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Max Walther verlor 1935 auf Grund der nationalsozialistischen Rassegesetze seine Stelle als Buchhändler und durchlebte mit seiner Familie bis zum April 1945 eine Zeit existentieller Bedrohung. Mit dieser Biographie werden erstmals bisher wenig oder gar nicht bekannte Vorgänge dargestellt. Dazu gehören die Zwangsarbeit der Cottbuser "jüdisch versippten" Männer 1944, Walthers Entlassung als Bibliotheksleiter 1946 und sein Ausschluß aus der SED. Als Stadtarchivar bewahrte er die Bilder des Malers Carl Blechen vor dem Zugriff der sowjetischen Besatzungsmacht. Er regte umfangreiche Lautaufnahmen des Niedersorbischen durch die Deutsche Akademie der Wissenschaften an. Die Biographie ist ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Nachkriegszeit.
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Seitenzahl: 247
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Vorwort
Herkunft, Lehr- und Wanderjahre
Mitte des Lebens
Das letzte Jahr
Der Neubeginn
Bücher und Bilder – Die Bergung und Bewahrung von Kulturgut
Die Stadtbibliothek
Bergungsaktionen
Bestandsgeschichte
Räumlichkeiten
Personal
Reinigung und Säuberung
Die Entlassung als Leiter der Stadtbibliothek
Die Bewahrung der Bilder
Der Archivar
»Sektierertum hilft den Imperialisten«
Der Autor
Die Sorben
800 Jahre Cottbus
Fürst Pückler
Freies Wort und Neue Zeit
Anhang
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Abbildungen
Register
»Und denken Sie nicht, Sie könnten je Ihre Last abwerfen. Das können Sie nicht. Ich weiß es.«
MARGARET MITCHELL, VOM WINDE verweht. (S. 435)
Quod non est in actis, non est in mundo.
JURISTISCHE MAXIME
»Eine schöne Belesenheit und das Reisen/seynd das bewährteste Gegenmittel wider das Gift der Tyrannei«.
ROBERT MOLESWORTH, DÄNNEMARKS GEGENWÄRTIGER STAAT. CÖLLN 1695, Bl. Biii.
Fragt uns, wir sind die Letzten!
ÜBERLEBENDE DES HOLOCAUST, ENDE 20. JAHRHUNDERT
Archivare scheinen, ähnlich den Bibliothekaren, abgehoben von den Niederungen des Alltags zu wirken, umgeben von den Zeugnissen der Vergangenheit, mit denen sie sich im Zwiegespräch befinden und die die Quelle ihrer Arbeiten sind. Populäre Vorstellungen von ihrem beruflichen Ambiente nähren sich bis in die Gegenwart von Spitzwegs weit verbreitetem Bild des in seine Lektüre versunkenen Lesers auf schwankender Leiter. Es ist ein Ambiente, wie es in den früheren Räumen des Archivs am Altmarkt auch anzutreffen war. Allerdings kannten Spitzwegs Gestalten, jenseits aller Kümmernisse ihres engumrissenen Lebensbereiches, nicht die elementaren Ereignisse, die Archivare und Bibliothekare des 20. und leider auch des 21. Jahrhunderts vor Entscheidungen stellten und stellen, die ihren Lebensweg ebenso wie das Schicksal der ihnen anvertrauten Sammlungen bestimmten und bestimmen. Es ging um persönliche Entscheidungen, die nur mit den Gegensatzpaaren Gehen oder Bleiben, Flüchten oder Standhalten angedeutet werden können, ohne daß die inneren Konflikte, die damit verbunden waren, immer erkennbar wurden. Auch für Max Walther, den Vater des Verfassers, haben sich im Laufe seines Lebens diese Fragen gestellt. Standhalten bedeutete für Walther mehr als sich einem Ortswechsel zu versagen, es stellte ihn im Laufe seines Lebens mehr als einmal auf eine bis an die Grenzen des Ertragbaren reichende Probe, die ihre Spuren in ihm hinterließ. Walther hat darüber kaum gesprochen – sein Schweigen ist kein Einzelfall, sondern bis in die jüngste Zeit Teil der allgemeinen Erinnerungskultur.
Unabhängig von ihren eigentlichen Aufgaben konnten Archive und Bibliotheken Zufluchts-, aber auch Verbannungsort sein. Das wohl bekannteste Beispiel ist in der DDR Rudolf Herrnstadt, der nach dem 17. Juni 1953 als Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, des Zentralorgans der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, abgesetzt und ans Deutsche Zentralarchiv nach Merseburg strafversetzt wurde. Mit der Unterstellung der Archive unter das Ministerium des Inneren veränderten sich die personalpolitischen Bedingungen. Dr. Charlotte Knabe, die sich nach Kriegsende Verdienste um die Sicherung der Gutsarchive in Sachsen-Anhalt erworben hatte und später vom Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam aus Walther wiederholt den Rücken stärkte, verließ wegen des politischen Drucks ihre Arbeitsstelle und fand ein neues Tätigkeitsgebiet an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Dr. Hildegard Herricht, Archivarin am Deutschen Zentralarchiv in Merseburg, fand ein neues Wirkungsfeld an der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, die zu den wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR gehört, die eine Zuflucht oder die Möglichkeit der beruflichen Neuorientierung boten.
