Blüten sammeln unter Feuer - Alice Walker - E-Book

Blüten sammeln unter Feuer E-Book

Alice Walker

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Beschreibung

»Diese Tagebücher sind eine Offenbarung, ein Wegweiser und ein Geschenk für uns alle.« Tayari Jones

Von ihrer armutsgeprägten Kindheit im ländlichen Georgia bis hin zu ihrem Aufstieg zu einer feministischen Vordenkerin blieb die gefeierte Dichterin und Schriftstellerin Alice Walker eine gewissenhafte Aufzeichnerin. Ihr weit verzweigtes Leben hat sie über einen Zeitraum von rund 50 Jahren in mehr als 65 Tagebüchern und Notizbüchern festgehalten. Blüten sammeln unter Feuer zeichnet ihre Entwicklung als Künstlerin, Menschenrechtsaktivistin und Intellektuelle nach, erzählt von beeindruckenden Momenten afroamerikanischer Geschichte. Das Persönliche verwebt sich in dieser Chronik eines beeindruckenden Lebens auf so vielschichte wie aufschlussreiche Weise mit dem Politischen.

Die Tagebücher öffnen uns die intimen Gedanken und Gefühle einer beeindruckenden Schriftstellerin – als Frau, Afroamerikanerin, Ehefrau, Liebhaberin, Schwester, Tochter, Mutter und Weltbürgerin.

Mit zahlreichen Bildern und aktuellem Postskriptum von Alice Walker.

»Die Lektüre von Walkers Tagebüchern – Jahrzehnte von ungefilterten Gedanken, die uns eine komplexe Person offenbaren, sie uns mit all ihren Sorgen, Triumphen, Fehlern und ihrer Schönheit zeigen – fühlt sich an wie ein Augenblick der Heilung.«Honorée Fanonne Jeffers (Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois)

»Alice Alker schreibt auf wunderbare Weise über die Abweisung und die Anziehung von Intimität. Man muss ihren Idealismus bewundern, ihre Gabe als Schriftstellerin und ihren unersättlichen Hunger auf das Leben.« Daily Telegraph

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 919

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelGathering Blossoms Under Fire: The Journals of Alice Walker 1965–2000 bei Simon & Schuster, New York.

www.eccoverlag.de

Deutsche Erstausgabe

GATHERING BLOSSOMS UNDER FIRE: The Journals of Alice Walker 1965–2000. By Alice Walker. Edited by Valerie Boyd.

Copyright © 2022 by Alice Walker.

Introduction Copyright © 2022 by Valerie Boyd.

By arrangement with the author. All rights reserved.

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

Ecco Verlag in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung: © Alice Walker

Autorinnenfoto von Scott Campbell

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783753000992

Widmung

Für Belvie, Joan und Sue,

meine menschlichen Engel,

und für meinen Bruder Curtis,

der ein Kind war.

Alice Walker

Solange Liebe außer Mode ist

SOLANGE LIEBE AUSSER MODE IST

Solange Liebe außer Mode ist

lass uns unmodern

leben.

Die Welt als

einen vielschichtigen Ball

in kleinen Händen

betrachten;

unsere schwärzeste Kleidung lieben.

Lass uns arm sein

an allem außer Wahrheit, und Mut

empfangen von

den alten Geistern.

Lass uns vertraut sein mit

den Geistern der Ahnen

und der Musik

der Untoten.

Solange Liebe gefährlich ist

lass uns barhäuptig am

Großen Fluss entlanggehen.

Lass uns Blüten sammeln

unter Feuer.

– Alice Walker1

Vorwort

VORWORT

von Valerie Boyd

»Ich staune über mich selbst. Ich bin wieder in der Aufwärmphase fürs Schreiben«, schrieb die Vierundzwanzigjährige in ihr Tagebuch. Das Datum war der 18. Juni 1968, der Ort Jackson, Mississippi. »In gewisser Weise ist es doch erstaunlich, dass man nach Stift und Papier dürsten kann, beides so nötig haben kann wie Wasser.«

Die junge Frau war Alice Walker. Und durch ihr außergewöhnliches Talent – im Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten, Gedichten und Essays – sollte sie eine der berühmtesten Autorinnen der jüngeren Zeit werden.

Auf ihrem unglaublichen Weg von der armen Pachtfarmerstochter im ländlichen Georgia zur Kulturikone führte Alice Walker gewissenhaft Tagebuch und dokumentierte so ihr breit gefächertes, komplexes Leben in über fünfundsechzig Notizbüchern, die einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren abdecken. Im Jahr 2007 übergab sie diese Tagebücher – sowie Hunderte anderer Dokumente und Unterlagen aus ihrem persönlichen Archiv – der Stuart A. Rose Manuscript, Archives, and Rare Book Library der Emory University in Atlanta. Die Tagebücher sowie bestimmte Geschäfts- und Finanzunterlagen sind bis 2040 für neugierige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Journalistinnen und Journalisten und Fans gesperrt.

Jetzt jedoch hat Alice Walker beschlossen, einen Band mit ausgewählten Tagebucheinträgen zu veröffentlichen. In Blüten sammeln unter Feuer liefert sie eine leidenschaftliche, intime Chronik ihrer Entwicklung als Künstlerin, Menschenrechtsaktivistin und Intellektuelle. Und sie erkundet zugleich auf intime Weise – in Echtzeit – ihr Denken und Fühlen als Frau, Schriftstellerin, Afroamerikanerin, Ehefrau, Tochter, Mutter, Liebende, Schwester, Freundin und Weltbürgerin. Die Tagebucheinträge führen durch eine erstaunliche Reihe von Geschehnissen: Protestmärsche in Mississippi mit anderen Fußsoldatinnen und -soldaten der Bürgerrechtsbewegung, angeführt von Martin Luther King jr. oder, wie sie ihn nannte, »dem King«; ihre Eheschließung mit einem jüdischen Anwalt, auch um den Gesetzen zu trotzen, die in den Südstaaten der 1960er-Jahre »gemischtrassige« Ehen untersagten; eine frühe Fehlgeburt; die Geburt ihrer Tochter; das Schreiben ihres ersten Romans; die Kämpfe und Siege der Frauenbewegung; erotische Begegnungen und längere Beziehungen; die Besuche der Vorfahren, aus denen Die Farbe Lila hervorging, das Buch, für das sie den Pulitzer-Preis erhielt; die Bewunderung und die Schmähungen, die ihr, manchmal zu gleichen Teilen, für ihre schriftstellerische Arbeit und ihren Aktivismus zuteilwurden; den Tod ihrer Mutter und das schwierige Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter. Das Persönliche, das Politische und das Spirituelle überlagern und verflechten sich in dem aufschlussreichen Narrativ, das sich aus Alice Walkers Tagebüchern ergibt.

Blüten sammeln unter Feuer ist nach Jahrzehnten unterteilt und reicht von den 1960er-Jahren bis in die Anfangszeit des 21. Jahrhunderts. Es zeigt den Weg einer Frau, sie selbst zu werden. Viele Leserinnen – und Lesende jeden Geschlechts – werden auf diesen Seiten etwas von sich wiederfinden, denn Walker hält so ziemlich alle wichtigen Lebensereignisse fest. In ihrem Fall: Heirat und Scheidung, Mutterschaft, die Entwicklung zur Romanschriftstellerin, den Weg zu finanzieller Sicherheit, die Entwicklung und das Ende von Freundschaften und Liebesbeziehungen und schließlich ihr Verhältnis zu Gott – oder dem »Großen Geist«, wie sie das Göttliche nennt, das sie in sich selbst und in der Natur findet.

Als Herausgeberin dieses Bands habe ich Alice Walkers Schreibung von Wörtern und Namen, ihre Interpunktion und ihre Datierungsmethode trotz gelegentlicher Inkonsistenz beibehalten, um die Tagebucheinträge originalgetreu wiederzugeben. Ich habe außerdem versucht, so unauffällig wie möglich zu bleiben, eine unsichtbare Freundin, die nur ab und zu flüsternd eine wichtige Information, Erklärung oder Erinnerung beisteuert: Hey, diesen Herrn kennen Sie schon, der war Alice’ Boyfriend auf der Highschool. Ah ja, dieser Film kam1976heraus und erhielt viel Kritikerlob. Oh, Sie wissen schon, Langston Hughes, der legendäre Poet der Harlem Renaissance. Und, ja, die Person, die hier um einen Gefallen bittet, ist eben jene, die sich vor fünfzig Seiten so schofel verhalten hat. Diese kontextbezogenen Anmerkungen stehen im Dienst des Gesamtnarrativs, sie sollen es auf dezente Weise erleichtern, der Geschichte zu folgen.

Walker benutzte für ihre Tagebucheinträge oft mehrere Notizbücher gleichzeitig, und so entstanden parallele Versionen derselben Geschehnisse, eine Version etwa sehr detailliert, eine andere eine kursorische Zusammenfassung. Manchmal griff sie auch nach Jahren auf ein halb volles Notizbuch zurück, nahm einen Gedankenfaden wieder auf und führte ihn von da aus weiter. Aus Gründen der Klarheit und leichteren Lesbarkeit habe ich in diesem Band die Tagebucheinträge chronologisch zusammengestellt, ungeachtet des Notizbuchs, in dem sie sich jeweils befanden.

Blüten sammeln unter Feuer ist ein Arbeitsbuch für Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten und Intellektuelle. Es ist ein Lehrbuch für Menschen jeden Alters, die ein freies Leben führen wollen. Es ist eine zutiefst persönliche Reise und zugleich eine sehr persönliche Geschichte unserer Zeit. Und für uns alle, deren Leben Alice Walkers Werke im Lauf der letzten fünf Jahrzehnte berührt – und oft verändert – haben, ist dieses Buch ein Geschenk.

