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Karina wartet. An ihrem fünfzehnten Geburtstag. Auf ihre verspäteten Brüder. Um gemeinsam Uno zu spielen auf dem Dach der Bücherei. Vor der Schule. Ein Schwarm Greifvögel fliegt auf Karina zu. Umkreist sie schneller und schneller. In einem Wirbel aus Federn verliert sie den Boden unter den Füßen. Karina hat keine Wahl als nach vorne zu sehen, wenn sie jemals zurück in ihre Welt will. Wird Karina ihren Weg rechzeitig durchschreiten? Lies die fantastische Geschichte der verzauberten Vögel. Feure Karinas Mut und Durchhaltevermögen an.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Der Wind toste um die kleine Gestalt. Wirbelte braune Locken hoch und einen roten Rock.
Alleine stand sie, hoch oben, auf dem mit Maschendrahtzaun und Plexiglasscheiben gesicherten Flachdach, dass die Aussichtsterrasse war. Das zarte Licht der Morgensonne schien ihr ins Gesicht. Das erdbeerrote Minikleid leuchtete über den blauen, langen Jeans und wurde von hinten aufgewirbelt. Kastanienbraune Locken flatterten wild um ihr lächelndes Gesicht. Sie hatte ihre Arme ausgebreitet und schien den Wind, der um sie herumwirbelte zu genießen.
Ungezähmte Schönheit und Jugend.
Hätte sie gewusst, wer sie aus der Ferne beobachtete, sie hätte sich schnellstens in das Gebäude zurückgezogen und versteckt. So aber tanzte sie ahnungslos über das Dach.
Die ersten Sonnenstrahlen leuchteten auf den Haarwellen und auf der Stirn, wenn diese nicht gerade von Locken verdeckt war.
Karina stand alleine auf den steinernen Fließen. Fünfzehn Stockwerke über dem Boden auf dem Dach des, man könnte meinen Gefängnisses, über der Stadt. Kalt strich die Septemberluft über ihre Wangen. Das Gebäude unter Karinas Füßen war kein Gefängnis. Es war ein Tempel des Wissens. Ein Ort an dem die Gedanken frei waren und sich in die unendlichen Höhen der Lüfte und des Weltalls schwingen konnten. Bedauerlicherweise sah das Gebäude selbst von außen trist und grau aus. Die Löcher für die Fenster waren mit länglichen Betonstäben gestaltet worden, die mehr an ein Gefängnis, als an eine Bücherei erinnerten.
Hier traf sie sich jeden Morgen mit ihren Brüdern zum gemeinsamen Uno-Spiel. Und obwohl sie alle dreizehn im gleichen Haus wohnten hatte es sich irgendwann in diesem Sommer zu einer Gewohnheit entwickelt, dass Karina früh am Morgen den Sonnenaufgang genoss. Alleine.
Gesellschaft hatte sie zu Hause genug. Umso kostbarer waren diese Momente der Ruhe im Rauschen des Windes.
Der Wirbel heute war sonderbar. Sonst blies der Wind an ihr vorbei, wirbelte kurz hoch. Noch nie hatte es sich angefühlt, als würde er sie zum Zentrum seines Spiels wählen.
Als der Wirbel schließlich zusammenbrach und die Sonne sich immer weiter über den Horizont hob, schüttelte Karina sich ihre kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht.
Sie blinzelte nach Osten. Der aufgehenden Sonne entgegen, die sich als rote Halbkugel schneller und schneller über den Horizont hob. Das neue Tageslicht färbte ein paar weiße Streifenwolken rosa und orange ein.
Karina wartete.
Sie wartete auf ihre Brüder.
Die Schule hatte vor einer Woche begonnen. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Bald würde sie den Sonnenaufgang nicht mehr erleben können, weil sie dann bereits in der Schule saß. Noch wenige Wochen und die Dachterrasse würde geschlossen werden. Dann würden sie im obersten Stockwerk Uno spielen.
Sie wartete, entspannt auf das vertraute Stampfen von Turnschuhen auf den schmiedeeisernen, mit Profil versehenen, verzinkten Treppenstufen, über die sie hier herauf geklettert war.
