Briefe an Dich - Vera Lourié - E-Book

Briefe an Dich E-Book

Vera Lourié

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Beschreibung

Briefe an Dich sind die Erinnerungen der letzten Zeitzeugin des "russischen Berlins" der zwanziger Jahre. In einer Mischung aus Tagebuch und Briefen schildert Vera Lourié ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie behütet aufwuchs und sich als junge Frau der Schauspiel- und Dichtkunst zuwandte. Sie erzählt von der dramatischen Flucht der Familie nach der Oktoberrevolution ebenso anschaulich wie von den russischen Kreisen in Berlin, wo sie in einer Bohème aus Künstlern und Literaten verkehrte, Intrigen und Liebesaffären erlebte. Den Nationalsozialismus überlebte sie trotz ihrer Kontakte zum deutschen Widerstand, der Festnahme durch die Gestapo und der Inhaftierung ihrer Mutter im KZ Theresienstadt. Ihre beherzte Geistesgegenwart kam ihr auch zugute, als die sowjetische Armee, die bürgerlichen russischen Flüchtlingen feindlich gesonnen war, 1945 einmarschierte. Sie überstand Not und Hunger der Nachkriegszeit und war lange vergessen, bis sie als Literatin und Zeitzeugin wiederentdeckt wurde und sich im hohen Alter noch einmal verliebte. Dies bestärkte sie in der Niederschrift ihrer Erinnerungen, die nun endlich, um autobiografische Texte, Dokumente und Fotos aus dem Nachlass ergänzt, erstmals vollständig veröffentlicht werden.

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Seitenzahl: 285

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Inhalt

[Cover]

Titel

Briefe an Dich

Einleitung

Editorische Notiz

Etwas über mich

Vorwort

Briefe an Dich

Erzählungen und Berichte

Briefe an Vera Lourié

Andrej Belyj in Berlin

Ilja Ehrenburg in Berlin

Zu Liane Berkowitz und Helmut Marquart

Quellenangaben

Literaturverzeichnis

Bildteil

Bildnachweise

Autorenporträt

Über das Buch

Anmerkung zur E-Book-Ausgabe

Impressum

Briefe an Dich

Doris Liebermann

Einleitung

Vera Lourié war achtzig Jahre alt, als sie sich noch einmal leidenschaftlich verliebte: in eine jüngere Frau, die Gattin ihres Hausarztes. Dreißig Jahre lang hatte Vera Lourié kein Gedicht mehr geschrieben, nun begann sie, Liebesgedichte auf Deutsch zu verfassen.

Die Angebetete erwiderte die fordernde, besitzergreifende Liebe nicht. Sie sah in Vera eine Freundin, sorgte sich um ihr Wohlergehen, brachte ihr Medikamente. Jeden Montag tranken die beiden ein Glas Champagner zusammen.

Vera Lourié begann damals auch, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in Form der hier erstmals veröffentlichten Briefe, die an die Geliebte adressiert sind. Tagebuch einer Seele sollte die Briefsammlung als Buch heißen. Die kleine, gebrechliche russische Dichterin hatte zu dieser Zeit schon nicht mehr die Kraft, sich über Stunden zu konzentrieren. Sie konnte nicht mehr lange sitzen, ein Bein und die Hüfte schmerzten ständig. Das Laufen fiel ihr schwer, und die Wohnung konnte sie nur noch in Begleitung verlassen. Aber sie klagte nicht. »Alte Klamotte«, so nannte sie sich selbst. Ihre Briefe, die mehr und mehr zum Tagebuch wurden, schildern Fragmente eines Lebens voller Brüche, sie sind Stimmungsbild, Berliner Stadtgeschichte und Autobiografie in einem. Als sie während der Berliner Festwochen 1995 im Deutschen Theater daraus las, bekam sie stürmischen Applaus. Einen Verlag konnte sie indes zu Lebzeiten für ihre Aufzeichnungen nicht gewinnen.