Tatsächlich war der Ausgangspunkt der hier vorliegenden, so viel Leben umspannenden Seiten ein Geschenk. Den Deckel des braunen Kunstledertagebuchs zierte eine goldene Bordüre, und die Aufschrift in Goldfolienprägung verkündete seinen Zweck: MEINE REISE, lautete sie.

Alice Walker war dankbar für das Reisetagebuch, das ihr ihre Freundin Cecile Ganpatsingh, eine Mitstudentin aus Britisch-Guyana, überreichte. Alice hatte gerade ihr erstes Studienjahr am Spelman College in Atlanta beendet, wohin sie 1961 aus ihrer kleinen, segregierten Heimatstadt Eatonton, Georgia, gekommen war. Mitgebracht hatte sie »drei magische Gaben« ihrer Mutter: einen Koffer, eine Nähmaschine und eine Schreibmaschine. Am Spelman waren Alice und Cecile Aktivistinnen geworden, hatten mit einigen Mitstudentinnen – und den Geschichtsprofessoren Howard Zinn und Staughton Lynd – an Demonstrationen und Mahnwachen für Frieden und Bürgerrechte teilgenommen. Jetzt war Alice auf dem Weg zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Finnland.

Mit ihren achtzehn Jahren hatte Alice den Bundesstaat Georgia erst einmal verlassen – für einen Weihnachtsbesuch bei einer Tante und einem Onkel in Cleveland, Ohio. Für jene Reise hatte sie einen Greyhoundbus genommen. Diesmal – mit Stationen in Helsinki, Glasgow, Amsterdam und Hamburg – würde sie zum ersten Mal ein Flugzeug besteigen. Zur Feier dieses Anlasses wollte Cecile ihrer Freundin etwas schenken. Auf den Innendeckel des Tagebuchs schrieb sie das Datum – Juli 1962 – und die Worte:

Für dich, liebe Alice,

mit dem Wunsch, dass deine Reise unvergesslich sein möge.

Herzlich,

Cecile Ganpatsingh

Als Alice Walker Ende August von ihrer Reise zurückkehrte, war das Tagebuch ziemlich zerfleddert. Sie schrieb fast täglich hinein, kommentierte alles, was ihr begegnete, mit Begeisterung und Staunen – die hübschen, charmanten Kellner, die freundlich neugierigen Blicke von Fremden, die Idee des Kommunismus. In einem Eintrag hielt sie fest, wie ihr üblicher Tagesablauf auf dieser lebensverändernden Reise aussah:

EINTYPISCHERTAG:

Um7Uhr continental breakfast

Um7:30mit dem Bus in die Stadt

Besuch von Vormittagscolloquien und Seminaren (hauptsächlich über Abrüstung, denUS-Imperialismus und den russischen Kommunismus)

Mittagessen mit einer der120Delegationen

Ich habe meistens mit den Bulgaren, Kubanern oder Finnen gegessen

Nach dem Mittagessen Besuch einer Outdoor-Sportveranstaltung oder eines kulturellen Events. (Ich habe zum Beispiel das Russische Ballett und die Pekingoper gesehen.)

Um15Uhr Teilnahme an tollen delegationsübergreifenden Treffen.

Um17Uhr entweder Essen mit einer anderen Delegation oder Streifzüge durch die Stadt und Umgebung. Ich habe Mopedfahren gelernt (auf einem Jauwa-Moped [sic]2), weil das in Finnland sehr populär ist.

Um18Uhr mit dem Bus zurück in unser Quartier und umziehen für eine delegationsübergreifende oder eine Inselparty. (Finnl. hat viele kleine Inseln, und auf jeder gibt es einen Park mit einer Freilufttanzfläche – wir konnten Feuerwerk gucken oder einfach nur relaxen und finnische Musik hören.)

Um23Uhr wieder im Quartier.ESWARDRAUSSENIMMERNOCHSEHRHELL, deshalb fiel es schwer, schlafen zu gehen. Also redeten wir noch mindestens eine Stunde. (Einige aus der amerikanischen Delegation waren sehr links, andere etwas weniger links, und der Rest war einfach nur neugierig.)

Um diesen großartigen Tagesablauf perfekt zu machen, bekam ich praktisch rund um die Uhr Blumensträuße. Hauptsächlich, weil die Finnen dachten, ich sei Kubanerin oder zumindest Freedom Rider. (Ich schämte mich, dass ich nicht im Gefängnis gewesen war.)

TANZTDU,SINGSTDU?HEY,DUBISTDOCHSICHERFREEDOMRIDER?

WESHALLOVERCOME. Für die Freiheitskämpfer der Südstaaten. (Hörte es in vielen Sprachen gesungen.) Immer wieder der Liedwunsch an uns.

AWs Reisepass, erster Stempel 1962. Alice Walker Collection, Stuart A. Rose Manuscript, Archives & Rare Book Library, Emory University.

Gegen Ende ihres Reiseberichts, in einem Eintrag vom späten August 1962, schrieb die angehende Schriftstellerin und Aktivistin: »Obwohl ich nur etwa einen Monat in Europa war, weiß ich, dass mein Leben dadurch anders sein wird.«

Später setzte sie hinzu: »Nie wieder werden irgendwelche Russen oder Kubaner oder Menschen irgendeiner anderen Nationalität meine Feinde sein, nur weil sie sind, was sie sind. Seltsamerweise hatte ich in dieser Krise [der Kubakrise im Oktober 1962] mehr Angst um die Kubaner und die Russen als um mich selbst. Als Allerwichtigstes habe ich gelernt, dass zwischen den Menschen und ihren Regierungen ein so großer Unterschied besteht, dass man nicht länger pauschal hassen kann.«

Nach ihrer Europareise kehrte Alice Walker ans Spelman zurück, hatte aber, wie sie in einem Tagebucheintrag vermerkte, bald schon genug von »schlechten Lehrveranstaltungen, bourgeoisen Dozentinnen und Dozenten und Mitstudentinnen«. Sie wechselte ans Sarah Lawrence College in Bronxville, New York. Das Tagebuchschreiben nahm sie ernsthaft wieder auf, als sie im Sommer 1965, vor ihrem letzten Semester am Sarah Lawrence, in den Südstaaten und dann in Kenia war.

Walker fürchtete sich vor dieser Rückkehr in die Südstaaten 1965, aber sie war auch fest entschlossen, sich am Freiheitskampf der Schwarzen zu beteiligen. Nach einem kurzen Aufenthalt verließ sie die USA, um eine mehrmonatige, ereignisreiche Afrikareise zu unternehmen. Im Herbst nahm sie ihr Studium am Sarah Lawrence wieder auf. Dort verspürte sie, inzwischen einundzwanzig, immer stärker den Drang, es mit den Herausforderungen der realen Welt aufzunehmen. »Manchmal fühle ich mich zu alt, um unter den Studentinnen hier am Sarah Lawrence zu sein«, vertraute sie ihrem Tagebuch an. »Ich kann nicht länger Vietnam-Diskussionen mit ›gescheiten‹ Mädchen führen, die ihre Haltung zum Krieg mit ihrem Geigenspiel unter einen Hut bringen wollen. Dazu lastet der Tod der vietnamesischen Kinder zu schwer auf mir.«

Im Juni 1966 war sie dann so weit, sich in der Bürgerrechtsbewegung zu engagieren, obwohl es ihr schwerfiel, ihre Arbeit als werdende Schriftstellerin hintanzustellen. »Ich bin noch nicht nach Mississippi aufgebrochen, und der Gedanke, meine Arbeit zurückzulassen, ist so beunruhigend, dass es mir schon fast absurd erscheint, überhaupt hinzugehen«, klagte sie im Juni 1966. »Aber etwas zieht mich dorthin, obwohl ich mir keine Illusionen mache, was ich bewirken kann.«

Inmitten der Bürgerrechtsproteste im Süden fand Alice etwas, wonach sie gar nicht gesucht hatte: die Liebe. Und sie fand sie an einem sehr unwahrscheinlichen Ort – in Stevens Kitchen, einem Soulfood-Restaurant in der Farish Street in Jackson, Mississippi.

Sie war gerade in Jackson angekommen, erinnert sie sich fünfzig Jahre später, und wurde »am Flughafen abgeholt von einem jungen Mann in einem blauen Cabriolet« – Henry Aronson, einem Mitarbeiter des Rechtshilfefonds der NAACP, damals geleitet von Marian Wright, der ersten Schwarzen Rechtsanwältin des Bundesstaats. Das Restaurant lag neben dem Büro des Rechtshilfefonds, und viele von dessen Mitarbeitern – darunter auch ein junger jüdischer Jurastudent namens Melvyn Leventhal – nahmen dort regelmäßig ihre Mahlzeiten ein. »Ich blickte finster auf die Weißen, die da in ›unserem‹ Restaurant aßen«, erinnert sich Walker, »und mein Blick begegnete dem eines sehr nett aussehenden jungen Mannes. Oy vey.«

Obwohl sich die Tagebücher darüber ausschweigen, wie genau sie zusammenkamen, waren Alice und Mel bald unzertrennlich. »Unsere Beziehung begann nach ein paar Fahrten ins Delta, wo wir Hotels und Restaurants zu Orten der ›Rassenintegration‹ machten, was oft hieß, die ganze Nacht wach zu bleiben, weil wir damit rechnen mussten, vom Ku-Klux-Klan terrorisiert zu werden«, erinnert sich Walker ein halbes Jahrhundert später. »Wir lasen uns aus der Bibel vor, und ich mochte sein Hohelied Salomos.«

Die Beziehung dauerte über jenen heißen Mississippisommer hinaus. »Wir hatten Dates, während wir unsere Arbeit machten, aber viel ›Dating‹ war da nicht (zu gefährlich), bis wir nach NYC zurückkehrten und Mel sein letztes Studienjahr an der NYU absolvierte. Ich hatte ein Zimmer am St. Marks Place, wohnte aber die meiste Zeit bei ihm in seinem Wohnheimzimmer, das wir als Erstes mit einem Schreibtisch für mich ausstatteten.«

Ein paar Monate bevor Mel sein Juraexamen machte, erklärte er Alice, er wolle zurück nach Mississippi, um die Arbeit für soziale Gerechtigkeit fortzusetzen, derentwegen sie sich überhaupt in ihn verliebt hatte. »Ich liebte Mel wegen seiner Leidenschaft für die Gerechtigkeit und wegen seiner aufrichtigen Leidenschaft für mich«, resümiert sie.