Es hatte seine Vorteile mit dem Hausmeister verwandt zu sein. So konnte sie lange vor der eigentlichen Öffnungszeit den Sonnenaufgang bewundern. Und mit ihren Brüdern plaudern, bevor sie in die Schule musste. Ohne die lauschenden Ohren ihrer Mutter oder denen von Stiefvater Adam.
Ihr nachtblauer Rucksack wartete am Fuß der Treppe, gleich hinter der Glastüre, auf sie. Als Pausenbrot hatte sie Äpfel und Trauben eingepackt. Vielleicht würde sie die süßen, saftigen Trauben auch gleich auf dem Weg verspeisen; jede einzelne der rosa gefärbten Früchte mit ihrer Zunge zerdrücken; den klebrigen Saft schmecken und von ihren Fingern lecken.
Die Sonne war jetzt komplett über den Rand des Horizonts gestiegen.
Karina hörte immer noch kein Gepolter auf der Treppe. Kein freundschaftliches Knuffen, kein brüderliches Streitgespräch.
Eigentlich waren ihre zwölf Brüder nicht wirklich ihre Brüder. Vielmehr waren es Halb- und Stiefbrüder, die sie über die verschiedenen Ehen und Scheidungen ihrer Eltern geschenkt bekommen hatte. Aber sie, sie war das einzige Mädchen und mit fünfzehneinhalb Jahren, die Zweitjüngste. Nur Ahmed war, mit heute genau fünfzehn Jahren, jünger als sie selbst. Er besuchte die gleiche Schulklasse. Aber nur weil er eine Klasse übersprungen hatte.
Ahmed sah ihr, mit seinen schwarzen, kurzgeschnittenen Haaren nicht ähnlich. Er stieß mit seiner Größe an jeden Türrahmen, während die Leute über sie fast stolperten und ständig fragten ob sie sich verlaufen habe. Statt in der zehnten Klasse, die gerade begonnen hatte, wollte man sie immer in die sechste oder siebte schicken.
Ihre Wangen brannten bei der Erinnerung an den ersten Schultag letzte Woche. Ihr neuer Klassenlehrer mit den Segelohren und der schwarzen Brille, der von hinten immer wie eine fliegende Fledermaus auf einem Menschenkörper aussah, Herr Wysind, hatte sie angeschaut und, ohne auf ihre oder Ahmeds Erklärungen zu hören, in eine der siebten Klassen geführt. Glücklicherweise hatte er sie zu Frau Messing geführt. Die hatte erst Karina zum Direktor gebracht. Der hatte Herrn Wysind gebeten seine Vorurteile nicht an den Schülern auszulassen, sondern diesen zuzuhören. Die ganze Klasse hatte gelacht. Und die ganze Woche über hatte sich Karina in jeder Pause vor den Segelohren ihres Klassenlehrers versteckt. Aus Rache rief er sie andauernd auf. Dabei konnte sie am wenigsten dafür, dass er ihr nicht zugehört hatte.
Wo könnten ihre Brüder geblieben sein? Onkel Michael ließ sie doch sonst immer herein.
Karina drehte sich um und schaute die verzinkten Stufen der Stahltreppe hinunter.
Nichts zu sehen.
Heute mochte Ahmeds fünfzehnter Geburtstag sein. Aber trotzdem hatte keiner ihr morgendliches Treffen abgesagt. Das war kein Grund nicht zu kommen.
Karina sah auf die Uhr an ihrem Smartphone. Halb sieben. Dreißig Minuten zu spät! Sie würde noch fünf Minuten warten und dann gehen. Sollten die Jungs doch alleine spielen!
Eine Bewegung am Horizont lenkte sie ab.
Sie stieß das Smartphone zurück in die hintere Hosentasche ihrer Jeans und strich automatisch den erdbeerroten Rock ihres Minikleides darüber glatt.
Ein lauter werdendes Flattern kam näher.
Die Bewegung bestand aus schwarzen Punkten.
Ein Hubschrauberkonvoi? Dazu flogen die Punkte viel zu dicht.
Die Punkte wurden größer. Aber das Flattern klang nicht nach dem Rattern von Hubschrauberrotoren.
