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Zwanzig Jahre nach ihrem Roman ›Mirjam‹ beschäftigt sich Luise Rinser hier noch einmal mit der komplexen Beziehung Mirjams zu Jesus Christus, dieses Mal jedoch aus einer ganz anderen Perspektive: Aus der Sicht eines Hundes werden die letzten Lebensjahre seines »Herrn« erzählt, der auf einmal nicht mehr nur als das bedeutungsvolle Symbol der himmlischen Erlösung erscheint, sondern auch als Mensch. Der unschuldige, naive Blick des Hundes nimmt dabei vielsagende zwischenmenschliche Details wahr und bietet dem Leser so Anregungen für ganz neue Gedanken zu einem eigentlich vertrauten Thema. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 105
Veröffentlichungsjahr: 2016
Luise Rinser
Eine Legende
Zwanzig Jahre nach ihrem Roman ›Mirjam‹ beschäftigt sich Luise Rinser hier noch einmal mit der komplexen Beziehung Mirjams zu Jesus Christus, dieses Mal jedoch aus einer ganz anderen Perspektive: Aus der Sicht eines Hundes werden die letzten Lebensjahre seines »Herrn« erzählt, der auf einmal nicht mehr nur als das bedeutungsvolle Symbol der himmlischen Erlösung erscheint, sondern auch als Mensch. Der unschuldige, naive Blick des Hundes nimmt dabei vielsagende zwischenmenschliche Details wahr und bietet dem Leser so Anregungen für ganz neue Gedanken zu einem eigentlich vertrauten Thema.
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Hier spricht ein Hund. [...]
Ich war schon mehrmals auf diesem Planeten
Haben Sie eine sehr dunkle Erinnerung
Die Übrigen von der Gruppe
Einmal sagte einer so
Einmal hatte der Rabbi lange gepredigt
Es ging nämlich so zu
Da wurde es ganz still
Zuerst fiel es mir schwer
Wozu übrigens die Tempel gut waren
Er setzte sich auf einen Stein
Da sagte meine Herrin
Ich musste die Spur meines Herrn finden
Mirjam rief
Aber eines Tages zogen sie alle fort
Und dann sagte er noch
Hier spricht ein Hund. Er erzählte mir seine Geschichte, und es ist nicht nur die seine. Wundern Sie sich nicht, dass ein Hund spricht. Sie können ihn verstehen, wie ich ihn verstanden habe, denn der Hund, der in Ihnen ist, versteht die Sprache des Hundes, so wie der Mensch, der im Hund verborgen ist, Ihre Menschensprache versteht.
Und dies also ist seine Geschichte.
ICH WAR SCHON MEHRMALS AUF DIESEM PLANETEN und nicht immer als Hund, zweimal war ich Mensch, aber nach dieser Erfahrung wünschte ich mir, wieder Hund zu sein, denn ich liebe die Unschuld des Hundes, die ich kenne. Der Mensch ist schuldbeladen. Ein trauriges Geschöpf auf halbem Weg, nicht Tier nicht Nächst-Höheres. Ich bin Hund mit vollem Bewusstsein.
Was ich war, ehe ich als Hund zur Welt kam, weiß ich nicht. Aber was ich dann erlebte, das weiß ich wenigstens zum Teil.
Sie meinen, das sei eine absurde Behauptung. Wer kann sich erinnern an das, was vor hunderten oder gar tausenden von Jahren war? Aber auch Sie erinnern sich an vieles Vergangene. Sie könnten sich an fast alles erinnern, wenn Sie wollten. Vieles wollten Sie für immer vergessen.
Aber Sie erinnern sich an die Prügel, die Sie bekamen als Kind, weil Sie ein Stück Kuchen vom Tisch holten und nicht begriffen, dass es nicht Ihnen gehört und dass nicht alles allen gehört. Das haben Sie gelernt, so wie ich lernte, was man mir handgreiflich klarmachte.
