Chronist der Macht - Mainhardt Nayhauß-Cormons - E-Book

Chronist der Macht E-Book

Mainhardt Nayhauß-Cormons

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Beschreibung

Die Memoiren einer Journalisten-Legende

Er war der Grandseigneur des politischen Journalismus in Deutschland, ebenso gewitzter wie scharfsinniger Insider des Politikbetriebes, dreißig Jahre lang war er der meistgelesene Kolumnist der Republik – Mainhardt Graf von Nayhauß ist eine Legende. Die Memoiren eines Mannes, der immer nah dran war an den Mächtigen, sich mit ihnen aber nie gemein machte.

Als die Gestapo 1933 seinen Vater ermordet, ist er sechs Jahre. Doch erst nach dem Krieg, nach Napola und Fronteinsatz, erfährt er die bittere Wahrheit über dessen Tod, die ihn für sein Leben prägt. Er trifft Willy Brandt, als dieser noch Major der Norwegischen Militärmission ist – der Beginn einer langjährigen Bekanntschaft. Sein erster Spiegel-Artikel zwingt Adenauer, sein Schweizer Feriendomizil zu wechseln (weil der Kanzler sich bei einem Altnazi eingemietet hatte). Später weiht Walter Scheel ihn in Putschpläne ein, er macht Kanzler Schmidts Herzattacken publik, reist als Bild-Kolumnist mit Helmut Kohl 1990 in den Kaukasus und begleitet Gerhard Schröder und Angela Merkel auf mehr als einem Dutzend Auslandsreisen.

In dieser sehr persönlich gehaltenen Autobiographie blickt Mainhardt Graf von Nayhauß zurück auf mehr als sechzig Jahre erlebte Zeitgeschichte – ein beeindruckendes Leben und zugleich das große Panorama der Bundesrepublik und ihrer politischen Repräsentanten.

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Mainhardt Graf von Nayhauß

CHRONIST DER MACHT

Autobiographie

Siedler

Erste Auflage

September 2014

Copyright © 2014 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Rüdiger Dammann, Berlin

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-10499-3

www.siedler-verlag.de

Gewidmet meinem Vater,1933 von der Gestapo zu Tode gefoltert

Inhalt

Schatten der Kindheit

Familiengeschichten

Aufwachsen unterm Hakenkreuz

So viel Anfang war nie

Von Berlin nach Bonn

Auf der Achterbahn des Lebens

Privates und berufliches Glück

»Bonn vertraulich«

Heimkehr nach Berlin

Der Kreis schließt sich

Dank

Personenregister

Schatten der Kindheit

Das Unheil kommt in der Nacht

Maini schläft in seinem Kinderbett. Maini, das bin ich. Sechs Jahre alt. Mit allen Vornamen heiße ich Mainhardt Maria Stani Julius-Cäsar Eduard Franciscus Hubertus. Aber mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und alle Freunde auf dem Spielplatz nennen mich nur Maini. Ich träume von der Schule, in die ich bald komme.

Plötzlich werde ich aus dem Schlaf gerissen. Es ist zehn Uhr abends. Aus der Diele unserer Wohnung in der Berliner Stierstraße dringt ohrenbetäubender Lärm. Gegenstände fallen krachend zu Boden. Zwischen lautem Klopfen brüllt jemand: »Aufmachen! Sofort aufmachen!« Ich höre Mamas Stimme: »Hilfe, Hilfe! Lassen Sie das!« Dann ein Riesenknall. Sekunden später wird die Tür zum Kinderzimmer aufgestoßen, Männer in dunklen Uniformen stürmen herein, knipsen das Licht an. Einer schreit: »Wo ist das Schwein!?«, reißt meine Bettdecke weg, wirft sie zu Boden, schaut unters Bett. Auch bei meinem kleinen Bruder Engelbert, »Engelchen« nennen wir ihn. Er fängt laut an zu weinen. Wir beide verstehen nicht, was vor sich geht.

Es ist Dienstag, der 7. März 1933.

Ich sehe durch die offene Tür, wie die fremden Männer ins Wohnzimmer stürmen, Schrank und Kommode aufreißen, in Papieren wühlen, Sachen in einen Sack stopfen. Dies und das fällt zu Boden. Manches heben sie auf, anderes lassen sie liegen, trampeln darauf herum. Meine Mutter ist ebenfalls ins Wohnzimmer geeilt, sie ruft wiederholt mit heller Stimme: »Was wollen Sie?« Einer faucht sie an: »Schnauze halten!« Ein anderer brüllt: »Wir suchen Ihren Mann! Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht. Er ist verreist, schon länger unterwegs.«

»Besser, Sie sagen jetzt, wo er ist«, schreit der Mann. Sein Gesicht ist vor Erregung gerötet. »Keine Sorge, wir kriegen das Schwein. Und dann hat er nichts zu lachen.«

Am linken Arm ihrer Uniformjacken tragen die Eindringlinge eine Armbinde mit Hakenkreuz. Vorn an ihrer Schirmmütze, die durch einen Riemen am Kinn festgehalten wird, prangt ein silberner Totenkopf. Es sind sieben, vielleicht acht SS-Männer, wie mir meine Mutter später erklärt, als der Trupp nach einer halben Stunde wieder verschwunden ist.

»Was sind SS-Männer?«, frage ich.

»Das verstehst du nicht.«

»Wieso?«

»Weil du zu klein bist.«

»Ich bin nicht klein, Engelbert ist klein.«

»Hör auf zu nerven.«

Tränen rinnen über ihr Gesicht. Ich folge ihr in die Diele, traue meinen Augen nicht. Die schwere Wohnungstür hängt schief im Türrahmen, droht umzukippen. An einer Seite ist der Rahmen aus dem Mauerwerk herausgerissen und nur noch über das Schloss mit der Tür verbunden. Die Männer hatten sich zwischen Rahmen und Mauerwerk durchgequetscht. Am Boden überall Schutt und weißer Staub. Engelchen heult noch immer. Meine Mutter drückt ihn an sich, um ihn zu beruhigen. Er schluchzt, verschluckt sich, hustet. Sie bringt uns schließlich ins Bett. Es ist Mitternacht, bis wir einschlafen.

Vorher denke ich: Warum schimpfen sie meinen Papa ein Schwein? Meinen geliebten Vater, auf den ich so stolz bin. Wenn wir in Berlin Schiffsausflüge machten, ergatterte er für uns immer die besten Plätze – hinten auf dem Freiluftdeck, genau in der Mitte. In meinem Kinderbett sehe ich ihn in Gedanken vor mir: Er trägt einen hellen Strohhut mit breiter Krempe und schwarzem Rundumband – eine »Kreissäge« nennen das die Großen. Ich selbst habe einen weißen Matrosenanzug an, mit Seemannsknoten und schwarz-weiß gestreiftem Marinekragen. Gewiss, Papa kann auch streng sein. Vor allem wenn er mittags ein Schläfchen hält und ich im selben Zimmer mit ihm schlafen soll. Ich bin ein zartes Kind, hatte Rachitis, der Kinderarzt warnte vor möglichem »Krüppeltum«. Aber ich kann mittags nicht schlafen, bin unruhig, wälze mich, was wiederum meinen Vater stört. Dann muss ich mich zur Strafe in die Zimmerecke stellen und heule. Meine Tränen hinterlassen feuchte Kleckse an der geblümten Tapete. Einmal verpasste mir Papa dafür eine Ohrfeige.

Familie Nayhauß, vorn die Brüder Engelbert (li.) und Mainhardt, um 1932

© Privatarchiv des Autors

Anderntags, man schreibt den 8. März 1933, erstattet Gräfin Nayhauß Anzeige. Der zuständige Polizeibeamte auf dem örtlichen Revier begrüßt sie mit »Heil Hitler«. Mutter bleibt bei »Guten Tag«.

»Ich möchte Anzeige erstatten.«

»Gegen wen?«

»Gegen SS-Männer, die letzte Nacht in unsere Wohnung in der Stierstraße 4 eindrangen.«

Mutter bemerkt ein Zucken im Gesicht des Polizisten. Ist ihm die Anzeige unangenehm? Befürchtet er Scherereien mit seinen Vorgesetzten? Dann sagt er: »Das kommt in letzter Zeit leider öfter vor. Nicht nur SS-Leute sind da zugange, auch SA.« Er schiebt ihr ein Formular über den Tisch. »Füllen Sie das bitte aus.«

An der Wand der mit dunklem Holz eingerichteten Polizeistube hängt ein Porträt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der hat etwa sechs Wochen zuvor, am 30. Januar, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, den Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5. März bestimmt.

Inzwischen geschehen aufregende Dinge: Das Reichstagsgebäude im Berliner Tiergarten fängt durch Brandstiftung Feuer. Der Berlin-Korrespondent des britischen Massenblattes »Daily Express«, Sefton Delmer, steht gerade am brennenden Reichstag, als der alarmierte Hitler dort eintrifft. »Er hatte seinen weichen schwarzen Künstlerhut tief ins Gesicht gezogen«, schreibt Delmer später. »Die Schöße seines Trenchcoats flatterten, als er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe des Portals Nummer II hinauf stürmte. Hinter ihm Goebbels und die Männer der Leibwache.«

Delmer, für den Chef der Leibwache, Sepp Dietrich, kein Unbekannter, fragt, ob er mit durch die Polizeiabsperrung dürfe. »Schlängeln Sie sich mit durch«, antwortet dieser. Delmer ist der einzige Journalist vor Ort.