Karina rannte die wenigen Schritte bis an die Plexiglaswand vor. Sie drückte sich die Nase und ihre Hände an der kalten Wand platt. Kniff die Augen zusammen. Versuchte genauer zu erkennen, was da war.
Das waren Vögel. Große, braune Vögel.
Sie kamen näher, flogen genau auf sie zu. In der typischen V-Formation von Zugvögeln.
Jetzt, Anfang September? War der Klimawandel schon so weit? Hatte nicht gestern erst der Biologielehrer erzählt, dass die Zugvögel nicht mehr in den Süden zogen, weil es hier warm genug wurde zum Überwintern? Oh sie sollte besser in der Schule aufpassen! Das nahm sie sich jeden Morgen vor. Aber dann waren die schriftlichen Papierchats mit Franziska einfach immer viel spannender als die drögen Vorträge der Lehrer.
Karinas Herz klopfte schneller. Die Vögel hatten weiße Federn am Kopf, scharfe Krallen an den herunterhängenden Beinen und spitze, gebogene, gelbe Schnäbel. So sahen doch keine Zugvögel aus. Die legten ihre Beine doch an, wegen dem Luftwiederstand.
Das Flattern von Flügelschlägen verklang. Die, waren es Adler?, glitten jetzt auf dem Wind.
Woher kamen hier, mitten in einer Großstadt so viele Raubvögel?
Karina zwinkerte.
Die Raubvögel waren immer noch da.
Sie hatten ihre V-Form aufgelöst und glitten jetzt in Schleifen durcheinander. Aber immer noch genau auf sie zu.
Im auf und ab sah Karina verschiedene Federfarben. Der Schwanz hinten war verschieden geformt. Sie hatten nicht alle die gleiche Größe. Waren das verschiedene Raubvögel? Sicher war sie sich nicht. Sie kannte sich mit Vögeln nicht aus.
Aber die Tiere sahen wunderschön aus. Elegant und majestätisch. Wie ihre Einhornsammlung zu Hause auf dem schmalen Wandbrett in ihrem Zimmer.
Karina leckte sich über ihre trockenen Lippen. Ihre Edelstahltrinkflasche mit den vielen Beulen wartete in ihrem nachtblauen Rucksack eine Etage tiefer. So ein Pech.
Die Gruppe am Himmel hielt immer noch direkt auf sie zu.
Karina sah sie durch die grauen Striche des Maschendrahtzauns der sich vor der Plexiglaswand um die Terrasse spannte.
Die Vögel würden sich im Maschendraht verfangen, sich Füße und Flügel brechen. Oder sie würden, falls sie den sahen und darüber flogen, sich spätestens wenn sie gegen das Plexiglas knallten eine Gehirnerschütterung holen.
Wild winkend und rufend sprang Karina von der Wand zurück. Sie stampfte wild auf den Boden. Aber ihre Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf den Steinfliesen. Ganz anders als auf dem Linoleumboden in der Schule.
Sie klatschte in die Hände. Brüllte das erstbeste Lied, dass ihr in den Sinn kam. So laut sie konnte.
Hoffentlich konnte sie die Raubtiere mit ihrem Krach verscheuchen. Sie musste diesen Raubvogelschwarm erschrecken, warnen, ablenken. Auf keinen Fall wollte sie zusehen, wie diese zwölf - wann hatte sie Zeit gefunden sie zu zählen, wunderte Karina sich - Könige der Lüfte verletzt zu sehen.
Seit wann flogen Raubvögel wie Zugvögel im Schwarm? Hatte nicht irgendein Lehrer einmal gesagt, dass Raubvögel Einzelgänger waren? Karina wunderte sich nur kurz.
Die Gruppe drehte nicht ab.
Trotz ihres schiefen Gesangs. Ihres Klatschen und ihrer erdbeerroten Kleides. Das leuchtete doch sicher weithin sichtbar im morgendlichen Sonnenlicht.
Karina hüpfte noch wilder. Rannte im Zickzack über die Terrasse.
Die Raubvögel glitten immer noch auf sie zu.
Und auch der Wind wirbelte jetzt wieder um sie herum, wie er es vorher schon getan hatte.
Statt zu klatschen wischte sie sich jetzt ihre braunen Locken aus dem Gesicht. Hielt sie an den Seiten fest. Sie wollte sehen ob ihr Gebrüll nicht doch einen Effekt hatte.