Sie erinnern sich an die Brust Ihrer Mutter, die Milch gab. Ich erinnere mich an den weichen warmen Bauch meiner Mutter, der ebenfalls Milch gab, wenn ich daran sog.
Sie erinnern sich an Personen, die Sie streichelten und deren Hände gut und friedlich rochen, und Sie erinnern sich an Hände, die unangenehm rochen und hart waren. Ich erinnere mich an die Hände eines Mannes, der zeitweilig, als ich sehr jung war, mein Herr war und der mich am Nackenfell packte und zur Tür hinauswarf, wenn ich störte oder wenn ich eine Pfütze machte. Bekamen nicht auch Sie ein paar Streiche, wenn Sie Ihre Hose nass machten?
Ich erinnere mich an Stimmen, die wohl taten, und an andere, die wie hölzerne Stöcke waren und in den empfindlichen Ohren schmerzten. Sie erinnern sich auch, nicht wahr?
Ich erinnere mich an eine Hündin, die mir ausnehmend gefiel und die heiß war und die ich nicht besteigen durfte, weil sie eine römische Rassehündin war und ich nur ein palästinensischer Straßenhund, und wie wir beide heulten, jeder auf seiner Seite der Mauer. Kennen Sie einen solchen Kummer? Kennen Sie ungestilltes Verlangen?
Ich erinnere mich an den herzzerreißenden Kummer, wenn meine Herrin oder mein Herr mich allein ließ, eingesperrt im Hof, und ich vergeblich am Tor kratzte und winselte. Kennen Sie den Schmerz des Verlassenen, der nicht begreift, wenn man ihn nicht bei sich haben will?
Kennen Sie die überschwängliche Freude bei der Wiederkehr des geliebten Menschen, und den unermesslichen Jammer, wenn er nicht wiederkam?
Kennen Sie jene Angst, die Ihnen die Nackenhaare sich sträuben macht, eine Angst, die unbestimmt ist, aber irgendwie Unheil ahnen lässt?
Kennen Sie das wilde Weh, wenn das Wesen, das Sie lieben, ein anderes streichelt?
Kennen Sie den tollkühnen Mut, der Sie alle Furcht vor Uniformen und Stöcken und anderen Feinden überwinden lässt, wenn ein schwächeres Wesen bedroht wird?
Haben Sie erlebt, dass jemand Sie fragt: Warum bist du traurig? Und Sie können nicht sagen warum, weil Sie es nicht wissen? Erst als ich Mensch war, begriff ich es: dass jede Kreatur traurig ist, weil sie dunkel fühlt, dass sie mehr werden muss, Anderes, Höheres, und dass alles im Werden ist und dass dieses Werden schmerzhaft ist.
Haben Sie Angst gehabt vor dem, was Menschen das Sterben nennen? Oder glauben Sie, dass etwas in Ihnen gar nie stirbt und dass Sie weiterleben in jedem Geschöpf? Glauben Sie, dass es einen Ort gibt, an dem kein Kind und kein Hund mehr geschlagen wird oder verhungern und verdursten muss und wo kein Mensch und kein Hund angekettet und eingesperrt ist?
HABEN SIE EINE SEHR DUNKLE ERINNERUNG an eine Zeit, in der Sie geliebt waren von allen und Sie alle liebten, alle Menschen, alle Tiere, auch Löwen und Schafe und Wölfe, und alle in Frieden nebeneinander lagen?
