Brudermord - Frank-Rainer Schurich - E-Book

Brudermord E-Book

Frank-Rainer Schurich

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Beschreibung

Am 17. April 1972 kommt es in einem beschaulichen Dorf in der DDR zu einem Doppelmord. Die Rentnerin Anna B. und deren Bekannte, die Reichsbahnangestellte Roselinde G., werden erschossen aufgefunden. Handelt es sich um einen Raubmord? Im Juli 1984 verständigt eine Bürgerin die Volkspolizei: Ein Kind wurde von einem unbekannten Mann entführt. Das kleine Mädchen kann wenig später nur noch tot geborgen werden. Seine Verletzungen und der entkleidete Leichnam deuten auf einen Sexualmord hin. Am Donnerstag, den 11. Juni 1987, tötet der im Wachdienst befindliche Soldat der GSSD, Anatoli K., die Brüder Uwe und Christian B. War es Mord an den Teenagern oder Notwehr? Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich schlagen ein Sonderkapitel der DDR-Kriminalgeschichte auf: grausame Bluttaten von Sowjetsoldaten. Was bedeutet das für die polizeilichen Untersuchungen? Das erfolgreiche Autorenduo rekonstruiert in bewährter Form auf Basis der originalen Akten die realen Tathergänge, analysiert die Ermittlungsansätze und lässt die Leser minutiös an der Aufklärung der Verbrechen teilhaben – spannungsreich und aufwühlend!

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Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Brudermord

und zwei weitere wahre Verbrechen von Sowjetsoldaten in der DDR

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-761-7

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © picture alliance / dpa-Zentralbild / Ulrich Haessler

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Von Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:

Postraub am Spreekanal und zwei weitere authentische Kriminalfälle aus der DDR (2017)

Die Tote von Wandlitz und zwei weitere Fälle

(Blutiger Osten, 2017)

Tötungsdelikt Gisela G. und zwei weitere Fälle

(Blutiger Osten, 2018)

Vorwort

In unserem vierten Band über wahre Mordfälle in der DDR schlagen wir ein Sonderkapitel der Kriminalgeschichte auf. Straftaten, begangen durch Angehörige der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), waren ein Tabuthema. Nur äußerst selten wurde die Bevölkerung der DDR darüber informiert, denn auf den »großen Bruder« und seine Militärs sollte und durfte kein Schatten fallen. Durch die von den politisch Verantwortlichen realisierte restriktive Informationspolitik existieren bis heute zahlreiche Gerüchte und Legenden; wenn die Verbrechen nicht zu verheimlichen waren, wurde die konkrete Wahrheit oft sorgfältig unter den Tisch gekehrt.

Wir wollen nun über drei Tötungsdelikte mit sehr differenzierten Motivlagen berichten. Dabei sind wir natürlich wieder den Tätern auf der Spur, und der Titel des Buches verrät schon, wo sie zu finden sein werden. Zu Beginn der Morduntersuchung war die Aufklärung jedoch ungewiss, so dass es außergewöhnlicher kriminalpolizeilicher Ermittlungen gemeinsam mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und den Militärstaatsanwaltschaften der DDR und der GSSD bedurfte.

Am 17. April 1972 kam es in dem beschaulichen Dorf Seehausen im Kreis Jüterbog, Bezirk Potsdam, zu einem Doppelmord. Die Rentnerin Anna Ballmann und ihre Bekannte, die Reichsbahnangestellte Roselinde Grosse, wurden erschossen aufgefunden. Was war Schreckliches passiert? Handelte es sich um einen Raubmord? Im Juli 1984 verständigte eine Bürgerin in der Kreisstadt Parchim im Bezirk Schwerin die Volkspolizei: Ein Kind wurde von einem unbekannten Mann entführt. Das kleine Mädchen konnte wenig später nur noch tot geborgen werden. Seine Verletzungen und der entkleidete Leichnam deuteten auf einen Sexualmord hin. Am Donnerstag, den 11. Juni 1987, tötete der im Wachdienst befindliche Soldat der GSSD, Anatoli Knish, im Ortsteil Drögen der Gemeinde Fürstenberg (Kreis Gransee, Bezirk Potsdam) die Brüder Uwe und Christian Baer. War es Mord an den Teenagern oder handelte er rechtmäßig in Ausübung seiner Dienstpflichten?

