Erste Liebe - Luise Rinser - E-Book

Erste Liebe E-Book

Luise Rinser

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Beschreibung

»Weißt du, ich glaube, lieben, das ist nicht bloß erwarten und ersehnen; es ist ein Ergreifen von etwas, das da ist, das lebendig ist und einen braucht. Lieben, das ist etwas Schweres. Man muss es, glaub' ich, lernen, ganz nach und nach. Ich weiß nicht, mir kommt es immer so vor, als wäre es das Allerschwerste von allem, was man lernen muss.« Die achtzehnjährige Anna lernt einen jungen Mann kennen und gerät mit seiner wachsenden Zuneigung in einen inneren Widerstreit. Woran erkennt man die Liebe? Sind Leidenschaft und Intuition wirklich die besten Ratgeber? Oder sollte man nicht manchmal auch auf die Vernunft hören? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 59

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Luise Rinser

Erste Liebe

Erzählung

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Weißt du, ich glaube, lieben, das ist nicht bloß erwarten und ersehnen; es ist ein Ergreifen von etwas, das da ist, das lebendig ist und einen braucht. Lieben, das ist etwas Schweres. Man muss es, glaub’ ich, lernen, ganz nach und nach. Ich weiß nicht, mir kommt es immer so vor, als wäre es das Allerschwerste von allem, was man lernen muss.«

Die achtzehnjährige Anna lernt einen jungen Mann kennen und gerät mit seiner wachsenden Zuneigung in einen inneren Widerstreit. Woran erkennt man die Liebe? Sind Leidenschaft und Intuition wirklich die besten Ratgeber? Oder sollte man nicht manchmal auch auf die Vernunft hören?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Erste Liebe

Erste Liebe

WENN Anna in spätem Jahren wieder nach M. kam, als ihre Eltern längst nicht mehr lebten, ging sie jedesmal den Weg, der einst ihr täglicher Schulweg gewesen war: die aus der Innenstadt kommende Straße führt über den Fluß und verzweigt sich in schmale Gassen, von denen eine, die über einen kleinen baumbestandenen Platz läuft, gerade auf die hohe ziegelrote Hofmauer trifft, hinter der das alte graue Gebäude des Gymnasiums liegt, das an eine gotische Abtei und zugleich an ein Staatsgefängnis erinnert. Der Anblick der alten Schule weckte in Anna eine Empfindung, die jener gleicht, mit der man am klaren Morgen eines Nachttraums sich erinnert, der trüb, beklemmend und voll spukhafter Wirren, aber auch wunderlich süß gewesen war und der, da er in der Tageshelle zerging, in uns eine selige Erleichterung wie nach einer überstandenen Gefahr zurückläßt. Diese Empfindung, die etwa eine große Schauspielerin dazu bewegen könnte, einmal wieder auf jener kleinen Schmierenbühne zu spielen, an der sie arm, gedemütigt und voller Glut begonnen hatte, verlockte Anna, die nun glücklich war, immer wieder zum Aufsuchen der alten Wege.

Eines Nachmittags im Spätherbst, als sie wieder vor der alten Schule stand, sah sie an einem der spitzbogigen, vergitterten Fenster das Gesicht eines Mädchens. Es blickte unverwandt mit dem Ausdruck verlorener Schwermut in die Zweige der fast entlaubten Kastanienbäume, von denen Blatt um Blatt sich knisternd löste. Der Anblick des einsamen, traurigen Mädchens, der trübe Tag und der Modergeruch des kupferfarbenen, feuchten Laubes riefen in Anna die Erinnerung an einen Nachmittag im Spätherbst wach, da sie selbst, achtzehnjährig, an jenem Bogenfenster stand, hinter dem der kleine Musiksaal lag, in dem sie an einem ausgespielten Flügel Etüden üben sollte. Sie erinnerte sich plötzlich heftig und deutlich der Stimmung, in der sie sich damals befand, und gleich Bildern eines Films, der auch Stimmen, Gerüche, Farben und Gefühle wiederzugeben vermöchte, rollte das ganze Erlebnis, das aus jener Stimmung entsprang, durch Annas Gedächtnis.

Sie entsann sich, daß jener Tag so grau war, daß das jenseits des Flusses liegende Museumsgebäude mit seinem ockergelben Verputz (das so aussah, als sei es von innen her durchsonnt), der einzige helle Farbfleck in dem Bilde war. Sie sog sich fest an ihm in der unbestimmten Hoffnung, aus ihm Trost zu schöpfen. Aber es schien, als sei ihr an diesem Tage nicht einmal der Anblick eines fernen Schönen gestattet: Nebel stiegen aus dem Wasser und verdeckten das gelbe Haus. Als sei damit auch aus ihrem Leben der letzte Glanz und Schimmer gewichen, versank Anna nun in eine uferlose Traurigkeit, die zugleich Pein und Genuß war, jenes dunkle Gefühl der Wachstumsschmerzen, das wir nicht verstehen, solange wir jung sind und wenn wir es empfinden.