Ihre Kehle schmerzte. Ihr Mund war trocken. Sicher würde sie morgen keinen Ton herausbringen. Trotzdem brüllte Karina weiter.
Der Wind wirbelte um Karina herum. Heiß und kalt gleichzeitig. So mussten sich gefrorene Früchte in einem Mixer mit warmem Wasser fühlen, bevor sie zu einem Smoothie püriert wurden.
Sie rang nach Luft. Gerade genug zum Atmen, aber nicht mehr genug um weiter zu brüllen und den Windwirbel zu übertönen. Sofort wurde das Brausen etwas leiser, fast als wollte der Wind für Ruhe sorgen. Was für eine Vorstellung
Karina rang nach Atem und unterdrückte ein Kichern.
Gebannt starrte sie die Raubvögel an, die sich über ihr drehten. Sie konnte kleine, halbrunde, herbstblattbraune Schuppen auf einer Klaue erkennen. Auf einer Klaue die größer als ihre Hand war! Sie sah einzelne Punkte auf den Federn eines anderen Raubvogels. Die Tiere sahen riesig aus. Und sie schwebten im Kreis immer tiefer, bis sie um sie herumflogen.
Flügelspitzen zischten an ihrer Nase, an ihren Wangen vorbei.
Sie wollte weg hier. Aber wohin? Rund um sie herum kreisten Raubvögel. Gefährliche Raubvögel. Mit Krallen länger als ihre Hand und spitzen, gebogenen Schnäbeln die mit Leichtigkeit ihr Ohr würden abreisen können.
Sie kniff die Augen zu.
Und riss sie sofort wieder auf. Die Vögel waren immer noch da. Genau wie der Wind.
Keine Feder berührte Karina.
Müsste es nicht eigentlich stinken? Oder irgendwie anders riechen?
Karina schnupperte.
Eine leicht süße Note lag in der Luft. Zimt? Es roch nach Zimt und Weihnachtsplätzchen?
Sie stand stocksteif im Wirbelwind.
So etwas passierte nicht in der Realität!
Karina dachte an ihr Bett, ihren Wecker und versuchte sich dazu zu bringen aufzuwachen. Aber sie wachte nicht auf.
Aber so einen Traum hatte sie auch noch nicht gehabt. Was passierte hier?
Karina fühlte ihr Herz bis zu ihrem Hals schlagen. Sie hielt immer noch ihre weichen Locken an ihre Ohren gedrückt fest, sodass sie überhaupt sah was geschah. Die Muskeln in ihren Oberarmen schmerzten von der starren Haltung.
Doch kein Traum?
Ob der Wirbelwind, den sie früher am Morgen noch genossen hatte, der Wegweiser für diese Vögel gewesen war?
Zumindest waren sie nicht verletzt oder tot weil sie gegen die Plexiglasscheibe geflogen waren.
Schweigend, mit leicht geöffnetem Mund, sah Karina zu, wie einer nach dem anderen auf den Steinfliesen landete. Es klackte leise, wenn die scharfen Krallen über den Boden kratzen. Mit leisem Flattern wurden die vielen Flügel zusammengefaltet. Mancher Kopf drehte sich um einzelne Federn zu ordnen. Andere sahen sie direkt an. Aus gelben Augen. Eindringlich.
So als könnten sie durch sie hindurch sehen.
So als würden sie etwas von ihr erwarten.
Aber was?
Außer den Raubvögeln war niemand hier.
Der Windwirbel verschwand.
»Puh«, seufzte Karina und ließ ihre Hände sinken.
Karina machte einen Schritt Richtung Treppe.
Der Vogel mit dem weißen Kopf und dem braunen Gefieder, den sie für einen Adler hielt, bewegte sich nicht. Sie machte noch einen Schritt und noch einen. Jetzt stand sie genau vor ihm. Neben ihm saß der nächste Vogel so dicht, dass sie nicht hindurch kam. Und sie war zu klein, oder die Vögel zu groß, um darüber zu steigen.
Sie war gefangen.
Konnten nicht endlich ihre Brüder auftauchen?! Wenn man sie einmal brauchen konnte waren sie nicht da.