Sie kam erst spät zu Ehren, die letzte Angehörige des legendären »russischen Berlins« der zwanziger Jahre. Lange trug Vera Lourié ihr Wissen mit sich, ohne dass sich jemand in Berlin dafür interessiert hätte. Es war auch ein Amerikaner, der die russische Dichterin Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin »entdeckte«. Der Slawist Thomas R. Beyer vom Middlebury College war während seiner Arbeit an einer Monografie über den russischen Symbolisten Andrej Belyj, der von 1921 bis 1923 in Berlin gelebt hatte, auf die Spur der russischen Emigrantin gestoßen. In Amerika hatte Beyer die russische Schriftstellerin Nina Berberova gefragt, wer von den Russen der zwanziger Jahre noch in Berlin wohnen und Belyj gekannt haben könnte. Die Berberova hatte Vera Lourié genannt, es aber für unwahrscheinlich gehalten, dass sie die Nazi-Zeit überlebt hatte.1 Und wenn doch, war sie womöglich nach dem Krieg als »Weiße« ein Opfer der Roten Armee geworden. Als »bourgeois« abgestempelt, wurden russische Emigranten nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 oft erschossen oder auf Jahre in Lager deportiert – von den eigenen Landsleuten.

Beyer suchte die alte Dame im Telefonbuch zunächst, korrekt aus dem Kyrillischen transkribiert, unter Lurje, Lurie, Luré. Vergeblich. Er wollte schon aufgeben, als ihm die französische Schreibweise in den Sinn kam. Tatsächlich fand er unter »Lourié« die Dichterin, die in den zwanziger Jahren zur russischen Bohème Berlins gehört hatte. Beyer machte sich nach Berlin auf und erfuhr von Vera Lourié unbekannte Details über Andrej Belyj und viele andere Schriftsteller, mit denen sie verkehrt hatte. Beyer war es auch, der Vera Louriés eigene Gedichte veröffentlichte. In Russland hatte sie nur drei Gedichte publizieren können, ihre Hefte mit den Strophen hatten die Wirrnisse der Zeit überstanden. Dank Thomas R. Beyer erschien der Band 1987 in einer Reihe der Staatsbibliothek Berlin.2 Überwiegend sind es russische Gedichte, ausgenommen das letzte. Es ist das Gedicht an die Freundin »Es war, es ist!« mit den Versen: »Da plötzlich das Wunder, das Wunder zu lieben!/Vergessen das Alter, nicht denken an Schmerzen!/Nach Dir nur geblieben/Die Sehnsucht im Herzen!/Das ist!//Gefallen die Schranken,/Die Leere genommen./Dem Himmel ich danke,/Die Fee ist gekommen!/Nur Du!//«

Als Professor Beyer an der Universität Göttingen über Andrej Belyj und dessen Berliner Zeit referierte, erwähnte er auch Vera Lourié. Er ermutigte die Slawistikstudenten, sie in Berlin zu besuchen. Eine Freundin, die in Göttingen studierte und Beyers Vortrag gehört hatte, erzählte mir davon. Ich studierte damals am Osteuropa-Institut der Freien Universität, vom »russischen Berlin« erfuhr ich dort nichts. Ich glaube, auch die Professoren hatten noch nichts oder wenig davon gehört. Die 300000 Russen, die zu Beginn der zwanziger Jahre in der Stadt Verlage, Zeitungen, Theater, Geschäfte, Schulen und Restaurants betrieben hatten, waren längst in alle Winde zerstreut, die Geschichte im geteilten Nachkriegsdeutschland in Vergessenheit geraten. Bücher wie Fritz Mieraus Russen in Berlin,3 Karl Schlögels Der große Exodus oder Berlin Ostbahnhof Europas4 waren zu dieser Zeit noch nicht erschienen, die Quellen waren verstreut und in den Ländern des Ostblocks nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zusammen mit der Göttinger Freundin rief ich Vera Lourié an. Sie lud uns zum Tee ein, und bald gehörten wir zu ihrem Freundeskreis.

