig sei, verkniff es sich aber im letzten Moment. Er überlegte, dass er auch die Haushälterin nach dem Toten fragen könnte. Als er ihr das Bild zeigte, schüttelte sie nur den Kopf.

„Nein, den habe ich noch nie gesehen.“ antwortete sie Marson und öffnete ihnen die Haustür.

Marson und Ylian machten sich wieder auf den Weg. Es gab hier noch etwa zehn weitere Häuser in der näheren Umgebung. Deren Bewohner mussten auch noch alle befragt werden.

„Könntest du dir vorstellen, in so einem Haus zu wohnen?“ fragte Marson seinen Kollegen.

„Neee, dafür reicht mein Polizistengehalt nicht.“ Ylian sah Marson grinsend an.

„Wenn du das Geld hättest, würdest du dann so wohnen wollen?“

„Das will ich wohl meinen, das Haus ist ja schon beinahe ein Schloss. Wer eine Haushälterin hat, der hat auch einen Gärtner. Dann bliebe für mich ja nichts zu arbeiten übrig. Ich könnte mich den ganzen Tag auf die Terrasse legen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Vielleicht würde das aber auch langweilig werden mit der Zeit.“

Die beiden beendeten ihr Gespräch und klingelten an der nächsten Gartenpforte.

Kapitel 5

Es war bereits kurz vor 18 Uhr als im Büro von Ewen Kerber das Telefon klingelte und Robert Nourilly, der Officiers de Police Judiciaire, oder wie man kurz zu sagen pflegte der OPJ, am Apparat war.

„Monsieur Kerber, könnten Sie in mein Büro kommen, ich benötige Ihre Hilfe.“

„Ich komme sofort!“ antwortete ihm Kerber, legte den Hörer ab und stand auf. Monsieur Nourilly meldete sich äußerst selten bei ihm und um Hilfe hatte er noch nie gebeten. Er erkundigte sich schon einmal nach einem aktuellen Fall, wenn er vor einer Pressekonferenz stand oder zu einer erfolgreichen Verhaftung gratulierte. Ewen ging in die oberste Etage zum Büro von Nourilly. Er musste durch das Vorzimmer gehen, vorbei an der hübschen Sekretärin, Nolwenn Meunier. Als Ewen eintrat lächelte sie ihm zu und zeigte sofort auf die bereits offenstehende Tür zum Büro von Nourilly.

„Monsieur Kerber, treten Sie ein!“ begrüßte ihn der OPJ. Als Kerber die Tür hinter sich schloss, bemerkte er, dass sie nicht alleine waren. An dem großen Besprechungstisch, rechts neben der Tür, saß ein Mann mit elegantem Anzug, den Kerber noch nie gesehen hatte.

Nourilly ging auf Kerber zu, gab ihm die Hand und bat ihn an den Besprechungstisch. Ohne Umschweife kam er zur Sache.

„Monsieur Kerber, ich darf Ihnen zuerst Monsieur Claude Crayont vorstellen. Monsieur Crayont arbeitet für die Regierung und ist extra aus Paris hierhergekommen, weil eine Spur in einem extrem wichtigen Fall nach Concarneau führt. Aber, am besten Sie tragen es selbst vor, Monsieur Crayont.“ Nourilly wandte sich Crayont zu.

„Guten Tag, Monsieur Kerber, ich habe gehört, dass Sie der beste Commissaire in Quimper sind, und wir brauchen für diesen Fall den Besten!“

Immer wenn ein Gespräch mit einer solchen Schmeichelei begann, war Ewen Kerber auf der Hut. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich damit Ködern ließen und ihre angeborene Skepsis aufgaben.

„Ich muss etwas weiter ausholen, erlauben Sie mir, dass ich Ihnen kurz einen Überblick über die Anfänge des Falles gebe.

Vor ungefähr drei Monaten wurde unsere Botschaft in Peking von einem hochrangigen Vertreter der chinesischen Geheimpolizei aufgesucht, der uns über einen Fund in einem Container aus Frankreich informierte. Man hatte bei der Überprüfung eines Containers ein Paket gefunden, das in einer wasserundurchlässigen Verpackung eingewickelt war. Das Paket enthielt Falschgeld im Wert von ungefähr 50.000.000 Euro. Die Scheine, es handelte sich um Geldnoten von 200 und 100 €, waren von einer exzellenten Qualität und nur bei sehr genauer Prüfung als Fälschungen zu erkennen. Sie können sich vorstellen, dass man natürlich alles versuchte um die Quelle zu finden und die Fälscher zu verhaften. Der Fund in dem Container führte die Chinesen auf eine erste Spur nach Frankreich.