»Wenn wir nach Mississippi zurückgehen würden, dann als Ehemann und Ehefrau«, beschloss Alice. »Es gab in den Südstaaten eine lange Tradition von weißen Männern, die sich eine Schwarze Geliebte hielten. Darauf würde ich mich nicht einlassen. Also machte ich Mel einen Antrag, und er nahm ihn nur allzu gern an. Von unserer Liebe mal abgesehen, war es politisch wichtig, dass wir offiziell verheiratet waren.«

Für den 17. März 1967 gewann das Paar zwei Verbündete als Trauzeugen – Carole Darden, Alice’ beste Freundin vom Sarah Lawrence, und Mike Rudell, Mels besten Freund aus dem Jurastudium. Sie wurden von der Richterin am Familiengericht von New York City, Justine Polier, getraut. »Sie hat eine ganze Reihe von Leuten aus der Bewegung verheiratet«, erinnerte sich Walker. »Wir bezahlten sie mit einem Strauß rosa Tulpen.«

Nicht alle unterstützten diese Heirat. Entsetzt über die Verbindung ihres Sohns mit einer »Schvartze« (so die abfällige jiddische Bezeichnung), vollzog Miriam Leventhal das Schiwa-Sitzen – das jüdische Trauerritual, da Mel für sie gestorben war. Doch davon unbeeindruckt unternahm das junge Ehepaar in jenem Sommer noch einen weiteren kühnen Schritt. Alice erklärt: »Wir zogen nach Mississippi, wo ›gemischtrassige‹ Ehen verboten waren.«

In ihren Tagebüchern aus den 1960er-Jahren – zumeist spiralgebundene Kladden in Primärfarben – hielt Alice Walker ihre Gedanken und Gefühle in jener stürmischen Dekade fest. In den ausgewählten Einträgen in Teil Eins dieses Buchs: Ehe, Bürgerrechtsbewegung und Mississippi, legt die junge Studentin, Aktivistin und Schriftstellerin geografisch weite Wege zurück, vom Campus des Sarah Lawrence in New York nach Atlanta und in andere Teile ihres Herkunftsstaats Georgia, wo sie mit einer Studentenorganisation der Southern Christian Leadership Conference (SCLC) Schwarze Wähler registriert; nach Kenia und Uganda im Rahmen eines Auslandsstudienprogramms; dann nach Mississippi, wo sie sich weiter in der Bürgerrechtsbewegung engagiert und Mel kennenlernt. Wo auch immer sie ist, blüht die junge Schriftstellerin auf: Sie beginnt ihre lebenslange Praxis, erste Entwürfe von Gedichten, Kurzgeschichten und schließlich ganzen Romanen in ihren Tagebüchern niederzuschreiben. Und genau hier beginnt unsere Geschichte.

Erster Teil: Ehe, Bürgerrechtsbewegung und Mississippi

ERSTER TEIL

EHE, BÜRGERRECHTSBEWEGUNG UND MISSISSIPPI

Die 1960er

AW am Sarah Lawrence College, 1964. Alice Walker Collection, a. a. O.

1. Juni19651

Heute haben meine Eltern Hochzeitstag. Sie sind jetzt zweiunddreißig Jahre verheiratet. Das scheint eine so lange Zeit, um mit jemandem unter einem Dach zu leben und das Zusammensein gelegentlich immer noch zu genießen. …

… Charles2 ist immer wie ein Gefangener, den man gerade aus seiner Zelle gelassen hat, immer in Bewegung, immer im Laufschritt – auf der Flucht vor Charles, glaube ich manchmal. Ich liebe ihn, wie ich meine Brüder geliebt hätte, wären sie liebevoller gewesen. Und doch mehr, denn wir lieben unsere Freunde grundsätzlich mehr als unsere Familie; Freundschaft ist etwas, wofür man sich entscheidet, die Bereitschaft, jemanden zu lieben, der nicht so ist wie man selbst, in keiner Weise mit einem verwandt.

Ein Brief von Marian Wright3, die wie Charles findet, dass es gut wäre, wenn ich nach Mississippi ginge. Ich frage mich, ob ich die Übelkeit, die mich beim Gedanken an den Süden (die Morde, die Angst) packt, wohl überwinden kann, wenn ich eine unerschütterliche Person wie sie habe, zu der ich aufblicken und an die ich mich halten kann. Ich bin so oft von Leuten mutig genannt worden, dass ich es schon fast glaube – wenn Angst und Mut eins sind, dann bin ich mutig.

Habe die tausend Dollar von Charles auf mein Konto getan, zusammen mit meinen mickrigen dreihundert. Ich bin neugierig, wie lange das reichen wird; im Moment scheint mir, es könnte ewig reichen, da ich nicht das Gefühl habe, irgendetwas zu brauchen. Die meisten meiner Kleidungsstücke will ich verschenken. Es scheint doch absurd, Kleider zu behalten, die man nicht mal mag.

Ich muss aufhören, mir einzureden, bestimmte Leute könnten mir mehr bedeuten, als sie es tun. Es ist nicht fair, ihnen etwas vorzumachen, und das Zusammensein mit sich selbst ist zu kostbar, um sich dabei durch Außenstehende stören zu lassen, die einem keine geistige Nahrung bieten. Warum wir unser Leben mit Bekanntschaften ohne wirklichen Wert verplempern, ist mir schleierhaft, ich weiß nur, dass es eine Verschwendung ist, die viele schwache Seelen begehen.

Ich habe gestern und heute ein bisschen geschrieben und das Gefühl, aus weißem Papier und luftigen Gedanken etwas erschaffen zu können, ist schön. Ich will jetzt ein Maß an Geduld und Genauigkeit erreichen, das ich bei meinen anderen Geschichten nicht hatte. Ich muss auch noch weitere Schriftsteller lesen und schauen, wie sie das mit den Dialogen machen, denn bei mir sind Dialoge sehr wie bei Tom Wolfe, sprich hölzern.

13. Juni19654

Die Einführungswoche (Projekt SCOPE der SCLC/Southern Christian Leadership Conference) war ein einziges langes Gespräch. Manchmal mit einer Person, oft mit fünf, zehn oder dreihundert Leuten. Ich flog (spät) nach Atlanta, da ich Bus und Zug verpasst hatte und unbedingt alles von den Diskussionen dieser Woche mitbekommen wollte. Zum ersten Mal in meinem Leben bewirkten Stimmen mit Südstaatenakzent (die der Flugbegleiterinnen) nicht, dass mein Herz vor Angst oder Abscheu raste. Die langsame nasale Sprechweise, begleitet von freundlichem, wenn auch nicht ganz spontanem Lächeln, überraschte mich lediglich. Ich verstand sogar, warum Nordstaatler ihr so oft einen besonderen Charme zusprechen. Zwei Stunden Flug von Newark, und ich bin in Atlanta … »Wo Fortschritt immer Vorrang hat.« Sehe altvertraute Wörter, höre sie weich über die Zunge, durch die Nase, über die Lippen kommen, nehme wieder das eigentümlich grelle Licht und die penetrante Hitze wahr – und kämpfe, vor allem der Hitze wegen, gegen den Drang an, in einen anderen Flieger zu steigen und nach New York zurückzukehren, wo es am Vortag kühl war und die Akzente gewöhnlich klar und präzise sind – bis auf die aus der Bronx, Brooklyn, Queens.

Die Skyline von Atlanta war wie ein fremd Gewordener, den man nach Tagen wieder zu Gesicht bekommt. Ich nahm die neuesten Hochhäuser mit einer gewissen Neugier, aber ohne Gefühlsbeteiligung zur Kenntnis. Das Atlanta, das ich kannte, begann an der Hunter Street – der südliche Abschnitt des Negro-Teils.

Vom Bus aus sah ich den historischen Spitzturm des Morris Brown, des ältesten Negro-Colleges in Atlanta, auf seinem Hügel aufragen, von vielen Punkten der Stadt aus erkennbar. Der Turm für alle sichtbar, der Körper verborgen wie eine Baumwurzel tief im Boden der Negro-Community. Aus dem Bus gestiegen, empfingen mich Umarmungen und Küsschen von alten Freundinnen und Freunden, die ich alle irgendwann in den letzten fünf Jahren kennengelernt hatte, bei Walks, Protestmärschen, Mahnwachen etc. Überall im Norden und im Süden. »Brother!«, »Sister!«, jede Menge Schwingungen in der Luft, dazu ein Freedom-Song im Hintergrund – ich glaube, »This Little Light of Mine« –, das alles sagte mir, dass ich endlich in »der Bewegung« war und dass das, was diese hier im Delta hatte und was die im Norden nicht hatte, »Soul« war. Wenn auch gebremst durch den »Stimmungskiller« Wählerregistrierung, fühlte ich mich heimisch und wohl unter diesen »Soldaten«, zu denen ich mich freiwillig gemeldet hatte. Das war der erste Tag.