Zunächst scheinen die Biographie Walthers und das Schicksal seiner Familie vergleichbaren Lebensabläufen von Zeitgenossen zu ähneln, doch dieser Lebensentwurf endete in dem entscheidenden Jahr 1935. Die existentielle Bedrohung, die jetzt einsetzte und sich kontinuierlich steigerte, endete, als der erste Soldat der Roten Armee am 22. April 1945 gegen 18 Uhr vor der Haustüre stand. Der Druck der zurückliegenden Jahre wich einem neuen Elan, der über lange Zeit hinweg anhielt.
Walthers Initiative zur Sicherung herrenlos und damit schutzlos gewordener Buchbestände als Basis für eine neue Stadtbibliothek erscheint zunächst singulär und lokal geprägt. Sie fügt sich aber ein in die unzähligen Aktivitäten von Archivaren, Bibliothekaren, Museologen und engagierten Bürgern, die, ohne zunächst voneinander zu wissen, unter den Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre Kulturgüter vor Vernichtung, Raub und Zerstreuung zu bewahren suchten.
Auf die Unsicherheiten, die seine Tätigkeit als Stadtarchivar bis zum Erreichen des Ruhestandes begleiteten, reagierte Walther mit verhaltenem Trotz, einem »Trotz alledem«, das seine Kreativität und Produktivität beflügelte und sich in seinen Arbeiten niederschlug. Mag der Blick der Nachgeborenen zunächst den Details archivischer Arbeit oder der Zahl der Veröffentlichungen gelten, die Walther hinterließ, er übersieht ihre Bezüge zu Vorgängen, die außerhalb der Sphäre tradierter Formen der Aktenerschließung und -verwaltung angesiedelt waren. Die Verbindung zu diesen Vorgängen eröffnet einen Blick auf die geistig-kulturelle Situation zwischen dem Ende des Krieges und dem Beginn der sechziger Jahre an einem Ort, dessen kulturelle Strahlkraft, sieht man vom Stadttheater ab, zu dieser Zeit gering war.
Die Biographie Max Walthers ist mehr als die Aneinanderreihung biographischer Daten oder die Beschreibung beruflicher Aktivitäten. Nicht wenige Personen, die Walthers Lebensweg kreuzten, werden hier erstmals und auch nur in diesem Zusammenhang genannt. Erkenntnisse aus Publikationen, Akten und privaten Aufzeichnungen sowie die Exkursion des Verfassers in den Steinbruch der persönlichen Erinnerungen machen die Lebensleistung Walthers sichtbar, von der er selbst kein großes Aufhebens gemacht hat. Walthers Lebenslauf führt den Leser in Bereiche, die man getrost als terra incognita, als weißen Fleck in der Erinnerung und Überlieferung nicht nur der Lokalgeschichte bezeichnen kann. Die Biographie sucht ihn zu tilgen.
Max Walther wurde als letzter von drei Söhnen am 12. November 1899 in Rasephas, einem Ortsteil der thüringischen Residenzstadt Altenburg, geboren, er stammte, wie er gelegentlich ironisch bemerkte, »aus dem vorigen Jahrhundert«. Wie seine Altersgefährten durchlebte er die ersten fünf Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit allen Höhen und Tiefen und Wechselfällen des Lebens. Diese Generation trug, soweit sie diese Zeiten überlebt hatte, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit ihrem Erfahrungsschatz und ihrem persönlichen Einsatz zum Wiederaufbau des geteilten Landes bei.
Altenburg als Zentrum des Herzogtums Sachsen-Altenburg gehörte zu den vielen Residenzstädten, die das Bild der sogenannten Provinz in Deutschland bis heute prägen. Charakteristische Merkmale dieser Residenzstädte waren neben dem Schloß als Sitz der Familie des Herrschers höhere Bildungsreinrichtungen (Gymnasien), Theater, Museen, Druckereien und Verlage mit den Lokalzeitungen sowie Vereinigungen des geselligen und gesellschaftlichen Lebens. Es sind Strukturen, die bis in die Gegenwart in diesen Orten nachwirken.
Walthers Vater Emil Reinhold Walther wurde am 23. August 1861 als 5. Kind des Christian Heinrich Walther in Wandersleben bei Gotha in eine Familie von Lohnarbeitern und Kleinbauern geboren, die in dieser Gegend seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbar ist. Auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten gelangte Walthers Vater nach Altenburg, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden industriellen Zentrum zu entwickeln begann. Er war Arbeiter in einer Gießerei und, wie es damals in der Arbeiterschaft üblich war, Mitglied der SPD und der Gewerkschaft. Die Mutter Anna Maria Falkner, geboren am 7. Mai 1861, stammte aus Neuschönfeld, einem Ortsteil von Leipzig, und war katholisch – eine konfessionell gemischte Ehe war zu dieser Zeit wohl eher selten. Sie trug morgens Brötchen und Zeitungen, später am Tage Kohlen und andere schwere Güter aus. Die Familie wohnte im Obergeschoß eines alten Hauses in der Altstadt, WC ohne W (Plumpsklo) auf halber Treppe und Kohleöfen gehörten zum damaligen Standard. Zum ältesten Bruder Arthur hatte Walther schon auf Grund des Altersunterschiedes kaum Kontakt. Der zweite Bruder, Richard, wurde 1896 geboren. Mit ihm kam es 1922 zum Bruch, über dessen Ursachen Walther nie sprach. Der Versuch des Bruders, um 1950 wieder einen Kontakt herzustellen, wurde von Walther nicht erwidert.
