Briefschaften - Helene Flöss - E-Book

Briefschaften E-Book

Helene Flöss

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Beschreibung

Die Geschichte einer Beziehung zwischen Freundschaft und Liebschaft, von der Autorin und dem Autor gemeinsam in Briefdialogen erzählt. Die Briefpartner sind die etwa vierzigjährige, mit einem gefühlskalten Mann verheiratete Magdalena Samter und der einsame, verbitterte, besonders von der Liebe enttäuschte Rupert Findling, pensionierter Mathematiker im Versicherungswesen. In poetischen Schilderungen von Luft, Wolken und Vögeln, anschaulichen Ortsbeschreibungen, Erinnerungen, Reflexionen und kurzen Erzählungen spüren sie dem Lebensgefühl der Kindheit und des Alters nach, der Liebe und der Trauer. Außerdem schildern die Briefe der Frau eine schöne, ungewöhnlich enge Vater-Tochter-Bindung. Im Verlauf des Briefwechsels entwickelt sich eine sehr vertrauliche, aber auch von Spannung geprägte Beziehung: Magdalenas Wunsch, dass er ihr den Vater ersetzen möge, stößt bei Rupert auf Unsicherheit, ja zunehmend auf Ablehnung: zu groß ist die erotische Anziehung, die sie auf ihn ausübt, zu sehr wird ihm durch die Tochter, die sie ihm sein möchte, sein Alter bewusst. Zuletzt aber holt sie ihn doch ein: Das Buch endet mit dem 33. Brief "Nenes" - ein Brief und eine Geschichte für jedes Jahr, das er ihr voraus hat.

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Helene FlössWalter Schlorhaufer

Briefschaften

Roman

© 1994HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

Ungekürzte E-Book-Ausgabe 2014

ISBN 978-3-7099-7732-3

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Cover: Peter PrandstetterSatz: Tau Type, Bad Sauerbrunn

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhalt

18. Mai

25. Mai

28. Mai

30. Mai

30. Mai

4. Juni

10. Juni

15. Juni

17. Juni

18. Juni

19. Juni

21. Juni

23. Juni

25. Juni

4. Juli

7. Juli

9. Juli

11. Juli

13. Juli

16. Juli

18. Juli

19. Juli

24. Juli

26. Juli

29. Juli

6. August

8. August

10. August

10. August

20. August

24. August

2. September

10. September

20. September

27. September

29. September

4. Oktober

8. Oktober

12. Oktober

15. Oktober

16. Oktober

20. Oktober

30. Oktober

8. November

9. November

17. November

19. November

23. November

24. November

30. November

4. Dezember

Wien, 7. Dezember

10. Dezember

12. Dezember

16. Dezember

18. Dezember

20. Dezember

20. Dezember

7. Jänner

10. Jänner

10. Jänner

20. Jänner

22. Jänner

DIE AUTORIN

DER AUTOR

Einmal, es ist schon lange her,eine Menge Lächeln in die leere Volieregesteckt. Mit viel Hoffnungdas Verwahrte dort flattern gesehen.

Inzwischen sind die Stäbe des Käfigslängst durchgerostet und die kleinenLachvögel ausgeflogen über alle Berge.

Später, zu noch höherer Gefangenschaft,Tode in den Vogelkäfig gesperrtund die Türe offen gelassen,weil es vergeblich gewesen wäre,sie zu schließen.Mein eigner Tod schmerzt mich nicht.

Schließlich aber doch einen Wassergrabenum den Käfig gezogen mit vielen Wasserlinsen.

Nicht aus Sicherheit, nur zur Zierde.

Walter Schlorhauferaus: »Narbensaiten«

18. Mai

Es fällt mir schwer, Sie anzusprechen. Das erste Mal war es nach einem langen Ausweichen ein Auf-Sie-Zugehen, um Sie zu trösten. Dann kam ein Jahr später der Augenblick, da meine Hände sich um Hüften legten, nachdem ich mich versicherte, daß niemand mich sehen konnte. Die Stimmen der anderen kamen aus anderen Räumen. In Ihrer Küche gab ich vor, mich für die großen Ravioli zu interessieren, die Sie in das heiße Wasser warfen. Sie sagten, bei uns heißt es: »Die Gäste kommen, wirf die Nudeln ins Wasser.« Meine Ohren hörten, die Augen aber sahen gar nichts, weil meine Hände fühlten.

Ich hatte es wahrlich gut unter den Störchen, so wie Sie es mir in der Einladung, nach Rust zu kommen, geschrieben haben. Sie meinten in dem Brief, daß wir es gut haben sollten unter den Störchen; nicht ich allein, nein, wir. Ich hoffe, Sie hatten es auch gut.