Doch zurück zu dem Paket. Der Inhalt wurde sowohl von der chinesischen als auch von der französischen Polizei sehr sorgfältig untersucht. Es wurden keinerlei Fingerabdrücke gefunden, weder an der Verpackung noch an den Geldscheinen. Das einzige, was die Chinesen finden konnten war eine blaue Faser. Genauere Untersuchungen führten dazu, dass man diese Faser als Spezialfaser für Fischernetze identifizieren konnte. Weitere Untersuchungen und Recherchen zeigten dann, dass es von einem Fischernetz aus Concarneau stammen könnte. Diese Tatsache führt uns nun hierher und zu Ihnen.“

Kerber hatte während des Berichtes von Monsieur Crayont kein Wort gesagt, keine Zwischenfragen gestellt. Ihm war immer noch nicht klar, warum dieser Fall bei ihm landen sollte. Er war doch bei der Mordkommission und nicht bei der Abteilung für Falschgeldangelegenheiten. Er konnte aber in dem ganzen Bericht keine Verknüpfung finden, die zu einer Übertragung an die Mordkommission führte.

„Monsieur Crayont, wieso soll die Mordkommission den von Ihnen beschriebenen Fall verfolgen? Ich denke, dass die Kollegen, die sich mit Falschgeld beschäftigen mehr Erfahrung und ein größeres Fachwissen für den Fall mitbringen. Für Morde bin ich zuständig aber in diesem Fall scheine ich nicht der Richtige zu sein.“

Crayont sah Nourilly an und das Grinsen, das Kerber auf dem Gesicht von Crayont bemerkte schien seinem OPJ sagen zu wollen: „Das haben wir doch erwartet, nicht wahr.“ Aber anstatt einer Antwort, sagte Crayont nur, „Monsieur Nourilly, wollen Sie Monsieur Kerber aufklären?“

OPJ Nourilly nickte und wandte sich an Kerber.

„Monsieur le Commissaire, es gibt noch zwei Dinge, die Sie wissen müssen und die wir bisher nicht erwähnt haben. Zum einen wurde bei den Nachforschungen unseres Geheimdienstes ein Agent der Direction Générale de la Sécurité Extérieure ermordet und diesen Fall bearbeiten Sie gerade. Darüber hinaus sind Sie doch mit einem ehemaligen Commissaire der police judiciaire von Luxemburg befreundet. Der Mann ist zwar bereits pensioniert, aber er hat sich bereit erklärt für die luxemburgische police judiciaire als verdeckter Ermittler zu arbeiten.“

Kerber sah Nourilly verdutzt an.

„Der Mord von heute Morgen hat mit ihrem Falschgeldfall zu tun?“

„Ja, so ist es, der Tote ist unser Agent hier in Concarneau. Ich war gerade dabei mit Monsieur Nourilly über den Fall zu sprechen, als uns die Nachricht erreichte, dass der Tote, den man am Aven gefunden hatte unser Mitarbeiter war. Wir waren seit gestern Abend beunruhigt gewesen, weil er sich nicht wie verabredet gemeldet hat. Jeden Abend informierte er uns über den aktuellen Stand seiner Nachforschungen. Er hat uns auch nicht gesagt, was oder wen er beobachten, überprüfen oder beschatten wollte. Seit unserem letzten Gespräch, vom Abend davor haben wir keinerlei Informationen über seine nächsten Aktionen mehr erhalten. Sie sollten diese Information aber so schnell wie möglich wieder vergessen.“

Crayont machte eine kurze Pause. Doch bevor er fortfahren konnte, stellte Kerber die Frage nach seinem Freund aus Luxemburg.

„Was hat mein Freund Medernach hier als verdeckter Ermittler zu suchen? Wieso ist Luxemburg in diesen Fall verwickelt?“

„Eine berechtigte Frage, Monsieur Kerber. Ich will es Ihnen gerne erklären. Allerdings sind diese Informationen absolut geheim und sie dürfen diesen Raum niemals verlassen. Sie dürfen diese Informationen nicht einmal im entferntesten Urwald leise aussprechen, wenn Sie verstehen, was ich meine?“

„Mir ist sehr wohl bekannt was geheim bedeutet, Monsieur Crayont und ich habe auch keine Absicht in den Urwald zu fahren!“ Kerber war verärgert über die Ausdrucksweise von diesem Crayont und wollte das mit seiner Bemerkung zum Ausdruck bringen.

Crayont tat so, als habe er die Bemerkung von Kerber überhört.