Der Montag begann mit Maisgrütze –

Dienstagabend,29. Juni1965, Liberty County, Georgia

Heute Abend nahmen zweihundert Mitglieder der Community von Liberty County an einer Großveranstaltung in der Dorchester-Kooperative in Midway teil. Sie hörten Berichte über das Liberty-County-Headstart-Programm, das jüngste Aufflammen von Rassenunruhen und Demonstrationen nach der Verhaftung einer örtlichen Lehrkraft aufgrund von – wie es die Protestierenden nannten – »erfundenen Anschuldigungen«. Teil einer langen Kette von Schikanen an Negroes. Die Community erfuhr von den schweren Verletzungen, die einem jungen Mitbürger, gerade mal 14 Jahre alt, von lokalen Weißen aus Gainesville zugefügt worden waren. Johnny Lee Jones droht der Verlust eines Auges oder vielleicht auch beider Augen, nachdem er in einem Billardsalon, wo sein Vater arbeitete, von einer Gruppe Weißer angegriffen wurde. Negroes von dort sagen, sie kennen die beteiligten Weißen, und es seien keine »Jugendlichen um die 14«, wie Lokalblätter und der zuständige Sheriff behaupten. Sie sagen, die beiden Hauptangreifer seien vermutlich in den Dreißigern. Festnahmen gab es keine.

Hauptredner auf der Versammlung war Reverend B. J. Johnson aus Atlanta, Georgia. Er erklärte den Leuten aus Liberty County, dass sie die Macht ihrer Wählerstimmen beschämend falsch genutzt hätten, wenn es zu einem solchen Fall rassistischer Gewalt wie nach der Demonstration habe kommen können. Er forderte die Leute auf, bei der nächsten Wahl an den mangelnden Schutz zu denken, den die lokale Polizei und die Amtsträger ihnen und ihren Kindern böten. Liberty County, sagte er, sei insofern einzigartig, als es hier mehr registrierte Negroes als Weiße gebe, und doch hätten die Negroes keinen einzigen Vertreter im gewählten Verwaltungsgremium des County. Die Menge war bestürzt und empört. Mehrere junge Leute äußerten sich beunruhigt und zornig angesichts der Bestechungsmethoden, die kommunale Amtsträger anwenden, um sich in der Negro-Community Wählerstimmen zu kaufen.

__

Undatiert5

Hier geht es hin und her zwischen extremer Langeweile und hochgradiger, oft mit Gefahr verbundener Spannung. Immerhin sind schon zwei Freunde von mir über Nacht im Polizeigewahrsam von Chatham County gelandet, und ich habe absurd hohe Geldbußen wegen »Verkehrsvergehen« aufgebrummt bekommen, also kann ich wohl sagen, dass mir die Zeit nicht allzu lang geworden ist. Wir haben nächtliche Protestaktionen – »Sit-ins« – auf den Eingangsstufen der Georgia State Patrol gemacht. Eine Flasche hat mich leicht getroffen, und es gab etliche Schlachtrufe, die auf »Nigger« endeten – dazu die üblichen Zuschauer, darunter viele »Pride of the South«-Püppchen, die Schimpfwörter riefen und obszöne Gesten machten. Irgendwie bin ich immer etwas überrascht, wenn Frauen sich so aufführen.

Eine meiner lohnendsten Bekanntschaften ist ein Achtzehnjähriger – so ziemlich der mutigste Mensch (phrasenhaftes Wort, »mutig«, aber trotzdem passend), den ich hier unten je erlebt habe. Kürzlich wollten ihm Weiße Angst einjagen, indem sie neben seiner alten Klapperkiste herfuhren und mit einem .38er auf ihn zielten. Er starrte sie nieder. Er hat alle Demonstrationen in diesem County angeführt, und das Verblüffende an ihm ist, dass er so ist, wie er ist – bereit zu diskutieren, zu marschieren, sich zu wehren natürlich –, und dabei keinen einzigen echten Kraftausdruck kennt! Du kannst dir ja wohl vorstellen, wie schwer es ist, im Süden ein Mann zu sein, wenn man Negro ist, aber ich hoffe, er ist ein Indiz dafür, dass sich das alles ändern wird und der Süden aufersteht – als eine Nation von Männern (wie ihm) und nicht als ein Haufen mieser kleiner Konföderiertenfahnenschwenker, die Sherman nicht von Grant unterscheiden können.

Eine weitere spannende Erfahrung ist meine Zimmergenossin, die aus Philadelphia kommt und deren Mutter eine grimmige Antiintegrationistin ist. Ich habe einen ihrer Briefe an C. gelesen und halte diese Frau für ernsthaft verrückt, für sehr, sehr krank und ohne realistischen Bezug zur Welt – einschließlich ihrer eigenen Tochter. C. erklärt mir jedoch, die Überzeugungen ihrer Mutter (dass Negroes allesamt nur Sex im Kopf haben, dass sie allesamt obszöne Ausdrücke benutzen, dass sie allesamt weiße Frauen heiraten wollen, dass sie allesamt Läuse und Schlimmeres haben) seien mehr oder minder typisch für einen Großteil der (weißen) Bevölkerung. …

… Die übrigen Leute hier mag ich. Es fällt mir nicht leicht wegzugehen (ich fahre morgen). Es sind so offene, bewusste Menschen. Manche sind noch sehr jung und wissen doch Dinge, für die alte Männer und Hitzköpfe komplett vernagelt sind.

Undatiert6

Haiku … Schön

und unerwartet

wie der Freund

den man alle

Jahre nur sieht

__

Wer kann sagen

ich bin

African

American

Indian

wenn er gleich

vielleicht

ein Falter ist?

__

28. Juli, Busbahnhof Nairobi

»Vorsicht Taschendiebe« besagt ein Schild in schwarzen Blockbuchstaben über dem Hintereingang des Busbahnhofs, der, wie es aussieht, in einer Slumgegend von Nairobi liegt. Vorn geht er auf eine Straße hinaus, die im Vergleich zu den anderen Straßen Nairobis schäbig ist. Es gibt keine Blumen an der ___ Street, nur ein paar struppige Sträucher, die flach in ausgewaschenem rotem Boden wurzeln. Im Gegensatz zum Flughafen von Nairobi, der modern, stylisch und auf lebendige Art chic ist, ist der Busbahnhof definitiv heruntergekommen.

Die Kälte ist überraschend – Juli und August sind die Wintermonate, und draußen dürfte es jetzt nicht viel über zehn Grad haben. Interessant aber ist, dass trotz des kalten Wetters Blumen in fröhlicher, verschwenderischer Fülle blühen.

Undatiert7

Ich habe Tolstoi gelesen und mich gefragt, wie man dahin kommt, wirklich ehrlich mit sich selbst zu sein, und an welchem Punkt Ehrlichkeit zur Übertreibung wird. Seit einem guten Monat weiß ich jetzt, dass ich jenem Zehntel der Frauen auf der Welt zugerechnet werden kann, das zu vollständiger Sinnlichkeit fähig ist. Ich habe keine Ahnung, was sich daraus entwickeln wird, aber ich verspüre sehr wenig Angst und sehr viel Neugier.

Mir scheint, Sex ist mit einer Schranke versehen und tabuisiert, obwohl ich wirklich nicht sehe, was am vollständigen Akt moralisch schlimmer sein soll als an einem bedeutsamen Kuss. In beiden Fällen setzen wir die Nähe, die wir abstrakt fühlen, praktisch um. Das ist naiv – weil Sex ernstere Folgen haben kann als ein Kuss.8

Ich bin mir jetzt endlich einer Sache sicher, die zu klären mir sehr wichtig war. Ich will ___ nicht als Ehemann. Als Sexualpartner ist er immer noch der Einzige, der mich befriedigt, aber zwei Minuten nach dem Höhepunkt nerven mich an ihm solche Kleinigkeiten, dass ich weiß, meine »Liebe« ist reine Augenwischerei – ich sollte wohl sagen, wir nerven uns gegenseitig, denn ich ziehe eine Art irrwitziges Vergnügen daraus, ihn zu piesacken.

Er kann an dem, was er ist (ein weißer Mittelschichtsamerikaner), genauso wenig ändern wie ich an dem, was ich jetzt bin (eine Schwarze Mittelschichtsamerikanerin). Es ist interessant, dass ich immer schon das Gefühl hatte, ihn deshalb zu lieben, weil er wollte, dass ich ihn liebe, und weil er mir gegenüber so zärtlich und gutmütig war, trotz meiner »Ambitionen«.

Wer bin ich wirklich? Und was will ich mit mir anfangen? Irgendwie weiß ich, ich werde mich nie mit mir und dem Leben im Reinen fühlen, solange ich nicht einen Beruf habe, den ich lieben kann – properen Elitestudenten Dickinson und Donne nahezubringen, wäre schon mal gar nicht so schlecht. Die Ehe kommt für mich momentan gar nicht infrage – obwohl es, David mal ausgenommen, drei Verehrer gibt, die mir einen Antrag gemacht haben. »Princeton« würde als Ehemann niemals taugen. Er ist in der ganzen Welt herumgereist, hat aber seine Persönlichkeit dabei eher verwässert als erweitert. Eines Tages wird er in einem Haus mit japanischen Teppichen und vielleicht einem Swimmingpool wohnen, wahrscheinlich in Atlanta. Ich kann nicht lange mit ihm reden – er findet alles, was ich sage, wahnsinnig faszinierend, und ich finde das meiste, was er sagt, belanglos. Ich war einmal mit ihm im Bett, nachdem ich zu viel getrunken hatte, um mich seinen ewigen Wiederholungen zu entziehen, aber ich habe es so sehr bereut, dass ich mich selbst zum Kotzen fand. Es gibt (das hat mich diese Erfahrung gelehrt) für Sex eine Grenze, wenn er es noch wert sein soll, ihn zu haben. Man sollte sich nie aus Trunkenheit, Mitleid, Verachtung, bloßer Neugier oder bloßer Leidenschaft hingeben. Irgendwo muss da in einer sexuellen Beziehung etwas Reines sein, etwas, was mit Freude und Überschwang zu tun hat. Es gibt nichts Faderes und Unverzeihlicheres, als den eigenen Körper hinzugeben und gleichzeitig den eigenen Geist abzuschotten.