Auch Hitler kennt Delmer. Beim Rundgang durch das teilweise noch brennende Gebäude wendet sich der »Führer« an den Engländer: »Gott gebe, dass dies das Werk der Kommunisten ist. Sie erleben jetzt den Beginn einer neuen großen Epoche in der deutschen Geschichte, Herr Delmer. Dieser Brand ist der Auftakt dazu.«

Delmer gibt später seine Story mit den Hitler-Zitaten an die Londoner Redaktion durch, glaubt an den Scoop seines Lebens. Er bekommt indes von der Zentrale die Antwort: »Wir wollen nicht diesen politischen Kram. Wir brauchen mehr über den Brand.« Die Dämlichkeit in Redaktionen ist bisweilen grenzenlos.

Von all dem ahnt der sechsjährige Maini natürlich nichts. Drei Jahrzehnte später – inzwischen selber Journalist – lernt er den englischen Reporter in Bonn kennen, ist Gast auf dessen »Valley Farm« in Suffolk, England, und arrangiert eine deutsche Ausgabe der Delmer-Memoiren mit dem Titel »Die Deutschen und ich«. Ein erstes Exemplar, das Delmer ihm zum Dank vermacht, trägt die Widmung: »For Mainhardt who is the godfather of this German edition. I hope he has as much fun in the reading of it, as I had in the writing.« Schicksalskreuzungen.

Nach dem Reichstagsbrand, Ende Februar 1933, erlässt Reichspräsident von Hindenburg eine Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat«. Wichtige Grundrechte werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt, über hunderttausend Regimegegner in der Folge verhaftet, mehrheitlich Kommunisten, aber auch andere. Die SA und die SS üben Terror aus, dringen in Wohnungen ein, stecken politische Gegner in ad hoc errichtete Isolierungslager. Das ist die politische Lage in Berlin, als am Abend des 7. März die Wohnung des Grafen Nayhauß überfallen wird.

Sein »Verbrechen«? Mit eigenem Geld hatte er im Jahr zuvor insgesamt 60000 Exemplare einer selbstverfassten Anti-Nazi-Broschüre drucken lassen, die er nun auf Vortragsreisen unters Volk bringt. Sie trägt den Titel »Führer des Dritten Reichs!« Darin sind auf eng bedruckten Seiten die Straftaten wichtiger Nationalsozialisten aufgelistet: Meineide, Betrügereien, Urkundenfälschungen, Unterschlagungen und viele andere Entgleisungen, zum Beispiel: »Georg Berressen, führender Nationalsozialist in Koblenz, vierzehn Tage Gefängnis wegen Friedhofsschändung – hatte zwischen den Gräbern mit Mädchen Geschlechtsverkehr getrieben.«

Von Vater Stanislaus unter Decknamen verfasste Anti-Nazi-Broschüre, 1932

© Privatarchiv des Autors

Wegen dieser Broschüre wird nach Graf Nayhauß gefahndet. Der aber setzt seine Vortragsreisen ungerührt fort. Das ist tollkühn. Oder leichtsinnig, wie man will. Andererseits macht er nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Mittelfristig plant er, mit Frau und beiden Kindern über die Tschechoslowakei in die USA auszuwandern. Nur ein Visum fehlt noch.

»Wenn Sie mit dem Ausfüllen der Anzeige fertig sind, unterschreiben Sie bitte noch hier«, sagt der Polizeibeamte auf dem Revier. »Haben Sie auch die Gegenstände aufgelistet, die bei dem Überfall entwendet wurden?«, fährt er fort. »Wir werden zur Beobachtung gelegentlich Streifen in die Stierstraße schicken.« Will er nur vertrösten, oder hat der Mann keine Ahnung?

Denn der preußische Innenminister Hermann Göring hat die Polizei bereits angewiesen, Übergriffe von SS und SA nicht zu verfolgen, geschweige denn, dagegen einzuschreiten. Noch zwei Mal dringen Rollkommandos in die Wohnung des Grafen Nayhauß ein – auf der Suche nach dem »Volksfeind«. Erfolglos. Aber nichts geht ohne deutsche Bürokratie. Nach dem ersten Überfall erhält Gräfin Nayhauß von der Polizei eine Bescheinigung über die Beschlagnahme von 1550 Exemplaren der Broschüre »Führer des Dritten Reichs!«. Verräterisches Indiz, dass SS und Polizei zusammenarbeiten.

Am Volkstrauertag, dem 12. März 1933, schreibt Graf Nayhauß von unterwegs: »Mein liebes Erichen« – so nennt er zärtlich seine Frau Erika –, »eine ständige Seelenanspannung nimmt einen mit. Dazu das ständige Gefühl, jetzt kommen sie und holen dich! Du hast ja auch Furchtbares mitgemacht (...). Sag mal, haben die Strolche auch die Pfandscheine mitgenommen, das Grafendiplom, meine Zeitungen mit Berichten über das Buch und meine Vorträge? Was blieb denn in Schrank und Schreibtisch zurück?«

Dann, als begreife er das ganze Ausmaß des Unrechtssystems nicht: »Wir wollen ihnen einen schönen Schadensersatzprozess anhängen. Halte den Kopf hoch und sorge Dich nicht zu sehr um mich. Ich werde mich schon gut verstecken und durchschlagen. Und Geld verdienen, damit ich für Euch sorgen kann.«

Was er nicht ahnt: Er hat nur noch vier Monate zu leben.

Ein grausamer Fund

Der Schwimmer an der Rute des Anglers bewegt sich nicht. Es ist ein heißer Tag im Sommer 1933, der 20. Juli. Der Mann, der sich zum Angeln an den Bammelloch-Teich an der Chausseekreuzung im oberschlesischen Löwen-Falkenberg gesetzt hat, döst vor sich hin. Plötzlich stutzt er: Knapp unter der Wasseroberfläche – der Pegel ist wegen der großen Hitze stark gesunken – sieht er die Konturen eines menschlichen Körpers. Der Angler alarmiert die Polizei.

Kurz darauf vermelden die »Breslauer Neuesten Nachrichten«: »Die Leiche ist unkenntlich, da sie etwa acht bis vierzehn Tage im Wasser gelegen hat. Sie war an Händen und Füßen mit einem zwei Millimeter starken Draht gefesselt und mit einem 96 Pfund schweren Stein beschwert. Der Tote war bekleidet, jedoch fehlten die Schuhe. Es besteht die Möglichkeit, dass der Mann gefesselt lebendig ins Wasser geworfen worden ist, was jedoch bisher nicht einwandfrei festgestellt werden konnte. Zweckdienliche Angaben erbittet die Kriminalpolizei Breslau, fünftes Kommissariat.«

Die »zweckdienlichen Angaben« bleiben aus. Wer etwas weiß oder auch nur ahnt, schweigt vorsorglich. Aber die ermittelnden Polizisten geben nicht auf und lassen sich etwas Besonderes einfallen.

Am 27. August 1933 erscheint in der »Zahnärztlichen Mitteilung«, der Verbandszeitschrift der Zahnärzte in Deutschland, auf den Seiten 962 und 963 ein polizeilicher Aufruf zur Identifizierung einer Leiche. Nach Nennung des Fundortes folgt eine Beschreibung des Toten: »1,71 Meter groß, beleibt, 40–50 Jahre alt, anscheinend blondes oder graumeliertes Haar, glatt rasiert, volles rundes Gesicht, hohe Stirn, gradlinige, dicke Nase, großer Mund, wulstige Lippen, gepflegte Hände, kleine Füße, Zähne lückenhaft, teilweise Goldkronen, im Unterkiefer ein Ersatzstück aus Kautschuk, die beiden oberen linken Schneidezähne und der Eckzahn durch eine Ligatur mit Draht verbunden (…). Nach fachärztlichem Gutachten hat der Tote vor nicht langer Zeit in zahnärztlicher Behandlung gestanden. Zahnschema nachstehend.

Zur Aufklärung dieses schweren Verbrechens ist zunächst die Feststellung der Persönlichkeit des unbekannten Toten unbedingt erforderlich, und eine Veröffentlichung in der Fachpresse dürfte bestimmt zum Erfolg führen. Nachrichten werden erbeten an die Staatsanwaltschaft in Brieg zum Aktenzeichen 3 J 658/33 und an die Landeskriminalpolizeistelle in Gleiwitz, Oberschlesien.«

Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung hat Mutter schon seit Wochen nichts mehr von ihrem Mann gehört. Sie weiß, er ist auf Vortragsreise. Üblicherweise schreibt er fast täglich. Aber die letzte Nachricht kam vor gut zwei Monaten aus Breslau, datiert vom 25. Juni: »(…) und dann wird man mich holen. Sie werden sich aber hüten, sowie man ihnen die Zähne zeigt.«

Mutter wird von Tag zu Tag unruhiger. Sie schläft schlecht, isst kaum. Ich frage: »Mutti, was ist? Warum bist du traurig?« Sie wischt sich mit einem Seidentüchlein die Tränen weg. »Nichts Besonderes, Mainerle. Geh spielen.«

Wenig später bringt der Briefträger eine Postkarte. Absender ist der Breslauer Polizeipräsident. Sie ist vom 14. Juli 1933 und enthält die Mitteilung, dass Vater am 26. Juni in »Schutzhaft« genommen und der Staatspolizeistelle in Oppeln übergeben worden sei. In »Schutzhaft«? Mutter versteht den Begriff nicht. Wer musste vor wem geschützt werden? Ihr Mann vor Menschen, die ihm Böses wollen? Oder mussten andere geschützt werden vor ihrem Mann? Sie ahnt Schlimmes, sucht Rat und Trost bei ihrer Mutter, Schwester Nora und ihrer französischen Freundin Mary Knief, die um die Ecke wohnt.