Nach Tirol zurückgekehrt, flogen im Traum mehrmals Störche an meinem Fenster vorbei. Schlußendlich war es in Hall, daß meine Begrüßung sehr stürmisch ausfiel, beinahe ein Wangenkuß. Ich sehe immer noch Ihr erstauntes Erschrecken. Es war wie Mariae Verkündigung, da der Engel sagen mußte: »Fürchte dich nicht, ich verkünde dir eine große Freude.« Ich bildete mir ein, ein entzücktes Erschrecken zu sehen. Im »Haus der Begegnung« hatte ich bereits den Entschluß gefaßt, Ihnen zu schreiben.

Wie aber soll ich Sie wirklich ansprechen? »Meine liebe« ist auch kleingeschrieben semantisch zweideutig und Anlaß zu eifersüchtigen Mißverständnissen. »Sehr geehrte« oder etwas näher: »Liebe gnädige Frau« ist ebenso unpassend, zu kalt. Daher keine Anrede. Je nachdem wir einander näher oder ferner stehen, sollten wir das Du oder das Sie gebrauchen. Das wird dem anderen zeigen, wie es um uns steht.

Ich bin Rupert Findling, und alt. Warum ich Sie gebeten habe, mit mir in brieflichen Kontakt zu treten, ist das Gefühl, daß ich Sie an einem Ort, nein nicht Ort, sondern in einer Stadt das erste Mal gesehen habe, die für meinen Freund, Dr. Veit Hastaber, Arzt, von entscheidender Bedeutung wurde. Daß Sie mir außerordentlich gut gefallen haben, ist selbstverständlich. Dazu kommt noch, daß ein Jahr zuvor eine Dame starb, der ich in den ersten Nachkriegsjahren begegnete, eine Französin, nur wenig älter als ich, mit der mich eine der seltenen Mann-Frau-Freundschaften verband, die immer ohne Eros blieb. Voller Enttäuschungen wir beide, beide Ästheten, sprachen wir nur vom Gift der Liebe. Ihnen, obwohl um dreiunddreißig Jahre jünger als ich, traue ich eine ähnliche Freundschaft zu. Bleibt zu hoffen, daß Sie das gleiche Vertrauen, das ich zu Ihnen habe, auch zu mir haben werden. Mehr ist im Augenblick nicht zu sagen.

Eben fliegt vor meinem Fenster ein Storch vorbei. Was er im Schnabel trägt, ist nicht zu erkennen. Einige Schwalben ziehen schwarze Fäden durch den dunstigen Himmel. Weit ist das Land hier. Es kommt mir vor, als blühten der Flieder und der Goldregen hier anders als in den Bergen, woher ich komme.

Seneca spricht in seiner Schrift »Über die Kürze des Lebens« vom Wahnsinn der Dichter, die mit ihren Geschichten die Verirrungen der Menschen noch nähren. Die Stoiker lagen immer mir näher als meinem Freund, der mich mit meinem Schreiben verspottete.

Wenn morgens um fünf die ersten zögernden Vogelrufe zu hören sind, steht ein Dreiviertelmond in der linken unteren Scheibe meines Fensters. Noch einmal kurz eingeschlafen, träumte ich von einer Leni F., die mir früher sehr nahestand. Als sie an meiner rechten Seite ging, sagte sie, ich solle sie auf die andere Seite lassen, da sie auf dem linken Ohr taub sei.

Inzwischen ist der Mond auf der Scheibe verschwunden. Er wird sich schlafen gelegt haben wie ich. Dort wo er war, liegt jetzt der Schein einer noch nicht sichtbaren Morgensonne. Vogelschwärme kommen vom See, fallen kurz in die Weingärten ein und kehren, abgelöst von anderen, zum See zurück. Hundegebell. Eine Männerstimme. Gegen sieben Uhr ist keine Vogelstimme mehr zu hören, kein Vogel mehr zu sehen. Nun vermählt sich die Sonne mit dem Goldregen und einer gelben Hauswand und läßt jenseits der Weingärten einen schmalen Streifen hellgrün aufleuchten. Modefarbe? Hinter dem Streifen kommen einige dunkle Busch- und Baumgruppen, das Gelände steigt etwas an und verliert sich im blaugrauen Himmel. Was sich in Wirklichkeit dort verliert, sind meine schlechten Augen, die eine Brille bräuchten und sie ohne Brille nicht finden können.

Jetzt um acht Uhr verblassen die Helligkeits- und Farbunterschiede. Der Himmel ist von einem Gespinst dünner Wolken durchzogen.

Leises Klopfen an der Tür nebenan, wo die Dame wohnt, die in der Nacht redete und redete. Betete? Etwas vorlas? Etwas auswendig lernte? Ich hatte sie gestern abend unten lange besorgt telefonieren hören. Wie, wenn sie ihr letztes Gebet gesprochen hätte? Ein Schlüssel wird im Schloß gedreht. Zwei leise Frauenstimmen.

Letztes Jahr, in einer anderen Unterkunft und in einem ebenerdigen Zimmer, Blick auf eine Hauswand voll von Schwalbennestern.