Sie sehen: unsere Erinnerungen und Ahnungen gleichen sich. Vieles ist in den unbeleuchteten Falten unseres Wesens verborgen, auch das Wissen davon, dass wir eins sind. Bisweilen ahnen Sie es, wenn Sie mit Ihrem Hund Aug’ in Auge sitzen und in seiner Pfote den Pulsschlag des einen Lebens spüren. Dann spricht Ihr Hund, dann verstehen Sie seine Sprache und er versteht die Ihre. Wir Hunde denken nicht in Worten, obwohl wir eine Menge Menschenworte verstehen. Wir denken mit Gefühlen, und wir können sehr vieles ausdrücken: wir sprechen mit den Augen, den Ohren, dem Nackenfell, dem Schwanz, den Pfoten, den Zähnen, der Nase - wir lassen Ohren und Schwanz hängen zum Zeichen der Trauer und Scham, wir geben Ihnen die Pfote zum Zeichen des Vertrauens, wir bekommen eine feuchte Nase vor Liebe, wir legen unsere Schnauze auf Ihr Knie. Wir legen uns auf den Rücken zum Zeichen der vollkommenen Ergebenheit. Wir sprechen auch mit unserer Stimme: wir winseln, wir knurren, bellen, heulen, und wir schweigen vor Glück und Zufriedenheit, wenn wir gekrault werden. Wer uns liebt, der versteht unsere Sprache.
Einmal dachte man, Hunde hätten keine Seele, sie seien »nur Tiere«. Als ich Mensch war, hörte ich sagen, dass alle Säugetiere nach demselben Bauplan gemacht und auf dem Weg zum Menschen sind. Mag sein. Ich, wie gesagt, habe die Erfahrung des Menschseins bereits hinter mir. Und was für eine Erfahrung. Dass meine wichtigste Erfahrung zweitausend Jahre alt ist, das macht nichts aus. Auch Sie tragen uralte Erfahrungen in sich.
Ich rede jetzt von meiner eigenen Erfahrung. Sie beginnt im Land Galiläa in Palästina, in einem Städtchen, das Nazareth heißt. Es war zu jener Zeit, zu meiner Lebenszeit, sehr arm, denn ein fremdes Volk von jenseits des Meeres war gekommen und hatte den Bauern das Land weggenommen und die besten Häuser besetzt, und sie aßen die Fische, die unsere Fischer gefangen haben im See Genezareth, und schlachteten die Lämmer, die ihnen unsere Schafhirten abliefern mussten. Das waren »Abgaben«, und die Fremden zahlten dafür nichts, und wehe, wenn unsere Leute etwas für sich behalten wollten. Unsere Leute hungerten. Es gab nur wenige, die reich waren. Unter ihnen war eine Frau, die allein lebte und meine Herrin wurde. Sie hieß Mirjam. Aber eines Tages lernte sie einen Mann kennen, und mit ihm ging sie dann weg. So bekam ich auch einen Herrn. Von ihm und ihr handelt meine Geschichte.
Einmal gaben die Fremden, die Römer hießen, weil sie aus Rom kamen, ein Festmahl. Dazu luden sie einige Rabbiner ein und auch diesen Joshua. So nämlich hieß der Mann, der dann mein Herr wurde.
Damit beginnt meine Geschichte.
Ich strich um das Haus des Oberrabbiners, denn da fand ich manchmal irgendetwas, das jemand weggeworfen hatte, einen Knochen oder ein Stück Matzen. Ich war ein Jahr alt und immer hungrig. Ich gehörte niemand, und keiner kümmerte sich um mich. Meine Mutter war eine Wildhündin und lebte im Gebirge. Natürlich war ich sehr mager.
Eines Tages kam aus dem Haus des Oberrabiners der laute Geruch von Lammbraten. Ich ging dem Geruch nach, ich konnte nicht anders, ich war gezogen von dem Duft und kam bis zum Tor des Hauses. Es war geschlossen. Aber ich war so mager, dass ich mich zwischen zwei Balken durchzwängen konnte. Die Tür zum Saal war halb offen, und ich schlüpfte hinein. Niemand bemerkte mich. Da saßen die Gäste, lauter Männer, einige kannte ich, sie waren einheimische Fischer.