Schon seit 1933 lebte sie in einer bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Ein Klavier, Bilder mit dem Portrait der Mutter und russischen Landschaften an den Wänden, Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an junge Leute, Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer »Kommunalkas« erinnert. Die Studenten kamen aus dem Iran oder aus Amerika. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren es meist russischsprachige, aus der Ukraine, aus Kasachstan, aus Turkmenistan. Sie nahm Anteil am Schicksal ihrer Mieter und wusste über die politischen Zustände der jeweiligen Länder Bescheid. Sie selbst begnügte sich mit dem Durchgangszimmer. Nie hörte man sie über die Enge und Unbequemlichkeit klagen, darüber, dass die jungen Leute erst ihr Bett passieren mussten, wenn sie in die vermieteten Räume wollten. Einsam zu sein wäre schlimmer für sie gewesen. Ich nahm lange Interviews mit ihr auf, aus denen Radiosendungen5 entstanden, ich befragte sie auch für einen Dokumentarfilm über das »russische Berlin«.6 Vera Lourié erinnerte sich lebhaft und sie konnte gut erzählen. Sie sprach mit energischer, tiefer, dunkler Stimme. Ihr Deutsch war russisch gefärbt.

Ich fragte sie nach der Herkunft ihres Namens. Sie sagte, er sei hugenottisch. Damals glaubte ich es bereitwillig. Später klärten mich russische Literaturwissenschaftler darüber auf, dass »Lur’e« ein jüdischer Name sei. Womöglich war erst Vera Louriés Vater zum evangelischen Glauben konvertiert, ein Schritt, durch den sie mitsamt der »Hugenotten-Legende« die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hatte.

Die französische Schreibweise ihres Namens taucht in den Texten zum ersten Mal 1932 auf, bis zu diesem Zeitpunkt sind sie mit »Lur’e« unterzeichnet.

Am 21. April 1901 wurde Vera Jossifowna Lourié als Tochter wohlhabender Eltern in St. Petersburg geboren. Sie wuchs mit einem Schweizer Kindermädchen, einer estnischen Gouvernante und einem Privatlehrer so auf, wie man es aus den klassischen russischen Romanen kennt. Erst mit zwölf Jahren besuchte sie das Taganzewa-Gymnasium für Töchter aus höherem Hause. Der Großvater war ein erfolgreicher Börsenmakler, der Vater besaß als Arzt eine eigene Klinik in der Gorochowaja Uliza. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in einem imposanten Haus an der Fontanka, der Haupteingang befand sich in der Morskaja Uliza 48. Sie konnte sich gut an die weißen Nächte erinnern, die im Sommer die Stadt in ein geheimnisvolles, irisierendes Licht tauchten, auch an die Spaziergänge auf dem Newskij Prospekt, die sie, herausgeputzt im Matrosenkleid, als kleines Mädchen mit dem Kinderfräulein unternahm, am liebsten zum Kaufhaus Gostinnyj dwor, wo es den Stand mit den begehrten orientalischen Spezereien gab. In zärtlicher Erinnerung waren ihr die »amerikanskije shiteli« geblieben, die »amerikanischen Bürger«, ein Kinderspielzeug, das es auf dem Jahrmarkt in der Karwoche zu kaufen gab: in Glasröhren eingeschlossene Männchen, die sich auf Knopfdruck bewegen ließen. Auch den »mushik«, den hübschen Bauernjungen im roten Kittelhemd, der an der Fontanka Fisch verkaufte und den sie unbedingt heiraten wollte, vergaß sie nie.

Der Großvater besaß ein Logenabonnement im Mariinskij Theater, nach dem Genuss der Oper wurde in großen Gesellschaften gespeist. »Oft ließen sich meine Eltern noch um ein Uhr nachts vom Delikatessengeschäft Romanow Kaviar, Schinken und Champagner liefern«, erzählte sie gleichmütig. Das Geschäft liebte sie, weil dort drei Katzen waren. Man sprach fließend Französisch und reiste vor dem Ersten Weltkrieg im Sommer in die deutschen Badeorte Kissingen, Kreuznach und Wiesbaden, mit Zwischenaufenthalten in Berlin.