»Erkennen Sie mich nicht wieder?«

Heute, am Tag der Abfahrt, steht der halbe Mond im rechten oberen Eck der Fensterscheibe. Der Himmel dort ist milchblau wie Magermilch. Nur eine Ringeltaube färbt ihn sechzehn Rufe lang klagerosa. Der Ruf muß in die Innenhöfe der Bauern hier fallen. Noch sind ihre Tore geschlossen und täuschen Geborgenheit vor.

Bist du endlich gekommen? Du jaulst nicht, du maulst nicht, du hast dich verändert.

Wundert dich das?

Ich kam, um dich abzuholen, denn in mir war ein schweres Pferdegetrampel. Und dann auch noch der Peitschenhieb des Fuhrmanns, auf dessen Wagen ich hinten aufsitzen wollte. Einen fliederfarbenen Striemen zog er mir von der rechten Stirn bis in die linke Wange.

Wie ein Schmiß.

Ich habe die schamlosen Gesichter meiner Tanten gesehen. Da wußte ich, daß es Zeit ist, sie von der Wand, an der ich sie aufgehängt hatte, wieder abzuschneiden.

Und ich die Gesichter meiner Schwestern. Die eine, der du immer unter den Rock gegriffen hast, und die andere, die wir immer im Heim besuchten, eine Behinderte. Siehst du den dort drüben, der war doch mit uns im Tanzkurs. Wie hieß er denn nur?

Ich weiß es nicht. Frag mich nicht nach Namen. Ich merke mir nie welche. Aber es ist sicher der, der das Bierglas mit den Zähnen aufnahm, den halben Liter hinunterrinnen ließ wie in ein offenes Rohr und dann begann, das Glas zu zerkauen und zu schlucken, ohne daß er sich dabei verletzte. Du hast diesen Laffen immer sehr bewundert.

Richtig, der ist’s. Sein Name fällt mir auch nicht ein. Ich habe ihn wirklich bewundert und oft versucht, es nachzumachen. Vergeblich. Das nenne ich Kunst.

Warte, ich muß noch einen Sprung in die Aufbahrungshalle machen. Das ist Vorschrift wie das Beileidwünschen, dem du dich entzogen hast. Ich muß sie noch begrüßen, diese Maulesel, diese Ewigleber. De mortuis nil nisi bene schrien sie alle, warteten aber schon auf meine Stelle und tuschelten untereinander, wie ordinär ich gewesen sei.

Gewartet habe ich auf Veit allerdings vergebens. Das hätte ich mir denken können. Das Wetter war angenehm frühherbstlich, floxig nenne ich das, und denke dann Wiederflox. Eine Bank fand sich. Ein Buch zum Lesen habe ich immer bei mir, und so las ich und las ich, bis der Friedhofswärter mit der Glocke seine Runden drehte und ich den Friedhof verlassen mußte. Wohin ich dann ging, habe ich inzwischen vergessen.

Einige Tage später erklärte mir Veit, daß ihn der Bestatter mit dem schönen Namen Sarg (er wohnt in Hall) aufgehalten habe, weil noch Raten für sein Begräbnis offen seien. Sterben sei teuer, meint Veit, ich rate dir, tu das nur einmal. Meine Schwestern haben keinen Groschen bezahlt, du übrigens auch nicht, obwohl gerade du schuld daran bist, daß ich so oft bestattet wurde.

Wieso ich?

Ja, du, stell dich nicht so blöd an.

Er ging, kam aber gleich wieder zurück: Fleischmann hat der geheißen, der mit dem Bierglas.

Ich glaub nicht.

Fleischmann hat er geheißen! Er hat ein altes Gesicht. Er muß mehrmals durchgefallen sein.

25. Mai

Lieber Rupert,

heute habe ich die letzte Rose von Deinem Strauß aus der Vase genommen. Ich habe sie zu den übrigen in das Band gesteckt. Jetzt baumeln sie kopfüber auf dem Balkon. Irgendwann werde ich sie wegwerfen, die Staubfänger, wie die früheren, dürren Sträuße auch. Ich weiß nicht, warum ich sie immer wieder aufbewahre. Verwelkte Rosen ertrage ich nicht. Sobald sie den Kopf hängen lassen, nehme ich sie aus dem Wasser. Wie unansehnlich sind getrocknete Rosen!

Du hättest mir die Blumen bringen können, anstatt sie zu schicken; wie Du auch hättest anklopfen können, anstatt zu schreiben. Ich habe auf Dich gewartet.

Wußtest Du es wirklich nicht, daß ich die Frau im Zimmer nebenan war? Weder habe ich memoriert noch gebetet. Ich führe Selbstgespräche, sobald ich allein bin. Vielleicht ist Selbstgespräch gar nicht der richtige Ausdruck. Ich spreche zu Abwesenden, toten oder lebenden, nicht zu mir selbst. Auch mit Dir habe ich schon geredet, ohne daß Du davon weißt. Nicht gerade damals, als Du an meiner Tür gelauscht hast. Hast Du gelauscht? Der Horcher an der Wand … hast Du so Deinen Kindern gedroht?

Mein Vater hat nie gedroht. Am häufigsten rede ich zu meinem toten Vater.