Walthers Eltern Ende der 1920er Jahre
Die materiellen Verhältnisse waren dürftig, und da Walthers Mutter arbeiten mußte, besuchte Walther in den ersten Lebensjahren, von 1904 bis 1906, einen Kindergarten, der wohl eher eine Kinderbewahranstalt war. Seine Eltern waren ihm vermutlich bei den Schulaufgaben keine große Hilfe, so daß Walther bei der Bewältigung des Schulpensums der achtklassigen Volksschule auf sich gestellt war. Dennoch wurde er wiederholt Klassenprimus, der für seine Leistungen mit Buchprämien wie Albert Scobels »Thüringen« (1911) belohnt wurde, ohne daß sich die Möglichkeit geboten zu haben scheint, durch Stipendien oder andere Fördermaßnahmen eine höhere Schule besuchen zu können. Die achtklassige Volksschule war in einer immer wieder modifizierten und reformierten Form bis in die Zeit nach 1945 für unzählige Schüler die Basis für eine solide Berufsausbildung, die es möglich machte, über den zweiten Bildungsweg und andere Möglichkeiten den beruflichen und sozialen Status zu verbessern. Mit seinen Interessen und seiner schmächtigen Gestalt stach Walther wohl schon damals von seinen Mitschülern ab – deutlich ist es noch beim Foto des Klassentreffens Anfang 1939 zu sehen, als er inmitten seiner vierschrötigen, durch körperliche Arbeit geprägten Mitschüler stand.
Immer wieder besuchte Walther die angesehene Körnersche Buchhandlung, deren Inhaber die Interessen des Jungen erkannte. Als es um die Berufswahl ging, konnte er zu Walthers Mutter, die er durch ihre Botengänge kannte, sagen: »Sie wissen, daß ich eigentlich nur Lehrlinge mit der mittleren Reife nehme, aber ich werde es mit Ihrem Max versuchen«. So begann Walther am 1. April 1914 die Buchhändlerlehre.
Der Buchhändler sollte sich in Walther nicht getäuscht haben. Nach dem Besuch der Buchhändler-Lehranstalt in Leipzig und dem Abschluß der Lehrzeit vermittelte ihn sein Prinzipal an Hafferburgs Buchhandlung in Braunschweig, wo er seine Stelle am 1. September 1916 antrat. Damit begann eine mehr als zehn Jahre währende Wanderzeit, die Walther durch Buchhandlungen Nord- und Mitteldeutschlands führte, lediglich durch den Militärdienst unterbrochen. Solche Wanderungen nach der Lehrzeit waren noch in vielen Berufen üblich und weiteten in vielfältiger Weise den Blick, allerdings waren sie wohl selten so ausgedehnt wie bei Walther. Fern von einem Zuhause, das ihm vermutlich keines war, und in einer durch die Nöte des Weltkrieges geprägten Zeit mußte er mit dem Alleinsein und vielleicht auch den Nöten der Pubertät fertig werden. Walther führte das Leben eines »möblierten Herrn«, wie es Tausende alleinstehender Männer zu dieser Zeit taten, und lebte mehr als einmal in Räumen, die alles andere als anheimelnd waren oder seinem Geschmack entsprachen, und bei Vermietern oder Vermieterinnen, die nicht immer freundlich, aber auf die Miete angewiesen waren. Mit diesen Wanderjahren schuf sich Walther eine Distanz zu seiner Herkunft und dem Ambiente einer Residenz- und Kleinstadt, in der man auf ihn wegen seiner Herkunft herabgesehen hätte. Walther brachte es zu einem gewissen Wohlstand, wovon nicht nur einige zeittypische modische Akzessoires in seiner Hinterlassenschaft zeugen, sondern auch ein Fotoapparat, den er sich 1927 kaufte. Der Kontakt zu seinen Eltern scheint lose gewesen zu sein, über Onkel und Tanten ist nichts bekannt. Obwohl er eifrig fotografierte, findet sich nur ein einziges Foto seiner Eltern in den hinterlassenen Papieren. Um 1928 hielt er sich für einige Tage bei seinen Eltern auf, die mehr schlecht als recht von ihrer kleinen Rente lebten. Vermutlich war er aber derjenige unter den Söhnen, der sich am ehesten um sie kümmerte. Der Vater starb am 2. September 1932 in der Wohnung in der Johannisstraße, die Mutter wenige Tage vor der Geburt seines Sohnes am 20. März 1935 in einem Altenheim in Altenburg.