Die Revolution 1917 kam dem Freiheitsdrang der jungen Vera zunächst entgegen. Im allgemeinen Wirrwarr konnte sie endlich einmal der Gouvernante entwischen und vor der Sperrstunde jugendliche Verehrer zu schüchternen Rendezvous treffen. Ein Pädagogikstudium brach sie ab und belegte im 1919 gegründeten Petrograder Haus der Künste einen Schauspielkurs bei dem Regisseur Nikolaj Jewrejnow und einen Lyrikkurs bei dem Dichter Nikolaj Gumiljow.

Gumiljow, erster Ehemann der Lyrikerin Anna Achmatowa, war eine schillernde Figur im damaligen Petrograd, wie Petersburg seit 1914 hieß. Er unterrichtete eine Gruppe junger Künstler, die sich »Die tönende Muschel« nannte. Zu ihr gehörten Irina Odojewzewa, Georgij Iwanow, Nikolaj Tichonow, Konstantin Waginow und Vera Lourié. Gumiljows Einfluss auf seine Schüler war stark, ihre Verse sind von ihm geprägt. Gumiljow war zusammen mit Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam einer der Hauptvertreter des Akmeismus, einer literarischen Strömung, die sich vom griechischen Wort Akme (Blüte, Spitze, Reife) herleitete. Die Akmeisten forderten eine klare Sprache und exzellent gebaute Formen, Maßstäbe, die Gumiljow auch an die Dichtkunst seiner Schüler richtete. Der von Vera Lourié verehrte Lehrer machte keinen Hehl daraus, dass er Lenins bolschewistisches Regime ablehnte. Anfang August 1921 wurde der 35-jährige Dichter verhaftet und drei Wochen später mit 60 weiteren Menschen erschossen. Vergeblich hatte sich Maxim Gorkij für ihn eingesetzt. Vera Lourié berichtet in ihren Aufzeichnungen davon, dass es nun gefährlich war, Gumiljows Namen auch nur zu erwähnen. Noch im gleichen Jahr entschloss sich ihre Familie, aus Russland zu fliehen.

Über eine Million Menschen verließ infolge von Revolution, Bürgerkrieg und Hungersnot das Land. Deutschland wurde ein Hauptziel des russischen Emigrantenstroms und Berlin die Metropole der russischen Kultur und Politik. Die Berliner Pensionen waren Anfang der zwanziger Jahre von russischen Flüchtlingen überfüllt, die sich notgedrungen in düster-muffigen Bleiben einrichten mussten. Unter den Flüchtlingen waren Adlige, verfolgte Bourgeois, in Deutschland gebliebene Kriegsgefangene, Politiker aller Parteien, Studenten, zwangsausgewiesene Professoren, Künstler und Intellektuelle. Der Westen Berlins, der Kurfürstendamm, der Tauentzien und der Wittenbergplatz mit allen Quer- und Nebenstraßen war von den Russen geprägt. Für Außenstehende bot dieses »Charlottengrad« ein pittoreskes Bild. Den siebzehnjährigen Klaus Mann inspirierte es zu folgenden Zeilen: »Wie faszinierend, in einem der kleinen russischen Restaurants an jeder Berliner Straßenecke die dicke Borschtschsuppe zu löffeln und sich von einem exilierten Großfürsten bedienen zu lassen.«7