Er würde Dir ähnlich sehen, nehme ich an. Gleich groß seid ihr und gleich hager. Als Du zum ersten Mal Deine Arme um mich geschlungen hast, war ich nahe daran, meinen Kopf an Deine Schulter zu legen. Man hat mich zu früh um meines Vaters Schulter gebracht.

Im Gras liegend oder beim Spazierengehen erzählt Vater. Seine Geschichten sind sonderbar. Er erfindet sie erzählend. Lügengeschichten, die seltsam anders sind als die Erzählungen zu Hause oder die Märchen in der Schule. Mein Vater denkt sich Dinge aus, die man nirgendwo festmachen kann.

Ist das wahr, Vater?

Wenn du es glaubst.

Erfinde mir eine Geschichte, Rupert!

Rupert Findling, was hast Du für einen Namen! Dich hat noch keiner gefunden.

Vielleicht habe ich die Marotte mit den Selbstgesprächen geerbt. Mein Vater redete sich ein anderes Leben durch seine skurrilen Geschichten herbei.

Durch ihn bin ich zur Spaziergängerin geworden. Er und ich, mein vorbildlicher Vater und seine nacheifernde Tochter. Nie gehörte er mir mehr als beim Spazierengehen.

Kuckuck, sag mir doch, wieviel Jahre leb ich noch?

Die großen Zahlen schenkt mir Vater. Er braucht nicht mehr so viele Jahre. Dreiunddreißig weiß ich noch. Dreiunddreißig kommt mir unendlich vor. Dreiunddreißig brauche ich auch nicht. Wir halbieren uns die Zahl.

Nicht die Ringeltaube, Rupert!

Hörst du die Kinderschreie?

Ja.

Dreiunddreißig Kinderschreie hat mich mein Vater hören gelehrt.

Märzkatzen und Ringeltauben, klagerosa.

Mein liebstes Spiel mit Vater ist, uns plötzlich im Wald zu verirren. Wir finden weder den Weg nach Hause, noch jemals wieder Mama und die Schwestern. Wir leben fortan allein.

Ich möchte mich noch einmal mit Vater verirren.

Ich könnte Deine Tochter sein. Die tote Französin ohne Eros will ich nicht sein. Zwei Vergiftete sollen sich nicht zusammentun. Dreiunddreißig Jahre länger als ich hast Du schon gelebt. Dreiunddreißig ist eine schöne Zahl.

Ich möchte die Geliebte meines Vaters sein.

In der Küche hast Du mich mit beiden Händen um die Hüfte gefaßt. Es war keine weibliche Hüfte. Mein Vater hat mich als Frau nicht mehr erlebt. Ihm habe ich einen androgynen Körper behalten.

Einen Tag und eine Nacht im Hotel mit meinem Vater. Dottore, nennt ihn der Kellner. Er ist kein Dottore.

Ein Mann hört jahrelang eine Heuschrecke in seinem Ohr zirpen, erzählt Vater zur rechten Ehebettseite hinüber. Er hört sie krabbeln und ihre Beine an der Schrilleiste wetzen. Manchmal verzweifelt er beinahe. Kein Arzt kann ihm helfen. Im Wald trifft er einen Zwerg, der rät ihm, einen Specht zu schlucken. Seither hämmert der Specht in seinem Ohr. Der Mann ist ein berühmter Trommler geworden.

Carmen von Bizet, hörst du?

Ist das wahr, Vater?

Wenn du es glaubst.

Im Hotelbett an Vaters Seite verspreche ich mir, nur mit einem Mann zu gehen, der wie er ist.

Vater hat sich mit Schaum und Klinge rasiert. Die zahllosen Modelle von Rasierapparaten, allesamt Geschenke von Mama, lagen aufgereiht samt Schachtel in seinem Nachtkästchen. Schließlich schenkte ihm Mama Hemden. Aus dem roten Jersey- und dem blauen Seidenhemd nähte sie mir dann Blusen. Vater trug nur weiße Hemden. Die Bosheit auf der einen, der Trotz auf der anderen Seite. Vor der offenen Kastentür im Hotel stopft sich Vater die weißen Hemdfalten in den Bund, greift mit der rechten, dann mit der linken Hand in den Hosenschlitz und zieht den Stoff über der Hüfte glatt. Karierte Anzüge sind gewöhnlich. Kulturlose Frauen tragen Hosen, sagt er in den Spiegel.

Vor Jahren habe ich das Radfahren aufgegeben. Rockzipfel in den Speichen sind gefährlich.

Schreib wieder, Rupert!

Magdalena Samter

28. Mai

In den Pfingsttagen schreien die Raben bis gegen zehn Uhr abends. Sie begleiten mich von Jugend an, was Veit immer geärgert hat. Für ihn waren es Totenvögel. Auch die Dohlen konnte er nicht leiden, seit sie ihm einmal fast die ganze Jause aus der Proviantbüchse gefressen hatten. Ich saß damals neben ihm, hielt meine Schachtel streng zwischen meinen Knien, warf ihnen ab und zu ein Stück Brot zu und sah wohl, daß sich andere hinter dem Rücken von Veit um die Dose stritten, während er ins Tal glotzte. Als er entdeckte, daß ich die Dohlendiebe wohl gesehen, aber nichts dagegen unternommen hatte, sprang er auf, ich auch. Er war so wütend, daß er mir einen Tritt versetzte, der mich beinahe über die Felswand gestürzt hätte.