Obwohl Walther nur in sehr großen Abständen Altenburg besucht hatte, berührte ihn doch der Anblick der Stadt, wie er ihn in einem Brief an den Slawisten Hermann Schall vom 7. Juli 1959 schildert: »Der Zahn der Zeit nagt aber gewaltig an der buckligen Residenz; soviel offener und verdeckter Verfall in allen alten Straßen hat mich sehr bedrückt. Die riesige Holztribüne auf dem Schloßhof geht noch über den Schellen-Daus! Das ist ein richtiger Altenburger Schildbürgerstreich. Zum Glück für alle großen Gebäude hat man dort Schulen oder andere Ableger der Verwaltung untergebracht, so daß wenigstens da etwas zur Erhaltung getan wird.« Dabei stand der Verfall der historischen Bausubstanz, wie er für die ganze DDR und damit auch die thüringischen Residenzen charakteristisch wurde, damals noch am Anfang.
Die erste Station dieser Wanderjahre war Hafferburgs Buchhandlung in Braunschweig, zu der auch ein Verlag für regionalgeschichtliche Literatur gehörte. Das magere Monatsgehalt von 90 Mark wurde durch die freie Wohnung ergänzt. Walthers Tätigkeit begann am 1. September 1916 und endete am 15. Juni 1917, als er zum Militär einberufen wurde. Er kam zur Ausbildung nach Döberitz bei Potsdam und Belgard an der Persante südlich von Kolberg. Mit dem 4. Garde-Feldartillerie-Regiment und dem Feldartillerie-Regiment 221 war er in Flandern und wurde zunächst als Kanonier, dann als Telefonist eingesetzt. Unter dem Druck der vorrückenden Alliierten, vor allem der frisch aus den USA eingetroffenen Truppen, setzte im Herbst 1918 der Rückzug ein. Eine Station war das Anwesen der Grafen Ghellinck in Petegem-Elsegem in der Nähe von Oudenaarde. Der Besitzer Graf Amaury de Ghellinck war einer der namhaftesten Sammler Belgiens, der unweit des Schlosses für seine wertvolle Bibliothek einen eigenen Bau errichten ließ. Besonders wertvolle Bestände und das Familienarchiv hatte er bei Kriegsbeginn noch in Sicherheit bringen können. Das Schloß wurde zunächst Sitz eines Stabes und genoß ebenso wie die Bibliothek den Schutz der deutschen Besatzungsmacht, der mit der näher rückenden Front und dem Rückzug der deutschen Truppen entfiel. Die Truppen, die von der Front zurückfluteten, durchsuchten das Schloß und die Nebengebäude wie die Bibliothek nach Wertsachen und Eßbarem, ohne Rücksicht auf das wertvolle Interieur zu nehmen. Was Walther hier sah, schilderte er in einem Brief aus dem Jahre 1924:
»Meine Kameraden, Sanitäter, Infanteristen, Gemeine und Offiziere (durch diese planmäßig), Artilleristen durchwühlten sämtliche Räume u. Behälter des Schlosses nach Eß- u. Raubbaren. In sämtlichen Räumen war alles über den Boden verstreut, zertreten […] Von einem Sanitäter hörte ich das Leder der Einbände rühmen, das weich und schmiegsam genug sei um Brieftaschen daraus herzustellen, ein anderer lobte den Wert massiver Elfenbeinkugeln usw.«1 Auf dem Boden lag, in weiches braunes Leder gebunden, eine französische Ausgabe der Prophezeiungen des Nostradamus von 1698. Als ein Kamerad sich besonders am Leder des Einbands interessiert zeigte, nahm Walther das Buch an sich. Er konnte zwar kein Französisch, aber die Prophezeiungen des Nostradamus waren ihm wohlbekannt – in den Übersetzungen ins Deutsche und den Ausdeutungen spiegeln sich bis heute die Tendenzen der Zeit.
Das Buch begleitete Walther während des Rückzugs und der ersten Nachkriegsjahre. Im politisch aufgeheizten Klima am Anfang der zwanziger Jahre war es riskant, mit der Familie in direkten Kontakt zu treten. Walther schildert die Situation in seinem Brief an Fritz Röttcher, den Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift »Die Menschheit«: »Bereits die ganzen Jahre bestand der Wunsch in mir, den Band seinem Eigentümer wieder zuzustellen. Als ich [bei?] einem der ersten Kriegsbeschuldigtenprozesse mit einem Offizier darüber sprach, riet mir dieser ab, mit dem Hinweis auf ev[entuelle]. Nachforschungen, durch die meine ehemaligen Kameraden unangenehm betroffen werden könnten, wenn ich selbst Mut genug fände, die Konsequenzen zu tragen. Ich ließ es damals bei dem guten Vorsatz, bis mir die ›Menschheit‹ den rechten Weg zeigte, so daß ich wohl hoffen darf, nach so langer Zeit ein Unrecht mildern zu können. Vorerst erfolgt die Absendung unter Namenlos, des besetzten Gebietes u. etwaiger Postkontrolle wegen.« Walther sandte das Buch an die Redaktion der »Menschheit«, ohne seinen Namen preiszugeben. Nur eine chiffrierte Nachricht in der Zeitschrift sollte ihn von der erfolgreichen Weitersendung informieren. Was Walther nicht wissen konnte, war, daß Graf Amaury de Ghellinck bereits 1919 aus Kummer über die verwüstete Bibliothek gestorben war. Sein Sohn Ernest de Ghellinck d’Elseghem Vaarnewyck bestätigte den Erhalt des Buches: « Je regrette de ne pouvoir remercier directement l’expéditeur anonyme qui par votre intermédiaire m’a renvoyé ce livre, que je croyais définitivement perdu, car après tant de choses pénibles qui ont eu lieu pendant la guerre en Belgique et même au moment de l’armistice il est toujours heureux de pouvoir rencontrer un geste loyal qui honore celui qui en est l’auteur et auquel je me plais à rendre hommage.