Auf dem Fenstersims lagen würfelig zugeschnitzte Holzklötzchen. Sie dienten dazu, zwischen Fenster und Rahmen gelegt zu werden, um das Zufallen der schweren, alten Fensterflügel zu verhindern, wenn sie an feuchten Tagen, der Instrumente wegen, nur auf Spaltweite geöffnet werden durften. Von einem Würfel, man mag ihn drehen, wie man will, kann man nie alle sechs Seiten zugleich sehen; immer die Hälfte bleibt verdeckt. Annas Bewußtsein bemächtigte sich unversehens dieser einfachen Erkenntnis, und da Anna dazu neigte, aus allen Erscheinungen Stoff für ihre oft wunderlich spekulativen Gedankengänge zu ziehen, so nahm sie den kleinen braungemaserten Würfel zum Anlaß, verzweifelt zu bedenken, daß ein Mensch immer nur die Hälfte eines Gegenstandes, die Hälfte einer Erscheinung wahrnehmen und begreifen könne und daß er also nie dahin gelange, irgendein Ganzes zusammen zu schauen, nicht im Kleinen und nicht im Großen. Daß es Augenblicke gibt, in denen die Dinge durchsichtig werden wie Kristalle und ihr Inneres und das Ganze ihres Seins aufzeigen, bedachte Anna, obwohl sie es schon erlebt hatte, in dieser Stunde nicht. Und weil sie zu jung war, um zu verstehen, daß auch die Kante eines Würfels schon, wenn die Stunde günstig ist, eine Offenbarung der Schönheit und des Sinnes der Welt zu sein vermag, und da sie auch ungeduldig war und mehr wissen wollte, als ihrer Jugend zukam, so schien ihr, als lohne es sich überhaupt nicht, ein Leben auf sich zu nehmen, das nichts als Beschränkung verlangt. Als hätte nicht sie selbst es gedacht, sondern ein unerbittlich strenger Lehrer das Wort von der Beschränkung als Forderung vor sie gestellt, bäumte sie sich maßlos dagegen auf. Beschränkung, Tugend, Frieden, diese Worte hatten für sie den beengenden Geruch des muffigen Salons und der naiven stockfleckigen Erbauungsbücher der alten Tante Karoline. Nie werde ich ein karges, kleines Leben ertragen können, dachte Anna. Freiheit wollte sie und Glut und Leben. Fieber, Wirbel und Sünde würde sie auf sich nehmen, um zu erfahren, was Liebe und was Leidenschaft war. Eindrücke, die sie je empfangen hatte, durcheilten blitzschnell ihren Geist: Musik zum Tode Don Giovannis, der Anblick eines brennenden Baumes, Bilder von Marées, Glut und Duft der Nelkenfelder in einem Park, die Anfangszeilen eines Gedichtes von François Villon «Ich sterbe dürstend an der vollen Quelle, ich, heiß wie Glut», Liebespaare in dunkeln Kähnen auf einem See – eine Sekunde lang vermischte sich all dies zu einem betäubenden Klange, zu einem herzsprengenden Gefühl, das ihr Schmerzen bereitete und heiße Tränen in die Augen trieb.

In diesem Augenblick begann die Stundenglocke zu schellen. Türen flogen auf, Gelaufe und Gelächter erfüllten Gänge und Treppenhäuser. Anna blickte ernüchtert durch die dunkeln Gitterstäbe des Bogenfensters auf den Hof. Sie sah, wie die Schülerinnen in Gruppen durch das Tor eilten, über den baumbestandenen Platz hin sich zerstreuten und schließlich in den Straßen, die zur Innenstadt führten, sich verloren. Als hätte der Wind einen leuchtenden Haufen bunter Blätter aufgewirbelt und davongefegt, lag der Platz vor dem Schulgebäude danach verdüstert und verödet da. Anna sah, daß unter dem Torbogen lange eine dunkle Gestalt offensichtlich wartend stand, und sie erinnerte sich fast mühsam und widerwillig, daß es ihre Freundin Christine war. Langsam ordnete Anna die Notenhefte, schloß den Flügel und verließ den Musiksaal. Einige Unterklassen hatten noch Stunde. Im Vorübergehen hörte Anna, wie die Quinta im Chor ein französisches Gedicht aufsagte:

L’automne, l’automne! Les haies

Et les arbres sont défeuillés.

A peine quelques rouges baies

Tremblent aux buissons …

Während sie die Haupttreppe hinabstieg, quälte sie sich, das verlorene Reimwort zu finden, indem sie die beiden letzten Verszeilen so oft hersagte, bis das fehlende Wort von selbst sich einfügen würde. Doch erst, als sie über den Hof ging, indes so, wie heute die welken kupferfarbenen Blätter niedersanken, fand sie es: buissons dépouillés.