Die Fälle gestalteten sich von der Untersuchung her völlig unterschiedlich. Während beim Doppelmord in Seehausen die Kriminalpolizei die Untersuchungen führte, der Täter im Rahmen der Fahndung gestellt und an die zuständige Kommandantur der GSSD übergeben wurde, wurde der Täter im zweiten Fall zwar im Rahmen der Fahndung ergriffen, die Untersuchung führte allerdings das Untersuchungsorgan der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Schwerin. Am Demmlerplatz saß der Täter in Untersuchungshaft und wurde dort auch außerordentlich intensiv und fachlich versiert vernommen. Erst nach Abschluss der Untersuchungen übergab man ihn dem sowjetischen Militär – einschließlich der Untersuchungsergebnisse. Im dritten Fall ermittelten zwar die Militäroberstaatsanwaltschaft, die der Generalstaatanwaltschaft der DDR unterstand und die Hauptabteilung IX/7 des MfS, aber die sowjetische Seite diktierte das Untersuchungsergebnis.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass es seitens der Hauptabteilung Kriminalpolizei im Ministerium des Innern der DDR eine Musterakte »Anzeigenvorgang und Ermittlungsakte zu Straftaten mit Beteiligung von Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte« gab. Das uns vorliegende Exemplar, das eine Vertrauliche Dienstsache und von allen Kriminalpolizisten zu beachten war, stammt aus dem Jahr 1986. Einleitend wird darauf hingewiesen, dass in diesen Fällen »eine besondere Form des Rechtsverkehrs mit den sowjetischen Militärstaatsanwälten« begründet wird. »Insbesondere bei begründetem Tatverdacht gegen namentlich unbekannte Angehörige der sowjetischen Streitkräfte müssen die übergebenen Anzeigenvorgänge oder Ermittlungsakten die sowjetischen Organe in die Lage versetzen, durch eigene Ermittlung innerhalb ihrer Standorte die Täter festzustellen. Die Qualität der Protokollierung und Dokumentation der Anzeigenprüfungs- und Ermittlungsergebnisse muss den Anforderungen an eine hinreichende Begründung des Tatverdachts gegen Angehörige der sowjetischen Streitkräfte durch ihre Organe entsprechen.« Dabei beschränkt sich die Musterakte auf Eigentumsdelikte, auf die im Zusammenhang mit der Täterschaft zu beachtenden Besonderheiten wird in den einzelnen Protokollen hingewiesen. Sehr optimistisch wird zum Beispiel formuliert: »Wird ein Verdächtiger von sowjetischen Organen an die Deutsche Volkspolizei übergeben, ist im Übernahmeprotokoll zu vermerken, wer von wem mit der Übergabe beauftragt wurde und woraus sich der Verdacht gegen den Verdächtigen begründet.« Die Auslieferung eines GSSD-Angehörigen an die Kriminalpolizei dürfte aber nur im Ausnahmefall geschehen sein.

In unseren Darstellungen wollen wir die Welt der DDR nicht zu einem Szenario dauernder Todesgefahr durch mordende Sowjetsoldaten verdichten, denn so war sie nicht. Ein Blick auf die Kriminalstatistik lässt uns die Kriminalität von Angehörigen der GSSD einordnen und bewerten. Dabei beziehen wir uns im Wesentlichen auf das Buch Besatzer – Die Russen in Deutschland 1945‒1994 von Silke Satjukow.