Bevor Vera Lourié Russland verließ, schrieb ihr Konstantin Waginow gefühlvolle Zeilen in ein Büchlein ihrer Lieblingsdichterin Anna Achmatowa – das einzige Erinnerungsstück aus St. Petersburg/Petrograd, das ihr geblieben war.8 Über Riga kam die Familie nach Berlin, wo man »nicht besonders nett zu den Russen war«, wie Vera Lourié die abweisende Haltung der Deutschen euphemistisch umschrieb. »Auf dem kalten Asphalt von Berlin/kannst du der Sehnsucht nirgends entgehen« heißen zwei Zeilen in ihrem bekanntesten Gedicht aus den fünfziger Jahren, in dem sie das Grundgefühl formulierte, das sie zeitlebens begleitete: Heimatlosigkeit. Der Vater durfte nicht als Arzt praktizieren, das bedeutete Gelegenheitsjobs, ein Flüchtlingsdasein in ungemütlichen Pensionen, Schlangestehen bei den Behörden. »Wenn wir im Park auf einer Bank saßen und Russisch sprachen, liefen die Deutschen weg. Dann haben wir Turgenjews Wort von der ›großen, mächtigen, russischen Sprache‹ zitiert – damit haben wir sie verjagt!«

In Berlin trafen die Louriés viele Bekannte aus der Heimat wieder. Unter den Emigranten befanden sich auch die Großen der russischen Kunst und Kultur, Andrej Belyj, Marc Chagall, Vladimir Nabokov, Marina Zwetajewa, Maxim Gorkij, Iwan Puni, Leonid Pasternak, Wladimir Majakowskij, Ilja Ehrenburg und viele andere. Berlin wurde bald zur wichtigsten Diaspora der russischen Kunst, Kultur und Politik. Der russische Literaturwissenschaftler Gleb Struve bezeichnete das Berlin der zwanziger Jahre später sogar als »Hauptstadt der russischen Literatur«.

Die russischen Künstler kamen in die Stadt, um allen politischen Wirren und finanziellen Sorgen zum Trotz Gedichte zu schreiben, Bilder zu malen, Bücher zu veröffentlichen und erbitterte Gefechte über die Frage »Bleiben oder Rückkehren« auszutragen. Dem Schicksal ihrer Landsleute gegenüber waren die Russen in Berlin nicht gleichgültig. Als Sowjetrussland 1921 von einer Hungerkatastrophe heimgesucht wurde, organisierten sie eine Reihe Wohltätigkeitsveranstaltungen, deren Erlös für die Notleidenden bestimmt war.

Gleich nach ihrer Ankunft in Berlin suchte Vera Lourié das Haus der Künste auf, das der Dichter Nikolaj Minskij nach Vorbild der gleichnamigen Petersburger Institution ins Leben gerufen hatte.9 In Berlin war es ein Treffpunkt russischer Künstler in wechselnden Cafés. Vera Lourié las eigene Gedichte und lernte bei einer Lesung den Schriftsteller Andrej Belyj kennen. Der Symbolist, Philosoph und Kulturtheoretiker hatte mit seinen großen, in rhythmisierender Sprache geschriebenen mystischen Romanen Die silberne Taube und Petersburg, mit seinen Gedichtbänden Gold in Azur, Asche und Die Urne sowie mit zahlreichen Essays und theoretischen Schriften das literarische Leben Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst. Belyj hofierte die junge Lyrikerin und führte sie alsbald in die Tanzdielen des »Gespensterreichs«10 aus, als das er Berlin empfand. Vera Lourié schüttelte den Kopf, wenn sie an die »Tänze« des anthroposophisch orientierten Symbolisten dachte, sie waren eine Mischung aus Flagellantentum und Eurythmie.

Sie verkehrte in Ilja Ehrenburgs Kreis am Prager Platz, traf El Lissitzky, Sergej Jessenin, Marina Zwetajewa, Roman Gul, Nina Berberova, Wladislaw Chodassewitsch. Der Schriftsteller Alexej Remisow verlieh ihr einen seiner berühmten »Affenorden«. Sie schrieb für in- und ausländische Zeitschriften, auch für die russische Zeitung Dni (Tage), die der Sozialrevolutionär Alexander Kerenskij, der letzte Premierminister vor Lenins Staatsstreich, in Berlin herausgab.