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Es besteht die Frage, ob ich schwanger bin oder nicht – es kann sehr gut sein, und doch verbringe ich meine Tage damit, über andere Dinge nachzudenken oder es jedenfalls zu versuchen. Falls ich schwanger bin, habe ich einen höchst rationalen Plan entwickelt, den es umzusetzen gilt, wenn ich in New York bin. Er lautet kurz gefasst: Abtreibung oder Adoption – in dieser Reihenfolge.

Es gab eine Zeit, da ich weder das eine noch das andere in Betracht gezogen hätte. Und ich frage mich, welchen Preis die Zivilisation für die geistige Differenziertheit zahlt. Ich war nie wirklich aus moralischen Gründen gegen Abtreibung – ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod und auch nicht, dass Abtreibung Mord ist, und ich glaube sehr wohl, dass ein Mensch das Recht hat, selbst zu bestimmen, was er in seinem eigenen Körper haben will und was nicht9 – aber es erschien mir immer so dumm, so etwas nötig zu haben, wenn man alt und »geistig differenziert« genug ist, um zu wissen, was man tut.

Eine Skizze des Mädchens

In ihr waren Sinnlichkeit und Neugier gleichgewichtig – wenn es auch ein labiles Gleichgewicht war. Es war nur natürlich, dass sie immer, wenn sie mit einem Mann bekannt gemacht wurde oder einen sah, der ihr gefiel, im Kopf gleich ein Rendezvous plante. Sie hatte keine religiösen Hemmungen, was Sex generell anging, und keine moralischen Skrupel, ihn zu praktizieren, wenn ihr wirklich danach war. Folglich hatte sie die einheimischen Varianten von Sex in allerlei Weltgegenden probiert, darunter Afrika und Russland, hatte sich den Angeboten und Verführungskünsten von Männern gegenübergesehen, die so feurig waren wie die jungen Israelis oder so hartnäckig wie die Araber. Und doch war Sex für sie nichts Oberflächliches. Sie investierte dabei viel von sich selbst. Was heißt, dass sie nur ein einziges Mal, als sie zu viel getrunken hatte, mit jemandem schlief, der ihr auf keiner anderen, subtileren Ebene gefiel. Was ihre Beziehungen trug, lässt sich anhand ihres sexuellen und sonstigen Verhältnisses zu ihrem Kunstdozenten beschreiben, einem Mann um die fünfzig, der sie auf der intellektuellen Ebene begeisterte und mit dem sie das Sexuelle nur insofern interessierte, als es eine Fortsetzung der speziellen Art von Stimulation war, die er für sie bedeutete. Es hatte etwas logisch Richtiges, das sie wohltuend, stabilisierend und unendlich ermutigend fand. Mit ihm hatte sie das Gefühl, dass das Leben ewig weitergehen würde – in seinem ruhigen, toleranten Rhythmus.

Die Wahl ihrer Sexualpartner hatte nicht viel System. So war unter ihren Liebhabern ein sehr junger Student im ersten Collegejahr, dessen Attraktivität darin bestand, dass er unverdorben und weitgehend impotent war. Sie schlief gern mit ihm, weil er so etwas Kindliches hatte und immer sofort einschlief, die Hand um eine ihrer Brüste gelegt, das lockige Haar in die Augen hängend. Leider war er jüdisch und hatte eine entsprechende Vorliebe für Knoblauch und Zwiebeln, und sie musste ihre Besuche bei ihm sorgsam so planen, dass sie auf seinen Fischtag fielen. Je lieber sie ihn gewann, desto mehr fürchtete sie zur Mutterfigur zu werden – wo er doch zu allem anderen nie bei Licht Liebe machen wollte –, darum machte sie nach nicht einmal einem Monat Schluss.

Was wird passieren?

Warum war mir so übel?

Wer würde es verstehen?

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Ich frage mich, ob meine Freundin in Boston mir 600 $ für eine unerwartete und unerklärbare »Zahlungsverpflichtung« leihen würde.

In Afrika scheint Schwangerschaft ein Fluch zu sein – die schwangeren Frauen sehen alle so unglücklich aus. Zum Teufel mit den Missionaren und ihren Regeln!

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Es erstaunt mich immer wieder, dass ich, soweit ich weiß, keine konventionelle Moral habe – aber ich bin mir sicher, dass ich wahrhaft liebe – die, die ich überhaupt liebe.

In letzter Zeit spiele ich mit dem Gedanken, meine eigene Philosophie zu formulieren – keine Philosophie des Absurden etc., sondern eine Philosophie, die auf der Neugier basiert –, aber welches Alles würde eine solche Philosophie beinhalten, außer einem gewissen Maß an Schmerzunempfindlichkeit und Unerschrockenheit?

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Undatiert10

Warum ist uns das, was wir schreiben, immer peinlich? Kommt es daher, dass Schreiben so ein handfester Beweis für die Verrücktheiten ist, die wir im Geist begehen? Worte hinterlassen ja sonst gewöhnlich keine Spur; die meisten Leute hören nicht ernsthaft genug zu.

Die Leute sagen, hoffnungslose Liebe – d. h. jemanden zu lieben, der einem nie offiziell gehören kann – sei Dummheit. Ich glaube das nicht. Überhaupt lieben zu können, erscheint mir ein Wunder – außerdem denke ich nicht an Besitz, wenn ich an Liebe denke. Ist dieser letzte Satz nicht ein bisschen banal?11

Manchmal fühle ich mich zu alt, um unter den Studentinnen hier am Sarah Lawrence zu sein. Ich kann nicht länger Vietnam-Diskussionen mit »gescheiten« Mädchen führen, die ihre Haltung zum Krieg mit ihrem Geigenspiel unter einen Hut bringen wollen. Dazu lastet der Tod der vietnamesischen Kinder zu schwer auf mir.

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Einundzwanzig ist ein besonderes Alter. Es bedeutet Volljährigkeit und Freiheit, ja – und das Gefühl, von der Mutter sanft verstoßen zu werden.

Ich kann verstehen, dass Leute über Selbstmord witzeln. Er ist etwas so Persönliches, dass ihn jeder, der ihn nicht in gleicher Weise versteht wie das Opfer, komisch findet.

Wenn ich heute Nacht sterben würde, würden viele Leute eine Antwort auf die Frage haben wollen: Warum? Niemand käme auf die Idee, dass ich es wahrscheinlich wollte. Das ist das Problem mit den Leuten – sie sind nicht stoisch genug, um den Tod als eine Möglichkeit zu betrachten.

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Es scheint mir essenziell, dass der Künstler die Liebe liebt. Ich könnte einen rein kontemplativen Künstler nicht ertragen, denn er wüsste nicht die Bohne über die Haut, in der er steckt, oder die Seele, die er umhüllt. Liebe quält uns und bringt uns zum Schreien, aber letztlich tastet sie die schummrigen Falten unserer Seele aus und findet eine neue Dimension. Mir scheint, »Der Tod in Venedig« sagt genau das – oder versucht es zu sagen.

Ich neige dazu, der Aussage zuzustimmen, dass Sokrates eine alte Nervensäge war! Man liebt ihn entweder, oder man hasst ihn – & ich liebe ihn nicht.

Nietzsche sagt, Philosophen sollten nicht heiraten & tun es gewöhnlich auch nicht.

Manche Leute würden Neugier nicht für die legitime Grundlage einer Handlungsphilosophie halten – aber ich frage mich, ob sie nicht vielleicht die Grundlage jeder Philosophie ist.

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Ich möchte eine Geschichte über eine bourgeoise Schwarze Frau schreiben, die die Inkarnation all der imitierten bourgeoisen weißen Werte ist – und darüber, wie gefangen sie in den rigiden, überkommenen gesellschaftlichen Normen ist, die sie erlernt hat und die ihr wichtig sind. Sie ist einsam, hält aber immer noch an moralischen Prinzipien und Verhaltensweisen fest, die die westliche Welt schon vor Jahren aufgegeben hat – nur dass man ihr das nicht beigebracht hat und sie es nicht weiß. Für sie gilt:

Sex nur in der Ehe – ergo entgehen ihr Sex und Ehe.

Auf dem College war sie der Meinung, Studierende hätten kein Recht auf irgendetwas anderes, als zu studieren – selbst zu denken, kam ihr nicht in den Sinn.

Man hat sie gelehrt, ihr Land zu ehren – Revolution war für sie etwas Abstoßendes, deshalb hat sie eben die Leute gewählt, die sie hassten.

Sie glaubte an den »Wert« materieller Errungenschaften und umgab sich mit angesammeltem Zeug, das bewirkt hat, dass sie »gesettelt«, sprich unbeweglich ist.

Wie Mitgefühl mit dieser »Kreatur« vermitteln & Verachtung für ihre Werte …

Schopenhauer [sic!] – »Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen.«

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10.11.65

Heute habe ich eine Geschichte beendet, auf die ich stolz bin. »The Suicide of an American Girl«. Alle, die sie lesen, sind geschockt von Anas Selbstmord. Offenbar war niemand von ihnen je dem Tod so nahe, dass ihm oder ihr bewusst geworden wäre, wie dicht beieinander Tod und Leben liegen.

