Bratwurstschnecke mit Wirsing - Christina Knödler - E-Book

Bratwurstschnecke mit Wirsing E-Book

Christina Knödler

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Beschreibung

Was als harmloses Mittagessen im Krankenhaus beginnt, wird zum Wendepunkt ihres Lebens: Die Diagnose Hirntumor. Kein gewöhnlicher Tumor, sondern ein extrem seltener, von dem kaum jemand je gehört hat. In diesem schonungslos ehrlichen Erfahrungsbericht erzählt die Autorin von den Monaten voller Schmerzen, Hoffnungslosigkeit und der schockierenden Erkenntnis, dass es manchmal keine einfachen Antworten gibt. Aber auch davon, wie man inmitten des Chaos lachen, lieben und leben kann. Dieses Buch ist keine medizinische Abhandlung, sondern ein mutiger, persönlicher Blick in eine Welt, die niemand freiwillig betreten möchte. Es ist ein Zeugnis vom Kämpfen und Zweifeln, vom Verzweifeln und Neuanfangen – und vom unerschütterlichen Willen, das Schöne nicht aus den Augen zu verlieren.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christina Knödler

 

 

Bratwurstschnecke mit Wirsing

 

 

 

 

 

 

 

© 2025 Christina Knödler

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

I.„Mama, ich habe einen Engel gesehen.“

II.„Das ist Leben.“

III.Liebe, Verlust und Erschöpfung

IV.Doch dann wurde alles schwarz

V.„Schmerz ist eine Illusion.“

VI.„Frohes Neues!“

VII.Als Tochter einer solchen Frau gibt man nicht auf

VIII.Die Welt hatte sich einfach weiter gedreht

IX.Der Idealtypus eines Krüppels

X.„Weil ichˈs kann.“

 

Prolog

Herzlich Willkommen in meinem kleinen Universum, das bei einer Bratwurstschnecke mit Wirsing auf den Kopf gestellt wurde.

Auch wenn ich nun alle Leser enttäuschen muss, die sich auf die hundert besten Rezepte gefreut haben: Nein, es geht nicht um Bratwurst, sondern um einen der seltensten Hirntumore überhaupt, um ein zentrales Neurozytom. Sagt Dir nichts? Ist nicht schlimm, den meisten Ärzten geht es ähnlich.

Meinem Vater gegenüber habe ich meine Motivation für dieses Buch so erklärt: „Mein Leben ging immer weiter. Ich habe nie die Zeit dafür gefunden, meine Vergangenheit zu verarbeiten. Stattdessen habe ich immer alles in eine große Kiste geworfen, sie abgeschlossen und in die Ecke gestellt. Immer dachte ich: Ich habe gerade keine Zeit mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen. Doch die wird schon noch kommen. Überraschung: Sie kam nie. Irgendwann war meine Kiste dann so voll, dass ich sie nicht mehr abschließen konnte und mir der komplette Inhalt um die Ohren flog. So war ich gezwungen, aufzuräumen – ob ich wollte oder nicht. Doch das war gut so. Denn auch wenn es sehr viel Arbeit bedeutet hat: Das Ergebnis war Ordnung.“

Ursprünglich habe ich dieses Buch nur für mich geschrieben, um meine Erlebnisse zu verarbeiten. Ich wollte mein Leben wieder unbeschwert genießen können und dabei stand mir meine Vergangenheit im Weg – oder eben der Haufen unsortierter Dokumente, den ich jeden Tag vor Augen hatte.

Schreiben war für mich schon seit der Kindheit wie eine Art Diskussion mit mir selbst und hat mir auch bei der Verarbeitung meines Tumors geholfen. Nun fliegt mir nichts mehr um die Ohren. Stattdessen kann ich mir Erinnerungen hervorrufen, wann ich es will, ohne dass sie sich gewaltsam aufdrängen. Und mit dem Leben weitermachen.

Also: Mission – erfolgreich!

Doch dann stieß ich bei der Suche nach neuen Informationen zu meinem Tumor auf Personen, die nach Erfahrungsberichten zu genau dieser Art suchten. Ich kannte das Gefühl, mit seinem Schicksal allein zu sein, und verspürte das Bedürfnis zu helfen. Ich wollte der Welt sagen: „Hey, hier ist niemand allein. Vielleicht sind wir nicht viele, doch es gibt Menschen, die euch verstehen.“

Dann kamen mir wieder Zweifel: Bei nur wenigen hundert bekannten Fällen seit den 1980er-Jahren schien es mir eine schwachsinnige Idee. Denn zumindest statistisch betrachtet würde das Thema niemanden interessieren.

Nachdem ich meine Gedanken an eine Veröffentlichung verdrängt hatte, kramte ich sie dann doch wieder hervor: Denn, wenn ich nur einer einzigen Person auf dieser Welt ein kleines bisschen Zuversicht oder vielleicht auch nur eine kurze Auszeit vom Alltag schenken könnte, hätte ich mein Ziel mit der Veröffentlichung erreicht. Doch es gar nicht erst zu versuchen, fühlte sich falsch an.

Vielleicht ist es auch ganz gleich, ob es ein Hirntumor, eine seltene Erkrankung oder eine ganz andere Herausforderung im Leben ist: Irgendwie sitzen wir ja doch alle im selben Boot.

Denn ja, das Leben ist skurril und ziemlich chaotisch. Aber genau das macht es einzigartig. Und vielleicht, nur vielleicht, hilft es auch anderen, darüber zu lachen und sich auf die positiven Seiten zu konzentrieren, selbst wenn es manchmal schwer fällt.

Mein Leben hat mir jedenfalls gezeigt: Es gibt immer auch Schönes, selbst wenn alles schief zu laufen scheint. Man muss nur bereit sein, diese Dinge auch wahrzunehmen und zu schätzen.

Ich behaupte nicht, dass mein Erfahrungsbericht immer leicht bekömmlich sein wird, denn Krebs ist nun mal ein Arschloch – ob mit Seltenheitswert oder ohne.

Ich kann nur eins versprechen: nichts ist geschönt, nichts hinzuerfunden. Es ist einfach nur das, was ich als mein ganz normales Leben bezeichne.

Lass uns nun gemeinsam in meine Gedankenwelt eintauchen und die Reise beginnen.

Ich freue mich, dass Du dabei bist!