„Sie haben sicherlich vom EFSF und von dem Nachfolger ESM gehört.“

„Ja natürlich. Man kann diese Begriffe nicht übersehen, so oft stehen sie in den Zeitungen, wegen der Krise mit Griechenland, Spanien, Portugal und so weiter.“

„Nun, der ESM, die Brandschutzmauer der Euro-Länder wird mit einem Betrag von 800 Milliarden Euro ausgestattet. Eine riesige Summe, die aber vielleicht dennoch zu gering sein könnte, wenn große Länder wie Spanien oder Italien Probleme bekämen. Daher war man bemüht, China in die Finanzierung mit einzubeziehen. Der Leiter des ESM war persönlich nach China gereist, um mit der dortigen Führung zu sprechen. Sicherlich wissen Sie auch, dass diese Gespräche von den Chinesen, sagen wir mal, eher zurückhaltend geführt wurden. Es gab jedenfalls keine Zusage für den Erwerb von Schuldscheinen des ESM.

Dem luxemburgischen Premier und Vorsitzenden der Eurogruppe war es in mehreren Geheimgesprächen gelungen, die Chinesen zu einer Beteiligung an der Finanzierung des Fonds zu bewegen. Dies darf auf keinen Fall bekannt werden, um Spekulanten abzuhalten ihre Geschäfte zu verstärken. Die Chinesen haben unter anderem, eine Bedingung mit der Zusage verknüpft, nämlich die, dass die chinesische Botschaft in Luxemburg ständig informiert, wird über den Fortgang der Ermittlungen bei der Falschgeldaffäre und zwar aus erster Hand. Daraufhin hat man den pensionierten Kommissar Medernach, der wohl ein hohes Ansehen bei der luxemburgischen Polizei besitzt als Ermittler und Vermittler gewählt. Er soll in Frankreich, in Zusammenarbeit mit unserer police judiciaire verdeckt ermitteln und gleichzeitig die Chinesen auf dem Laufenden halten.“

Kerber hatte verstanden. Medernach sollte die Chinesen auf dem Laufenden halten, die Fälscherwerkstatt ausheben und er, Kerber, würde den Mord des Geheimdienstmannes untersuchen und als Kontaktperson zwischen Medernach und dem Geheimdienst fungieren. Die Vorstellung, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten gefiel ihm überhaupt nicht. Da er seinen alten Freund und Kollegen Medernach aber gut kannte und wusste, dass dieser sich hierbei nicht aufspielen würde, konnte er dem Vorhaben ruhig zustimmen. Er würde sich um die Aufklärung des Mordes kümmern, Medernach konnte getrost nach der Fälscherwerkstatt suchen. Er hatte Medernach schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

„Einverstanden, ich werde mit Henri Medernach zusammenarbeiten. Aber nur unter der Prämisse, dass wir uns regelmäßig austauschen können. Auch wenn er verdeckt ermitteln soll.“

„Das ist aus unserer Sicht auch zwingend notwendig.“ meinte Crayont. „Sie werden schon morgen Abend ihren Freund in Melgven begrüßen können. Sie werden sich nie mit ihm in seinem Hotel in Concarneau oder an irgendeinem anderen öffentlichen Ort treffen. Die Gefahr, dass seine Maskerade auffliegen könnte, wäre zu groß. Daher haben wir für die Kontakte zwischen Ihnen und Monsieur Medernach ein Haus gemietet. Er wird als Tourist in dem Hotel «Les Sables Blancs» wohnen. Alle ihre Treffen finden aber in einem Haus, in dem Lieu dit Kermanchec bei Melgven statt. Dort ist sichergestellt, dass man ihn und seine Besucher nicht beobachten kann.“

„Ich habe noch eine Frage, Monsieur Crayont. Ich arbeite seit vielen Jahren sehr vertrauensvoll mit meinem Kollegen Paul Chevrier zusammen. Ich gehe davon aus, dass ich ihn bis zu einem gewissen Grad in den Fall und seine Hintergründe einweihen darf? Alles andere würde die Zusammenarbeit nur erschweren.“

Crayont schien angestrengt nachzudenken. Dann blickte er zu Ewen Kerber auf und meinte:

„Lassen Sie aber den Zusammenhang mit dem ESM beiseite. Ansonsten ist es in Ordnung, wenn Sie ihren Kollegen über die Zusammenarbeit mit Medernach und der Identität von Charles Morgat informieren. Aber bitte informieren Sie auch ihren Kollegen darüber, dass er Verschwiegenheit gegenüber Dritten bewahrt.“

Kerber nickte und fand dieses ganze Geheimdienst-getue für überzogen. Damit war das Gespräch beendet. Kerber erhob sich und verließ das Büro von Nourilly und machte sich auf den Weg zur Crêperie du Frugy. Er musste in die Rue Ste Therese fahren. Das kleine, von außen eher unscheinbare Restaurant war bekannt für seine exzellenten Crêpes und seine angenehme Atmosphäre. Das Restaurant lag hinter der Präfektur des Departements du Finistère, daher waren dort auch häufig die Beamten der Präfektur anzutreffen.