Ich habe zu erklären versucht, wie ich den Suizid im Leben eines Menschen sehe – mir scheint er eine der Entscheidungsmöglichkeiten im Leben.

Wenn man die Freiheit haben soll zu leben, dann muss einem auch die Freiheit zu sterben gewährt werden – dazu braucht es nur die Überwindung der christlichen Moral, die die Menschen zum Eigentum Gottes macht, nicht zu ihrem eigenen. Wenn es überhaupt einen freien Willen geben soll, muss Suizid akzeptiert sein. Solange ein Mensch einen freien Willen hat, ist Suizid eine seiner Möglichkeiten.

Ich war ein paarmal dem Tod nahe, und ich habe versucht mich zu erinnern, wie ich mit dem Wissen umgegangen bin, dass morgen die Sonne ohne mich scheinen wird – habe ich gebetet, habe ich an die Menschen gedacht, die ich liebe, hatte ich große Angst?

Wenn meine Mutter nicht mehr am Leben wäre, hätte ich keine Angst vor dem Tod. Oder nur mäßige Angst. Doch wie die Dinge liegen, ertrage ich es nicht, dass sie mich, ihr Baby, tot sähe. Sie als Christin könnte nur denken, was sie falsch gemacht hat. Ihre eigenen »Sünden« würden in ihren Augen viel größer und schwerwiegender, und sie würde in Verzweiflung verfallen. Dabei wäre sie natürlich völlig unschuldig. Ich mag keine Weltanschauung, die allen Schuldgefühle macht.

12. Nov.

Letzte Nacht hatte ich einen sehr bizarren Traum – es ging um Bürgerrechte und Studierende & Hausfrauen hier aus Westchester, & ich sollte ein Pistolenduell austragen – Indigene kamen durch den Fluss, aneinandergekettet und alle genau gleich aussehend. Ich heulte wie ein Hund, als ich sie sah, niemand sonst schenkte ihnen auch nur die geringste Beachtung. Es tat mir in der Seele weh, und ich wachte mit Tränen in den Augen auf.

Ob es mir wohl möglich wäre, eine Geschichte zu schreiben, die im Grunde eine gut ausgehende Liebesgeschichte ist?

Bin sehr versucht, einen Roman über zwei Menschen zu schreiben, die große Ähnlichkeit mit David12 und mir haben. Das Thema wäre wohl die Unfähigkeit der jungen (Negro-)Frau, irgendetwas anderes zu tun, als ständig zu versuchen, »(es) zu überwinden«. Er (weiß) hält ihre Ziele für spießig und hat sie selbst längst verworfen, ihr aber sind sie wichtig: das, worauf ihr ganzes Sein ausgerichtet ist. Der Mann findet Bildung über das College hinaus unwichtig (aber liegt das daran, dass er nicht gern studiert & Probleme hat, an der Uni angenommen zu werden?). Sie hat keine Probleme mit dem Studieren oder der Uni und genießt beides total – es fällt ihr schwer, ihr Wissen und ihren Wunsch nach mehr Wissen als spießig zu betrachten. Sie trennen sich, weil sie, wie sie sagt, außer dem Ehefrauendasein ihre eigene Arbeit (Kunst) will. Er fühlt sich durch ihr Talent etc. bedroht & weiß, dass er mit einer »supergescheiten« Frau sein Ansehen nicht wahren kann.

Ich denke oft an die Geschichte meiner Mom, wie sie Daddy geheiratet hat – ich frage mich, ob da genug dran ist, um damit zu arbeiten. Letztlich ist es ja »die immer gleiche Geschichte.«

Wirklich gern schreibe ich nur über die Dinge, die ich tue, ohne eine Erklärung dafür zu finden und ohne sie zu verstehen.

Ist es möglich, aus dem Zustand des Glücklichseins heraus kreativ zu sein?

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2. Juni1966

Billy [sic!] Holidays Autobiografie13 hat mich sehr bewegt, vielleicht, weil Holiday so echt war und so viel Schneid hatte. Ich bin nicht sicher, ob ich ihre Art zu singen genauso mag wie ihre Person, aber sie ist so besonders, dass man sich nicht vorstellen kann, jemand anders könnte genauso klingen. Ist das Genie?

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3. Juni1966

Wem liegt schon daran, Geschichten mit »Punch« zu schreiben? Mir nicht. Ich frage mich, ob ich mich zu einer existenzialistischen Schriftstellerin entwickeln könnte – wobei ich nicht sicher bin, was das heißt. Ein Existenzialist geht davon aus, dass die Welt wahrscheinlich ein böses Ende nimmt, beschließt aber, trotzdem ein moralisches Leben zu führen.

Ich nehme an, ich bin Existenzialistin, soweit ich die Definition verstehe. Da habe ich all die Monate am Sarah Lawrence Camus und Sartre studiert, und immer noch ist das für mich ziemlich vage – man könnte doch meinen, was auch immer ich schriebe, wäre wahrscheinlich existenzial, oder? Ist es aber nicht. Ich sollte mich wahrscheinlich gründlicher mit dem Potenzial der Short Story befassen. Jetzt gerade würde ich gern eine Story à la Ambrose Bierce schreiben. Er ist für mich ganz ähnlich wie Poe, noch gruseliger vielleicht. Auf jeden Fall unheimlicher als Ray Bradbury, über dessen Geschichten ich mir auch noch mal Gedanken machen muss.

8. Juni1966

Wieder ein Marsch, in der Tradition von Selma, durch ganz Mississippi,14 diese und nächste Woche. Dr. King, interviewt von einem Reporter aus Philadelphia, klingt extrem müde von den fünfzehn Meilen, die er gestern gelaufen ist. Ich sollte mir wohl bequeme Schuhe kaufen …

10. Juni1966

Anna Karenina, Seite 154

»Ich denke, wie viel Köpfe, so viel Sinne, und ebenfalls, wie viel Herzen, so viel Arten von Liebe …«15

11. Juni1966

Heute werde ich (wenn ich den Termin nicht vergesse) mit den Leuten von Fact über meine Erfahrungen am Spelman reden.16 In letzter Zeit frage ich mich, was ich wirklich weiß … Denn meine Kritik wurde ohne Liebe geübt – mit Zorn und einer gewissen Verachtung. Schlechte Lehrveranstaltungen, bourgeoise Dozentinnen und Dozenten und Mitstudentinnen mal dahingestellt – immerhin habe ich dort ja Howie, Staughton und Charles getroffen – und die wunderbare Connie.17

Es stimmt wirklich, dass wir aufpassen müssen, was wir uns wünschen – es könnte in Erfüllung gehen. Obwohl mein Leben bisher so langsam und krumm verlaufen ist, bewegt es sich doch aus eigenem (meinem) Willen in Richtung meiner Wünsche. In gewisser Weise ist das beängstigend – aber da ich mir nie wünschen werde, die Frau des Präsidenten zu sein, besteht keine große Gefahr.

27. Juni1966, New York City

Ich bin noch nicht nach Mississippi aufgebrochen, und der Gedanke, meine Arbeit zurückzulassen, ist so beunruhigend, dass es mir schon fast absurd erscheint, überhaupt hinzugehen. Aber etwas zieht mich dorthin, obwohl ich mir keine Illusionen mache, was ich bewirken kann. Ich würde gern mit Marian und Henry18 losziehen, durch die Wälder und über diese Ebenen, die so nahtlos in den Horizont übergehen.

Die Upper East Side nach der Lower East Side: ein Zuviel an Glas, neuen Autos, dünnen jungen Frauen und Geld. Man muss sich wohl daran gewöhnen, an Sauberkeit und Geld und daran, dass man davon wahrscheinlich so steril und wohlriechend wird wie ein Stück Seife.

3. Juli1966, unterwegs nach Jackson, Mississippi

Eine dicke Wolke, geformt wie ein Flugzeug, versucht mit unserem Jet zu konkurrieren – ein Windstoß, ein bisschen Sonne –, puff, das Heck ist weg, die Tragflächen sind nur noch hauchfeine Strähnen, fallen weißlich hinab wie Arme. Der blaue Atlantik, der sich ins Endlose erstreckt, mit Inseln von Ufern und Hügeln und Bergen und flachen Ebenen aus Wolken – und vielleicht bevölkert von blau-weißen Wesen, die zwischen Meer und Himmel emporschnellen und abtauchen und, wenn sie lachen und springen, glitzern wie Juwelenknöpfe.

Von hier aus sehe ich den König einer Wolkeninsel, weißer inmitten seiner Untertanen und mit Schweineohren und Rüssel. Sein Bauch reicht über sein ganzes Königreich.

Ein Wolkenband wirft seltsame Schatten auf die Berge, auseinandergezogene Perlen mit Sonne dazwischen, wie eine Halskette.

Jackson, Musterbeispiel einer Überraschung. Ich sage ja so ungern, dass es mir gefällt. Spottet nur, Laura, Marian – Melvyn.19 Aber es gefällt mir, weil die Leute hier in erster Linie tun, was sie tun wollen oder was ihrer Meinung nach getan werden muss – für die, die sich einsetzen – und für die, die es nicht tun.

August1966

Heute Nachmittag hatte ich einen schrecklichen Traum. Ich war zu Hause (in Georgia) und erzählte meiner Familie von Mississippi – dem bewundernswerten Mut der Negroes in Mississippi, den bewundernswerten Leuten, die von ihrem Land verjagt wurden und Kooperativen gegründet haben, wo die Leute nähen lernen, damit sie einer anderen nützlichen Tätigkeit nachgehen können als dem Schuften auf Pachtfeldern. Meine Mutter war den Tränen nahe. Ich selbst weinte die ganze Zeit. Ich weiß noch, ich wollte, dass sie wirklich verstünden, was andere Negroes an Leid und Not ertragen mussten, während wir an einem reich gedeckten Tisch saßen, in einer Runde von gesund aussehenden Kindern und wohlgenährten Erwachsenen. Meine Brüder guckten zweifelnd in ihrer eigenen Zufriedenheit. Nichts, was ich sagte, schienen sie mir zu glauben. Also weinte ich, und meine Mutter guckte hilflos. Meine Familie sagte nichts, nicht mal, als ich (was gelogen war) sagte, ich hätte in der Kooperative Anziehsachen für ihre Kinder gekauft.