Die anderen waren römische Herren. Sie aßen Lammbraten. Ich duckte mich hinter einen der Rabbiner und wartete, ob jemand einen Brocken fallen ließ. Aber ich wartete vergeblich. Sie legten sogar alle Knochen in eine Schüssel, denn die armen Leute in der Küche nagten noch die letzten Fasern Fleisch ab. Da war also nichts zu erwarten. Ich wartete dennoch, und auf einmal entfuhr mir ein leiser Seufzer vor Hunger und Verlangen. Niemand hörte ihn, so meinte ich. Aber einer war da, der ihn hörte. Der Mann war ein Einheimischer, ich kannte ihn vom Sehen, er war ein Thora-Gelehrter, das wusste ich, denn er ging in die Synagoge und predigte dort. Er drehte sich nach mir um und reichte mir einen Bissen Fleisch, Lammfleisch, gebraten, und er sagte leise: »Da, Bruder Hund, nimm teil am Mahl.« Ich wollte gierig nach dem Fleisch schnappen, aber dann, ich weiß nicht warum, nahm ich den Bissen manierlich aus seiner Hand. Ich glaube, es war seine Stimme, die mich hielt, eine so gute warme Stimme. Und dass er sagte: »Bruder Hund«. Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt: »Bruder Hund«.
Ich nahm das Fleisch und kaute, und dann leckte ich dem Rabbi den Fuß unterm Tisch. Er ließ es geschehen. Dann sagte die Stimme leise: »Geh jetzt, ehe sie dich finden und schlagen.« Und ich schlich mich hinaus, aber nur bis zur Tür, und da sah ich, dass da eine Frau stand, keine Bettlerin, eine Reiche, schön gekleidet, und sie trug einen Krug.
Erst wagte sie nicht einzutreten, aber dann ging sie tapfer hinein und auf den Rabbi zu, der später mein und ihr Herr wurde. Die andern Gäste meinten: »Was will das Weib? Hinaus mit ihr! Weiß der Rabbi nicht, wer sie ist?«
Der aber ließ sie gewähren. Sie warf sich ihm zu Füßen und öffnete den Krug, und daraus kam sehr süßer Geruch, ich musste niesen, aber niemand gab Acht auf mich, alle hatten mit der Frau zu tun, die jetzt aus dem Krug ein Duftöl über die Füße meines Herrn schüttete. Dann trocknete sie die Füße mit ihren langen schwarzen Haaren. Die Gäste schimpften sehr, aber mein Herr legte ihr seine Hand auf den Kopf und sagte: »Ich danke dir, Schwester.« Da weinte die Frau, und mein Herr sagte: »Du hast etwas getan, was nie vergessen wird, solange man mich nicht vergisst. Aber geh jetzt. Die da begreifen nichts.«
Da ging sie und ich ging mit ihr, denn sie sagte: »Komm, Bruder Hund« (so sagte auch sie: Bruder Hund), »wir sind hier nicht wohlgelitten.«
Dann ging sie in ein Haus, ein schönes, sie war keine Arme, und sie gab mir Futter, und ich blieb bei ihr. Wir waren meist allein, nur eine Frau war noch da, die eine Dienerin war und Hausarbeit machte. Abends kamen oft Besucher, Männer, immer wieder wars ein anderer. Sie streichelten mich und meine Herrin, sie ließ es sich gefallen, das wunderte mich. Mir gaben sie Knochen mit viel Fleisch dran, es gab immer ein gutes Mahl. Oft gab es gebratenen Fisch, den roch ich gern. Wenn so ein Besucher kam, blieb er ein paar Stunden, und ich durfte nicht im Zimmer sein. Dennoch verstand ich das nicht, erst als ich Mensch war, begriff ich, aber das war viele Jahrhunderte später.
Eines Abends, kurz nachdem meine Herrin den Rabbi kennen gelernt hatte beim Oberrabbiner, hielt sie das Haustor geschlossen. Ein Besucher klopfte und klopfte, aber sie machte nicht auf. Die Dienerin sagte: »Mach auf, sonst geht der Mann wieder fort.« Meine Herrin sagte: »Er soll gehen, ich will das nicht mehr.«