Kurios, so mitten im Pfingstgrün zwei kleine weißwatschelnde Gänschen, die schnatternd die Straße überqueren. (Achtung: Auto!)

Man glaubt, sie seien noch Kinder, dumm und schlechterzogen in ihrer Leichtfertigkeit. Plötzlich beschließen die beiden, mitten auf der Straße Liebe zu machen. Das heißt, daß die Dame beim Schopf gepackt wird, und der Herr daher nicht schnattern kann, die Dame unter ihm aber vor Glück den Schnabel hält.

Vielleicht wollen Sie den Briefwechsel mit mir nicht. Es hätte schon längst eine Antwort kommen können. Heute ist Freitag vor Pfingsten. Etwas föhnig. Elf Uhr abends. Ich bewohne zwei Zimmer, die, nach Osten gerichtet, den Blick auf den Bettelwurf freigeben. Noch immer liegt oben am Kamm Schnee. Ich bin unruhig, jetzt hole ich mir noch ein Glas Whisky, trinke auf die Störche (in meinem Alter darf ich das ungestraft tun) und lege mich dann hin, um noch ein wenig zu lesen.

Bald aber stehe ich wieder auf, weil ich mir das für Sie notieren will, was ich eben bei Celan gelesen habe: »So groß war die Liebe zu ihm, daß sie den Deckel eines Sarges hätte aufstoßen können, wäre die Blume, die sie auf ihn gelegt, nicht so schwer gewesen.«

Pfingsten, das einzige Hochfest, das der Supermarkt noch nicht vereinnahmt hat, ist bereits vorüber.

Gottverlassen lag ich im Krieg am Hochkaukasus, als plötzlich ein Angriff der Russen mit Stalinorgeln begann. Ich lag am Boden, umgeben von den feurigen Zungen der Einschläge. Da dachte ich an Pfingsten. Es gab damals viele Tote und Verwundete. Mir ist nichts passiert. Nicht ein Ritzer. Aber wem sag ich das? Wäre es nicht besser, Sie würden mir sagen, daß Sie nicht schreiben wollen? Sie haben ja recht, aber sagen sollten Sie es. Mein Freund wird wieder einmal triumphieren. Der hat mir nämlich prophezeit, daß Sie auf meinen Vorschlag nicht eingehen würden.

Endlich! Endlich ein Brief!

30. Mai

Lieber Rupert,

wohin nimmst Du mich mit?

Nicht in die Berge, ins flache Land oder ans Wasser. In ein Hotel mit vielen Fenstern.

Daß Du meine Stimme nicht erkannt hast im Zimmer nebenan. Meines Vaters Stimme ist tief wie die Deine; nicht so voll und von unten herauf. Er spricht sehr leise. In seiner Gegenwart schreie ich nie. Rede ich mit meinem toten Vater, dämpfe ich heute noch die Stimme. Er hört meinem Gemurmel zu.

Ich bin einem Geliebten begegnet, Vater. Er ist wie du. Sieben Jahre jünger zwar, aber zwischen siebzig und achtzig macht das nicht viel aus. Er sagt, er sei alt. Meistens sagt er auch dazu, daß er häßlich sei. Du warst sehr schön. Fast zu schön für einen Mann. Aber in der Höflichkeit könntet ihr Brüder sein. Liebe gnädige Frau will er mich nicht nennen. Ich mag aber sowohl die Anrede als auch den Handkuß. Du bist mit deinem Küß-die-Hand immer aufgefallen. Es ist in den Bergen nicht üblich. Anstatt gnädige Frau hast du Madame gesagt. Madame, und hältst der noblen Alten die Tür auf. Madame, und du läßt die Flamme aus dem Feuerzeug springen. Er sagt, er will mir ein Freund sein, der ältere Freund. Er tut so, als sei dies mehr als ein Liebesverhältnis. Ich aber will nachholen, was mit dir nicht war, was mit einer Dreizehnjährigen nicht sein konnte.

Du erschrickst, Rupert? Elf Jahre bin ich mit Josef Selwa verheiratet. Seit zehn Jahren lebe ich mit ihm wie Bruder und Schwester. Mein Vater weiß das. Du sollst es auch wissen. Vielleicht ist Deiner toten Französin in Eurer Freundschaft etwas abgegangen? Sollst Dich nicht ängstigen. Die schönsten Liebesgeschichten sind die zwischen Vater und Tochter.

Mit Veit Hastaber habe ich über Homo Faber geredet.