Ce fait est malheureusement isolé. »2
Im Buch vermerkte er lakonisch »sauvé par un boche.«
Walther hatte allen Grund, die Warnung des Offiziers ernst zu nehmen. Die Fememorde, die von Freikorps und anderen rechtsradikalen Organisationen seit 1919 an ihnen mißliebigen Personen begangen wurden, blieben in der Regel ungesühnt oder wurden mit Bagatellstrafen geahndet. Heinrich Wandt, der in seinem unmittelbar nach dem Kriege erschienenen Buch »Etappe Gent« die Korruption und andere Mißstände in der deutschen Etappe geschildert hatte, wurde 1924 Opfer politisch instrumentalisierter Justiz und zu mehreren Jahren Haft verurteilt.
Walther ging es nicht allein um die Rückgabe des Buches, das Kriegserlebnis prägte seine Haltung, wie die Äußerung in dem erwähnten Brief an Röttcher zeigt: »Es gäbe noch genug beschämende Einzelheiten zu berichten, keine ändert den Charakter des Krieges als ›Stahlbad‹, als ›Born sittlicher u. geistiger Erneuerung‹ u. wie der Fibelmist sonst noch lautet.« So gehörte Heinrich Wandts »Etappe Gent« ebenso zu den Titeln, die er zeitlebens in seiner Bibliothek besaß, wie auch die Broschüren über die Prozesse gegen die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg oder gegen Carl von Ossietzky, aber auch die Reportagen von Henri Barbusse über die Greuel gegen politische Gegner auf dem Balkan sowie die Schriften des Juristen Emil Julius Gumbel über die politischen Morde in der Weimarer Republik. John Reeds Bericht über die russische Revolution, »10 Tage, die die Welt erschütterten«, mit dem von John Heartfield gestalteten Umschlag stand bis zum Kriegsende sichtbar im Regal, danach wanderte er zeitweise in die zweite Reihe – das war vermutlich mehr als eine Zufälligkeit nach dem jährlichen Säubern und Ordnen der Bibliothek. In einem der unteren Regale, teilweise verdeckt von anderen Büchern, lagen ungebunden Hefte des »Tagebuch« und der »Weltbühne«.
Walther hat in späteren Jahren nur gelegentlich den Kriegsdienst in Belgien erwähnt, nie aber die Rettung des »Nostradamus« erwähnt. Gern zitierte er die Spottverse auf den Kaiser, die die deutschen Truppen während des Rückzugs lauthals in mancherlei Varianten sangen:
Was nützet dem Kaiser die Krone,
Was nützet dem Seemann sein Geld?
Es kann ja nichts Schöneres geben,
Als in Hamburg ein Mädchen fürs Geld,
Oder
Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum,
Der Kaiser hat in’n Sack gehau’n,
Er kauft sich einen Henkelmann
Und fängt bei Krupp als Dreher an.
Bei Ordnungsarbeiten im Archiv der Familie Ghellinck stieß Frans Vandenhende, der Leiter des Heimatvereins von Wortegem-Petegem, auf diesen Briefwechsel. Er begann eine Suche nach dem Schreiber des Briefes und fand durch einen späteren Brief Walthers, über den noch zu berichten sein wird, dessen Sohn, den Verfasser dieser Biographie. Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des ersten Weltkrieges wurde zum Anlaß, daß sich Angehörige der Familie de Ghellinck, Mitglieder des Heimatvereins und der Verfasser mit seiner Frau am Himmelfahrtstag 2014 trafen. Das gerettete Exemplar des »Nostradamus« ging dabei von Hand zu Hand, außerdem einige Bücher der Bibliothek mit den Spuren der zurückliegenden Kriege. Der Blick von der Dachterrasse des wiederhergestellten Bibliotheksgebäudes ging über den Park bis in die Schelde-Niederung, es war die Idylle, wie sie aus den Landschaftsbildern niederländischer Maler vertraut ist – nichts deutete mehr darauf hin, daß hier mehr als einmal der Krieg durchgezogen war. An diesem Tage schien die Annexion der Krim einige Monate zuvor weit weg zu sein.