Ende August nimmt das Unheil seinen Lauf. Der Berliner Zahnarzt Dr. Handschuck liest in der Fachzeitschrift seiner Berufsorganisation den Polizeiaufruf zur Identifizierung einer Leiche und erkennt in der abgedruckten Zeichnung zweifelsfrei das Gebiss eines seiner Patienten: des Königlich-Preußischen Rittmeisters a.D. Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, wohnhaft Berlin-Friedenau, Stierstraße 4. Er benachrichtigt Mutter. Sie trifft die Nachricht wie ein Keulenschlag. Ihre Gedanken überschlagen sich: Mein geliebter Stani tot? Wer hat ihm das angetan? Was soll ich jetzt bloß machen? Wie sag ich es Mainhardt und Engelbert? Wovon sollen wir jetzt leben? Die September-Miete für die Wohnung ist fällig. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen.

Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, 1928

© Privatarchiv des Autors

Als sie schließlich zur Ruhe kommt, setzt sie sich noch am selben Tag mit dem Berliner Polizeipräsidium in Verbindung und gibt die Feststellung des Zahnarztes weiter: »Die Leiche ist mit an Bestimmtheit grenzender Wahrscheinlichkeit mein Mann.«

Der Beamte erklärt ihr, man werde erst einmal per Funkspruch die Landeskriminalpolizeistelle in Gleiwitz benachrichtigen. »Sie hören von uns.« Parallel geht ein Funkspruch an die Polizei im oberschlesischen Oppeln, wo sich Graf Nayhauß angeblich in »Schutzhaft« befand. Täglich ruft Mutter im Polizeipräsidium an, ohne etwas Neues zu erfahren. Die Ungewissheit über das Schicksal ihres Mannes ist fast unerträglich. Am 1. September lässt man sie schließlich wissen, dass sich die Gestapo, die Geheime Staatspolizei, eingeschaltet und dem Berliner Polizeipräsidium untersagt habe, weiter in der Sache des Grafen Nayhauß zu recherchieren und jedwede Auskunft zu geben. Aber Mutter ist eine mutige Frau und wagt sich in die Höhle des Löwen – ins Gestapo-Hauptquartier, das Geheime Staatspolizeiamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Ihr Herz schlägt heftig, als sie das Gebäude betritt. Doch ihre Furcht ist unbegründet. Die Herren des Schreckens sind eher überrumpelt, reagieren wie Beamte, lassen die »dreiste Person« einfach auflaufen, erklären sich für »nicht zuständig«. Mutter lässt sich aber nicht so einfach abweisen. Sie wird wiederholt vorstellig, fragt penetrant nach. Und zeigt den Herren die bewusste Karte mit der polizeilichen Mitteilung.

Im November 1933 beendet die Gestapo das Katz-und-Maus-Spiel und bestätigt die Mordtat an Vater, verbindet das Eingeständnis jedoch mit der strikten Auflage, unter allen Umständen gegenüber jedermann, auch den eigenen Kindern, zu schweigen: »Sonst bist du dran!« Man verweigert die Herausgabe der Leiche und der persönlichen Gegenstände, die Vater bei sich hatte. Es wird auch keine Sterbeurkunde ausgestellt und keine finanzielle Entschädigung gewährt. Aber Mutter gibt nicht auf. Mit Datum vom 28. Mai 1934 schreibt sie an keinen Geringeren als Adolf Hitler, an den »Herrn Reichskanzler«, wie er inzwischen offiziell anzusprechen ist. Und: Sie droht ihm, die Ermordung ihres Mannes durch die NS-Schergen publik zu machen. Welch kühne Tat, die nur mit der verzweifelten Lage eines Menschen zu erklären ist, der plötzlich ohne einen Pfennig dasteht:

»Meine Schreiben vom 6. September, 14. September, 5. Oktober und 24. Oktober, sämtlich unter ›Einschreiben‹ an den Herrn Justizminister gesandt, blieben wider alle Erwartungen bis heute trotz der außerordentlichen Wichtigkeit der Angelegenheit – nicht allein für mich – unbeantwortet. Die Schreiben wurden aber auch von anderer behördlicher Stelle nicht erledigt. Ich wäre daher gezwungen, die Angelegenheit zum Gegenstand einer öffentlichen Klage zu machen. Deshalb wende ich mich zunächst noch an Sie, sehr geehrter Herr Reichskanzler, mit der Bitte um Ihr gütiges Eingreifen und Ihre Entscheidung gemäß meiner am Schlusse dieses Briefes gestellten Anträge.

Wie unsagbar schwer mir das Leben gemacht ist, können Sie sich, sehr geehrter Herr Reichskanzler, gar nicht vorstellen. Welch unglaublich schwere Nervenkrise ich durchzumachen hatte und heute noch schwer gesundheitlich zu leiden habe, seit ich die von der Staatsanwaltschaft nach der Auffindung der Leiche aufgenommenen Bilder gesehen habe. Es ist ein wahrhaft grauenvolles Bild, welches Schrecken und Qualen verrät; und wenn ich dann die ausführlichen Berichte in den verschiedenen Tageszeitungen lesen musste – der Staatsanwalt glaubte ja anfänglich an einen Raubmord –, nach welchen der Tote, lebendig und bei Bewusstsein gefesselt, ins Wasser geworfen sein müsse, dann war ich am Ende meiner Kraft und empfinde die Schwere erst recht durch die wirtschaftliche Notlage, die durch den Tod meines Mannes an die Stelle einer sorglosen Zukunft getreten ist.

Ich fühle mich als deutsche Frau, Tochter des ehem. Königlichen Preußischen Majors von Mosengeil und Ehefrau eines ehem. Königlich Preußischen Rittmeisters im nationalsozialistischen Staate rechtlos, weil man mich [die nächsten drei Worte unterstreicht sie] ohne jede Begründung einfach rechtlos gemacht hat. An Stelle dessen verlangt man von mir ein ungeheuerliches absolutes Schweigen, welches naturgemäß mit der Zeit zermürbt, nachdem durch diesen Mord mir der Mann, meinen Kindern der Vater und der Familie der Ernährer genommen worden ist!

Das sind Zustände, sehr geehrter Herr Reichskanzler, die Ihnen bestimmt unbekannt geblieben sind und von Ihnen niemals gutgeheißen werden würden. Ich bitte deshalb gehorsamst, anzuordnen:

1.) Dass mir ein auf den Namen meines Mannes, dem Rittmeister a.D. Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, ausgestellter Totenschein ausgehändigt wird;

2.) Dass mir das Gepäck, Kleiderstücke und Wertsachen, die mein Mann bei seiner Inhaftierung im Besitz gehabt hat, umgehend ausgeliefert werden;

3.) Dass die sterblichen Überreste meines Mannes von dem Stroschwitzer Friedhof aus dem Grab des ›Unbekannten Toten‹ an einen von mir noch näher zu bestimmenden Ort auf Staatskosten überführt werden und dass ich bei der Überführung mit einem Begleiter zugegen bin und mir wegen meiner Mittellosigkeit freie Hin- und Rückfahrt – das Gleiche für meinen Begleiter – gewährt werden, und

4.) Dass mein Schadensersatzanspruch, den ich auf Verlangen gern näher präzisiere, anerkannt wird.«

Dann schlägt Mutter, als sei sie Herrin des Verfahrens, sogar einen Tauschhandel vor: »Dabei verzichte ich aus Gründen der Staatssicherheit auf eine Aufklärung des Falles bzw. auf weitere Ermittlungen, die die Mordtat selbst, Täter und Mittäter betreffen.«

Als sie den Brief abgeschickt hat, schwindet ihr Mut, Angst beschleicht sie, lässt sie in der Nacht nicht schlafen. Was, wenn auch sie abgeholt und in »Schutzhaft« genommen wird? Wenn man sie foltert, fesselt und in einem schmutzigen Tümpel versenkt? Maini und Engelchen dann gänzlich ohne Eltern?

Hitlers willige Bürokraten

In Deutschland herrschen Willkür und Terror. Menschen verschwinden, Bücher werden öffentlich verbrannt, jüdische Geschäfte geplündert, auf den Straßen Berlins fallen des Nachts Schüsse. Aber in den Amtsstuben geht alles weiter seinen bürokratischen Gang.

So schreibt am 25. Juni 1934 der Reichsminister der Justiz, Dr. Gürtner, an Hitler: »Der Herr Stellvertreter des Reichskanzlers hat mir die Angelegenheit der Gräfin von Nayhauß-Cormons vom 28. Mai 1934, die ihm übergeben worden ist, mit dem Anheimstellen zugeleitet, sie dem Herrn Reichskanzler vorzulegen. Ich entspreche diesem Ersuchen und beehre mich gleichzeitig mitzuteilen, dass der Vorgang im Reichsjustizministerium bisher nicht bekannt war. Ich werde mich über die Sachlage unterrichten.« Parallel wird der Vorgang dem Herrn Reichsminister des Inneren »ergebenst übersandt«.