1976 wurden in der DDR insgesamt 124 678 Straftaten registriert, wovon 887 auf die GSSD fielen ‒ das sind 0,7 Prozent der Delikte. Dies steigerte sich bis 1982 auf insgesamt 2874 GSSD-Straftaten von 120 275 Straftaten in der DDR – ein Anteil von 2,4 Prozent. Mit der Entwicklung des Sozialismus nahm die Anzahl der Straftaten in der DDR also allgemein gesehen ab, die von GSSD-Angehörigen verübten Delikte allerdings zu. Die meisten der von ihnen verübten Straftaten waren Eigentumsdelikte, wie Einbrüche in Keller oder Gartenanlagen: 1989 waren insgesamt 1127 Diebstahlshandlungen durch GSSD-Angehörige zu verzeichnen, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Es wurden vor allem Lebensmittel und Alkohol entwendet, weshalb der Sachschaden oft ungleich höher als der Wert des Diebes- oder Stehlguts war. Die begangenen Diebstähle hatten ihren Nährboden vielfach in der äußerst spartanischen Versorgung der Soldaten. Bestand durch die Nähe zu sowjetischen Kasernen der Verdacht, dass ein Angehöriger der GSSD in die Gartenlaube, den Bungalow, die Wohnung oder das Haus eingebrochen war, wurde bei der Kriminalpolizei ein Fährtenhund angefordert. Lief er nun zum Tor des Objekts der GSSD, war das Verbrechen aufgeklärt, das heißt ein imaginärer Täter festgestellt – jedenfalls bei der Diensthabenden Gruppe der Kriminalpolizei in Berlin.

Verletzungen der DDR-Straßenverkehrsordnung waren ein großes Problem, da sie oftmals, bedingt durch die Spezifik der Militärtechnik, zu schweren Unfällen führten. 1989 wurden DDR-weit 108 schwere Verkehrsunfälle von GSSD-Angehörigen verübt. Die Unfallursachen begründeten sich zum größten Teil auf Fahren unter Einfluss von Alkohol, technische Mängel an den Fahrzeugen sowie die ungenügende Beherrschung der schweren Technik, insbesondere von Kettenfahrzeugen.

Ein weiteres Phänomen, das die Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR ebenfalls regelmäßig beschäftigte, waren Fahnenfluchten von Angehörigen der GSSD, oftmals unter Mitführung von Waffen. Die Fluchtursachen lagen insbesondere in der häufig harten bis schikanösen Behandlung der Soldaten sowie ihrer schlechten Versorgung. Viele Soldaten sahen in der unerlaubten Entfernung von der Truppe beziehungsweise der Fahnenflucht den einzigen Ausweg, sich dem Kasernenalltag zu entziehen.

Der Tatbestand des unerlaubten Entfernens von der Truppe wurde seitens der GSSD unterschiedlich bestraft. Hatte sich der Soldat länger als einen Tag, aber höchstens drei Tage mutwillig von der Truppe entfernt, so wurde er mit bis zu zwei Jahren Dienst in einem Strafbataillon belegt. Blieb der flüchtige Soldat bis zu einem Monat der Truppe fern, so wurde er wegen eigenmächtigen Verlassens mit einem bis fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft. Kehrte der Soldat auch nach einem Monat nicht zurück, musste er mit einer Freiheitsstrafe von drei bis sieben Jahren rechnen.

Ausschlaggebend für eine Fahnenflucht war die Absicht, die Truppe auf Dauer zu verlassen. Wurde ein Grundwehrdienstleistender dabei ergriffen, erhielt er eine Freiheitsstrafe zwischen drei und sieben Jahren, bei Offizieren lag die Strafe zwischen fünf und sieben Jahren. Erfolgte ein Fluchtversuch in Richtung der Grenze zur BRD, handelte es sich nicht mehr nur um eine Fahnenflucht, sondern gemäß Artikel 64 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) um Hochverrat, der mit einer Freiheitsstrafe zwischen zehn und fünfzehn Jahren sowie in besonders schweren Fällen mit der Todesstrafe geahndet werden konnte.