Dein Freund Hastaber und unsere Verbindung zu Brixen. Ich habe es nie geglaubt, daß sich seine Frau in dem Hotel in unserer Stadt umgebracht hat. Sie hatte schon zu lange mit ihrer Schizophrenie – oder war sie eine Sexualhysterikerin? – gelebt. Warum hätte sie sich im Urlaub umbringen sollen? Ein Arzt kennt viele Wege. Dr. Hastaber wird mir nicht unheimlich wegen meines Verdachts.

Auch meinem Vater unterstelle ich den Wunsch, Mama umzubringen. Mein großer Vater und meine kleine Mutter, und das Gift zwischen den beiden. Wahrscheinlich hat er den Mord aber gar nicht zu denken gewagt. Das ist das einzige, was ich ihm übelnehme, seine Katholizität.

Mein Vater ist in den Armen der Frau, die er nicht umarmen wollte, gestorben.

Vor langer Zeit hast Du Deine Arme von den Frauen genommen, die Deine Enttäuschung waren.

Leg Deine Arme um mich, es kann uns nichts passieren. Mit meinem Vater konnte mir nie etwas passieren; kein überraschendes Gewitter, kein verpaßter Zug, keine grausame Lehrerin und keine eifersüchtigen Schwestern. Er nahm einfach meine kleine Hand zwischen seine beiden großen Hände.

Leb wohl, Rupert!

Magdalena Samter

30. Mai

Sehr geehrte gnädige Frau,

Rupert hat gerade »Endlich!« ausgerufen und den Drei-Seiten-Brief gelesen, als er zusammenbrach.

Übrigens: Ich heiße Veit Hastaber und erhielt von Rupert, der vor mir auf einem berühmt-berüchtigten Kelim liegt, den Auftrag, Ihnen zu schreiben, da er selbst dazu nicht in der Lage ist. »Schreib du«, sagte er, »ich kann nicht.«

Gnädige Frau, ich warne Sie vor diesem Menschen. Er vernichtet alle seine Freunde und gibt noch dazu vor, ihnen Gutes zu tun.

Das hat seine geschiedene Frau auch schon gesagt. Das hätte ich jetzt nicht schreiben sollen, bitte vergessen Sie das. Wissen Sie, er gleicht jenem Samuel, von dem der Midrasch erzählt, daß er sich im Lauf seiner Wanderungen jeder Einladung entzog. Stets führte er sein Zelt mit sich samt seinen Gerätschaften. Wahrscheinlich will er auch noch von seinem Raben ernährt werden wie Elia.

Als Rupert mir den Auftrag gab, fragte ich zuerst einmal: »Wie sieht sie aus?« Wenn man einer Dame schreibt, möchte man wissen, wie sie aussieht.

Seine Antwort: »Wenn du sie siehst, oder besser, als ich sie das erste Mal gesehen habe, dachte ich, dieser Frau möchte ich einen Fächer schenken. Sie ist eine Carmen und wird den Fächer sprechen lassen.«

Da sehen Sie, in welchen Einbildungen dieser Mensch lebt. Sie würden, meint er, den Fächer leicht öffnen, nicht ganz, nur nicht ganz, das wäre ungebührlich, und mit dem Zeigefinger der linken Hand, vielleicht auch noch mit dem Mittelfinger an den Fächerrand klopfen, was, wie jede Dame weiß, heißt: Trau dich nur, ich möchte mit dir reden.

So eingebildet war er immer schon. Die Frauen haben es ihm aber gegeben. Häßlich ist er ja obendrein. Das weiß er auch. Dafür kann er nichts, aber wenn man so aussieht, sollte man sich anders benehmen.

Rupert hat eine Telefonphobie! Können Sie sich das vorstellen, in der heutigen Zeit? Er behauptet, dadurch, daß keine Briefe mehr geschrieben werden, würden Generationen von Historikern zugrunde gerichtet. Er ist ein Narr. Er rennt lieber zwei Kilometer zu Fuß, bevor er zu einem Telefonapparat greift, und macht sich Sorgen um die künftigen Schreiberlinge.

Das, was er als Schriftsteller produziert hat, können Sie vergessen. Nicht umsonst hat er Briefe bekommen, in denen es heißt, was glauben Sie eigentlich, nur weil Sie ein Doktor sind, können Sie uns einen solchen Unsinn vorsetzen? (Ist er nicht; er hat nur einen Magistergrad.) Sie gehören in die Psychiatrie. Ein anderer wiederum: Meine Frau und ich haben gar nichts verstanden. Entweder sind wir Trottel oder Sie.

Hoffentlich haben Sie, verehrte gnädige Frau, nicht den Eindruck, ich sei geschwätzig. Natürlich hätte ich lieber mit Ihnen telefoniert, aber ich habe keine Telefonnummer. Sicher er auch nicht. Nochmals, ich möchte Sie warnen. Vielleicht schreiben Sie doch besser mir. Adresse und Telefonnummer lege ich bei.