 

 

„Mama, ich habe einen Engel gesehen.“

Es war ein trister Wintertag in einem sterilen Krankenhauszimmer. Für alle, die es ganz genau wissen wollen: Es war Dienstag, der 22. Dezember 2009. Viel war nicht los, denn die meisten Patienten waren bereits für die Feiertage entlassen worden. An den Wänden hingen zusammengewürfelte Kunstwerke mit vermeintlich aufmunternden Landschaften und Stillleben. Die provisorische Weihnachtsdekoration wirkte deplatziert. Doch ich war froh für die bunten Farbkleckse, denn die weißen Wände brannten mir in den Augen. Seit Monaten sah ich alles wie durch einen hellen Schleier und bunte Blitze und Wellen rahmten mein Sichtfeld ein.

Im Hintergrund vernahm ich Informationen über irgendwelche vermeintlichen Promis und Diättipps: „Wie sie die Weihnachtstage genießen und dabei abnehmen!“ – Ist klar, ne. Das typische Fernsehprogramm am Vormittag eben. Meine Zimmernachbarin – die Herrin der Fernbedienung – hatte das Talent von morgens bis abends den Sinn ihres Lebens in der Glotze zu suchen. Na ja, nicht ganz. Denn hin und wieder klingelte ihr Telefon und dann jammerte sie lauthals über ihr tragisches Schicksal: „Jaaaaa, mein Blutdruck ist noch immer zu hoch. Die sollen mich bald mal entlassen. Sonst verpasse ich noch meinen Flug! … Nee, stornieren kann ich nicht mehr.“

Eigentlich genoss ich diese Auszeiten. Denn wenn sie telefonierte, fragte sie mich wenigstens nicht nach meiner Meinung zur aktuellen Ehekrise irgendwelcher C-Promis.

Ich wollte nicht reden. Ich wollte kein Fernsehen schauen. Eigentlich wollte ich nur schlafen. Die Kanüle in meinem linken Arm pumpte mir so viele Substanzen in den Körper, dass ich alles nur noch aus ganz weiter Ferne wahrnahm. Keine Ahnung, welcher Mix es diesmal war – es war mir egal. Keine Ahnung, wer sie war – auch das war mir egal. Sie hatte sich mir zwar am Abend zuvor vorgestellt, aber nach meiner vierten oder fünften Schmerzmittelinfusion des Tages hatte ich ihren Namen im gleichen Moment wieder vergessen. Ich schämte mich nicht dafür, es war mir egal. Ja, mir war fast alles egal. Denn ich war schmerzfrei und das war die Hauptsache. Nicht denken, nicht reden, nur schlafen.

Jedenfalls bis es an der Tür klopfte und mich eine fröhliche Frauenstimme aus meinem Delirium riss: „Mittagessen die Daaamen!“ Ich brauchte meine Zeit, bis ich wieder wusste, wo ich war und warum ich aufstehen sollte. Ich nahm meinen Infusionsständer, setzte mich auf, wartete bis der Schwindel nachließ und schleppte mich zum kleinen Esstisch.

„Nee, Frau Knödler, sie noch nicht. Da müssen wir erst mal gucken, was ihr Zucker dazu sagt.“ Auch nett, mir das Essen hinzustellen bei der Option, es mir gleich wieder wegnehmen zu müssen. Sie packte meine Hand, pikste mir in den rechten Zeigefinger und wartete mit prüfendem Blick auf das Ergebnis meines Zuckerwertes. „Jooooah, das geht noch so gerade. Dann können sie loslegen. Guten Appetiiiit die Daaamen.“

Meine Zimmernachbarin gegenüber am Tisch schlang bereits das Essen hinunter – selbstverständlich ohne ihren Blick vom Fernseher abzuwenden. Also nahm auch ich die Plastikhaube von meiner Mahlzeit. Es gab Bratwurstschnecke mit Wirsing und Kartoffelpüree. Hunger hatte ich keinen, trotzdem versuchte ich zu essen, bevor mir das Personal wieder sagte, ich müsste doch etwas zu mir nehmen.

Gerade noch war ich stolz, wie ich den ersten Happen Wirsing auf meine Gabel drapiert hatte. Das war gar nicht einfach mit der Infusion im Arm und meinem zittrigen Körper. Ich führte die Gabel erwartungsvoll zum Mund und hoffte, dass sie ihr Ziel unfallfrei erreichen würde, als die Zimmertür aufgerissen wurde. Kein Klopfen, kein Hallo, hatte derjenige wohl nicht nötig. Ein älterer Herr mit Grauschopf betrat den Raum. Der Chefarzt namens Ackermann, den ich am Abend zuvor schon gesehen hatte. „Ah, sie sind gerade beim Essen.“ Ich nickte, was sollte man dazu auch groß sagen? Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Frau Knödler, am besten legen sie sich mal ins Bett.“

Ich war irritiert, aber dachte nichts Schlimmes. Wie gesagt, Denken war eh zu anstrengend und ich tat einfach, was man mir sagte. Vielleicht wollte er ja nochmal Blutdruck messen oder so, das war für mich in diesem Moment das naheliegendste. Im Nachhinein betrachtet, war dieser Gedanke schon ziemlich dämlich. Vielleicht war ich aber auch nur sauer, weil ich nun wieder meinen Infusionsständer packen und mich bewegen musste. Die kleinste Kleinigkeit war viel zu anstrengend.

Noch bevor ich im Bett angekommen war, ließ er sich auf meinen gerade freigewordenen Stuhl am Esstisch fallen. Eigentlich auch ungewöhnlich, nicht zu mir zu kommen, wo er doch mit mir reden wollte. Ob er die Distanz halten wollte? Noch immer ahnte ich nichts Schlimmes.

„Nun, wir haben ja gestern Abend nochmal eine MRT gemacht.“ Mir fiel auf, dass seine Stimme plötzlich nicht mehr herrisch und laut klang. Er redete langsam und suchte nach Worten.

„Da haben sich wohl ein paar Zellen in ihrem Kopf angesammelt, die da nicht hingehören.“ Ein paar Zellen – das klang ja erst einmal nicht so schlimm. Doch ˈnicht schlimmˈ passte nicht zu seinem betroffenen Gesichtsausdruck. Ich lächelte freundlich und nickte und ohne zu begreifen wieso, spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und meine Wangen hinunterliefen.