Zurück im zivilen Leben, erlebte Walther die zwanziger Jahre an Orten, in denen sich eine anspruchsvolle und für neue Entwicklungen aufgeschlossene Kundschaft fand, von deren Wissen und Interessen er profitierte. Nach der Entlassung aus dem Heeresdienst war er vom 1. April 1919 bis 30. März 1921 in der Buchhandlung von Walter Schwalbe in Emden angestellt. Das Ambiente der Hafenstadt, ihre Lage an der Nordsee, die Nähe zu den Niederlanden und der Reiz des Nordens blieben ihm zeitlebens in Erinnerung und haben die Richtung seiner Lektüre mitbestimmt. Als Schwalbes Sohn Walter, der in Dessau eine große Buchhandlung führte, einen 1. Sortimenter suchte, wurde ihm Walther empfohlen. Er trat dort seine Stelle am 1. April 1921 an und war dort bis zum 27. Februar 1925 tätig.
Buchhandlung Schwalbe in Dessau, 1920er Jahre
Mochte ein Leben fern von den Eltern und dem engen Ambiente einer Residenzstadt seine Reize haben und den Vorstellungen Walthers entsprechen, so konnte es auch unvorhergesehene Risiken und Gefahren bergen. Walther ignorierte zunächst die heftigen Leibschmerzen, bis ihn sein Dessauer Chef Walter Schwalbe kategorisch ins Krankenhaus schickte – es war höchste Zeit, der Blindarm stand kurz vor dem Durchbruch. Als er am folgenden Tag nicht zur Arbeit erschien, sandte der Chef den gerade erst angestellten Lehrling Ilse Rothschild ins Krankenhaus, um sich nach dem Zustand seines Mitarbeiters zu erkundigen. Es blieb nicht beim pflichtgemäßen Krankenbesuch, denn Ilse Rothschild wurde nach langer Brautzeit 1930 Walthers Frau.
Für dieses Ziel suchte Walther immer wieder nach besser bezahlten Stellen. Deshalb wurde er am 1. März 1925 Sortimentsleiter der Buchhandlung J. D. Küster in Bielefeld. Sie war Teil der bedeutenden alteingesessenen Druckerei gleichen Namens, die seit 1870 der Familie Bertelsmann gehörte und bis heute besteht. Dadurch lernte er den Bibliophilen und Sammler Robert Steinberg kennen. Er gab als bibliophilen Druck Lessings »Deutsche Sinngedichte« für eine Zusammenkunft des Essener Bibliophilen-Abends am 18. Februar 1927 heraus und schenkte Walther ein Exemplar mit persönlicher Widmung: »Herrn Walter (!) zur frdl. Erinnerung.« Steinberg gehörte zu den jüdischen Bibliophilen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Teile seiner Bibliothek wurden 1935 durch das Auktionshaus Max Perl in Berlin verkauft.3 Walther war hier bis zum 31. März 1927 tätig und trat am 1. April 1927 eine Stelle in der Firma Sachse & Heinzelmann in Hannover an. Vermutlich waren die internen Verhältnisse der Firma nicht nach seinem Geschmack, so daß er sie am 31. März 1928 verließ. Da er nicht gleich wieder eine Anstellung fand, übernahm er vom 15. Juli bis 15. August 1928 die Ferienvertretung für den Inhaber der Buchhandlung Rudolf Lehmstedt in Weißenfels.
Diese Wanderjahre waren, wie Walther es, Maksim Gorkij zitierend, nannte, »Meine Universitäten«. Er verschaffte sich nicht nur die Kenntnisse, die für die Ausübung seines Berufes notwendig waren, sondern erwarb sich eine umfassende Allgemeinbildung auf fast allen Gebieten. Dazu dienten neben dem umfangreichen Sortiment der Buchhandlungen die Gespräche mit Kunden sowie das kulturelle Ambiente und die Atmosphäre der Orte, an denen er tätig gewesen war. Für die Gründung eines eigenen Hausstandes suchte Walther stets seine finanziellen Verhältnisse zu verbessern und nahm dafür die wiederholten Ortswechsel und die räumliche Entfernung von seiner künftigen Frau in Kauf. Da sich zu dieser Zeit nur wenige Buchhandlungen eine größere Zahl von Angestellten mit einer auskömmlichen Bezahlung leisten konnten, suchte Walther die Anstellung bei Firmen, die mit einer Druckerei oder einem Verlag verbunden waren und dadurch ein zusätzliches wirtschaftliches Standbein besaßen.