Wenn das so weiterging würde ihr Herz bald aus ihrer Brust springen so schnell hämmerte es bereits.
»Ähm. Guten Morgen?«, sagte Karina.
Alle Köpfe drehten sich, fokussierten sich noch mehr auf sie.
Und da sie selbst so winzig war und die Vögel so groß waren, fast alle halb so groß wie sie, war es ein bisschen wie in eine Gruppe von Kindergartenkindern hineingeraten zu sein.
»Das hier ist ein schlechter Platz für eine Pause. Hier kommen bald viele Menschen«, sagte Karina. »Ihr müsst gehen.«
Es kam keine Antwort.
Sie hatte auch keine erwartet in diesem bizarren Traum, versuchte Karina sich einzureden. Was sollte sie jetzt tun? Warten bis ihr Onkel, der Hausmeister heraufkam um sie zu holen, weil sie sonst zu spät zur Schule kam?
Etwas kratzte kreischend über den Steinboden hinter ihr.
Karina wirbelte herum. Ihr Kleid flatterte auf und fiel wieder um sie herum.
Ein Vogel, seine Federn waren ganz schwarz, hüpfte auf seinen Krallen auf sie zu. Das sah so lustig aus, dass Karina lachte.
Dann hielt ihr der Raubvogel eine seiner Krallen hin.
Karina lehnte sich zurück. Versuchte Abstand zu halten.
Sie stieß mit dem Oberschenkel gegen etwas hartes, spitzes.
Der schwarze Vogel hüpfte ein Stück auf sie zu.
Sie stand immer noch direkt vor dem Adler.
Der schwarz gefiederte Vogel mit seiner ausgestreckten Kralle stand immer noch da.
Sie sah genauer hin.
Am ausgestreckten Bein war so etwas wie eine Tasche darum gewickelt.
Was konnte sie schon verlieren sich das anzusehen?
Karina holte tief Luft. Ging langsam in die Knie. Jetzt war sie auf Augenhöhe mit dem nachtschwarzen Vogel.
»Darf ich?«, fragte Karina und deutete auf das ausgestreckte Bein.
Und der Vogel nickte. Er nickte wirklich!
Mit zitternde Fingern betastete Karina die gerollte Tasche um das Bein des Vogels. Sie war weich und rau. Die Schuppen des Beines waren hart, kantig und schuppig. Es hatte die gleiche dunkelschwarze Farbe wie die kleinen Schuppen auf der Kralle. Sonst wäre es ihr bestimmt früher aufgefallen. Endlich fand sie so etwas wie einen winzigen Knopf und konnte die Tasche lösen.
Sie hielt eine rechteckige, längliche, braune Tasche in der Hand. Vielleicht so lang wie ihre Handfläche und so schmal wie drei ihrer Finger, nachdem sie es vollständig aufgerollt hatte. Auf der Innenseite war der kleine Knopf durch ein weiteres Loch geschoben worden. Sie öffnete das Täschchen an der Stelle und linste hinein.
Ein scharfer Duft nach Kräuter stieg aus der flachen Tasche. Thymian? Minze? Sie konnte es nicht zuordnen. Warum sollte der Vogel Heu transportieren?
Karina drehte die Hülle auf den Kopf und schüttelte um die Kräuter herauszubekommen. Statt getrockneten, zerbröselten, braungrünen Blattresten, fiel ein gefaltetes, weißes Blatt heraus und landete raschelnd auf dem Boden.
Die Maid, hold wie die Morgenröte.
Sie lebt und stirbt ohne Nöte.
Lebt sie zu kurz nimmt mit sich fort,
die Hoffnung der Lebenden an einen fremden Ort.
Lebt sie zu lang, stirbt sie allein.
Der Mittelweg, der soll es sein.
Das Monster im Dunkel wacht.
Leuchtende erwartungsvolle Macht.
Die Hoffnung schnellstens aufgebraucht,
Leben wie brennendes Feuer verraucht.
Wozu kämpfen? Wozu aufstehen?
Lasst es einsam vergehen.
Die Untertanen leiden,
Keine Pflanzen gedeihen.
Feuchter Grund,
du brennst groß, klein und bunt.