Wie einer Zeitungsmeldung vom Februar 1991 zu entnehmen war, sind in der Sowjetunion zwischen 1962 und 1989 24 422 Menschen zum Tode verurteilt worden. Diese Angaben machte der stellvertretende Justizminister Wladimir Gubarew vor der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 in der Zeitung Komsomolskaja Prawda. »Dabei sei die Todesstrafe jedoch nur in sechs Prozent der Fälle verhängt worden, in denen dieses Strafmaß hätte angewandt werden können. Von den zur Höchststrafe Verurteilten seien insgesamt rund 2300 Personen begnadigt beziehungsweise deren Strafe in Freiheitsentzug umgewandelt worden.«

Angesichts der Lebensbedingungen waren viele Soldaten zum Äußersten entschlossen und setzten ihre Flucht aufgrund der drohenden harten Strafen mithilfe von Schusswaffen durch. Bürger der DDR wurden dabei aus nichtigen Anlässen getötet, beispielsweise wenn sie Flüchtige zufällig entdeckten oder sie beim Diebstahl von Lebensmitteln oder Zivilkleidung überraschten. Für die Sowjetsoldaten, die in Richtung Westen unterwegs waren, gab es praktisch nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie schafften es über die Grenze oder sie starben. Es mag zynisch klingen, aber für den Fall, dass sie nicht in den Westen gelangten, war die günstigere Variante, auf der Flucht erschossen zu werden. Wurden sie gestellt, so erwartete sie meist die Hinrichtung ‒ nicht immer auf der rechtlichen Grundlage eines Todesurteils.

Volkspolizei und Staatssicherheit waren zunehmend an Eil- und Großfahndungen nach flüchtigen So­wjetsoldaten beteiligt. Waren es im Jahr 1967 insgesamt 19 Fahndungen, stieg die Anzahl kontinuierlich an, so dass 1987 mit einer Gesamtzahl von 446 der Höhepunkt erreicht wurde.

Vorsätzliche Tötungsdelikte stellten in der Gesamtbetrachtung der GSSD-Straftaten einen geringen Anteil dar. So registrierte die Militär-Oberstaatsanwaltschaft der DDR von 1976 bis 1988 jährlich durchschnittlich vier vorsätzliche Tötungsdelikte an Bürgern der DDR. Die Täter zu ermitteln war oft schwierig, weil die Verbrecher in die GSSD-Objekte flüchten konnten. Diese waren exterritoriale Gebiete, auf die die DDR-Behörden keinen Zugriff hatten. Die Untersuchungen endeten oft am Kasernentor.

1988 beauftragte das Politbüro des Zentralkomitees der SED das Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR damit, die Umsetzung des Stationierungsabkommens und der Nachfolgedokumente zu analysieren. Es wurde über schwerwiegende Probleme in der Zusammenarbeit deutscher und sowjetischer Dienststellen berichtet: »In der Praxis wird … nicht konsequent nach den bestehenden vertraglichen Regelungen gehandelt, so dass die ordnungsgemäße Untersuchung und Aufklärung von straftatverdächtigen Handlungen teilweise erschwert, in Einzelfällen unmöglich ist.

Ursachen dafür sind unter anderem:

• Sowjetische Militärstaatsanwälte und Ermittlungsorgane (Kommandeur oder Ermittlungsoffizier) ermitteln unabhängig und parallel zu den Untersuchungsorganen der DDR,• in nicht wenigen Fällen, besonders bei Verkehrsstraftaten, werden die Beweismittel, Gutachten, ärztliche Bescheinigungen und Schuldfeststellungen der DDR-Organe nicht anerkannt, fast regelmäßig werden Zweitgutachten von zentralen, wissenschaftlichen Einrichtungen der UdSSR eingeholt,• teilweise überschreiten Kommandeure oder Politorgane ihre Kompetenzen, greifen in laufende Verfahren ein und versuchen, auf Ermittlungen oder Geschädigte Einfluss zu nehmen,• in einer unverhältnismäßig hohen Zahl von übergebenen Verfahren weichen die mitgeteilten Entscheidungen von den Sachverhalts- und Rechtsauffassungen der Militärstaatsanwälte der DDR ab.« (Geheime Verschlusssache A 426 034, zitiert nach Volker Koop)