Ich habe keine Ahnung, was er noch sagte. Ich versuchte nur meine Fassung zu bewahren und zu begreifen, was er mir da gerade klar machen wollte. Beides funktionierte übrigens nicht.

Ich sah nur einen zusammengekauerten Mann vor mir, der nichts mehr mit der Person zu tun hatte, die vor wenigen Minuten den Raum betreten hatte. Seine Augen waren zu Boden gerichtet, seine Füße schienen spannend zu sein. Seine Lippen bewegten sich zwar, doch es war, als hätte ich ihn auf stumm geschaltet. In meinem Kopf rasten die Gedanken kreuz und quer. Aber ich konnte keinen einzigen davon zu Ende denken. Vielleicht lag es an meinem zugedröhnten Zustand, vielleicht nur an der Situation.

Erst als er seinen Blick hob und versuchte mich anzusehen, bemerkte ich, dass er still geworden war. Als hätte er den Schalter zum Chefarzt wiedergefunden, sprang er plötzlich auf und meinte: „Ja dann, essen sie doch mal weiter. Was gibt es? Ah, Bratwurstschnecke mit Wirsing. Lecker! Dann lassen sie es sich schmecken.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er aus dem Raum.

„Was war das? Was war hier gerade passiert? War das real?“, schoss es mir durch den Kopf. Doch ohne weiter darüber nachzudenken, atmete ich tief ein, dann wieder aus, trocknete meine Tränen und schlich mit meinem Infusionsständer wieder zum Tisch zurück.

Menschen in Schocksituationen sind wirklich seltsam. Denn ich hatte wirklich vor, mich nun endlich meinem Wirsing zu widmen. Einfach mit dem weitermachen, was gerade anstand. Denn ich hatte noch immer nicht begriffen, was hier gerade Sache war. Ich konnte die Situation schlicht und ergreifend noch nicht einordnen.

Doch irgendetwas war anders. Was es war, wurde mir klar, als ich meine Zimmergenossin anschaute: Der Klatsch im Fernsehen war zum allerersten Mal nicht interessant. Stattdessen starrte sie mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Und im selben Moment wurde mir eins klar: „Fuck, der Typ hat dir eben gesagt, dass du einen Tumor im Kopf hast!“

Es fühlte sich an, als bekäme ich keine Luft mehr. Plötzlich war alles zu viel. Ja, ich wollte, dass man mir endlich half. Ich wollte ernst genommen werden. Und ich wollte, dass die Schmerzen aufhörten und die Sehstörungen weggingen. Aber hätte es nicht irgendetwas anderes sein können? So ganz nach dem Motto: Tablettenkur und alles wieder fein?

Doch auch diese Hoffnung war eigentlich absurd, wie mir meine Vergangenheit bereits gezeigt hatte.

***

Migräne hatte ich schon in meiner Kindheit kennenlernen müssen. Die ersten Anfälle mit Sehstörungen, Übelkeit, Halluzinationen und diesen unerträglichen Kopfschmerzen waren beängstigend. Und ich war eben ein Kind gewesen. Wie hätte ich damals begreifen können, was mit mir geschah?

Vor allem bei meinem allerersten Anfall im Leben hatte ich große Angst gehabt. Es war Winter und in der Schulpause spielte ich mit meinen Freundinnen auf dem Hof. Wir rutschten auf den eisigen Flächen herum, als ich mich zu doll abstieß und vor einer Mauer nicht mehr abbremsen konnte. Ich fing den Stoß mit meinen Händen ab, doch dieser Ruck schien etwas in meinem Kopf ausgelöst zu haben.

Im folgenden Unterricht sollten wir etwas von der Tafel abschreiben. Ich verstand nicht, wieso, aber ich konnte den Text nicht lesen. Die Worte an der Tafel waren verzerrt und als ich den Blick in mein Heft richtete, bemerkte ich die blinden Flecken, die ich damals noch auf die Sonne schob. Doch sie waren nicht dunkel, da war einfach nichts. Zumindest nichts, was ich hätte zuordnen können. Als hätte man mir an diese Stelle einen dichten Schleier vorgehängt. Ich wusste, dahinter musste etwas sein, aber ich kam nicht dahinter, was es sein konnte. Mir wurde schwindelig und das war auch das Einzige, was ich meiner Lehrerin mitteilte, um mich dann von meiner Oma abholen zu lassen.

Zu Hause angekommen, legte ich mich sofort auf die Couch. Mein Herz raste, der Schwindel war immer noch präsent, ebenso wie die blinden Flecken. Ich hatte Angst, diese würden nun für immer bleiben. Am Nachmittag fragte ich dann meine Mutter, wieso die ganze Zeit das Telefon klingeln würde – aber sie schaute mich nur verdutzt an und versuchte mir zu erklären, dass dies nicht der Fall sei. Ich verstand es nicht, doch hatte keine Chance weiter darüber nachzudenken. Denn den Rest des Tages quälten mich unerträgliche Kopfschmerzen und das ständige Erbrechen. Dafür gingen zumindest die blinden Flecken wieder weg.

Doch der Mensch gewöhnt sich ja bekanntlich an alles – vor allem, da Migräne fortan zu meinem Leben dazugehörte. Und irgendwann begriff ich dann auch, dass die Halluzinationen und Sehstörungen immer wieder verschwinden würden, sobald der Anfall abebbte. Das beruhigte mich. Schön war es natürlich trotzdem nicht. Denn wenn ich eine Sehstörung bemerkte, wusste ich, was ich in den nächsten Stunden durchmachen musste: Schmerzen ertragen, die mich zum Weinen brachten, und mich dabei ständig übergeben müssen. Die Schmerzmittel, die ich nehmen konnte, sah ich immer sehr schnell wieder und für den richtig guten Shit, der bei Migräne wirklich etwas bringt, war ich noch zu jung. So musste ich schon als Kind lernen, dass Schmerz nur in einem einzigen Moment schön sein kann: Nämlich dann, wenn er weniger wird.

Allerdings häuften sich die Anfälle während der Oberstufe und irgendwann konnte ich kaum noch auf weiße Wände schauen. Unabhängig davon, ob ich eine akute Migräneattacke hatte oder nicht. Na ja, dafür kann ich nun bei fast absoluter Dunkelheit sehen – hat auch seine Vorteile.