Sein Gespräch mit den beiden Herren hatte doch länger gedauert als er angenommen hatte, so dass Carla bereits im Restaurant weilte als er eintraf. Von der Filiale der BNP Parisbas, bei der Carla arbeitete waren es circa zweihundert Meter bis zur Crêperie.

„Ich freue mich, dich zu sehen!“ sagte Carla als Kerber an den Tisch trat. „Ich dachte schon, ich müsste alleine meine Crêpes essen.“

„Ich hatte noch eine Besprechung mit Nourilly. Du weißt ja, wenn er ruft, dann ist es immer dringend.“

„Und, war es dringend?“ Carla sah Ewen fragend an.

„Nicht wirklich.“ sagte Kerber und wechselte das Thema. Er nahm die Speisekarte zur Hand und überlegte, welche Crêpes er wohl heute essen wollte.

Kapitel 6

Corentin Murat stand immer noch in seinem Atelier und malte wie ein Besessener. Die bereits fertiggestellten Bilder standen an der Mauer hinter seiner Staffelei und waren mit vergleichsweise wenig Farbe bedeckt. Rote breite Pinselstriche führten quer über die Leinwand. Die davon abgehobenen grünen Farbflecke schienen verloren auf der Fläche.

Corentin hatte, seitdem die beiden Polizisten ihn bei der Arbeit gestört hatten immerhin sieben neue Kunstwerke geschaffen. Sein Pensum war allerdings noch nicht erreicht. Es mussten noch sechs weitere fertig werden bis zum Abend. Für die nächste Lieferung nach Peking brauchte seine Galerie in Paris 50 Bilder. Dafür würde er immerhin ungefähr fünf Millionen erhalten. Als er vor zwei Jahren mit dem Malen begonnen hatte, fand er eine Galerie in Paris für eine erste Veröffentlichung. Er wusste bereits, dass alle seine Bilder verkauft würden, aber die Galerie ahnte davon nichts. Er leistete eine Menge Überzeugungsarbeit, um den Galeristen dazu zu bewegen seine Bilder auszustellen. Erst als Corentin garantierte, 30.000 € zu bezahlen, wenn die Galerie nicht auf ihre Kosten käme, sagte der Galerist zu. Corentin Murat stellte dann seine Bilder dort aus und bereits bei der Vernissage kaufte ein Chinese alle Bilder, obwohl die Preise bei etwa 10.000 € pro Gemälde lagen. Danach ging es Schlag auf Schlag. Die Galerie bekam einen Vertrag mit einem chinesischen Händler und der kaufte alle Bilder von Corentin auf. Als der Galerist ihm andere Künstler vorstellen wollte, die auch auf dem chinesischen Markt Erfolg haben könnten, lehnte er kategorisch ab. Es mussten die Bilder von Murat sein, was anderes kam nicht in Frage. Der Galerist konnte sich den Erfolg von Corentin Murat nicht erklären. Er verstand genug von Kunst, um beurteilen zu können, dass die Bilder von diesem Autodidakten nicht gerade umwerfend waren, aber sie kamen scheinbar sehr gut an bei den chinesischen Käufern. Diese waren bereit, schon nach wenigen Wochen das Doppelte, das Dreifache und jetzt bereits das Zehnfache der ursprünglichen Preise zu bezahlen. Wenn es so weiterginge, dann würde dieser Corentin mit seinen Preisen an die alten Meister herankommen, für die man bekanntlich Millionen auf den Tisch legen musste.

Corentin Murat sah auf seine Uhr. Es war inzwischen kurz nach 15 Uhr. Er hatte noch einige Stunden Zeit, die Lieferung für den Abend fertigzustellen.

Nachdem er sich aus der Küche Wasser und ein Stück Baguette geholt hatte fuhr er mit seiner Arbeit fort. Gedanklich war er allerdings bei seiner Schwester, die in Mexiko lebte und die er schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Früher fehlten ihm die Mittel, um sie zu besuchen, jetzt fehlte ihm die Zeit. Sobald er aber die Vereinbarungen mit den Chinesen beendet haben würde, wollte er nach Mexiko reisen.