Weil kaum im Kasernengelände der GSSD ermittelt oder gar verhaftet werden konnte, erfolgten Festnahmen nur, wenn sich die Täter noch im Zuständigkeitsbereich der DDR-Organe, also außerhalb der exterritorialen Gebiete der sowjetischen Armee befanden. Im Jahr 1987 waren es nur zehn Haftbefehle, die Militärgerichte der DDR erwirkten.

Wir haben, wie bei unseren anderen Publikationen, auf der Basis der originalen Akten die realen Tathergänge rekonstruiert, die Ermittlungsansätze analysiert und die Aufklärung der Verbrechen minutiös verfolgt – soweit das in diesen Fällen möglich war.

Die Namen der Täter, Opfer und Zeugen sowie einiger Handlungsorte haben wir aus personenrechtlichen Gründen verändert. Der Verlag und die Autoren erklären, dass Personen mit diesen neu erfundenen Namen in den drei behandelten Kriminalfällen niemals existiert oder agiert haben. Etwaige Übereinstimmungen sind rein zufällig. Eine Ausnahme bildet der Fall »Brudermord«. Da die Namen der Opfer und des Täters bereits in verschiedenen Publikationen, auch in einer Monografie, veröffentlicht wurden, nennen auch wir sie. Zudem hat in der beschaulichen Provinz ‒ und das ist positiv gemeint ‒ ohnehin jegliche Anonymisierung Grenzen. Anders als in der Großstadt kennt hier jeder jeden.

Längere Zitate aus den Originaldokumenten, zum Beispiel aus Gutachten und Vernehmungsprotokollen, sind wie die dazugehörige Dokumentenquelle kursiv gesetzt. Dadurch ist im Sinne einer besseren Lesbarkeit auf den ersten Blick sichtbar, welche Details und Aussagen zitiert wurden. Die Abbildungen haben wir mehrheitlich den Akten der BStU entnommen. Bei der Nutzung anderer Quellen weisen wir bei den jeweiligen Bildern darauf hin.

Wir danken allen sehr herzlich, die unser Projekt unterstützt haben, vor allem Frau Christel Brandt von der BStU für die Bereitstellung der Akten, der Juristin Frau Julie Sokol aus der Russischen Föderation für die Unterstützung hinsichtlich der damaligen strafrechtlichen und strafprozessualen Regelungen der RSFSR, die für die Angehörigen der GSSD galten, und Herrn Diplomkriminalist Harald Bröer, dass er in seinem Archiv für uns die obengenannte Musterakte der Hauptabteilung Kriminalpolizei im Ministerium des Innern der DDR und einen Artikel aus dem Forum der Kriminalistik entdeckt hat.

Der Schriftsteller Norbert Scheuer, der sich in seinen Arbeiten vor allem mit seiner Heimatlandschaft, der Eifel, und ihren Menschen beschäftigt, meinte jüngst in seinem Roman Am Grund des Universums: »Vielleicht kann man sagen, dass unser Leben auch nur ein Reigen aus unendlich vielen vergessenen Geschichten ist.« Wir sind wie Norbert Scheuer am Grund des Universums Provinz, in Kleinstädten und Dörfern der DDR unterwegs. Wir widmen dieses Buch den Opfern und ihren Familienangehörigen und haben den Wunsch, dass diese blutigen Taten und die Umstände ihrer versuchten, geglückten oder verhinderten Aufklärung niemals zu den vergessenen Geschichten gehören.

Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich

Mord auf der Flucht

Seehausen 1972

Der Kriminalfall, über den wir nun berichten, ereignete sich vor über 45 Jahren in Seehausen, heute Ortsteil der Gemeinde Niedergörsdorf, zwischen Jüterbog und Lutherstadt Wittenberg. Das muss unbedingt vorangestellt werden, denn in der weiteren Umgebung von diesem brandenburgischen Seehausen im Fläming gibt es noch Seehausen im Kreis Leipzig-Land, Seehausen in der Altmark, Seehausen im Kreis Prenzlau, Seehausen in der Börde und Seehausen zum Kreis Artern gehörig. Wenn wir jetzt gemeinsam einen Tatort aufsuchen, müssen doch die Gedanken an die richtige Stelle im Land schweifen.

Unser Seehausen hat heute rund 280 Einwohner und liegt im Süden des Landkreises Teltow-Fläming in Brandenburg. Es ist ein Angerdorf, das 1385 erstmals erwähnt wurde, und besitzt eine spätromanische Feldsteinkirche aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die unter Denkmalschutz steht. Zur Zeit der Reformation wurde das Dorf vielleicht sogar geschichtsträchtig: Es kann sein, dass Thomas Müntzer, der in Jüterbog predigte, und der Ablasshändler Johann Tetzel aus Wittenberg kommend durch das Dorf gezogen sind ‒ so wie in der DDR stationierte sowjetische Soldaten. Denn die Westgrenze der Warschauer Vertragsstaaten und damit die Grenze der DDR zur BRD waren nicht sehr weit von Seehausen entfernt. Diese Grenze musste mit aller Macht verteidigt werden, weswegen die Natio­nale Volksarmee (NVA) und vor allem die Truppen der GSSD hier stationiert waren. Zwar flüchteten die meisten in Richtung Heimat, doch war für einige wenige Angehörige der sowjetischen Armee der Westen, der ihnen nun vor der Haustür lag, ein lohnendes Ziel, das sie oft mit Waffengewalt zu erreichen versuchten.

»Ich kann mir kaum einen abscheulicheren Fall vorstellen«, bemerkte Dr. Watson in der berühmten Erzählung Das Rätsel von Boscombe Valley zu Sherlock Holmes. »Wenn je die Umstände auf einen Verbrecher deuteten, dann hier.«

Der Meisterdetektiv war aber skeptisch: »Ein aus den Umständen abgeleiteter Beweis ist eine äußerst vertrackte Angelegenheit. Er mag direkt auf nur eine Möglichkeit hinweisen, aber wenn Sie den Blickwinkel ein bisschen verändern, können Sie erleben, dass er genauso eindeutig auf etwas ganz anderes zeigt.« Wir werden versuchen, an verschiedenen Stellen den Blickwinkel zu verändern.

Wir sind also am Montag, 17. April 1972 in Seehausen im Fläming, und die Welt war hier relativ heil. In der Dorfstraße wohnte Anna Ballmann. Sie war gerade 70 Jahre geworden. Ihr Haus war für zwei Familien erbaut worden; sie bewohnte es mit ihrer Tochter Elfriede, ihrem Schwiegersohn Horst Gutzeit und ihrem Enkelsohn Bernd. Ihr Mann war vor Jahren verstorben. Frau und Herr Gutzeit waren tagsüber nicht zu Hause, denn sie arbeiteten. Und Bernd ging zur Schule. Anna Ballmann hatte außerdem regelmäßig Kontakt zur 20-jährigen Roselinde Grosse, die ein Kind erwartete und ebenfalls in der Dorfstraße wohnte. Roselinde Grosse erledigte oft Einkäufe für die ältere Dame; dafür lieh Anna Ballmann der jungen Frau ihr Fahrrad, da sie kein eigenes besaß. Zum Dank für ihre Hilfe lud Frau Ballmann sie zu Kaffee und Kuchen zu sich ein –so auch an jenem 17. April 1972, als Roselinde gegen 9 Uhr bei Anna Ballmann den Einkauf aus der Kaufhalle ablieferte …