Der Vorgang im »Reichsjustizministerium nicht bekannt«? Eine eiskalte Lüge. Bereits im vorausgegangenen Herbst hatte Mutter den Reichsjustizminister per Einschreiben um Aufklärung des Mordes an Vater gebeten, »der geeignet ist, das Ansehen der in Frage kommenden Behörden zu schädigen«.

Es wird gelogen und vertuscht, Zuständigkeiten werden hin- und hergeschoben. Derweil steht unserer Familie finanziell das Wasser bis zum Hals. Nach Vaters Verschwinden muss die Wohnung in der Stierstraße aufgegeben werden. Wir ziehen im August 1933 in den am südlichen Rand Berlins gelegenen Ortsteil Britz um, genauer in die Miningstraße 58. Dort wohnen wir in einem Reihenhaus – Teil der Jahrzehnte später zum Weltkulturerbe erklärten Hufeisensiedlung –, zusammen mit der Großmutter mütterlicherseits, von deren Offizierspension wir leben, und Mutters älterer Schwester, »Tante Ilse«. Bruder Engelbert und ich wachsen also in einem Dreifrauenhaushalt auf.

Mutter gibt den Kampf mit den Behörden nicht auf. Sie wartet immer noch auf eine Antwort Hitlers auf ihren Brief. Schließlich erhält sie nach sechs Monaten vom »Reichs- und Preußischen Justizministerium« per 24. November 1934 ein Schreiben. Trocken und mitleidlos wird festgestellt:

»Das Verfahren betreffend das Ableben ihres Ehemannes ist auf Grund des Erlasses des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten vom 22. Juli 1933 (JMBl. S.235) in Verbindung mit der Allgemeinen Verfügung vom 25. Juli 1933 (JMBl. S.236) betreffend Gnadenerweise aus Anlass der Beendigung der nationalsozialistischen Revolution durch Erlass vom 21. September 1933 niedergeschlagen worden. Sie sind auf Ihre Eingaben vom 6. September, 14. September, 5. Oktober und 24. Oktober 1933 am 27. Oktober 1933 von dem Staatsanwaltschaftsrat Dr. Conrady im Geheimen Staatspolizeiamt Berlin SW.11, Prinz Albrechtstraße 8, eingehend mündlich beschieden worden.

Hinsichtlich der von Ihnen beantragten ordnungsgemäßen Sterbeurkunde nehme ich auf mein Schreiben vom 23. Juli 1934 Bezug.

Im Auftrage. Gez. Von Haacke«

Für Mutter ist es wie ein Albtraum: Die Mörder ihres Mannes werden »wegen Beendigung der nationalsozialistischen Revolution« freigesprochen? Wie Tausende anderer NS-Opfer bekommt sie unerbittlich ihre Rechtlosigkeit zu spüren. Aber sie gibt nicht auf, sucht juristischen Beistand, den Berliner Rechtsanwalt und Notar Max Becker. Doch auch dessen Eingaben bleiben ohne Erfolg. Am 9. März 1935 wird Anwalt Becker von Hitlers Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, brieflich abgespeist:

»1. Die Aushändigung einer Sterbeurkunde für den verstorbenen Grafen von Nayhauß-Cormons konnte nach Mitteilung des Herrn Reichs- und Preußischen Justizministers nicht erfolgen, weil die Gräfin Nayhauß dem für die Berichtigung der Eintragung im Sterberegister zuständigen Amtsgericht in Löwen keine Geburtsurkunde des Verstorbenen eingereicht hatte. Gräfin Nayhauß wurde von dem Herrn Justizminister mit Schreiben vom 23. Juli 1934 zur Vorlage einer Geburtsurkunde erneut aufgefordert. Es darf angenommen werden, dass dieser Punkt hierauf seine Erledigung gefunden hat.

2. Die Bekleidungsstücke und Wertsachen des Verstorbenen sind nach Mitteilung des Herrn Reichs- und Preußischen Justizminister der Gräfin Nayhauß am 19. Februar 1934 vom Geheimen Staatspolizeiamt zugesandt worden.

3. Dem Antrage, die sterblichen Überreste des Grafen Nayhauß auf Staatskosten nach einem noch zu bestimmenden Ort zu überführen, vermag der Herrn Reichs- und Preußische Minister des Inneren in Anbetracht der gesamten Umstände des Falls nicht näher zu treten.

4. Ebenso glaubt der Herr Reichs- und Preußische Minister des Inneren, dem Antrag auf Gewährung einer Entschädigung für die Witwe des Grafen Nayhauß nicht entsprechen zu können. Es muss danach der Entscheidung der Gräfin Nayhauß überlassen bleiben, ob sie wegen Ziff. 2 und 4 ihres Antrages den Weg der gerichtlichen Klage beschreiten will.

Heil Hitler!

Dr. Lammers«

Mein Leben als Halbwaise

Wir leben nun schon seit einiger Zeit in Berlin-Britz. Vater war noch auf einem Schloss im schlesischen Nieder-Baumgarten geboren, Großvater dort einst Herr über mehrere Rittergüter, zudem Reichstagsabgeordneter und langjähriges Mitglied des Preußischen Landtags für die Zentrumspartei – und die Nachfahren sind nun Bewohner einer Reihenhaus-Siedlung, die vorwiegend von Angestellten, Beamten und Handwerkern bewohnt ist. Auch die spätere Chefsekretärin Helmut Schmidts, Liselotte Schmarsow, wächst in diesem Viertel auf. Hier, nach Einzug in das Reihenhaus, erfahren mein Bruder und ich vom Tod unseres Vaters. Es ist ein warmer Sommertag. Wir spielen in einer Sandkiste im kleinen Garten hinter dem Haus. Mutter ruft aus dem Fenster: »Maini, Engelchen! Kommt mal rein. Ich hab euch was zu sagen.«

Ihre Stimme klingt gebrochen, uns Kindern fällt das nicht auf. Aber als wir ins Zimmer treten, sehen wir Tränen in ihrem Gesicht.

»Mutti, warum weinst du?«, frage ich zaghaft.

»Der Papa ist tot!«

Nach ein paar Schrecksekunden fangen auch wir an zu weinen. Mutter zieht uns beide auf das geblümte Sofa, auf dem sie sitzt. Jeden auf eine Seite. Unsere Köpfe drückt sie an ihre Brust. »Warum ist Papa tot?«, frage ich. Engelbert schreit: »Ja, warum?«

»Das erzähl ich euch später mal. Nicht jetzt.«

»Warum später?«

»Auch das sage ich euch später. Er ist jetzt im Himmel.« Sie hat Mühe, sich zu beherrschen. »Geht jetzt wieder in den Garten«, sagt sie und schiebt uns sanft, aber bestimmt vom Sofa. In der Buddelkiste haben wir uns eine Autorennbahn gebaut, spielen mit kleinen, hölzernen Rennwagen weiter um die Wette. »Du bist dran«, sage ich zu Engelbert. Er mimt Bernd Rosemeyer auf Auto-Union, ich Rudolf Caracciola, Mercedes, die damals populärsten Rennfahrer. Vaters Tod ist schnell verdrängt.

Ich erlebe, obwohl Halbwaise, in Britz eine glückliche, wilde Kindheit. Rechts neben unserem Haus stehen zwei riesige Pappeln, die ich zum Entsetzen meiner Mutter immer wieder bis zur Spitze hochklettere. Im nahe gelegenen Teltow-Kanal bringe ich mir das Schwimmen bei. Vorbeigleitenden Berufsschiffern, die mich mit drohendem Zeigefinger vor der Strömung warnen, strecke ich die Zunge raus. Ich schließe mich einer Clique an. Respekt verschaffe ich mir auf dreiste Weise. Als mich eines Tages der Älteste – wir nennen ihn nur »Langer« – zum wiederholten Mal auffordert, mich zum Gaudi der Gruppe mit einem stärkeren Jungen zu prügeln, verweigere ich mich. Darauf herrscht er mich an: »Maini, entweder du machst, was ich dir sage, oder du kriegst von mir eine gescheuert!«

Da ziehe ich aus der Tasche meiner kurzen Hose einen mit Platzpatronen geladenen Trommelrevolver (weiß der Teufel, wie ich an den herangekommen bin), ziele aus etwa einem Meter Entfernung auf sein Gesicht und drücke ab. Seine Augen sind weit aufgerissen, Nase und Stirn vom Feuerstrahl der Platzpatrone kohlrabenschwarz. Ich renne fort, so schnell ich kann. Mein Herz schlägt wild. Mich nur nicht vom Langen erwischen lassen. Danach traue mich für Tage nicht auf die Straße – bis mein Freund »Schnelli« kommt: »Kannst ruhig wieder zu uns kommen. Der Lange tut dir nichts. Der hat jetzt Schiss vor dir.«

Eine Lektion fürs Leben: sich nicht alles gefallen lassen. Aber der erste Schlag muss sitzen.

In der Clique treiben wir uns herum – schaufeln Nachbarn Pferdeäpfel durch die Briefschlitze der Wohnungstür, legen Pflastersteine auf die Schienen der Straßenbahn, damit es knirscht und knallt, fahren mit der Straßenbahn, ohne zu bezahlen, nach Neukölln ins Kaufhaus, klauen Spielsachen und Süßigkeiten. Im Winter sind wir friedfertig, laufen im benachbarten Ortsteil Buckow abends auf einem beleuchteten Teich Schlittschuh, singen zu einem Schlager, der aus Lautsprechern dröhnt: »Wenn ich die blonde Inge abends nach Hause bringe«.