Blöd waren aber die zahlreichen Fehlzeiten in der Schule und die damit einhergehenden Vorwürfe der Lehrer. Nicht nur einmal kam es vor, dass ich eine Entschuldigung abgab und mir dann vor dem ganzen Kurs anhören musste: „Na Knödler, schon wieder Kopfschmerzen gehabt? Lassˈ dir mal was Neues einfallen!“ Lautes Gelächter. Dinge, die prägen.

Natürlich habe ich in dieser Zeit nochmal eine MRT-Untersuchung durchführen lassen. Leider geriet ich hierbei an eine Radiologin kurz vor der Rente, die in den Aufnahmen nichts Außergewöhnliches sah und lediglich zu mir meinte, es sei nur der Stress durch das Abitur, ich sollte bei einem Anfall zwei Paracetamol nehmen und mich für eine halbe Stunde ins Bett legen. Ich selbst hatte zwar nicht das Gefühl, dass mich die Schule so sehr unter Druck setzen würde, doch auch das hatte sie schlichtweg ignoriert. Sie hatte ihre Meinung und bei dieser blieb sie auch.

Ich weiß nicht, ob es an meinen blauen Haaren und meinem Gothiclook mitsamt Lederklamotten und Stachelhalsband lag, aber damals bekam ich ständig das Gefühl vermittelt, nicht ernst genommen zu werden. Zu oft wurde meine Situation verharmlost und ins Lächerliche gezogen. Alles schien unter dem Motto zu laufen: ˈKnödler, die Dramaqueenˈ. Die, die versucht, mit aller Kraft die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber das stimmte eben nicht. Ich wollte doch einfach nur ein normales Leben führen.

Trotzdem behielt ich weitere Erlebnisse dann lieber für mich. Beispielsweise zerlegte mein Gehirn auf meinem Schulweg einmal ein Straßenschild automatisch in einzelne geometrische Figuren – tja, wer kann, der kann. Viel erschreckender war es, als ich mein Bewusstsein in der Badewanne unter Wasser wiedererlangte und prustend und japsend auftauchte, um einen rettenden Atemzug zu nehmen. Bis heute weiß ich übrigens nicht, wie ich überhaupt in diese Wanne gekommen bin.

Aber wie gesagt: Der Mensch gewöhnt sich an alles. Und es war mir lieber diese Dinge für mich zu behalten, wenn ich dafür nur keine Häme erfahren müsste.

Wahrscheinlich hätte ich so weiter gemacht, immer weiter. Doch irgendwann ging es einfach nicht mehr: Vor meiner Einweisung ins Krankenhaus habe ich ein halbes Jahr lang keinen schmerzfreien Tag mehr gehabt. Ich hatte sogar mehrere Anfälle in wenigen Stunden und mein Körper sehnte sich so sehr nach Erholung.

Mein Abitur hatte ich zu diesem Zeitpunkt übrigens schon in der Tasche, daran konnte es also tatsächlich nicht gelegen haben. Das machte die Situation allerdings nicht besser, denn so fehlte jeglicher Ansatz einer möglichen Erklärung.

Ich weiß nicht, wie oft der Notarzt in dieser Zeit bei mir oder ich in der Notaufnahme gewesen bin. Doch jedes Mal hieß es, es sei nur Migräne, ich könnte wieder nach Hause.

Aber ich wollte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, mein Leben würde nie wieder lebenswert werden und keiner konnte oder wollte mir helfen. Mein Hausarzt hatte sämtliche Anfallsprophylaxen und Migränepräparate ausprobiert. Ohne Erfolg. Na ja, nicht verwunderlich, da es sich gar nicht um Migräne, sondern um Tumorschmerzen gehandelt haben musste, aber das konnte er ja auch nicht wissen. Schließlich war die von ihm veranlasste MRT doch ohne Befund geblieben.

Und so schlich sich mehr und mehr bei mir das Gefühl ein, ich müsste doch verrückt sein. Aber konnte man sich so etwas wirklich einbilden? Die Schmerzen waren da und ich wollte nicht mehr das Bett hüten mit dieser ständigen Übelkeit. Trotzdem hatte ich nie den Negativbefund des MRTs infrage gestellt. Sie war schließlich Ärztin und ich nicht, also gab ich ihr Recht. Und wenn alle sagten, ich würde mich nur anstellen, dann müsste das wohl auch so sein. Das nennt man dann wohl Intelligenz der Masse. Also redete ich mir weiter ein, dass ich einfach nur wahnsinnig einen an der Klatsche haben müsste. Leider blieb mein körperlicher Zustand davon unbeeindruckt.

Mit jedem Tag fühlte es sich mehr und mehr an, als zöge das Leben an mir vorbei. Als sei ich gefangen in meinem Körper und in meinem Sein.

Von meinen ehemaligen Mitschülern hörte ich nur von ihren großen Plänen: Uni, Umzug oder Work and Travel. Läuft bei denen, nur nicht bei mir. Und mitzubekommen, wie ein Leben auch verlaufen konnte, machte es nicht besser. Ja, ich war neidisch.

Die einzigen Dinge, die ich in dieser Zeit zustande gebracht habe, waren ein Kinobesuch mit Freunden und ein Placebo Konzert mit meinem Bruder. Vor beiden Ereignissen dröhnte ich mich dermaßen mit Schmerzmitteln zu, dass ich die ersehnte Abwechslung gar nicht genießen konnte und mich auch hier nur durchschleppte. Anfälle bekam ich aber trotzdem.

Bei dem Konzert übrigens genau in dem Moment, als Brian Molko sinngemäß: „Baby, hast du vergessen, deine Medikamente zu nehmen?“, in sein Mikro grölte und ich mich fragte, ob das nun ein Zufall sein konnte. Doch so oft, wie mir in meinem Leben mittlerweile die passende musikalische Untermalung zu den jeweiligen Lebensumständen gereicht wurde, scheint mein Schutzengel einfach ein sehr lustiges Kerlchen zu sein.

Zu oft lag ich im Bett und schaute sehnsüchtig nach draußen, wo ich fröhliches Kinderlachen vom Spielplatz vernahm. Ich sehnte mich so sehr nach Leben und immer, wenn ein Anfall abebbte, hegte ich Hoffnung: „Das war aber nun wirklich der letzte. Jetzt geht es bergauf!“

Doch mit der Zeit wurde diese Hoffnung schwächer und schwächer und irgendwann kehrte sie sich um in den Wunsch, endlich erlöst zu werden. Ich wollte nicht mehr und ich bin mir sicher, ich hätte mich umgebracht. Hätte ich nur die Kraft dafür aufbringen können.