Spinne zur Rettung. Spinne von Hand.
Verschließ den Mund mit Himmels Band.
Die Antwort erblüht in dir.
Nimm sie, ja nimm sie dir!
Karina las die Nachricht ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Jedes weitere Lesen machte sie verwirrter. Irgendjemand, mit einer Vorliebe für schräge und verschnörkelte Buchstaben, schien hier verschiedene Märchen durcheinander geworfen zu haben.
Warum hatte der Schreiber die untere Hälfte der Seite leer gelassen? Gedichte wurden nach ihrer Erfahrung immer wunderschön über eine Seite verteilt. Der Platz zwischen den Strophen gehörte zur Ästhetik dazu, oder wie das hieß.
Leise kratzten die Krallen der zwölf Raubvögel um sie herum über den Steinboden. Alle rückten näher. Schlugen mit den Flügeln. Langsam und dann schneller.
Der Wirbelwind entstand erneut. Dieses Mal mit den Raubvögeln bei ihr in der Mitte.
»Karina?!«, rief die alte Stimme des Hausmeisters. Der Lautstärke nach von der Tür am Fuß der Treppe. Von dort konnte er sie noch nicht sehen. Und die Vögel schon gar nicht.
Karina wollte antworten. Aber sie konnte keinen Ton sagen.
Und das lag nicht an ihrem schmerzenden Hals, oder ihren wund gebrüllten Stimmbändern. Es war vielmehr, als hätte sie vergessen wie es geht den Mund zu öffnen. Vergessen wie es ging zu reden. Ihre Lippen blieben geschlossen.
Angst loderte in ihrem Bauch.
Was wollten die Vögel. Was sollte dieses unheimliche Gedicht vom Tot? Würde sie jetzt sterben? Heute, am fünfzehnten Geburtstag ihres kleinen Bruders. Des Bruders, der immer noch nicht aufgetaucht war?
Und sie hatte Ahmed kein einziges Mal gesagt, dass sie ihn gern hatte. Viel häufiger hatte sie ihn mit Bällen beworfen, weil er, anders als alle ihre älteren Brüder, immer wieder in ihr Zimmer geplatzt war.
Ob er ihr etwas hatte sagen wollen? Hätte sie warten und mit ihm reden sollen bevor sie ihn hinausjagte? War das hier die Strafe?
Nein!
Ahmed konnte genau so wenig zaubern wie sie selbst. Genau sowenig wie Adrian, der, statt sich seine Haare und Augen grün zu färben auf Haarfärbung und farbige Kontaktlinsen zurückgreifen musste.
Abgesehen davon. Es gab keine Magie. Das waren doch alles Märchen. Märchen wie in dem Buch, dass sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Mit einer Widmung auf dem Vorblatt, die nicht ihr sondern Ahmed galt.
Karina tastete nach ihrem Smartphone in ihrer hinteren Hosentasche. Sie musste Hilfe rufen.
Ihre Finger ertasteten die harten Umrisse. Berührten das warme Plastik und zogen es heraus.
Gleichzeitig verlor sie den Boden unter den Füßen.
Sie fiel nicht.
Sie schwebte.
Karina krallte ihre Hände zu Fäusten. Das Papier in ihrer Hand raschelte. Das Smartphone glitt ihr aus den Fingern. Sie konnte es nicht mehr greifen. Es fiel und fiel und fiel.
Sie hörte den Aufprall nicht. Aber die Dachteerasse der Bibliothek war winzig klein unter ihr.
Um sie herum schlugen die Raubvögel mit ihren Schwingen. Es schien als hielten sie damit den Luftwirbel aufrecht. Den Luftwirbel, der sie hier herauf getragen hatte.
Karina wollte gleichzeitig weinen und lachen. Sie wurde entführt. Entführt von zwölf Vögeln und einem Luftwirbel der ihr das Gefühl gab in einem Mixer herumgewirbelt zu werden. Langsam aber sicher wurde ihr übel.
Karinas Haut brannte. Heiß wie vom Feuer. Ihre ganzen Arme hinauf und an ihren Beinen. Gleichzeitig fühlte sich ihre Kleidung kalt, klamm und nass an. Trotzdem blieb sie bewegungslos.