Als ein Zirkus mit Löwen, Bären, Kamelen, Dompteur und Kapelle in Britz gastiert – »Volkspreise: Erwachsene ab 40 Pfennige, Kinder ab 25 Pfennige aufwärts« –, sitzt meine Mutter in der ersten Reihe und fällt bei Vorstellungsbeginn fast vom Stuhl: Ihr Maini zieht gleich zu Anfang und dann vor jedem Akt den Vorhang auf und später wieder zu.

Zu Hause ist das Geld knapp, Fleisch gibt es allenfalls sonntags. Das Fahrrad, das ich mir zu Weihnachten wünsche, ist ein gebrauchtes Erwachsenenrad. Viel zu groß für mich. Prompt erradle ich mir einen wunden Hintern.

Die ständigen Geldsorgen veranlassen Mutter, sich mit der Ablehnung einer Entschädigung für den Mord an Vater nicht zufriedenzugeben. Sie zieht vor das Berliner Landgericht und strengt ein Armenrechtsverfahren an. Zwangsläufig muss sie den Mord an ihrem Mann durch die Gestapo offenlegen, obwohl sie zum Stillschweigen verpflichtet ist – »sonst bist du dran«. Da durch die Hartnäckigkeit meiner Mutter aber mittlerweile viele Beamte – im Reichskanzleramt, im Innen- wie Justizministerium, im Berliner Polizeipräsidium, im Büro des Reichspräsidenten – mit dem »Fall Nayhauß« befasst sind, wäre es ein Risiko, nun auch die Gräfin Nayhauß wie ihren Mann sang- und klanglos verschwinden zu lassen. Stattdessen beschließt man, den Fall aus der Welt zu schaffen. So ergeht am 4. Dezember 1936 vom Reichs- und Preußischen Minister des Inneren an den Polizeipräsidenten in Berlin mit den Vermerken »Sofort« und »Geheim« folgende Anweisung:

»Der Gräfin Erika von Nayhauß-Cormons und ihren beiden Kindern wird anlässlich des Ablebens ihres Ehemannes bezw. Vaters aus Billigkeitsgründen vom 1. Dezember 1936 an eine monatliche Rente von 350 RM ›Dreihundertfünfzig RM‹ aus Reichsmitteln bewilligt. Von diesem Betrage stehen der Gräfin selbst 150 RM, ihren Kindern je 100 RM zu. Die Rente für die Gräfin wird lebenslänglich, die Renten für die Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. […]. Ferner bewillige ich der Gräfin von Nayhauß-Cormons eine einmalige Entschädigung von 2500 RM ›Zweitausendfünfhundert RM‹ aus Reichsmitteln.«

In ihrer schönen, mit lila Tinte geschriebenen Schrift vermeldet sie einer Verwandten in Heidelberg:

»Mir wurde eine große Weihnachtsfreude zu Teil. Denkt Euch – mein schwerer Kampf ist nun zu Ende geführt und siegreich für mich. Was dies für mich bedeutet, wisst Ihr. Wenn der Sieg auch überaus wehmutsvoll ist – so muss ich glücklich sein über diesen Erfolg, nun die Zukunft meiner Kinder gesichert zu wissen, ebenso die meine. Auch hat es mir moralisch eine große Befriedigung gegeben und neues Vertrauen. Man hat sich sehr anständig gezeigt und mir damit den Beweis geben wollen, gut zu machen, was möglich ist. Das Andere ist unwiederbringlich und wird mich auch wie ein düsterer Schatten mein Leben begleiten.

Den Kindern geht es gottlob gut, und ich hoffe, es bricht für mich ein Jahr an, in welchem ich nun, erlöst von schweren Gedanken um das ›Wohl und Wehe‹ meiner Kinder nun mutig mit ihnen vorwärts streben kann. – Wahrscheinlich kommt Mainhardt nach Potsdam (Kadettenhaus). ›Mami‹ ist zu nachgiebig und schwach, und ich fürchte Nachteile für ihn [gemeint, wenn er bei seiner Mutter aufwächst]. Aber es ist zu schwer für mich, den endgültigen Entschluss zu fassen.«

Sie schreibt weiter: »Ich werde wohl nun bald von hier fortziehen – wieder in die Stadt. Britz liegt zu sehr ab und ist nichts für die Jungens auf die Dauer.«

Damit beginnt ein neuer Abschnitt ihres Lebens, das einst wohlbehütet begonnen hatte.

Familiengeschichten

Mutter Erika: Immer das letzte Wort

Geboren wird Erika am 2. Januar des Jahres 1890 in Cassel, das man damals noch mit ›C‹ schreibt. Sie hat zwei ältere Geschwister, Ilse und Nora. Der Vater, Eduard von Mosengeil, ist Offizier, seinerzeit Hauptmann und Kompaniechef im 3. Hessischen Infanterie-Regiment. Getauft wird sie auf die Vornamen Anna Marie Erika.

Bedingt durch den Soldatenberuf des Vaters beginnt zunächst ein unruhiges Leben. Kaum vier Monate nach der Geburt zieht die Familie nach Kehl am Rhein um, wohin der Vater versetzt wird. Drei Jahre später geht es nach Gelnhausen, westlich von Frankfurt am Main, und von dort nach Meiningen im Thüringischen.

Mit sechs bekommt sie eine Hauslehrerin, wird zudem von einem Kinderfräulein betreut. Mit neun besucht sie in Meiningen eine reguläre Schule, erhält Klavierunterricht, später auch Gesangsunterricht. Mit sechzehn beendet sie ihre Schulzeit und stellt rückblickend fest: »Die Lehrer meinten, ich wollte immer das letzte Wort haben. Aber wenn ich fest davon überzeugt bin, Recht zu haben, kann ich nicht klein beigeben.«

Später in Halberstadt trifft sie, inzwischen siebzehn, auf einem Tennisplatz erstmals ihren späteren Mann: Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, Leutnant bei den »Seydlitz-Kürassieren«, auch »Bismarck-Kürassiere« genannt, weil deren Kommandant später der erste Reichskanzler wurde. Wieder in Meiningen, besucht Erika zur Vervollständigung ihrer Ausbildung eine Kochschule.

Die Mosengeils gehören zwar zum einfachen Adel, genießen aber nicht nur in Meiningen, sondern in ganz Thüringen besondere Hochachtung. Die verdankt sich vor allem Erikas Urgroßvater, Friedrich von Mosengeil, Jahrgang 1773. Drei Dinge machten ihn bedeutend: seine Schriftstellerei, die er neben seiner Arbeit als Gemeindepfarrer ausübte (er schrieb unter anderem Beiträge für Christoph Martin Wielands »Der teutsche Merkur«); zweitens war er schon mit 23 Jahren einer der Erfinder der deutschen Stenografie, der Kurzschrift; und zum Dritten wurde er mit 32 zum Erzieher des fünfjährigen Erbprinzen Bernhard von Sachsen-Meiningen bestellt – mit Wohnrecht im herzoglichen Schloss, dem Titel eines Consisterialrates und einem jährlichen Salär von 500 Talern.

Haus der Familie Mosengeil in Meiningen, Thüringen

© Privatarchiv des Autors

Es war die Zeit der Napoleonischen Kriege. Auch das Herzogtum Meiningen blieb in den folgenden zehn Jahren von Besatzungen, Seuchen und Teuerungen nicht verschont. Im Frieden von Posen vom 11. Dezember 1806 zwischen Frankreich und Kursachsen – eine Folge der von Preußen im Oktober desselben Jahres verlorenen Schlacht bei Jena – wurde Meiningen gezwungen, dem Rheinbund beizutreten, und war nun Alliierter des verhassten Napoleon.

Auch Friedrichs Sohn Julius wird Pfarrer, während Enkel Eduard von Mosengeil, Mutters Vater also, die Offizierslaufbahn einschlägt. Bei einer Abendgesellschaft ist seine Tischdame ein Fräulein Helene Zimmermann, mit dem er sich achtzehn Tage später verlobt. Für die Heirat, die ein halbes Jahr darauf folgt, ist damals für einen Offizier ein Dispens des Kaisers erforderlich, der nur bei gutem Leumund und notariell beurkundetem Vermögensnachweis der Braut erteilt wird.

Eduard, nebst Helene und den drei Töchtern, lebt nach zahlreichen Versetzungen ab 1899 als pensionierter Major wieder in seiner Heimatstadt Meiningen, in dem ihm so vertrauten Haus, das sein Großvater Friedrich Mosengeil 1821 erworben hatte und wo er aufgewachsen war.

Erika hat eine unbeschwerte, glückliche Jugendzeit. Die Mädchen, zu jungen Frauen herangewachsen, besitzen Tanzkarten, auf denen die Herren sich vorab eintragen müssen. Erikas Tanzkarte ist stets schnell ausgebucht. Wer dann noch kommt, erhält einen Korb. Auch das Schlittschuhlaufen auf den gefrorenen Gewässern des Englischen Gartens macht Erika Vergnügen: »Als junge Damen haben wir mit den Herrn Leutnants nette Stunden verlebt. Es wurden auch Eisfeste vom Regiment arrangiert, hinterher mit Tanz im Casino. Auf dem Eis gab es Punsch und Pfannkuchen, Lampions, Fackeln und Regimentsmusik.«

Die größten Familienfeste waren die Hochzeiten, die fast immer im Hause der Braut gefeiert wurden. An drei Sonntagen hintereinander wurde das Brautpaar von der Kanzel herab ausgerufen. Der Dienstag danach war allgemein der Hochzeitstag. Bereits vierzehn Tage vor dem Fest wurden vom Brautpaar die Hochzeitsgäste eingeladen. Deren Zahl war für gewöhnlich ansehnlich, die Geschenke hingegen meist bescheiden. Umso mehr wurde gegessen und getrunken. Zwei Tage dauerte gemeinhin das Fest.