Ich weiß noch genau, in welchem Moment dieser Gedanke das erste Mal in meinem Kopf auftrat und mich meine Hoffnungslosigkeit übermannte. Der eine Anfall war gerade vorüber und der nächste begann bereits. Es wurde nicht besser, es wurde immer noch schlimmer und leider hatte ich das zu diesem Zeitpunkt schon sehr wohl begriffen.

Ich brach in Tränen aus und nahm die Hand meiner Mutter, die so oft bei mir am Bett gesessen hatte. Ich wimmerte und schaute ihr in die Augen, als ich begann: „Mama, ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.“ Ich wusste genau, dass sie verstanden hatte, was ich ihr damit sagen wollte. Denn als sie mir über die Wange strich, sah ich den Schmerz in ihren Augen und sie flüsterte: „Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Es ist okay.“ Sie versuchte zu lächeln und für mich stark zu sein. Doch nichts ist trauriger, als einen Menschen vor sich zu haben, der bei diesem Versuch anfängt zu weinen. Und das werde ich niemals vergessen können.

***

Aber der Tag meiner Einweisung war ein guter Tag, denn es war der Wendepunkt. Ich lag im Bett, mein Nachttisch quoll über vor all diesen nutzlosen Medikamenten, die mir ausschließlich die Hoffnung raubten, meinen Zustand wenigstens etwas verbessern zu können. Der Staub auf meinem Schreibtisch verriet, wie lange ich es doch schon nicht mehr geschafft hatte, länger aufrecht zu sitzen.

Ich lag nur da und beobachtete meine Ratten Batida, Coco, Zora und Luna, die mich mit ihrer verrückten Art immer noch etwas aufmuntern konnten. Die Vier rangelten um den besten Platz in der Hängematte. Irgendwann wurde es Coco zu bunt und so widmete sie sich ihrer Lieblingstätigkeit neben Kuscheln und Schlafen: Essen – das verriet auch ihr kleines Kugelbäuchlein.

Dann spürte ich plötzlich wieder einen stechenden Schmerz und Schwindel. Ich atmete tief durch, drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Trotzdem drehte sich alles weiter. „Selbst im Bett liegen ist also schon zu anstrengend? Noch weniger geht doch gar nicht! Was eine scheiße“, dachte ich betrübt. Ich blieb wohl ein paar Minuten so liegen und wartete darauf, dass dieses Gefühl Achterbahn zu fahren vorbeiging. Vergeblich. Na ja, wenigstens war es kostenlos.

Aber dann bemerkte ich eine plötzliche und vollkommene Stille im Raum. Selbst die Ratten waren nicht zu hören. Ungewöhnlich. Gleichzeitig verschwanden Schmerz und Schwindel, so plötzlich wie sie aufgetreten waren. Ich öffnete die Augen. Und vor mir stand ein Engel. Ich denke jedenfalls, es war einer: Ich sah eine menschenhafte Gestalt in Form von schimmernden, goldenen Umrissen. So nah, dass ich ihn fast berühren konnte. Und ich hatte keine Angst. Nein, ich war vielmehr ruhig und entspannt. Ich verspürte sogar das Bedürfnis, bei diesem Wesen zu sein.

War das nun meine ersehnte Erlösung? Ich starrte dieses Wesen an, unfähig meinen Blick von diesem wunderschönen Leuchten abzuwenden. Wer weiß, vielleicht fühlt es sich ja so an, wenn der Tod kurz bevorsteht. Irgendwann werden wir es alle erfahren.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich in dieser Trance befand. Vielleicht ein paar Sekunden oder auch Minuten. Doch als Nächstes hörte ich wie meine Zimmertür aufging. Meine Mutter betrat den Raum und im selben Moment verschwand der Engel.

Ich lächelte glückselig über meine Erscheinung und ohne darüber nachdenken zu können, musste ich sie teilhaben lassen: „Mama, ich habe einen Engel gesehen. Gerade eben. Hier, hier an meinem Bett.“ Doch ihr Blick war voller Verzweiflung. Sie brach in Tränen aus und schluchzte: „Schatz, was ist bloß los mit dir?“

Aber ich wusste es nicht.

Was ich jedoch wusste, war, dass ich sie nicht so traurig sehen wollte. Und schon gar nicht meinetwegen. Doch ich denke, der Zug war längst abgefahren. Sie half mir schon länger beim Essen und beim Baden. Und keine Mutter sollte ihrer volljährigen Tochter noch die Haare waschen müssen.

Allerdings war ich schon lange davor kein guter Mensch mehr gewesen und habe ihr Leid angetan. Ich war so sprunghaft, dass ich in einem Moment noch fröhlich war und im nächsten ausrastete oder mich heulend auf den Boden warf. Warum? Keine Ahnung. Es war einfach so und ich habe bis heute keine Erklärung dafür. Auch ich hatte es nie kommen sehen oder einen Grund für mein Verhalten gehabt.

Teilweise hatte ich Angst vor mir selbst. Ich habe mich sogar immer weiter zurückgezogen, nur um nicht noch mehr geliebte Menschen verletzen zu können. Jedenfalls litt Mama so sehr darunter, dass sie sich von unserem Hausarzt Beruhigungsmittel verschreiben ließ, der aber auch nur meinte: „Das ist die Pubertät, das geht vorbei!“

Ja, irgendwann wäre es sicherlich vorbeigegangen. Auf die eine oder andere Art eben. Doch ich schämte mich und fühlte mich schuldig. Ich konnte meiner Mutter keine gute Tochter sein und dafür hasste ich mich zutiefst.

Eigentlich bin ich froh, dass ich später erfuhr, dass es erste Anzeichen meines Tumors waren und mein Verhalten nichts mit freiem Willen zu tun hatte. Ich denke, ich hätte nicht mehr mit mir leben können.

Mama konnte sich jedenfalls auch in dieser Engel-Situation kaum noch beruhigen. Vielleicht hatte ja auch sie die Vorstellung eines Todesboten.

Das Ende vom Lied war auch diesmal, dass wir wieder in die Notaufnahme fuhren, wo der Rollstuhl bereits am Eingang auf mich wartete – zum Laufen war ich zu schwach. Wo man mir wieder eine Schmerzinfusion gab und mich dann wieder nach Hause schicken wollte – same procedure as every day.