Um sie herum rauschte es. Nicht mehr so luftig sirrend wie von einem Mixer. Jetzt rauschte es tief und gurgelnd, wie von einem Wasserhahn, dessen Wasser schnurstracks, gluckernd im Abfluss verschwand. Etwas platschte neben ihr und spritzte ihr Gesicht nass.
Kalt.
Nicht kalt genug um das Brennen dauerhaft zu lindern. Kalt genug um ganz in der Nähe Linderung zu vermuten. Konnte sie sich dorthin drehen? Hin robben?
Jeder Gedanke zog wie klebrige Marmelade an ihr vorbei. Langsam. Träge. Als stünde sie weit neben sich. Zu weit um dem Brennen den richtigen Level an Gefahr beizumessen. Sie sollte von den Flammen weg.
Aber sie bekam ausreichend Luft. Es gab keinen Rauch. Rauch war gefährlicher als Feuer, erinnerte sie sich mit einem weiteren Marmeladengedanken.
»Hoffentlich wacht sie bald auf.« Leander. Besorgter als sie es von ihm kannte. War doch etwas nicht in Ordnung? Ihr Magen hatte sich beruhigt, drehte sich nicht mehr. Zumindest der Flug durch die Luft im Windwirbel schien vorbei zu sein.
»Bestimmt. Lasst sie noch ein bisschen schlafen.« Leon. Unbekümmert wie immer. Bestimmt schon dabei den nächsten Streich zu planen.
Ob Ludwig, der dritte Drilling auch in der Nähe war?
Sie schlief nicht. Allein der Gedanke, von ihren Brüdern zu träumen. Ihre Träume waren bevölkert von fantastischen Einhörnern und Abenteuern im Wolkenreich. Nicht von Brüdern die anderen Leuten, bevorzugt ihr, Streiche spielten.
Umdrehen, befahl Karina sich.
Sie bewegte sich nicht.
Rufen, flüstern, Geräusche machen!
Sie hörte nichts von sich.
Wie ging das überhaupt nochmals, rufen?
Die Marmelade war weg. Ihre Gedanken rasten. Reden. Sie konnte nicht reden. Sie konnte sich nicht bewegen. Wer oder was hatte sie eingesperrt? Sie spürte keinen Druck, außer dem Brennen. Keine Seile. Die Luft die sie atmete war frisch, kühl. Es roch ein bisschen harzig, wie nach einem Weihnachtsbaum. Und nach Zimt. Ahmed musste auch in der Nähe sein.
Ihre Brüder berieten, was sie mit ihr machen sollten. Von den Stimmen zu schließen waren sie fast alle da. Und die schweigenden vermutlich auch.
Ich bin wach, wollte Karina schreien. Aber sie konnte sich nicht erinnern wie das ging. Wie sollte sie sich so bemerkbar machen? Ihre Lippen schienen aneinander festgewachsen zu sein, so wenig fiel ihr ein wie Sprechen ging. Grausend fiel ihr das Gedicht wieder ein. Würde man sie lebendig begraben? Für tot halten weil sie nicht reagierte?
»Ich bin wach«, dachte Karina mit so viel Energie wie sie konnte. »Hört mich in Gedanken!«
Bei ihren Traumabenteuern im Wolkenreich der Einhörner klappte die Kommunikation über Gedanken.
Ihre Arme und Beine brannten noch mehr. Von der Anstrengung zu kommunizieren?
Die Marmelade war zurück. Klebte sich an sie wie ein dicker, schwerer Mantel, den sie nicht ablegen konnte. Warm. Heiß. Eng. Allein die Idee sie zu bewegen fiel ihr gedanklich so schwer, dass sie diese gleich wieder vergaß.
»Im Wasser lassen? In der Brennnesselböschung? Ihr spinnt doch.« Ludwig. Aufgebracht statt den Vorschlag seiner Drillingsbrüder zu unterstützen. Komisch.
Immerhin wusste sie jetzt wo sie war. Ungefähr. Nicht im Badezimmer. Also kein laufender Wasserhahn. Irgendwo draußen. Und mit dem Tannenbaumgeruch vermutlich im Wald. An einem richtigen Bach. Kein Wunder, dass ihr kalt war, oder dass ihre Haut brannte. Von Brennesseln ging kein Rauch aus. Warum war sie darauf nicht früher gekommen?
