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Der große Reformer und überzeugte Idealist Johann Heinrich Pestalozzi polarisierte zeit seines Lebens. Heute beweist der Erfolg seines pädagogischen Ansatzes, einer ganzheitlich angelegten Erziehung hin zum selbstständigen Handeln, wie gut und wichtig seine Impulse waren. Es war nur einfach zu früh, die Zeit war noch nicht reif. Als unvermeidliche Konsequenz traumatischer Kindheitserlebnisse schildert Luise Rinser die Entwicklung Pestalozzis zu einem für »das Gute« entflammten, aus tiefsten Überzeugungen handelnden Idealisten, der das Unmögliche wollte und damit, überwältigt von Ideen, immer wieder an der Realität scheiterte. Diese erstmals 1947 erschienene Studie ist zugleich die Einleitung des Bandes ›Pestalozzi. Eine Auswahl für die Gegenwart‹, den Luise Rinser 1948 herausgegeben hat. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 48
Veröffentlichungsjahr: 2016
Luise Rinser
Der Mensch und das Werk
Der große Reformer und überzeugte Idealist Johann Heinrich Pestalozzi polarisierte zeit seines Lebens. Heute beweist der Erfolg seines pädagogischen Ansatzes, einer ganzheitlich angelegten Erziehung hin zum selbstständigen Handeln, wie gut und wichtig seine Impulse waren. Es war nur einfach zu früh, die Zeit war noch nicht reif.
Als unvermeidliche Konsequenz traumatischer Kindheitserlebnisse schildert Luise Rinser die Entwicklung Pestalozzis zu einem für »das Gute« entflammten, aus tiefsten Überzeugungen handelnden Idealisten, der das Unmögliche wollte und damit, überwältigt von Ideen, immer wieder an der Realität scheiterte.
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Diese Studie ist die [...]
„ICH WAR VON JUGEND [...]
II.
III.
IV.
V.
Diese Studie ist die Einleitung des Bandes »PESTALOZZI · Eine Auswahl für die Gegenwart«, den Luise Rinser in den Parthenon-Büchern des Verlages Hans E. Günther, Stuttgart, herausgibt.
„ICH WAR VON JUGEND AUF DER NARR ALLER Leute; meine Jugendführung gab meiner Lebhaftigkeit in tausendfachen, träumerischen Ideen allgemeine Nahrung und ließ mich zugleich in allem, was die Menschen Gewöhnliches genießen können und tun, genußleer und ungeübt. Die Buben in der Schule schon schickten mich, wohin sie nicht gern gingen; ich ging, wohin sie nicht gingen, und tat, was sie wollten. Sie lachten mich aus und gaben mir allgemein den Namen Heiri Wunderlich von Thorlicken. Sie hielten mich zu allem, was sie konnten, wollten und liebten, für unbrauchbar und unfähig, und wenn ich in irgend etwas von ihrer Weisheit mithalten wollte, so gaben sie mir allemal, als einem anmaßlichen Halbnarren, den Ausschluß.“
Unter solch trübem Aspekt beginnt das Leben Pestalozzis. Die letzte Aufzeichnung des Achtzigjährigen ist eine Rechtfertigung seines Lebensganzen gegenüber den häßlichen und falschen Beschuldigungen einer Schmähschrift aus dem Kreise seiner Mitarbeiter:
„Oh, ich leide unaussprechlich; kein Mensch vermöchte zu fassen den Schmerz meiner Seele. Man beschimpft den alten, gebrechlichen Mann; man sieht ihn nur noch als ein unbrauchbares Werkzeug an. Das tut mir weh, nicht meinetwegen; es tut mir nur weh, daß man auch mein Werk verschmäht und verachtet; daß man unter die Füße tritt, was mir heilig war und wonach ich während meines langen, kummervollen Lebens gerungen habe. Sterben ist nichts, ich sterbe gern, denn ich bin müd und möchte endlich Ruhe haben. Aber gelebt zu haben, alles geopfert zu haben und nichts erreicht zu haben, immer nur gelitten zu haben und alles zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins Grab zu sinken, oh, das ist schrecklich.“
„Alles geopfert und nichts erreicht zu haben“ – zwanzig Jahre später wurde an seinem Grab eine Tafel mit der Inschrift angebracht:
Hier ruht
Heinrich Pestalozzi
Geboren in Zürich den 12. Januar 1746
Gestorben in Brugg den 17. Hornung 1827
Retter der Armen auf Neuhof
Prediger des Volks in Lienhard und Gertrud
Zu Stans Vater der Waisen
Zu Burgdorf und Münchenbuchsee
Gründer der neuen Volksschule
In Iferten Erzieher der Menschheit
Mensch, Christ, Bürger
Alles für andere, für sich nichts
Segen seinem Namen.
„Alles zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins Grab zu sinken“ – heute besteht kein Zweifel darüber, daß Pestalozzi zu den großen europäischen Geistern gehört. Jeder halbwegs „Gebildete“ weiß, wer er war, und wenn es auch nur ein unklares, unzulängliches und sentimentales Bild von Pestalozzi, dem „Waisenvater“ ist, das überliefert wurde, so genügte es, ihn zur volkstümlichen, fast legendären Gestalt zu machen, zu einem Bruder des Sankt Franziskus etwa. Wie Franziskus seine Aussätzigen, so hat Pestalozzi auf Neuhof und in Stans seine Bettelkinder gepflegt, die von Krätze, Schmutz und Läusen starrten. Wie Franziskus lebte er in freiwilliger Armut. Sein Vermögen, seine Kraft, seine Ruhe, sein Privatleben, seine Familie, alles opferte er seinem Werk. Das Wort „Nächstenliebe“ ist zu schwach, um das auszudrücken, was ihn trieb. Es war eine Leidenschaft ohne Maß, ohne Grenzen, ohne die Möglichkeit des Widerspruchs und der Selbstkritik. Es war Besessenheit, die in ihrem stürmischen und ausschließlichen Anspruch an seine Kraft zur kaum erträglichen Belastung wurde.
„Ich habe mein Werk unternommen, es fiel auf meine Hand, ehe ich es erkannte, und da ich es erkannte, konnte ich meine Hand nicht mehr zurückziehen. Es war, soweit es mich jetzt auch führte, meine Pflicht … Ich verlor alle Anmut und alles milde, liebliche Wesen, das den Menschen allgemein eigen ist, die sich nicht so in verheerenden Wüsten umhertreiben.“
Es gibt eine Anekdote über ihn, die – vielleicht Wirklichkeit, vielleicht Legende – zeigt, in welcher Weise er im Gedächtnis der Menschheit weiterlebt: Pestalozzi geht zu Fuß nach Basel. Er ist ganz arm, aber von einer bessern Zeit her trägt er silberne Schnallen an seinen Schuhen. Am Stadttor in Basel schenkt er diese Schnallen einem Bettler. Er hat nichts anderes zu verschenken, und mit strohgebundenen Schuhen kommt er in Basel an.