4. Juni

Sehr geehrter Herr Veit Hastaber,

Raben scheinen Sie nicht gut zu sein; Dohlen auch nicht, wie ich inzwischen weiß. Einer gefräßigen Dohle wegen haben Sie sogar eine Freundschaft aufs Spiel gesetzt.

Als kleines Mädchen lag ich mit meinem Vater unter einem Apfelbaum. Ein Vogel ließ einen weißen Tropfen auf meine Schulter fallen.

Ein Schwalbenschiß auf der linken Schulter verspricht Glück, sagte mein Vater, dem der Aberglaube nichts Anrüchiges war.

Was für ein Glück, Vater?

Mädchenglück.

Der Fleck ist aber auf der rechten Schulter, Vater.

Die linke hattest du an mich gelehnt.

War es denn eine Schwalbe, Vater?

Raben treffen keine Mädchenschulter.

Seither ist das Mädchenglück auf meiner Seite. Seither liebe ich Vögel.

Sie halten nichts von Raben. Ich halte nichts vom erhobenen Zeigefinger. Werfen Sie Ihre Warnung den Raben zum Aufpicken hin. Ich lasse mich nicht warnen.

Wenn du die Kirschkerne schluckst, wächst dir ein Kirschbaum im Bauch, drohte Mama.

Die Äste, die aus den Ohren kommen, blühen dir im April ins Haar, verhieß mein Vater.

Der Teufel wird aus dem Spiegel schauen, wenn du dich so oft davor drehst, warnte Mama.

Du wirst mit jedem Hineinschauen schöner, wußte mein Vater. (Dies soll keine Antwort auf Ihre Frage nach meinem Äußeren sein.)

Sie sehen, ich habe mit dem Gewarntwerden schlechte Erfahrung.

Seien Sie beruhigt, Herr Hastaber. Ich will mit Rupert Findling keine Freundschaft. Ich werde ein Liebesverhältnis haben oder gar nichts.

Ich möchte Ihnen mein Befremden über Ihren Brief nicht verschweigen. Nicht die Tatsache, daß Sie an Ruperts Stelle schreiben, ist es. Ich habe keine Absicht, Sie zu beleidigen, Ihr Schreiben aber ist schäbig.

Seit jeher glaube ich, daß Männerfreundschaften viel weniger Wertschätzung verdienen, als die Beteiligten selbst gerne behaupten. Sie bestätigen mein Urteil. Männer können einander in den dummen Kriegen, die sie führen, das Leben retten. Sie erzählen einander ihre Affären. Was sie wirklich bewegt, tragen sie zu den Frauen.

Sie haben offensichtlich vergessen, daß wir uns bereits begegnet sind. Ich habe Sie wohl weniger nachhaltig beeindruckt als Ihren Freund. Wir führten damals ein langes Gespräch über Max Frisch. Ihre Frau lebte zu der Zeit noch.

Diesen Brief lasse ich Ihnen durch Rupert Findling zukommen. Verzeihen Sie, aber Ihre Adresse samt Telefonnummer verbrennt gerade in meinem Ofen.

Magdalena Samter

10. Juni

Lieber Rupert,

heute habe ich Dich an den See mitgenommen. Ich bin in meiner Geschichte mit Dir ja bereits weiter, als Du wissen kannst.

Ich habe einen heimlichen Platz am See, zu dem sonst niemand hingeht. Der Einstieg ins Wasser ist von Erlen zugewachsen und hinter dichtem Schilf versteckt.

Gestern hat man die angrenzende Wiese gemäht. Jetzt fehlt mir der Strauß, mein gewohntes Mitbringsel auf dem Rückweg.

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, haben wir Bilder in die Wolken geschaut. Der Wind bläst dem Fisch einen Hund ins Maul. Der Fisch schwillt rund und dick an und platzt. Dann wird eine Frau mit einem Haarzopf daraus, der ihr bis zum Nabel reicht.

Wunderschön, Ihr Zopf, und so schwer. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber sagen Sie, wie halten Sie es in der Nacht? Liegt Ihr Zopf unter der Tuchent oder auf der Tuchent?

Könnte ich auf Anhieb gar nicht sagen.

Ich nehme an, er liegt auf der Tuchent.

Wahrscheinlich.

In der folgenden Nacht erinnert sich die Zopffrau an die eigenartige Frage des Mannes und spürt ihr Haar unter der Tuchent.

So ist das also, sagt sie sich, ich kann heute abend nicht einschlafen, weil ich meine Gewohnheit geändert habe. Wer schläft schon mit dem Zopf unter der Tuchent? Sie zieht ihn heraus, dreht sich zur Seite und wieder zurück. Nach einer Weile vermutet sie, daß sie bisher den Zopf doch unter der Tuchent gehabt haben muß, weil ihr das Einschlafen noch immer nicht gelingt. Sie steckt ihn also wieder darunter, dann darüber und so weiter, über die Tuchent, unter die Tuchent, ihr Leben lang.

Bald wirst Du mir die Geschichte weitererzählen.

Ich habe Heimweh nach meines Vaters Geschichten.