Ab Mitte der zwanziger Jahre zogen die Russen weiter, nach Paris und Prag oder kehrten in die Sowjetunion zurück. Eigentlich wollte Vera Lourié, als Hitler an die Macht kam, nach Paris emigrieren. Der Schriftsteller Michail Ossorgin riet ihr im November 1933 von diesem Schritt ab, er beschwor die noch größere Not in Frankreich.11

Der Vater starb im Herbst 1936, zwei Jahre später floh ihre Schwester Jelena vor den Nationalsozialisten nach England. Ihr Bruder Sergej gelangte über Dänemark und Paraguay nach Argentinien, wo er sich jahrelang illegal aufhielt. Bitterarm, konnten die Geschwister der Mutter, einer Jüdin, kein Affidavit beschaffen, jene eidesstattliche Erklärung, die Unterstützung im Gastland zusicherte. Vera Lourié hatte wie ihre Schwester die Erlaubnis bekommen, in England als Dienstmädchen arbeiten zu können,12 aber sie entschloss sich, bei der Mutter in Berlin zu bleiben. Die Mutter wurde verhaftet, sie überlebte das KZ Theresienstadt. Auch Vera Lourié wurde 1938 von der Gestapo festgenommen, kam nach fast acht Wochen Haft aber wie durch ein Wunder wieder frei. Ihr Verlobter Alexis Posnjakow, ein russischer Rechtsanwalt, starb 1941 im KZ Dachau. »Der Bürgermeister der Stadt Dachau erwartet auch einmal Ihren Besuch«, stand auf dem Brief mit der Todesmeldung, den sie in ihrem Schreibtisch aufbewahrte.

Das Ende des Krieges erlebte sie als Befreiung, und mit den Rotarmisten machte sie sogar Geschäfte. Über den Schwarzhandel berichtet sie in ihren Aufzeichnungen.

Schon vor dem Krieg hatte sie angefangen, Privatschüler in mehreren Sprachen – Russisch, Französisch, Englisch – zu unterrichten. Damit hielt sie sich auch nach dem Krieg mehr schlecht als recht über Wasser. Sie unterrichtete bis ins hohe Alter, um die Rente aufzubessern. Aus den zwanziger Jahren war ihr, als ich sie kennenlernte, kaum ein Erinnerungsstück geblieben. Ihr gesamtes Archiv, Briefe, Widmungen, Bücher von Ilja Ehrenburg, Alexej Remisow, Irina Odojewzewa hatte sie Ende der siebziger Jahre für ein Butterbrot an einen Pariser Sammler verkauft. »Damals hat sich doch in Berlin niemand dafür interessiert«, sagte sie bedauernd. Immerhin erwarb Janos Frecot für die Berlinische Galerie zwei Fotoalben, deren verblichene Seiten einen schwachen Schimmer vom einstigen Glanz des russischen Berlins bewahrt haben. Die Fotos zeigen die schöne junge Vera in fröhlichen Runden mit dem Maler El Lissitzky und den Schriftstellern Viktor Schklowskij und Ilja Ehrenburg.

In ihren letzten Lebensjahren besuchten sie russische Schriftsteller und Journalisten, wenn sie in Berlin weilten, unter ihnen Andrej Wosnessenskij und Arkadij Waksberg. Ungläubig hörten sie zu, wenn Vera Lourié eine Zeit lebendig werden ließ, die die Gäste nur aus der Literatur kannten. Nach St. Petersburg, die Stadt ihrer Kindheit und Jugend, kehrte die Dichterin nie wieder zurück. Als sie im September 1998 hoch betagt mit 97 Jahren starb, war sie so arm, dass ihr Freundeskreis um Spenden für die Beerdigung bitten musste.

Vera Lourié wurde auf dem Luisenkirchhof III in Berlin-Charlottenburg beigesetzt.

1 Siehe den Brief von Nina Berberova an Vera Lourié im Anhang.

2 Vera Lourié (Vera Lur’e): Stichotvorenija. Poems. Edited and with an introduction by Thomas R. Beyer Jr. Berlin: Reihe der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Band 8, 1987.