Walthers Lehr- und Wanderjahre endeten am 28. August 1928 mit der Anstellung als erster Sortimenter in der Buchhandlung von Albert Heine in Cottbus. Hatte er nach der Inflation in der Buchhandlung Walter Schwalbe in Dessau als Gehilfe 150 Mark verdient, so wurde er in der Buchhandlung von Albert Heine in Cottbus als Sortimentsleiter mit 480,- Mark eingestellt. Die Buchhandlung war Teil eines mittelständischen Unternehmens, in dem die Lokalzeitung »Cottbuser Anzeiger«, eine in der Niederlausitz weitverbreitete Tageszeitung, erschien. Heine verlegte außerdem das Adreßbuch der Stadt Cottbus sowie zahlreiche regionalbezogene Veröffentlichungen. Druckerei und Verlag wurden durch eine eigene Buchbinderei ergänzt. Die Verbindung von Buchhandlung und einem Betrieb des Buchgewerbes kannte Walther von früheren Anstellungen. Die meisten Buchhandlungen wurden zu dieser Zeit von ihren Inhabern und deren Familienangehörigen persönlich geführt und dienten deren Lebensunterhalt. Die Bezahlung der Angestellten war daher kärglich, und in der Regel konnte nur eine größere und diversifizierte Firma eine auskömmliche Bezahlung gewährleisten. In Cottbus bestanden bereits eine Reihe von Buchhandlungen, außerdem noch Mischformen wie Papier- und Buchhandlungen. Albert Heine sah vor dem Ausbruch der großen Wirtschaftskrise in der Etablierung einer eigenen Sortimentsbuchhandlung in der Hauptgeschäftsstraße der Stadt ein neues und erfolgversprechendes Geschäftsfeld.
Für Walther und seine Verlobte, aber auch deren Familien, die alle ihre Wurzeln in Mittel- und Westdeutschland hatten, war Cottbus zunächst eine Stadt irgendwo im Osten Deutschlands, von der man nur den Zungenbrechervers vom Cottbuser Postkutscher kannte, der den Cottbuser Postkutschkasten putzt. Dabei war die Stadt mit der traditionsreichen Textilindustrie ein wirtschaftliches Zentrum der Niederlausitz, das durch einen großen und leistungsfähigen Eisenbahnknotenpunkt mit allen wichtigen Zentren Deutschlands verbunden war. Zur kulturellen Infrastruktur gehörten neben dem angesehenen Stadttheater die Stadtbibliothek, das Städtische Heimatmuseum, das Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte und zwei Filmtheater. Zu den Bildungseinrichtungen gehörten die Hochschule für Lehrerbildung, die Höhere Fachschule für die Textilindustrie, die sogenannte »Webschule«, ein Gymnasium, ein Lyzeum für Mädchen, zwei Ober(real)schulen, eine Mittelschule, eine Reihe von Volksschulen. Außerdem gehörte eine große Garnison mit einem Flugplatz zur Stadt. Es gab eine relativ gutsituierte Mittelschicht, von deren kulturellen und geistigen Interessen die Buchhandlungen am Ort und das Theater profitierten.
Arnold Heine hatte 1914 in der Spremberger Straße, der Hauptgeschäftsstraße der Stadt, ein repräsentatives Wohn- und Geschäftshaus errichten lassen, in dem sich die Räume der Buchhandlung befanden, deren Leiter Walther wurde. In der Konkurrenz mit den bestehenden Buchhandlungen gelang es ihm, einen Kundenstamm zu gewinnen, in dem sich die vielfältigen Interessen der Bewohner der Stadt und ihres Umlandes, aber auch die Bedürfnisse der ortsansässigen Behörden und Bildungseinrichtungen widerspiegelten. Dank seiner umfangreichen Kenntnisse konnte er gut auf die vielfältigen Wünsche seiner Kunden eingehen, ihnen einen Roman zur Entspannung ebenso empfehlen wie eine anspruchsvolle literarische Neuerscheinung oder ein Fachbuch.
Mit dieser Anstellung und der entsprechenden Bezahlung konnte Walther endlich am 10. Juni 1930 seine langjährige Berufskollegin Ilse Rothschild heiraten. Sie war nach der Lehre zunächst weiter in der Firma Schwalbe tätig gewesen, wechselte dann aber zur Kunst- und Bücherstube Gertrud Giesemann in Dessau, deren kunstgewerbliche Abteilung durch das Bauhaus geprägt wurde.