Ich wäre nicht in der Lage gewesen, mich dagegen zu wehren, doch meine Mama war bei mir und machte klar, dass ich auf jeden Fall bleiben würde.

Ich weiß noch, wie die Notärztin drohte: „Dann muss ich aber noch Untersuchungen durchführen!“ Ihrem Tonfall war anzumerken, dass sie unsere Reaktion übertrieben fand.

Mama berichtete empört von meinem Zustand und meiner Engel-Sichtung. Nach Meinung der Ärztin war dies nur eine außergewöhnliche Form der Aura.

Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. In diesem Moment war es für mich ein Engel. Aber schon wieder wurde ich ins Lächerliche gezogen.

Die Ärztin untersuchte zunächst meine Augen und bat mich nach vorne zu sehen und ihr zu sagen, wie viele Finger sie mir zeigte. Diese schob sie immer weiter in das Zentrum meines Sichtfeldes, doch ich konnte sie erst knapp vor der Mitte sehen. Wie viele Finger es waren, erkannte ich trotzdem nicht und so antwortete ich nur: „Jetzt erst!“ Als sie dann noch eine Reflexprüfung vornahm und verzweifelt mit ihrem Hämmerchen gegen mein Knie klopfte, wurde klar: Keine Reaktion, nix gut!

Dann sollte alles ganz schnell gehen. Diese Hektik, die plötzlich um mich herum herrschte, verstand ich nicht, aber sie machte mich nervös und glücklich zugleich. Könnte sich vielleicht doch noch etwas ändern?

Es war wohl die schnellste Einweisung meines Lebens. Sofort ging es mit dem Rollstuhl nach oben auf mein Zimmer. Da wurde auch gar nicht mehr lang diskutiert. Oben angekommen wartete bereits die nächste Infusion auf mich. Ganz ohne darum zu bitten? Welch Service!

Nach wenigen Sekunden oder Minuten – mein Zeitgefühl hatte sich verabschiedet – war ich so erschöpft und zugedröhnt, dass ich trotz des ganzen Trubels fast einschlief. Ich hörte meine Eltern nur noch flüstern: „Wir lassen dich jetzt schlafen, morgen sind wir wieder da.“

Doch irgendwann am späten Abend wurde ich erneut geweckt. „Frau Knödler, sie müssen jetzt zum MRT!“ Ehe ich wieder bei vollständigem Bewusstsein war, rupfte eine Krankenschwester mir meine Infusion vom Arm, setzte mich auf und drückte mir meine Krankenakte in die Hand. „Dann bis gleich.“ Und sie ging.

Ja, richtig gelesen: Sie ist einfach gegangen. Sie war sogar schon weg, bevor ich überhaupt wusste, in welcher Dimension oder auf welchem Planeten ich mich befand. Ich war ziemlich irritiert. Ich hatte kaum Kraft mich zu bewegen. An jenem Mittag schon nicht und noch viel weniger nach der erneuten Dröhnung. Und vor allem hatte ich keine Ahnung, wie ich dieses MRT finden sollte.

Ich saß also mit meiner Krankenakte auf dem Bett, alles drehte sich, mir war so schlecht. Vielleicht auch dadurch bedingt, dass ich mich von meinem Auftrag maßlos überfordert fühlte. Schon der alleinige Versuch mein Hirn zu aktivieren, verursachte Kopfschmerzen. „Aber ich muss doch einen Plan entwickeln“, dachte ich und versuchte mich selbst zu motivieren. „Als Erstes musst du …“, meine Gedanken brachen ab und meine Augen fielen zu. Ich schreckte wieder auf und versuchte es erneut.

Um das ganze abzukürzen: Weiter als ˈAufstehen und zum Kleiderschrank gehenˈ kam ich nie.

Plötzlich wurde ich panisch. Noch immer hatte ich kein Zeitgefühl und somit keine Vorstellung, wie lange ich nun schon an meinem Vorhaben tüftelte. „Du kommst zu spät!“, schoss es mir durch den Kopf.

Bestimmt war es dieser kleine Adrenalinausstoß, der mich dazu brachte, meine Schuhe anzuziehen, die Akte zu packen und auf den Flur zu taumeln.

Schrittchen für Schrittchen, konzentriert mein Umfeld wahrzunehmen und gegen den Drang kämpfend, in Ohnmacht zu fallen oder mich zu übergeben, startete ich meine Reise. Die Lichter waren bereits gedimmt, die Flure menschenleer. War wohl auch besser so, dass ich niemandem begegnete. Ich musste ausgesehen haben wie ein Zombie mit meiner fahlen Haut, dem eingefallenen Gesicht und meiner unkoordinierten, gebückten Körperhaltung.

Ich schlich planlos durch die Flure unnd – oh Wunder – alle Wege waren falsch. Keine Ahnung wie lange ich durch dieses Krankenhaus irrte. Es kam mir riesig vor, obwohl es eigentlich nicht sonderlich groß ist. Ich wusste gar nicht mehr, wo ich überhaupt war und auch immer noch nicht, auf welcher Etage sich das MRT befand. Das wäre zumindest schon mal ein Anfang gewesen.

Wieder der Gedanke: „Du kommst zu spät!“, und ein darauffolgender – für meinen Zustand – Geistesblitz: Ich suchte nun einen Aufzug in der Hoffnung, dort zumindest einen Hinweis zu finden, welche Ebene die richtige sein könnte.

Ich lief einen Flur entlang bis ich am Ende einen Fahrstuhl erblickte. Ich drückte den Schalter und wartete, während ich das Rauschen des Aufzugs im Schacht vernahm. Schnell vermischte sich dieses Geräusch mit Schritten hinter mir. Ich drehte mich um und sah durch meine farbenfrohen Blitze eine sich nähernde Gestalt. Der weißen Kleidung zufolge ordnete ich sie dem Krankenhauspersonal zu. Ohne etwas Konkretes erfassen zu können, grüßte ich leise und kaum hörbar. Ich erkannte die Person zwar nicht, doch ich wollte nicht unhöflich sein oder vielleicht auch nicht zu sehr auffallen.