3 Fritz Mierau (Hrsg.): Russen in Berlin: Literatur, Malerei, Theater, Film 1918–1933. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1987 und Weinheim: Verlag Quadriga 1988.

4 Karl Schlögel: »Berlin: Stiefmutter unter den russischen Städten«, in: Ders.: Der große Exodus. Die Russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941. München: Verlag C.H.Beck 1994. Ders.: Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin: Siedler Verlag 1998.

5 Doris Liebermann: Das russische Berlin. Vera Lourié erinnert sich. Berlin: SFB, 22. Februar 1985.

6Russland an der Spree. Ein Film von Doris Liebermann und Dennis Weiler. Berlin: SFB 1988.

7 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2006, S. 172.

8 Siehe hier sowie den Bildteil.

9 Thomas R. Beyer Jr.: »The House of the Arts und the Writers’ Club. Berlin 1921–1923«,in: Thomas R. Beyer Jr., Gottfried Kratz, Xenia Werner: Russische Autoren und Verlage in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg. Berlin: Verlag Arnold Spitz 1987.

10 Andrej Belyj: Im Reich der Schatten. Berlin 1921–1923. Übersetzt von Birgit Veit. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1987.

11 Vgl. den Brief von Michail Ossorgin im Anhang.

12 »›Für das Gewesene gibt der Jude nichts.‹ Vera Lourié, russisch-jüdische Dichterin«, in: Israelitisches Wochenblatt Nr. 48, 28. November 1997, S. 7. Interview Karin Huser. Auch in den Briefen an Dich schreibt V.L. von der Absicht, nach England gehen zu wollen, siehe hier.

Editorische Notiz

Vera Louriés nachgelassene Gedichte, Prosatexte, Briefe und Lebenszeugnisse befinden sich im Archiv der Akademie der Künste zu Berlin, mit deren Erlaubnis die Briefe an Dich hier zum ersten Mal veröffentlicht werden. Auszüge daraus erschienen in der Zeitschrift Sinn und Form Heft 4/2011.

Von den Briefen an Dich, die Vera Lourié zwischen dem 9. Juli 1985 und dem 12. Juni 1986 auf Deutsch verfasste, existieren mehrere Varianten. Die ursprüngliche Fassung, eine maschinenschriftliche Abschrift der in Schulhefte handgeschriebenen Briefe (Sign. 41 und 42), ist unter der Signatur 46 archiviert. Da Vera Lourié in ihren Schilderungen häufig von einem Jahrzehnt in ein anderes wechselt, mitunter ganze Jahrzehnte überspringt, Briefe oft auch nicht beendete, wurde diesem Buch eine unter Signatur 44 archivierte bearbeitete Version zugrunde gelegt. Sie bemüht sich um mehr Chronologie, bündelt den Inhalt mehrerer Briefe thematisch und ist somit besser verständlich. Diese Version ist um Passagen aus der Urfassung Signatur 46 sowie aus Fassungen, die unter den Signaturen 37, 43 und 45 archiviert sind, erweitert. Auf die genaue Datierung wurde in dieser Ausgabe verzichtet, da die bearbeitete Fassung Signatur 44 nicht der ursprünglichen Anordnung der Briefe folgt.

Die Briefe an Dich werden ergänzt durch Prosatexte, Gedichte und Dokumente, die in Bezug zu Vera Louriés Biografie stehen. Einige davon wurden für diese Ausgabe von der Herausgeberin aus dem Russischen übersetzt.

Die Wiedergabe der russischen Namen ist an die deutsche Duden-Umschrift angelehnt; in einigen Fällen (wie Nabokov, Berberova, Struve oder Scherbina) wurde die gebräuchliche deutsche Schreibweise beibehalten.

Das Register im Anhang gibt zu den im Text genannten russischen Personen jeweils die Namen in wissenschaftlicher Transliteration wieder, so dass interessierte Leser in der slawistischen Fachliteratur mühelos weitere Informationen finden können.

Offensichtliche orthografische und sachliche Fehler in den Texten wurden stillschweigend korrigiert.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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