Walther heiratete in eine weitverzweigte Familie ein, die zum wohlhabenden mittelständischen jüdischen Bürgertum Deutschlands gehörte. Seine Frau entstammte mütterlicherseits der Familie Bonnem, die ihre Wurzeln in und um Oberstein hatte, das zusammen mit dem benachbarten Idar bereits zu dieser Zeit Zentrum einer hochentwickelten Schmuck- und Metallwarenindustrie von internationalem Ansehen war. Zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser in Idar-Oberstein künden vom Wohlstand der damaligen Besitzer. Die Angehörigen der Familie wurden durch den liberalen Geist der linksrheinischen Gebiete und das urbane Umfeld ihrer späteren Lebensstationen geprägt. Walthers Schwiegermutter Emma wurde am 26. Mai 1870 als älteste Tochter des Kaufmanns Abraham (Adolf ) Bonnem und seiner Frau Bertha Jacob in Oberstein geboren. Im Alter von 7 Jahren verlor sie ihre Mutter, die im Kindbett verstarb. Ihr Vater verheiratete sich erneut. Aus beiden Ehen gingen insgesamt acht Kinder hervor, die Walther während der zurückliegenden Jahre zusammen mit deren Ehepartnern kennengelernt hatte. Dr. Max Bonnem war ein auf internationale Wirtschaftsfragen spezialisierter Berliner Anwalt, seine Frau Elisabeth hatte vor ihrer Ehe an der Technischen Hochschule Darmstadt ein Studium der Lederchemie begonnen. Hedwig Bonnem war mit dem Berliner Geschäftsmann Dr. Felix Henschel verheiratet, sie waren Besitzer einer großen Kunstsammlung. Hier ergaben sich für Walther vermutlich die meisten Anknüpfungspunkte. Leo Hofmann, der Ehemann Millie Bonnems, war Leiter eines Pädagogiums in Mainz. Die Schwester Jenny heiratete den Kaufmann Moritz Petsch aus Königsberg, Annie den Kaufmann Julius Spier. Die Brüder Julius und Gustav Joseph Bonnem waren bereits um 1900 in die USA ausgewandert und wurden dort erfolgreiche Geschäftsleute. Als Walther 1928 in Rotenburg an der Fulda den Vater seines künftigen Schwagers Ludwig Linz, einen Kaufmann, besuchte, wollte er mit diesem Besuch vermutlich eventuelle Vorbehalte der Familie gegen ihn zerstreuen.
Die Vorfahren väterlicherseits von Walthers Frau stammten aus dem östlichen Hessen und dem angrenzenden Thüringen und lassen sich hier seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachweisen. Auch Angehörige dieser Familie dehnten bereits während des 19. Jahrhunderts ihre Geschäftstätigkeit in die USA aus.
Während die Angehörigen beider Familien es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Kaufleute, Rechtsanwälte und Unternehmer zu Wohlstand und Ansehen brachten, verlor Ilse Rothschild ihren Vater Karl bereits 1911 als Folge eines Sturzes bei winterlicher Eisglätte. Seine Witwe konnte das Geschäft für Fleischereibedarf in Dessau nicht allein weiterführen. Eine Erbschaft und die Unterstützung durch die Verwandtschaft machten es möglich, daß sie die Wohnung in einem gutbürgerlichen Wohnviertel Dessaus behalten konnte, die zwei Töchter und zwei Söhne die mittlere Reife erwarben und eine solide Berufsausbildung erhielten.
Obwohl konfessionell gemischte Ehen innerhalb des städtischen Judentums zu dieser Zeit keine Seltenheit waren, dürften die Vorbehalte gegen diese Verbindung bei einem Teil der älteren Familienangehörigen fortbestanden haben, denn niemand von ihnen hatte einen nichtjüdischen Ehepartner. Walther war zwar mit Blick auf seine künftige Ehe am Ende der zwanziger Jahre aus der evangelischen Kirche ausgetreten, den Plan einer Konversion zum Judentum hat er aber nicht weiter verfolgt, auch wenn er von 1930 bis 1935 Förderndes Mitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war. Seine Haltung zu den beiden christlichen Kirchen blieb bis zu seinem Tode zurückhaltend, berührte aber nicht sein persönliches Gottvertrauen, von dem nicht zuletzt seine zahlreichen Anstreichungen in der Bibel zeugen.
Zu den Vorbehalten wegen der Konfessionsverschiedenheit gesellte sich vermutlich auch der Zweifel, ob Walther als Angestellter in einer Buchhandlung in der Lage sein würde, mit seinem Gehalt eine Familie zu ernähren. Die Onkel und Tanten seiner künftigen Frau konnten sehen, wie deren Brüder Max und Werner als Angestellte großer Warenhauskonzerne noch auf der Suche nach dauerhaften und gut bezahlten Stellen waren. Lediglich die Schwester Gertrud lebte in materiell gesicherten Verhältnissen.
So wurde es aus materiellen und konfessionellen Gründen eine lange Brautzeit wie beim biblischen Jakob, der um seine Rahel sieben lange Jahre diente. Aus der Verwandtschaft gab es Versuche, die hübsche junge Frau mit einem Glaubensgenossen zu »verschmusen«, auch der eine oder andere Kunde aus dem Umfeld des Dessauer Bauhauses oder der Junckers-Werke dürfte sich für die attraktive junge Buchhändlerin interessiert haben. Was es für das junge Paar emotional bedeutete, sich nur in Abständen und an Wochenenden zu sehen, steht auf einem anderen Blatt. Hin und wieder werden sie es wohl verstanden haben, sich der Beobachtung und Kontrolle durch die Familie zu entziehen – im Nachlaß Walthers fand sich Tucholskys »Rheinsberg« …
Die Herzlichkeit und Mütterlichkeit seiner Schwiegermutter entschädigte Walther für die vermutlich nur geringe emotionale Zuwendung durch seine Eltern. Sie fehlten auch zur Hochzeit in Dessau, Alter und Allgemeinbefinden ließen sie wohl von der Reise Abstand nehmen. Zur Hochzeit hatten sich neben der Brautmutter auch die Geschwister der Braut eingefunden. Der ältere Bruder Max (1895 – 1951) hatte eine gute Anstel