In diese beschauliche Welt bricht aus heiterem Himmel das Unglück herein: 1908 trifft Erikas Vater ein Schlaganfall, der ihn pflegebedürftig macht. Dadurch ändert sich für die Familie alles. Der Vater, immer so sehr um das Wohl und Wehe seiner Familie bedacht, ist nun selbst auf Hilfe angewiesen. In diesem Zustand möchte er nicht durch Meiningen gefahren werden, wo ihn jeder kennt. Er drängt auf Umzug in eine andere Stadt. Ende Juni 1909 erfolgt deshalb die Umsiedlung der Familie nach Naumburg an der Saale. Ihre große Wohnung in Meiningen wird aufgeteilt und vermietet.

Dann der nächste Schicksalsschlag: Am 15. August 1910 stirbt der Vater, wird einen Tag darauf in Naumburg zu Grabe getragen. Seine Familie, obschon auf seinen Tod vorbereitet, der dann doch überraschend kam, ist tief getroffen. Schmerzlich vermissen sie den Ehemann und Vater, seinen Sachverstand und seinen finanziellen Rat – vor allem in den folgenden Kriegsjahren und während der Inflation.

Nach dem Tod des Vaters beschließt die Mutter, nach Potsdam überzusiedeln. Das nahe Berlin bietet in diesen letzten drei Friedensjahren bedeutend mehr Glanz und Zerstreuung für ein junges Mädchen. Erika wird häufig der Hof gemacht, sie ist eine schöne Frau. Aber sie bindet sich nicht, wie sie ihrem Tagebuch anvertraut: »Noch nie in meinem Leben habe ich einen Menschen nach kurzer Zeit über alles geliebt. Er muss mir erst sozusagen ans Herz wachsen.«

Mit Kriegsbeginn ändert sich abermals ihr Leben. Im Winter 1915 ist Erika freiwillig für acht Wochen im Potsdamer Kriegslazarett tätig. »Der Andrang war damals enorm, alles wollte pflegen – und selbst dabei wurde man von seinen lieben Mitmenschen schief angesehen. Darum mache ich anderen Platz, die ältere Rechte hatten. Die Soldaten waren traurig, hingen alle furchtbar an mir und einer sagte wütend: ›Schwester Erika, Sie sind unsere Lieblingsschwester, warum müssen Sie gerade gehen, soll doch eine von den anderen Heuschrecken verschwinden‹«, berichtet sie in ihrem Tagebuch.

Ende 1916 treibt es Mutter Helene weg aus Potsdam nach Berlin. Sie hat sich schon länger schriftstellerisch betätigt und möchte dies nun zum Beruf machen – Berlin bietet da bessere Chancen. Zudem eröffnet sie in der Fasanenstraße 30 eine Pension. Auch Erika wird dort bis zu ihrer Heirat leben. Sie nimmt weiter Gesangsunterricht mit Klavierbegleitung.

In dem von ihrer Mutter verfassten Schauspiel »Sascha«, aufgeführt im Charlottenburger Theater, erhält sie im April 1918 eine Rolle – ebenso in der späteren Stummfilmfassung. Mitunter vertritt Erika ihre Mutter beim Kochen für die Pensionsgäste. Es gibt einfache Kost, Bouillonsuppe, Rouladen mit grünen Erbsen, Bratkartoffeln und Nachspeise. Ein zweites Mädchen ist mit der Wäsche beschäftigt. Aber mit der Pension gibt es Probleme. Zahlungssäumige Logiergäste bewirken erhebliche Ausfälle, so dass Mutter Helene in Mietrückstand gerät. Selbst die Aufnahme einer Hypothek und schließlich der Verkauf des Meininger Hauses bieten keine Entlastung. Entnervt gibt Helene 1927 Wohnung und Pension in der Fasanenstraße auf. Auch die Schriftstellerei läuft nicht wie erhofft. Mitunter muss Helene die Aufführungen der von ihr geschriebenen Theaterstücke selbst finanzieren.

Später lebt sie mit Erika zunächst in Berlin-Friedenau, schließlich in Britz. Die steten Sorgen um das Meininger Haus, ihre vergeblichen schriftstellerischen Bemühungen und die permanente finanzielle Misere haben ihre Nerven zerrüttet und zu einer vollkommenen Erschöpfung geführt.

Anders Tochter Erika. Sie hat Glück. Ende Januar 1925 trifft sie im Theater Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons. Er bittet sie um das Programmheft, hocherfreut, die hübsche Dame wiederzusehen. Kurz zuvor waren sich beide flüchtig im Berliner Kaufhaus KaDeWe begegnet, neunzehn Jahre nach ihrem ersten Treffen auf dem Tennisplatz in Halberstadt.

Sie finden schnell zueinander. Bereits sechs Wochen danach verloben sie sich heimlich. Ihrer französischen Freundin Mary, die inzwischen den Deutschen August Knief geheiratet hat, gesteht sie, dass sie endlich mal »Ernst gemacht« habe und dass sie beide so gut zusammenpassten.

Die offizielle Verlobung erfolgt Anfang Mai zu »Stanis« 50. Geburtstag. Einige Wochen später, am 20. Juni, wird geheiratet. Die anschließende Hochzeitsreise, die der Ehemann gelegentlich auch für geschäftliche Dinge nutzt – er knüpft Kontakte, um Aufträge als Vortragsredner zu erhalten –, verläuft nur durch Deutschland, unter anderem nach Duisburg, Königswinter am Rhein, Koblenz und Wiesbaden.

Mutter Erika von Mosengeil in den Zwanzigerjahren

© Privatarchiv des Autors

Schon vor der Vermählung war Stani etwa als Redner für die Deutschnationale Volkspartei zur Reichspräsidentenwahl in Westdeutschland tätig. Mitunter tritt er jetzt viermal am Tag auf. Er ist rhetorisch gewandt, spricht in über hundert großen Versammlungen. Teilweise kommt es dabei zu Störungen, so im April 1925 in Bonn, als Reichsbannerleute versuchen, eine Wahlveranstaltung zu sprengen. Er berichtete später: »Es gab großen Klamauk, und die Kerle mussten mit Stöcken, unter Mithilfe der Polizei, aus dem Stall getrieben werden.« Aber Stani lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Das jung vermählte Paar lebt zunächst in Potsdam im vormaligen Palais der Gräfin Lichtenau – der Geliebten von König Friedrich Wilhelm II. –, zusammen mit dem elfjährigen Sohn Hubertus aus Stanis erster, geschiedener Ehe. Es gibt Hausdame, Dienstmädchen und einen großen Hund. Erika weiß in allen Lebenslagen genau, was sie will: »Ich lege auf Körperpflege einen ungeheuren Wert, und es ist mir bei einem Mann überhaupt das Wichtigste.« Aber auch in dieser Hinsicht braucht der Spross einer uralten Adelsfamilie keine Belehrung.

Für Gott und Vaterland: Die Herren von Neuhaus

Die Familie derer von Nayhauß – anfangs noch Neuhaus genannt – stammt aus Franken. Sie gehört zum fränkischen Uradel, zog im 11. Jahrhundert mit den deutschen Kaisern in den Kriegszügen über die Alpen und wurde dort nebst anderen fränkischen Ritterfamilien, wie den Auerspergs, Attems, Strassoldos, in den frisch erworbenen Ländern belehnt. Ihr neuer Besitz lag in der Gegend des späteren österreichischen Küstenlandes Friaul, an den Ufern des azurblauen Isonzo, der westlich Görz in Nord-Süd-Richtung verlaufend von den julischen Alpen dem adriatischen Meer zufließt. Dieser einzigartig schönen Gegend, die im Laufe der Jahrhunderte oft Schauplatz blutiger Schlachten wurde, war im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle beschieden, weil hier die österreichische Isonzofront verlief.

Nach ihrer Ansiedlung spielt die Familie in dieser Region über mehrere Jahrhunderte eine führende Rolle, unter anderem lange Jahre als Herrscherhaus über die Grafschaften Görz und Udine, und sie führt Kämpfe gegen die Republik Venedig, in deren Geschichte der Familienname häufiger vorkommt. Der Familie gehören große Besitzungen, deren Ausmaße dadurch erkennbar werden, dass noch heute in der Gegend von Görz, durch die ganze Halbinsel Istrien bis Abbazia, Fiume, viele Grabdenkmäler und Burgruinen mit dem Familienwappen zu finden sind. Im Dom von Cormons, einem kleinen, westlich von Görz gelegenen Städtchen, dessen Name inzwischen Teil des Familiennamens ist, sind in einer Gruft etliche Vorfahren beigesetzt.