Bernd Gutzeit, zwölf Jahre alt und Schüler der sechsten Klasse, war an diesem Tag in der Schule in Blönsdorf. Der Unterricht hatte, wie fast immer, um acht Uhr begonnen, und er endete um halb zwei. Sein Freund Karlheinz Schneider nahm ihn auf seinem Fahrrad von der Schule mit nach Seehausen. Es war ein kurzer Weg, ungefähr zwei Kilometer, die er auch hätte laufen können. Zuerst suchten sie Bernds Fahrrad auf, das er bei der Familie Wassermann untergestellt hatte, weil ein Reifen keine Luft mehr hatte. Aber das Aufpumpen war nicht erfolgreich; der Schlauch war defekt. Deshalb ging Bernd, das Fahrrad schiebend, zu seinem Wohnhaus in die Seehausener Dorfstraße.

Um 14.05 Uhr traf er dort ein, ging durch die Hoftür auf das Grundstück und stellte sein Fahrrad in den Schuppen. Wie gewohnt wollte er durch die Waschküche ins Haus gehen, aber er musste feststellen, dass die Tür verschlossen war. »Nanu?«, murmelte er. »Was ist denn hier los?« Die Waschküchentür stand immer offen, wenn Oma zu Hause war, und sie hatte nicht gesagt, dass sie um diese Uhrzeit was zu erledigen hatte. Komisch, dachte der Junge.

Eingang zur verschlossenen Waschküche (Anlagekarte der Abteilung K, Dezernat KT der BDVP Potsdam)

Aber Bernd wusste natürlich, wie er sich Einlass verschaffen konnte. Er ging auf die von außen zugängliche Toilette und sah nach, ob sich der Schlüssel dort in seinem Versteck befand. Es war ein ungeschriebenes Familiengesetz, dass der Schlüssel dort immer lag, wenn der Junge aus der Schule kam und niemand zu Hause war.

Doch der Schlüssel befand sich nicht am angestammten Ort. Was tun? Der Junge sah durch das geschlossene Küchenfenster; der Abwasch stand immer noch auf dem Tisch – ungewöhnlich, denn Oma räumte das Geschirr immer gleich ab. Er schaffte es nicht, das Fenster zu öffnen.

Reichlich verwirrt lief Bernd durch die Hoftür und ging von vorn durch den Vorgarten zum Schlafzimmerfenster der Eltern. Er selbst schlief immer bei der Oma im Zimmer. Er versuchte, die Fenster aufzudrücken, was ihm schließlich gelang. Er drückte stark gegen einen Widerstand, und auf der anderen Seite fiel ein Blumentopf hinunter.

Zufällig kam die Nachbarin Heike Münsterland vorbei. Bernd bat sie um Hilfe, denn allein bekam er die Rollläden von außen nicht hochgeschoben. Als die Öffnung groß genug war, kroch er hinein und zog jetzt von innen ordnungsgemäß die Rollläden hoch.

Der Blumentopf war heil geblieben; der Junge stellte ihn wieder in den Übertopf und unterhielt sich mit Heike. Dabei sah er jetzt Burghard Brenner mit seinem Motorrad, der auf dem Nachbargrundstück wohnte, und kroch wieder aus dem Fenster hinaus ins Freie, ohne in den anderen Zimmern nachzusehen, was wohl passiert sein könnte.

Burghard Brenner, obwohl vier Jahre älter, war sein Freund. Bernd bewunderte ihn, weil er schon ein Motorrad fuhr. Das wollte der Junge unbedingt auch, wenn er das Alter dafür hatte. So unbeweglich und nur mit dem Fahrrad unterwegs, das ging als Jugendlicher nicht mehr; da wollte er dann ganz andere Touren machen und nicht immer in diesem Dorf festsitzen.

Burghard erriet den Wunsch des kleinen Bernd. »Mensch Bernd«, sagte er, »wollen wir eine Runde drehen?«