Dann bat ich meinen Bruder, mich zu einer lokalen Negro-Kneipe zu fahren, ich glaube, weil ich mit Freunden über mögliche Bürgerrechtsaktivitäten in unserem Ort sprechen wollte. Er weigerte sich, sagte, er habe kein Benzin mehr und wolle außerdem in die entgegengesetzte Richtung. Ich sagte, kein Problem, schon okay, ich sei es gewohnt, zu Fuß zu gehen, seit ich in Mississippi sei, und er könne mich an der Tankstelle absetzen, wozu er sich bereit erklärte. An der Tankstelle stand ein Wagen voller Polizisten, und irgendwie kam es zu einer Auseinandersetzung, die sehr hitzig wurde, als die Beamten merkten, wer ich war. Dass ich in Mississippi gewesen war und vielleicht vorhatte, mit hiesigen Negroes zu sprechen – woher sie das wussten, war mir nicht klar. Meine Familie, bis auf einen meiner Brüder und meine Mutter, ließ mich im Stich, und in der Szene, an die ich mich erinnere, stehen meine Mutter und mein Bruder mit mir in dem Kreis umgeben von Polizisten. Bei dem Streit hatten sie mir den Knöchel mit einer Art Schlagstock kaputt geschlagen, und ich wunderte mich die ganze Zeit, dass es nicht wehtat und mein Bein nicht wegknickte, als ich dastand und mit ihnen redete.

Sie transportierten uns drei in ihrem Polizeiwagen ab, beschimpften dabei hauptsächlich mich. Wir hielten an einer Kirche, wo der Sheriff seine Pistole zog, damit herumfuchtelte und sagte, er werde mich töten. Nach einem Anfall von Angst, in dem ich mit ihm um die Pistole rang, sagte ich: Nur zu, und kniete mich hin, den Blick auf meine Mutter gerichtet, die wie eine abstrakte Figur in Pink aussah, ein Inbild von Schmerz, Tränen, Händeringen. Der Sheriff und ich zählten unisono auf drei und sprangen dann gleichzeitig hoch. Der Mann, der bei ihm war, sagte lachend, wir hätten ja beide Angst, und nahm dann die Pistole. Ich versuchte sie wieder an mich zu bringen, während er sie mir zwischen die Beine zwängte und abzudrücken versuchte, als die Mündung genau auf meinen Schritt zeigte. Ich entwand mich ihm so weit, dass ich die Pistole bewegen konnte, richtete sie auf seinen Rücken und drückte ab, nur um zu merken, dass sie nicht geladen war – worauf er lachte, sich wieder die Pistole griff und eine Patrone hineinschob, die aussah wie eine halb gerauchte Zigarette mit grauer Asche am vorderen Ende.

An dem Punkt ging meine Mutter dazwischen, wenn ich auch nicht mehr genau sagen kann, wie, und rief mir zu: Lauf! Lauf! – was ich tat, während sie mit dem Mann mit der Pistole rang. Weil sie glaubten, ich hätte mich unter der Kirche versteckt, steckten sie diese in Brand, aber ich rannte über Felder und kam schließlich zum Haus einer alten Negro-Frau mit hellbrauner Haut, weißem Haar und einem blauen Kleid (das ich bei einem Bankett gesehen hatte); sie behielt mich bei sich und kümmerte sich um mich, bis mein verletzter Knöchel geheilt war, und schickte mich dann los, dem Polarstern entgegen, und ich entfloh von Eisscholle zu Eisscholle über den Fluss, ein winziges dunkelhaariges Baby in den Armen. Eine moderne Eliza.20

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August1966

Eine bemerkenswerte Erinnerung: Als ich heute mit Eric21 spazieren war, sahen wir eine Blumengrube voller blühender Sommerblumen. Ich nannte sie »Blumengrube«, und eine lang verschüttete Erinnerung daran, woher ich das Wort habe, kam wieder hoch. In meiner Kindheit – als wir auf dem Land lebten – überwinterte meine Mutter ihre Blumen in einer Blumengrube. Diese Grube war so ähnlich wie ein Außenkeller, nicht sehr tief – irgendwas zwischen 1 Meter 20 und 1 Meter 80 – und direkt am Haus, um windgeschützter zu sein. Manchmal lief eine Menge Wasser in die Grube, und aus Angst, die Pflanzenwurzeln könnten erfrieren oder faulen, öffnete meine Mutter dann die Klappen oder nahm das Blech oder was auch immer weg, um Sonne hineinzulassen.

Von den Blumen erinnere ich mich am besten an die Geranien. Mama hatte sie in vielen verschiedenen Farben, aber vor allem in Rot und Lachsrosa. Ich sehe so genau vor mir, wie sie sich nach strengen Januarfrostnächten morgens über die Grube beugte. »Ich will nur schauen, wie es meinen Blumen geht«, sagte sie dann mit einem leichten Stirnrunzeln und stieg in die Grube hinab. Es ist seltsam, wie Erinnerungen wiederkommen. Jetzt steht wieder lebhaft vor mir, wie Mama Obst und Gemüse einmachte und es besser konnte als irgendjemand sonst in der Nachbarschaft. In der Erntezeit kochte sie unzählige Gläser Pfirsiche, Brombeeren, Erbsen, Mais und Bohnen ein. Unsere Wände sahen wunderschön aus von den leuchtenden Farben ihrer Erzeugnisse in den klaren Gläsern. Essbare Juwelen umgaben uns.

18. Mai196722

Ich bin ängstlich, besorgt, zerstreut, und es ist ein alt-neues Gefühl und hält sich eisern, obwohl ich es um Mels Willen überwinden muss. Es gab Zeiten, da hätte mich das Geschimpfe einer Schwiegermutter – wie in einer Geschichte – amüsiert; jetzt tut es das natürlich nicht. Es macht mir Angst, denn das Wissen, dass dieses Geschimpfe unveränderlich ist, nimmt mir jeden Optimismus, dass sich die Beziehung verbessern könnte.

Ich glaube nicht, alles zu wissen, was es zu wissen gibt, aber ich weiß, dass ich meinen Mann liebe. Dieses Leiden, sobald er leidet – mir geht es sogar körperlich schlecht, wenn es ihm schlecht geht. Mein Leben ist doppelt, und unsere Leben sind eins.

Wir sind beide nervös, überdreht, weil uns der andere so viel bedeutet.

Undatiert

Lieber Langston,23

du bist jetzt etwa einen Monat tot, und ich habe noch keine Trauer alter Schule verspürt! Mel und ich lesen jetzt deine Autobiografie und lernen dich dadurch kennen. Ich wollte, wir hätten all deine wunderbaren Geschichten aus deinem Mund hören können.

Komisch, von deiner einstigen Liebe Mary aus einem Buch zu erfahren. Ich bedaure es schon fast, dass du sie hast gehen lassen. Vielleicht hättet ihr fröhlich zusammen verhungern können. Was glaubst du, wo sie jetzt ist? Verheiratet, mit erwachsenen Kindern? Auch tot?

Ich habe dir in der Nacht geschrieben, in der du gestorben bist. Was für ein kurioser Gedanke – weil du nicht toter bist als ich. Du hast den Brief nie bekommen, und das tut mir leid. Denn ich bot dir darin unsere Hilfe an und erzählte dir auf humorvolle Weise von meinem Kreuz mit meiner Schwiegermutter. Sie kann uns Colored People einfach nicht leiden!

Und ehrlich gesagt, ich kann sie auch nicht leiden.

Du hast ja keine Ahnung, wie krank ich war. Und ich habe Angst, dass ich Mel auf die Nerven gehe. Vor allem, weil ich so viel und aus so vielerlei Gründen weine. Ich bin wohl einfach »so emotional«.

Ich wünschte, du wärst noch in der 127th Street. Du warst so ein geschätzter Freund. Wir hätten uns so gewünscht, dass du unsere Kinder kennenlernst und sie dich. Es ist schwer zu glauben, dass du fünfundsechzig warst; du hattest fast keine grauen Haare und sahst bei deiner Trauerfeier (die Mel und ich sehr schön fanden) nicht aus, als hättest du gelitten. Leider sahst du überhaupt kaum aus wie du. Du bist viel dunkler geworden zwischen deiner Jugend und jenem Abend im Lincoln Center, als wir dich das erste Mal sahen.

Ich habe nie einen großen alten Mann so gerngehabt wie dich, nach so kurzer Bekanntschaft; wärst du immer noch mein Freund –? Wäre es nicht zu komisch, wenn es einen Himmel (oder eine Hölle) gäbe und du jetzt dort mit denjenigen deiner alten Kumpels herumhingst, die es geschafft haben?

Vielleicht treffen wir uns ja, aber wenn nicht, bist du hier bei uns, in jedem Wort, das du geschrieben hast.

In Liebe, immer und allezeit,

Moi

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Sprüche10:15. … Die Habe des Reichen ist seine feste Stadt, aber das Verderben der Geringen ist ihre Armut.