Wahrscheinlich entspricht dies aber nur meiner Wunschvorstellung, irgendetwas gedacht zu haben und eigentlich folgte ich einfach meinem Autopiloten. Denn allein das Vorhaben nicht aufzufallen, war durch die Uhrzeit und mein Erscheinungsbild absolut ausgeschlossen.

Die Gestalt nahm mich zunächst kaum wahr und wäre fast an mir vorbei gelaufen, ihren Blick in eine Akte vertieft. Zumindest das konnte ich nun erfassen.

Dann jedoch drehte sie sich um: „Ich kenne sie doch aus der NA!“ Diese Stimme hatte ich an diesem Tag schon einmal gehört: Es war die Ärztin, die mich am Nachmittag in der Notaufnahme untersucht hatte. Ich nickte und wusste zunächst nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte.

Aber meine lahmen Denkprozesse wurden unterbrochen: „Warum lässt man sie denn hier alleine herumlaufen?!“ Ich musste wohl etwas in der Richtung gedacht haben wie: „Das würde mich auch mal interessieren.“ Doch ich glaube, ich habe sie lediglich verdutzt angestarrt.

Sie schien wirklich besorgt zu sein und schüttelte den Kopf. Ich stotterte, dass ich noch zum MRT sollte. „Ja, hier sind sie aber vollkommen falsch.“ Ich machte mich auf eine lange Wegbeschreibung gefasst. Aber allein diese Erwartungshaltung ließ mein Hirn kapitulieren.

Im Hintergrund hörte ich, wie der Fahrstuhl stoppte und sich die Türen öffneten. Ohne zu zögern, entschied sie: „Ich bringe sie schnell dorthin“, und war schneller im Aufzug als ich. Ich folgte ihr willenlos.

Ich kann noch nicht mal sagen, ob und was ich mit ihr gesprochen habe. Doch ich habe das Gefühl, ohne ihre Hilfe würde ich heute noch in diesem Krankenhaus herumirren. Hätte ich sie nicht getroffen, würde der Titel dieses Buches vielleicht ˈLost in MRTˈ lauten – aber wer weiß das schon.

An Ort und Stelle angekommen, übergab sie mich in die Obhut ihrer schlecht gelaunten Kolleginnen. Das konnte ich sogar verstehen, so spät noch zu arbeiten, machte bestimmt niemandem Freude. Ich fühlte mich schuldig.

„Sie haben ja noch ihren Schmuck an!“, wurde ich begrüßt, was meine Schuldgefühle nicht unbedingt verbesserte. „Ziehen sie das alles erstmal aus.“ Ich tat, wie befohlen, aber aufgrund meiner seit längerem eingeschränkten Feinmotorik dauerte das den Schwestern wohl zu lange. Das Augenverdrehen und Rumgeseufze machte es nicht besser, doch Hilfe bekam ich trotzdem nicht.

Ich fummelte verzweifelt an meinem Armband herum, als meine Hände schwitzig wurden. Doch das erschwerte mein Vorhaben nur noch weiter. Mit jedem Augenblick schienen die bohrenden Blicke der Mitarbeiterinnen – ich nenne sie mal liebevoll MRTeusen – durchdringender zu werden. Ich schämte mich für mein Unvermögen und das jede Sekunde mehr. Dieses Gefühl zu wollen, aber nicht zu können, sollte mir noch sehr oft begegnen.

Nach wenigen Minuten, die mir allerdings wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, zog ich den letzten Stecker aus meinem Ohr. Ich war erleichtert, doch damit kam auch die Erschöpfung zurück.

Zügig wurde ich in die Umkleide geführt, wo ich nur die Ansage einer der beiden Mitarbeiterinnen bekam: „BH und Schuhe aus!“ In jeder anderen Situation hätte ich mich wahrscheinlich verbal gegen eine solch raue, unhöfliche Art gewehrt, aber diesmal tat ich einfach, was man von mir verlangte. Gefühlt nur Sekunden später hörte ich von draußen erneut ihre Stimme: „Fertig?!“ Doch bevor ich antworten konnte, öffnete sie die Tür.

Dann führte sie mich in den Raum des MRTs. Alles war vollkommen weiß und unerträglich grell. Ich kniff die Augen zusammen und verspürte erneut einen Würgereiz. In der Mitte die große Röhre und die mit Papiertüchern abgedeckte Liege. Das dumpfe Pochen des Magneten wirkte wie eine absurde Aufforderung mich von ihm verschlingen zu lassen. Doch es war mir egal, Hauptsache ich konnte wieder liegen. Ich hatte das Gefühl bald einfach vor Erschöpfung aus den Latschen zu kippen.

Wieder bekam ich ein Fläschchen an meinen Zugang angeschlossen, diesmal aber kein Schmerzmittel, sondern zur Abwechslung mal Kontrastmittel. Ob ein solcher Medikamentencocktail unbedenklich ist?

Ich legte mich auf die Liege, bekam meine Schutzkopfhörer aufgesetzt, meine Notfallklingel in die Hand gedrückt und wurde in den Magneten geschoben. „Lassen sie bitte die Augen auf, sonst bewegen sie sich zu viel. Geht gleich los!“, hörte ich die unfreundliche Mitarbeiterin krächzen. Ich kannte das doch alles schon zur Genüge, aber sagte kein Wort.

Ich hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloss und fühlte mich wie ein Tier im Zoo. Die zwei MRTeusen konnten mich im Nebenraum durch eine Glasscheibe beobachten. Mit Abstand, in Sicherheit. Schlimmer noch: Sie sahen eben nicht nur wie meine Beine aus dem Tomografen lugten, sondern in meinen Kopf hinein. Ich mochte dieses Gefühl damals schon nicht, wenn andere Personen größere Einblicke in meinen Körper hatten als ich selbst.

Einen kurzen Moment lang war alles ganz ruhig, als bereitete sich der Magnet zum letzten Tanz vor. Dann starteten die schrill klingenden, metallischen Geräusche, die untermalt wurden von Vibrationen der gesamten Vorrichtung. Entgegen ihres Rats schloss ich die Augen. Ich dachte, ich könnte die Prozedur sonst nicht überstehen und versuchte mir nun einzureden, alles sei in Ordnung. Ich läge gerade nicht am späten Abend halbtot in einem MRT.

Mein Puls raste trotzdem fröhlich weiter und meine Beine begannen zu zittern. Diese epileptischen Zuckungen waren auch erst seit einigen Wochen ein nettes Gimmick in meinem Anfall-Portfolio. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie das erste Mal auftraten.