Familienwappen derer von Nayhauß, verliehen durch Ferdinand II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und österreichischer Erzherzog, 1624

© Privatarchiv des Autors

Angehörige der Familie zeichnen sich in verschiedenen Kämpfen der damaligen Zeit aus, so dass sie zunächst Barone und 1474 schließlich Grafen von Cormons werden. Seitdem führen sie den Namen Graf von Neuhaus-Cormons. Eine spärliche Ruine der von ihnen in Cormons errichteten Burg zeugt noch heute von der einstigen Machtstellung. Zwei Vorfahren halfen bei der Verteidigung Wiens durch Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg. Sie dienten gleichsam als Generalstabschefs des tapferen Wiener Stadtkommandanten während der zweiten Türkenbelagerung im 17. Jahrhundert.

Wegen zahlreicher Verdienste wurde den Herren von Neuhaus von Kaiser Ferdinand II., erwählter Römischer Kaiser und Erzherzog zu Österreich, bereits 1624 auf einer schweinsledernen Urkunde eine Aufbesserung ihres Familienwappens verbrieft. Markanteste Symbole: ein gepanzerter Arm mit erhobenem Schwert, ein Wolf in Mönchskutte und zwei schräge, schwarz-rot geschachtete Balken. 1696 werden sie in den erblichen Reichsgrafenstand erhoben und dürfen als besondere Auszeichnung künftig das Prädikat »Erlaucht« tragen.

Inzwischen hat die Familie großen Besitz in Oberschlesien und in der Grafschaft Glatz erworben und erhält, als Schlesien unter Friedrich dem Großen Preußen zugeschlagen wird, die preußische Staatsangehörigkeit. Einer der ersten schlesischen Edelleute, den Friedrich II. nach der Annexion dieser Provinz an seinen Hof beruft, ist der Ururgroßvater Stanis, der bald ein besonderer Vertrauter des Königs wird. Zu seiner Vermählung mit einer Hofdame der Königin, der Baronesse Welling, schenkt ihm der König sechs lebensgroße Porträts, die ihn, die Königin, seinen Bruder Prinz Heinrich, seine Schwestern, die Marktgräfinnen von Schwedt und von Anspach-Bayreuth sowie seinen Vater darstellen.

Stanis Großvater wiederum nimmt von 1813 bis 1815 an den Befreiungskriegen als Adjutant des Grafen Gneisenau, Generalstabschef des Feldmarschalls Fürst Blücher, teil – und verliert in der Völkerschlacht von Leipzig ein Auge. Später ist er Kammerherr des Königs und Generallandschaftsrepräsentant von Oberschlesien. Er stirbt in Breslau, als dort in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Cholera wütet.

Stanis Vater Julius schließlich gehört während seiner Dienstzeit als Offizier dem 2. Leib-Husaren Regiment »Königin Victoria von Preußen« an, jenem ruhmreichen Elite-Regiment der Armee, das als »Totenkopf-Husaren« zu den volkstümlichsten Truppenteilen zählt.

Schloss Nieder-Baumgarten, Schlesien, letzter Stammsitz der Grafen von Nayhauß

© Privatarchiv des Autors

Er nimmt als Rittmeister seinen Abschied, um die vier in Schlesien gelegenen Familiengüter zu übernehmen, von denen eines – Bladen – im oberschlesischen Kreis Leobschütz liegt, drei in Niederschlesien. Julius widmet sich darüber hinaus auch dem politischen Leben und ist ab 1874 als Vertreter des Wahlkreises Cosel-Leobschütz in den Reichstag und in den Landtag gewählt. In beiden Parlamenten schließt er sich als strenggläubiger Katholik und Malteserritter der Zentrumsfraktion an, in der er während der ganzen Kulturkampfzeit – als Otto von Bismarck die Trennung von Staat und Kirche vorantrieb – eine wichtige Rolle spielt. Dem Reichstag gehört er dreizehn Jahre lang an, dem preußischen Landtag zwanzig. In der engeren Heimat ist er außerdem in der einflussreichen Stellung eines »Landesältesten« mehrere Jahrzehnte tätig. Bei seiner strengen Religiosität erfüllt ihn mit besonderem Stolz, dass ein direkter Vorfahre seliggesprochen wurde und im Dom von Meran beigesetzt ist.

Stani schließlich, mein Vater also, wird auf Schloss Nieder-Baumgarten, einem entzückend gelegenen Herrensitz der vorerwähnten Familiengüter, als jüngstes von sieben Geschwistern geboren. Er wird zunächst im Elternhaus erzogen, besucht dann die Volksschule in Baumgarten und kommt im Alter von neun Jahren nach Patschkau in Schlesien in Pension zum Gymnasiallehrer Prof. Dr. Stein, wo außer ihm noch seine beiden älteren Brüder Ernst und Mainhardt wohnen. Dort besucht er zunächst noch ein Jahr die katholische Volksschule, dann das örtliche katholische Gymnasium. Dass seine Familie ihn zunächst die Volksschule besuchen lässt, wird unter Standesgenossen belächelt, ist aber ein deutliches Signal für die in der damaligen Zeit äußerst seltene, moderne Einstellung seines Vaters. Der erachtet es für zweckmäßig, wenn der Sohn nicht nur unter »Seinesgleichen« erzogen wird, sondern mit Kindern aller Schichten in Berührung kommt. Stani macht dadurch manche Erfahrung, die ihm im späteren Leben, namentlich als Soldat und Vorgesetzter, von großem Nutzen ist.

Für die politische Haltung seines Vaters und die außerordentliche Wertschätzung, die dieser in der Bevölkerung seiner Heimat genießt, ist bezeichnend, dass er nicht nur von den Zentrumswählern, sondern als Kompromisskandidat auch von Konservativen und vielen Mitgliedern der fortschrittlichen Volkspartei gewählt wird. Als strenggläubiger Katholik unterhält er beste Beziehungen zum katholischen Klerus, dessen Mitglieder aus der näheren und weiteren Umgebung häufig Gäste im väterlichen Hause sind. Stanis Vater, der mit anderen schlesischen Malteserrittern mehrfach im Vatikan Dienst leistet, erfreut sich des ganz besonderen Wohlwollens der Päpste Pius IX. und Leo XIII. sowie – trotz seiner Einstellung gegen die Berliner Regierung in der Kulturkampfzeit – des alten Kaisers Wilhelm wie auch der nachfolgenden Kaiser Friedrich und Wilhelm II.

Großvater Julius Graf von Nayhauß, 1821 bis 1908

© Privatarchiv des Autors

Selbst mit Bismarck, dem politischen Gegner, versteht er sich persönlich sehr gut und ist häufiger bei ihm zu Gast. Das Wohlwollen des Kaisers wiederum wird am sinnfälligsten dadurch dokumentiert, dass dieser beim älteren, später leider bei Arras gefallenen Bruder Stanis die Patenschaft übernommen hat.

Ostern 1886, also mit elf Jahren, kommt Stani ins Potsdamer Kadettenhaus. Denn sein Vater, der infolge seiner parlamentarischen Tätigkeit monatelang in Berlin weilen muss, will den noch so jugendlichen Knaben, der den frühen Tod der Mutter nicht verwinden kann, vor allem an Sonntagen bei sich haben. In diese Potsdamer Kadettenzeit fallen, abgesehen vom Tod seiner Mutter Anna, für Stani die ersten großen bleibenden Eindrücke seines jungen Lebens.

Zum Beispiel erhält er eines Tages die Aufforderung, seinen Vater im Berliner Reichstag zu treffen. Dort angekommen, meldet ihn ein Fraktionsdiener beim Vater im Plenarsaal an, der daraufhin ausrichten lässt, der Sohn möge im Wandelgang vor dem Sitzungssaal warten, da gleich eine Sitzungspause erfolgen würde. Stanis Vater erscheint darauf in Begleitung des Führers der Zentrumspartei, Ludwig Windthorst, und eines Fraktionskollegen, des späteren Reichstagspräsidenten Graf Ballestrem, der zudem Stanis Patenonkel ist. Dem Reichstag liegt gerade die größte Militärvorlage vor, die ein deutsches Parlament bis dahin jemals zu entscheiden hat – wegen einer Krise mit Frankreich und eines drohenden russisch-französischen Bündnisses soll das Heer massiv verstärkt werden. Die Bewilligung ist, wie so oft, von der Zustimmung der Zentrumspartei abhängig, und der Erfolg scheint zeitweise fraglich. Es ist jene Vorlage, bei deren Debatte Fürst Bismarck die berühmten Worte spricht: »Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!«

Während sich also Stanis Vater und die zwei anderen Parlamentarier mit dem jungen Kadetten unterhalten, erscheint plötzlich Reichskanzler Bismarck in Begleitung von Feldmarschall Graf Moltke und sagt lachend zu den drei Männern: »Ich danke Ihnen, meine Herren, dass Sie mir die Militärvorlage hier schon in Person dieses kleinen Mars präsentieren. Wem von den Herren gehört dieser junge Nachfolger Moltkes?«

Als Stanis Vater erwidert: »Mir, Durchlaucht«, entgegnet Bismarck zum kleinen Kadetten gewandt: »Na, das ist nett, dass du deinen Großvater besuchst.« Worauf Stanis Vater erwidert: »Nein, Durchlaucht, das ist nicht mein Enkel, sondern mein jüngster Sohn!« Darauf der Kanzler: »Potztausend Graf! Sie haben noch einen so jungen Sohn?«

Stanis Vater, Bismarck und Moltke unterhalten sich noch etwas mit dem Jungen, leutselige Fragen an ihn richtend, ob er ein gutes Zeugnis habe, in welches Regiment er später eintreten wolle und so fort. Schließlich sagt Bismarck, dabei freundlich Nayhauß Senior auf die Schulter klopfend: »Meine Herren, ich danke nochmals für die hier bildlich präsentierte Zustimmung zur Militärvorlage. Na, ich weiß ja, wenn ihr Herren vom Zentrum auch schwarz wie die Raben seid und immer zu Rom haltet, wenn das Vaterland ruft, so kann ich mich doch immer auf die alten Rittmeister preußischer Leibregimenter verlassen.« Und als Bismarck und Moltke schließlich auch Stani zum Abschied die Hand reichen, schlägt das Kinderherz höher vor Stolz.