Mein alter Mann (Grange)24 glaubt, als er die Liebe der Bürgerrechtler mitbekommt, dass das tausendjährige Friedensreich, auf das er (wegen seiner Enkelin Ruth) gewartet hat, da ist – doch dann geht er eines Tages als Zuschauer zu einer Demonstration und sieht, wie die Polizei auf die jungen Männer einprügelt. Die Demonstration geht weiter und wird von allen als »Erfolg« gefeiert, aber er wird nachdenklich, verliert die Hoffnung auf die Zukunft. Er weiß zu genau um den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Das war es noch nicht mit dieser Weigerung zu lieben, sagt er zu Ruth.

4. Dezember1967

Es ist viel passiert seit meinen letzten Einträgen, die sechs, sieben Monate her sind. Mein Leben ist erfüllter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und das liegt an meiner Liebe, nicht so sehr an meiner Arbeit. Die Kunst wird immer das Leben kopieren.

Mein Mann ist gekommen und hat mein Herz für immer in Beschlag genommen. Er ist derjenige, welcher; es ist wie ein Märchen in seiner Endgültigkeit – kann es irgendeinen Zweifel geben, dass wir, was auch immer passiert, glücklich und zufrieden sein werden bis an unser Lebensende? Ich hätte nie geglaubt, dass ich je mit jemandem eins werden könnte – aber jetzt bin ich eins. Mit M.

Es scheint zu stimmen, dass die Träume, die man hat, wahr werden, wenn man nur lange genug wartet und im Herzen eine hoffende Jungfrau bleibt.

Der Roman wird ebenfalls Wirklichkeit, wenn auch langsam. Vielleicht hätte ich Hemingways Beispiel folgen sollen – Kurzgeschichten, bis der Roman unvermeidlich ist. Ich weiß es nicht. Vielleicht schreibe ich ja einfach komisch. Aber auf jeden Fall glaube ich bei vielen Themen, Storys, »Ideen« Fortschritte zu sehen.

Mel und ich sind unabhängig. Keine Schulden so weit. Das gefällt mir. Es gibt uns Freiheit von Leuten, die sich nur einmischen wollen. Manchmal frage ich mich, ob es (unser Leben) komplizierter oder unkomplizierter ist als vorher, als wir Singles waren. Es ist so ein seltsamer und manchmal Angst erzeugender Trost: jemanden zu haben, an den man sich anlehnen kann.

19. Dezember

Nächste Woche um diese Zeit bin ich hoffentlich zu Hause bei meinem geliebten Mann und unserem Myshkin.25

Fiktion ist nicht wie Lyrik, denn die ist echt und wahr und niemals fiktional.

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CANE:von Jean Toomer, Boni & Liveright,239S.

So was von unterschätzt, dieses Werk, ganz sicher. Ich muss herausfinden, wie es bei seinem Erscheinen aufgenommen wurde. So offensichtlich sein Einfluss auf R. Wright!26 So frei seine Darstellung der Schönheit des Südens! Es hat eine Frische, die einem Großteil der Schwarzen Literatur von heute leider fehlt.

Frische, Kürze, Allgemeingültigkeit.

Wirklich bereit fühle ich mich jetzt für meinen Kurzgeschichtenband. Der Roman bringt mich durcheinander. Wenn ich ehrlich bin.

So weit wie möglich (ganz!) müssen meine Charaktere Menschen mit ihrer eigenen menschlichen Natur sein. Unabhängig von den Zwängen, die ihnen die weiße Welt auferlegt. Man könnte etwa eine Schar von Rektoren, Collegepräsidenten und sogar Dozenten haben, deren Grausamkeit und Engstirnigkeit ihnen zumindest die Überzeugung gibt, frei zu sein. Frei genug, dass man sie beim Schreiben (das Gute in ihnen natürlich ebenfalls vorausgesetzt) als in sich vollständige Entitäten behandeln kann, ohne sie als bösartige Auswüchse des Systems des weißen Mannes darzustellen.

Und Schönheit muss auch da sein. Die volle, uneingeschränkte Schönheit, die darin liegt, dass Individuen ihr Leben leben. Eine Schönheit, die man selten erblickt, weil Unterdrückung sie für die meisten von uns verdunkelt. Und doch macht sie unsere Stärke aus. Diese Schönheit ist der Quell dessen, was wir an Mut und Liebe zum Guten haben. Nicht das Hässliche, aus dem nur die Angst kommt.

Was ich sagen muss: dass wir einander immer schon Leid zufügt haben, die Eltern mehr als die Großeltern – weil sie so direkt damit befasst sind, ein neues Geschöpf dafür zu schaffen, die gleichen Probleme zu ertragen. Dass die Alten die Jungen führen müssen, nicht nur indem sie sie die manchmal gewaltsame Kunst der Selbstbehauptung lehren, sondern auch indem sie eine Haltung der Fürsorglichkeit weitergeben, einen bewussten Sinn für Zusammenhalt. Wir müssen volle Verantwortung füreinander übernehmen, wie es unsere besten Vorbilder taten. Selbst angesichts von Waffengewalt müssen wir einander befreien, so wie es Harriet Tubman tat, indem sie ihre ängstlichen Schützlinge durch die Sümpfe führte.

8. Juli1968

Habe heute Exemplare meines Gedichtbands [Once] erhalten.27 Ein paar unmittelbare Reaktionen – das Cover gefällt mir nicht, zu sehr wie eine Borax-Packung. Das Foto von mir auf der Rückseite mochte ich auch nicht. Ich sehe alt und müde aus. Fand, dass das Ganze billig wirkt. Später ging es mir schon besser damit. Aber die Gedichte sind vor so langer Zeit geschrieben, und ich bin jetzt so anders. Ich bin nicht mal mehr derselbe Mensch.

Exemplare des Buchs zu verteilen ist schön, weil Schenken eine der großen Freuden ist, die uns noch bleiben.

Es ist gut, dass wir Andrew28 haben, er hält mich davon ab, Myshkin nachzutrauern. Wie können Menschen jemandem einen Hund stehlen? Das ist fast, wie ein Kind zu stehlen. Mel ist glücklicher jetzt, wo wieder ein Hund im Haus ist.

11. Juli1968

Nachdem ich mich viele Monate lang gefragt habe, wie ich als verheiratete Frau weiter ein persönliches Tagebuch führen kann, habe ich (glaube ich) die Antwort gestern Abend durch Zufall gefunden. Und zwar, als eine dritte Person, eine junge Frau, die wir beide gernhaben, die Gefühle meines Mannes verletzte. Da, als ich seinen Schmerz fühlte, wurde mir klar, dass er mein persönliches Leben ist und dass wir wahrhaft eins geworden sind.

Er war verletzt, weil Barbara29, unsere engste Freundin, ihn letztlich immer noch als Weißen betrachtet. Ich bin wohl der einzige Schwarze Mensch, der es nicht tut. Tatsächlich sind wir Schiffbrüchige auf der Insel Amerika, nur wir beide gegen die Schwarze und die weiße Welt, aber wie das unsere Liebe befeuert! Es erinnert mich an Wosnessenskis Gedicht über die sorgenbedrängten Liebenden, die wie die Schalen einer Muschel ihren Schmerz umschließen, aber auch ihre intensive Freude darüber, dass ihnen die Götter eine so grandiose, fast schon heroische Emotion gewähren.

Wie hätte ich mich als Frau eines Predigers gelangweilt!

Jetzt, wo ich festgestellt habe, dass meine Stimme manchmal stark genug für zwei ist, gibt es so vieles zu schreiben, worüber ich vorher nicht schreiben konnte. Da ist die zunehmende Feindseligkeit von Schwarzen hier in Jackson gegenüber Weißen – aber nicht gegenüber den reaktionären »Crackern«, die es verdient hätten, sondern gegenüber den weißen Bürgerrechtlern, die es meiner Meinung nach nicht verdienen.

Ich muss daran denken, wie Ronnie droben in Bolivar von einem Schwarzen Jungen schwer am Kopf verletzt wurde. Ronnie!30 Der sich jeden Sommer in Mississippi den Arsch aufgerissen hat, um Schwarze Menschen zum Wahllokal zu transportieren. Weil er weiß ist und das Schwarze Bürschchen wusste, er würde sich nicht wehren und nicht die Polizei rufen! Es ist so unfair. Und der arme Ted Seaver, der zusammengeschlagen wurde, weil er erfolgreicher im Mobilisieren von Wählern war als sein Schwarzer »Freund«. Und dann ist da der Schwarze Mann aus Boston, der seine Familie verließ, um sich in Mississippi zu engagieren (Frau, Kinder; warum engagierte er sich nicht in Roxbury, das es genauso nötig hat wie Mound Bayou?), und der meinem Mann androhte, ihn zu verprügeln. Wenn er es je versuchen würde, würde ich ihn umbringen wollen, und ich würde ganz bestimmt wollen, dass Mel ihn anzeigt. Genug ist genug! Für mich ist Mel, solange er dafür arbeitet, diese Welt zum Besseren zu verändern, ohne jede Schuld. Und natürlich gibt es für mich keine weißen Menschen, nur eine weiße Gesinnung. Malcolm hat das gelernt, Baldwin wusste es wohl schon die ganze Zeit. Wie könnte mein Mann weiß sein, wenn wir gemeinsam versuchen, die Welt tauglich für unsere Braunen Kinder zu machen? Für unsere Freunde, die andere Hautfarben haben, aber Wahlschwarze sind?

Barbara kritisierte Mel dafür, dass er diesem Land zutraute, jede Erhebung von Schwarzen zu unterdrücken. Aber sie und ich haben das auch schon gesagt, dieselbe düstere Feststellung gemacht. Doch nach all der Zeit ärgert es sie, dass er es als Weißer sagt. Und obwohl ihr Ärger verständlich ist, sind wir tief verletzt – kommt es daher, dass wir geglaubt hatten, in unserem kleinen Freundeskreis das Konzept von Color als allein durch die Hautfarbe bestimmt abgeschafft zu haben?

15. Juli