»Florian, hilf mir mal. Sie holt sich den Tod in dem Wasser«. Lukas. Und er klang ehrlich besorgt. Gar nicht so ruhig wie sonst.
Karina versuchte ihre Augen aufzumachen.
Es klappte. Ein Stückchen. Sie jubilierte in der Marmeladengeschwindigkeit ihrer klebrigen Gedanken.
Trotzdem sah sie kaum etwas. Einen weißen Fleck der vorbeirauschte - Schaumkrone im Wasser? - dämmriges Licht, das alles schwarz in weiß in grau darstellte. Vor ihrem Gesicht wuchsen viele fingerdicke Pflanzen in die Höhe. Wie hoch, sah sie nicht. Höher als sie schauen konnte. Und dicht. Wenn das die Brennesseln waren, dann war sie sehr ungeschickt mitten darin gelandet. Dazwischen wuchsen zwei Baumstämme.
»Das brennt! Den Windwirbel müssen wir besser üben. Sonst stürzt sie das nächste Mal noch gegen eine Felswand«, Rashid.
Zwei Baumstämme mit wackelnden Wurzeln. Äh nein, Zehen. Das waren zwei nackte Füße.
Der Windwirbel war von Rashid verursacht worden? Aber ihre Brüder waren gar nicht auf der Dachteerasse der Bücherei gewesen. Nur die Raubvögel. Und dieser elende Windwirbel der sie durchgemixt hatte.
Wenn das wirklich auf das Konto ihrer Brüder ging, würde sie ihre Wurfgeschosse tauschen. Statt Bällen kämen Messer in ihr Munitionslager. Sobald sie herausfand wie sie mit Rashid und den anderen reden konnte, würde sie sich haarklein erklären lassen, was hier vorging.
Sie sah das Paar nackter Füße neben sich näher rutschen. Es raschelte rund um sie herum. Stimmen schimpften über die Brennesseln. Dann spürte sie mehrere Hände an Armen, Beinen und ihrem Bauch, die sie hochhoben. Ihr Kleid hing am Bauch herunter. Sie tropfte. Die Hände waren warm auf ihrer Haut, außer am Bauch. Und wo waren ihre Ärmel und Hosenbeine geblieben?
Karina drehte sich zur Seite.
Die Hände hielten sie fester. Stimmen fluchten.
»Bleib gefälligst liegen«, motzte Rashids Stimme. »Willst du zurück fallen? Ich werfe dich gerne hinein!«
In das Brennnesselmeer? Nein, dahin wollte sie nicht zurück. Also hielt sie still, bis ihre Brüder sie absetzten. Auf einem weichen Polster, dass sich warm und kuschelig anfühlte und nach Sonnenschein duftete.
»Karina? Bist du wach?«, fragte Ludwig.
»Klar ist sie das. Sonst hätte sie nicht so herumgezappelt!« Rashid.
Karina blinzelte. Wenigstens waren ihre Halb- und Stiefgeschwister jetzt da um sie aufzusammeln. Und auszuschimpfen.
»Halt den Mund Rashid. Wir brauchen sie. So, wie sie uns braucht!« Ludwig.
Seit wann konnte Ludwig so scharf jemanden zurechtweisen?
Und wo waren die zwölf Raubvögel geblieben? Hatten die ihre Brüder auch entführt? Aber das würde nicht zu Rashids Behauptung mit dem Windwirbel passen, oder?
Karina konnte sich nicht erinnern, an diesem dämmrigen Ort gelandet zu sein. Nachdem ihr übel wurde konnte sie sich an gar nichts erinnern.
Langsam ließ das Brennen nach. Jetzt juckte es. Aber ihre Muskeln gehorchten ihr noch nicht genug um sich zu kratzen.
»Hier. Das hilft.« Der Zimtgeruch wurde stärker. Schlanke Finger strichen über ihren einen Arm. Verrieben irgendetwas kaltes, grob zermatschtes das intensiv nach Blättern roch. Oder wie einer der überaus gesunden grünen Salate ihrer Mutter. Mit Wildkräutern.