Ich hatte mal wieder mit einer Infusion im Arm auf einer Liege gelegen – doch dieses Mal nicht im Krankenhaus, sondern bei meinem Hausarzt. Die Infusion wirkte nicht. Das waren die Momente, die mich an den Rand meiner Kräfte brachten. Ich hatte zuvor schon öfters weinend zu Hause auf der Couch gesessen – verzweifelt, weil ich gerade aus dem Krankenhaus gekommen war und die Sehstörungen und Kopfschmerzen schon wieder begannen. Dass die Linderung immer kürzer anhielt und teilweise vollständig ausblieb, war unbeschreiblich zermürbend.

So war es auch wieder bei meinem Hausarzt, als in mir eine unbändige Unruhe aufkam. Ich wollte sie unterdrücken, genauso wie das Gefühl der Anspannung. Trotzdem fingen zunächst meine Oberschenkel an krampfartig zu zucken, dann auch die unteren Schenkel, die Füße und letztendlich auch mein gesamter Oberkörper. Ich starrte Mama an und sie starrte fassungslos zurück. Doch ich konnte nichts sagen oder gar meinen Körper kontrollieren. Ich war nicht wirklich bei mir. Vielmehr ein handlungsunfähiger Gast in meiner Hülle. Meine Mutter hatte dann wohl eine Mitarbeiterin geholt.

„Das ist ja fast wie Epilepsie!“, kommentierte Mama meine Zuckungen schockiert. Die Arzthelferin wusste scheinbar auch nicht genau, was sie Mama Aufmunterndes sagen konnte und versuchte es mit: „Hmmmm, ja, das wäre schon gut, wenn sie da nochmal mit ins Krankenhaus gehen würden.“ Der aufmerksame Leser weiß, aus wie vielen Gründen diese Aussage echt lustig war.

Auch nun im MRT zuckten meine Beine fröhlich weiter. Doch ich wusste, dass ich mich eigentlich nicht bewegen durfte. Also startete ich einen verzweifelten Versuch. Vielleicht brauchte ich ja einfach einen Fokus: Ich öffnete die Augen wieder und starrte reglos auf die weiße Innenwand des Geräts.

Jede Vibration verursachte Stiche in meinem Kopf. Ich versuchte mich zu beruhigen und redete mir weiter ein, alles sei in Ordnung. Aber mein Sehvermögen nahm mit jedem Rucken weiter ab, bis alles voller Blitze und Wellen war, gepaart mit einer extremen Unschärfe und meiner Unfähigkeit, einen Fokus zu finden. Die Farbintensität schien stärker als sonst zu sein. Eine dicke LSD-Party vielleicht? Oder war die Kombi aus Schmerz- und Kontrastmitteln doch nicht so verträglich?

Der Tomograf schüttelte mich gerade gut durch und die Geräuschkulisse wurde lauter, schneller und abgehackter. Heutzutage weiß ich sogar, welche Sequenz welchen Vibrationen und Geräuschen zugeordnet werden kann. Doch damals noch nicht. Wahrscheinlich wäre dieses Wissen auch egal gewesen, denn ich fühlte mich hilflos und orientierungslos: Ich war kaum bei Bewusstsein, mir war schlecht und ich konnte meinen Augen nicht trauen. Hätte ich es getan, hätte ich den Eindruck erhalten, die ganze Welt müsste aussehen, wie durch einen alten, kaputten Fernseher mit Empfangsstörungen.

Ich wurde panisch, aber widerstand der Versuchung meinen Notknopf zu drücken. Ich hatte das Gefühl, die Angestellten würden mich erschlagen, wenn ich ihren Feierabend noch weiter verzögern würde.

Na ja, dann wäre es wenigstens vorbei gewesen. Aber ich denke nicht, dass ich das damals so schlimm gefunden hätte.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort noch lag. Ich hatte mich dem Geschehen wohl willenlos hingegeben. Als endlich das Summen und Rattern aufhörte, verspürte ich Hoffnung. Ich wünschte mir inbrünstig, dass nicht noch eine Sequenz gestartet werden würde.

Denn auch das kannte ich schon: Die Stille zeigte eigentlich das Ende der Aufnahmen an. Doch je nachdem, wie unruhig ich mich im Magneten verhalten hatte, wurde nochmal eine Runde nachgelegt. Oder auch mehrere. Solange, bis alle Aufnahmen zufriedenstellend waren. Bei meinen Zuckungen befürchtete ich beinahe, dass einige Sequenzen wiederholt werden müssten und ich noch lange nicht befreit werden würde.

Meine Ängste stiegen, da mir die Zeit der Stille zu lang vorkam. Normalerweise holte man mich entweder aus dem Apparat oder startete die Zugabe. Aber jetzt passierte einfach nichts.

Letztendlich öffnete sich die Tür zu meinem Behandlungsraum aber doch und zu meinem Erstaunen hörte ich eine überaus sanfte und freundliche Stimme: „So, sie haben es geschafft, Frau Knödler!“ Sie streichelte mir über meinen Arm, während sie die Liege per Knopfdruck aus dem MRT herausschob. Ein solches Verhalten war trotz meiner ganzen Tomografie-Erfahrung eine echte Neuheit und ich war sichtlich irritiert. Na ja, vielleicht lag es nur an ihrem Feierabend, der endlich in greifbare Nähe rückte.

Ich versuchte den Raum und sie wahrzunehmen. Ich denke, sie hat mich freundlich angelächelt. Sicher bin ich mir aber nicht, vielleicht kam dieser Eindruck auch nur über die Verzerrungen und Wellen zustande. Ich setzte mich vorsichtig auf und sie entfernte das Schläuchlein aus meinem Arm und ersetzte es durch einen Drehverschluss.

Anders ausgedrückt: Sie schloss das Manipulationsportal zu meinem Körper.

Anschließend begleitete sie mich zur Umkleidekabine. Ich beeilte mich, obwohl sie meinte, ich sollte mich in aller Ruhe wieder anziehen. Doch ich wollte die Beiden nicht länger aufhalten und selbst auch nur wieder ins Bett.

Als ich fertig war, betrat ich durch die zweite Tür in der Kabine wieder die Kommandozentrale des MRTs – also den Raum der Angestellten. Hier schien nun auch Mitarbeiterin Nummer Zwei wie ausgewechselt.