Die schlafenden Feen und Königinnen auf den Bergkämmen sind hier im flachen Land Wassernixen geworden, die mir aber niemand mehr zeigt. Bis Du an meinen See kommst.

Seit ein böser Faun meinen Vater mit einem Felsbrocken erschlagen hat, sind mir die Berge unheimlich.

Versprich mir, daß Du nie sterben wirst, Rupert!

Meine Schwester findet mich am See. Sie setzt sich leise dazu, weil sie weiß, ich bin in Gesellschaft.

Vielleicht komme ich doch noch zu meinem Liebesverhältnis mit Vater, sage ich ihr. Meine Schwester hat keine Erinnerung an ihn. Sie sagt, er war immer nur dein Vater.

Ich weiß nicht, wie stabil Rupert Findling ist. Dein Angebot muß einer erst einmal aushalten.

Meine kleine Schwester ist klüger als ich.

Vergeben Sie mir, Rupert Findling. Ich war unvorsichtig, unbedacht, vielleicht plump. Ich glaubte bisher, dies sei nicht meine Art.

Haben Sie gestern nacht von einer Schlange geträumt? Wenn man von einer Schlange träumt, hat man einen falschen Freund, wußte mein Vater.

Veit Hastaber soll nicht recht behalten. Ein Freund hätte einen fliegenden Teppich aus dem Kelim gemacht. Ich habe am See vergebens den verletzten Rupert Findling auf dem Teppich erwartet. Wasser ist heilsam.

Ach, dieses Gräfliche an mir, ich weiß schon. Aus welchem römischen Adelsgeschlecht kommen Sie denn, fragt man mich halb im Scherz. Mein Vater ist ein Königssohn, ein verwunschener.

Hätte er doch eine Geliebte gehabt! Ich war fünfzehn, als ich sie ihm zum ersten Mal wünschte. Er hat aber keine gehabt, weil er das Fingerklopfen am Fächer immer nur als Einladung zum Reden verstanden hat.

Der Fächerfrau, die Sie in mir vermuten, haben Sie eine Sehnsucht losgetreten, die ein Vierteljahrhundert alt ist.

Seit sieben Tagen fliegt ein Rotschwanzpaar in der Laube ein und aus. Es läßt sich im Giebel nieder und flattert wieder davon. Gestern hat einer der beiden Vögel Grashalme im Schnabel getragen. Sie lassen sich doch nieder, habe ich gehofft. Heute sind die Rotschwänze wieder verschwunden.

Ich wußte nicht, daß Vögel unschlüssig sind.

Magdalena Samter

15. Juni

Liebe gnädige Frau,

in der letzten Zeit hatte ich viel zu tun. Wissen Sie, auch für pensionierte Versicherungsmathematiker gilt, daß sie in der Pension mehr zu tun haben, als zur Zeit des beruflichen Alltagslebens. Heute ist der 15. Juni. Ich erwähne das, weil mein Freund Veit Hastaber heute Namenstag hat. Er hat es nicht gern, wenn man ihn mit Vitus anredet. Sein Namenspatron heilt die Fraisen, die Tollwut und die Bettnässer; er schützt vor Unwetter und ist der Schutzpatron der Gaukler und Schauspieler.

Da ist einer einmal zu seinem richtigen Namen gekommen.

Aber nun möchte ich mich an die Beantwortung Ihres Schreibens machen, damit nicht auch Sie »endlich« rufen müssen.

Mit Rosen habe ich keine Probleme. Ich war nie auf Rosen gebettet. Ich glaube auch nicht, daß mir jemals jemand Rosen geschenkt hat.

Das kann ich fast nicht glauben, daß Sie es waren, die nächtliche Selbstgespräche geführt hat. Nein, gelauscht habe ich nicht, wirklich nicht. Ich habe ja auch kein Wort verstanden, nur gehört, daß eine Frau spricht. Im Grunde eine für mich typische Situation. Oft in meinem Leben merkte ich erst dann, wenn es schon zu spät war, daß eine Frau mit mir redet, mit mir reden will. Die Frage ist nur, ob ich da viel versäumt habe. Das nehme ich nur an, wenn ich sehr einsam bin. Und das bin ich oft.

Was Sie mir von Ihrem Vater erzählten, ist schön. Auch ich rasiere mich täglich naß. Täglich, seit eine Freundin nach Kriegsende zu mir sagte (ich höre noch ihre etwas schrille Stimme, ihre Stimme liegt schon in ihrem Namen: Fili) – Rupert, sagte sie, ein Mann rasiert sich täglich. Das aber war ich von zu Hause nicht gewohnt. Mein Vater und mein Großvater rasierten sich einmal in der Woche, beziehungsweise der Großvater mütterlicherseits, ein Bäckermeister, ließ sich rasieren, um sich dann »scharfgespritzt« von allen auf die Wangen küssen zu lassen, wobei er immer die Augen zudrückte.

Ich glaube, für einen Buben ist der Beginn des Rasierens so aufregend, wie für ein Mädchen, auf die Brüste zu warten.