Noch manche hochinteressante Persönlichkeit der damaligen Zeit lernt mein Vater durch seinen Vater kennen. Zum Beispiel den berühmten Maler Adolph von Menzel. Der zwergenhafte Mann mit dem ungewöhnlich großen Kopf und einem eigenartigen Kinnbart, wie ihn damals vorzugsweise Schiffer tragen, verkehrt häufig in einem seinerzeit sehr frequentierten Restaurant in der Potsdamer Straße und nimmt anschließend gewöhnlich seinen Kaffee in dem bekannten Café »Josty« am Potsdamer Platz ein, das auch der Abgeordnete Graf Nayhauß manchmal mit ihm nahe stehenden Parlamentariern zu besuchen pflegt und den Sohn mitnimmt, wenn der seine Ferien bei ihm verbringt. Dem Jungen macht es einen Heidenspaß zu beobachten, wie der Maler dort genießerisch seinen Kaffee trinkt oder trotz des laut herrschenden Treibens am Kaffeetisch ein kurzes Nachmittagsschläfchen hält.

Die Potsdamer Kadetten wohnen alljährlich den Frühjahrsparaden der Potsdamer Garnison im Lustgarten bei. Stolz erfüllt sie, wenn sie die Begrüßung des auch ihre Front abreitenden Kaisers: »Guten Morgen, Kadetten!« mit einem kräftigen: »Guten Morgen, Euer Majestät!« erwidern.

Ostern 1891 wird Stani, inzwischen sechzehn, an die Hauptkadettenanstalt Berlin-Lichterfelde versetzt, darf fortan nicht bloß als Zuschauer, sondern aktiv an den Frühjahrs- und Herbstparaden der Garde auf dem Tempelhofer Feld teilnehmen. Bewegende Erlebnisse für einen zum Soldatenberuf bestimmten Jugendlichen, der die Liebe zum Militär von seinen Vorfahren geerbt hat.

Neunzehnjährig beginnt er seine militärische Laufbahn beim alten Garde-Jäger-Bataillon in Potsdam, auf dessen ruhmgekrönte, stolze Fahne er am Geburtstag des Kronprinzen im Fahnenzimmer des Stadtschlosses vereidigt wird. Zehn Jahre später feiert das Bataillon das einhundertfünfzigjährige Stiftungsfest mit Festgottesdienst und Parade im Lustgarten. Der Kaiser ist auch präsent. Während dieser Festlichkeiten hat Stani die Ehre, dem Kaiser als Ordonnanzoffizier zu dienen, ihm Mantel, Tschako und Degen beim Betreten des Garnisonskasinos abzunehmen, ihm nach dem dort stattgefundenen Festessen mit dem Offizierskorps den Kaffee zu reichen.

Nach zwölfjährigem Dienst bei der Infanterie muss Stani dann jedoch wegen einer Lungenerkrankung um Versetzung zur Kavallerie bitten. Anstrengende Fußmärsche hält er nicht mehr durch. 1896 wechselt er darum zu einem Kürassier-Regiment in Köln-Deutz. Als er sich bei der Herbstparade auf dem Tempelhofer Feld in Berlin beim Kaiser – so verlangt es die Order – abmeldet, meint der scherzhaft: »Na, wenn Sie mir kein Yorck werden wollen, dann wenigstens ein Seydlitz.« (Mit »Yorck« ist ein besonders tapferer General aus den Befreiungskriegen gemeint, Seydlitz ist ein Kürassier-General seiner Majestät.)

Doch auch der Dienst bei der Truppe zu Pferd kommt eines Tages abrupt zum Ende. Während eines Dauerritts, den Stani im Dezember von Köln-Deutz aus auf dem rechten Rheinufer bis Ehrenbreitstein bei Koblenz und von da auf dem linken Rheinufer über Koblenz und Bonn zurück bewältigen muss, hat er bei Siegburg die teilweise mit Eisschollen bedeckte Sieg zu durchschwimmen. Hierbei zieht er sich eine schwere Lungenentzündung zu, deren Heilung später nicht richtig vorankommt. Da er seine Mutter und drei Geschwister an Lungenleiden verlor, in dieser Richtung also erblich belastet scheint, halten es die zu Rate gezogenen Fachärzte für ausgeschlossen, dass er, selbst nach einer Genesung, noch länger den militärischen Beruf fortsetzen könne. Also nimmt er Abschied aus dem aktiven Militärdienst und widmet sich zwei Jahre lediglich der Wiederherstellung seiner Gesundheit, indem er sich den größten Teil dieser Zeit an der Riviera und im milden, maritimen Klima der Insel Wight und Südenglands aufhält.

Entgegen den ärztlichen Prognosen ist er nach diesen zwei Jahren vollkommen genesen und wird 1899 als 24-jähriger Leutnant bei den Oldenburger Dragonern wieder eingestellt. Später erinnert er sich: »In diesem ausgezeichneten Reiterregiment erlebte ich die schönste Zeit meines Lebens, eine arbeits- und mühenreiche, aber doch so frohe Leutnantszeit. Auf diesem guten kavalleristischen Lehrboden begann meine rennsportliche, von manchen Erfolgen gekrönte Rennreiterlaufbahn.«

1906 wird er zu den Seydlitz-Kürassieren nach Halberstadt versetzt und erlebt hier nun eine unschöne Seite des Militärdienstes – nämlich einem bornierten, herrschsüchtigen Vorgesetzten ausgeliefert zu sein. Es kommt zu einer Situation, in der ihn sein Kommandeur vor versammeltem Offizierskorps und Gästen der Garnison beleidigt. Anlass ist die traditionelle »Hubertusjagd«, ein auch von den Seydlitz-Kürassieren veranstaltetes Reiterfest. Stani reitet im roten Rock, mit schwarzer Kappe und alter Reitersitte gemäß mit Veilchenstrauß im Knopfloch und am Stirnband seines Pferdes ein. Prompt ruft der Kommandeur, so dass es alle Umstehenden hören: »Kann mir schon den ganzen Tag verderben, wenn ich einen Menschen sehe, wie den Kerl da mit seinen Veilchen. Wirkt auf mich genauso wie eine Schneppe mit Schneppenparfüm.« Dann will er wissen, wer Stanis Gäste seien, die in einem Krümperwagen vorgefahren waren. Stani: »Herr Kommerzienrat Mädler mit seinen beiden Töchtern, die ich rechtzeitig in die Gästeliste eingetragen habe.« (Mädler ist der Eigentümer der schon damals weltbekannten Kofferfirma.) Darauf der Kommandeur, wieder so, dass alle es hören können: »Das passt mir nicht! Solange ich die Ehre habe, an der Spitze des Regiments zu stehen, wünsche ich nicht, eine solche Sorte Mensch in das Offizierskorps eingeführt zu sehen.« Eine höchst unhöfliche Bemerkung, die zugleich bezeichnend ist für den in Offiziers- und Adelskreisen herrschenden Standesdünkel gegenüber Fabrikanten und Kaufleuten – frei nach dem Motto: »Kofmichs sind nicht unsere Welt.«

Stani verlässt mit seinen Gästen das Fest, ehe es begonnen hat, und bringt den Vorfall kurz darauf vor das Ehrengericht des Regiments. Auf die Frage, welche Genugtuung er von seinem Vorgesetzten, einem Oberstleutnant, erwarte, antwortet Stani, dieser solle ihn, den jungen Leutnant Nayhauß, vor selbigem Ehrenrat und vor dem gesamten Offizierskorps des Regiments um Entschuldigung bitten, die gleiche Entschuldigung ihm per eingeschriebenem Brief bestätigen und Abschriften dieses Briefes an die ältesten Offiziere der Nachbarregimenter senden. Gefragt, was er tun würde, falls der Kommandeur nicht auf diese Bedingungen einginge, erklärt er ungerührt: »Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit!«

Ein ausgeprägtes Ehrgefühl ist Teil seines Charakters. Und wer kann schon aus seiner Haut? Doch siehe da, der Kommandeur akzeptiert Stanis Forderung. Allerdings hat der juristische »Sieg« einen Haken. Wenige Tage später erfährt er, dass der nächsthöhere Offizier, nämlich der General von Beneckendorff und von Hindenburg, der spätere Reichspräsident, ihn mit vierzehn Tagen Stubenarrest bestraft, weil er »einen falschen Weg« beschritten habe. Nach dem ungeschriebenen Reglement beschwere man sich nicht in einer dienstlichen Angelegenheit vor dem Ehrenrat.

Nun ist Stani nicht zu halten. Schnappt über, heute würde man sagen, zündet eine Atombombe: In unbändigem Zorn beschwert sich der junge Leutnant über den General von Hindenburg an allerhöchster Stelle – bei seiner Majestät dem Kaiser. Nach einigen Wochen erhält er die Antwort, knapp und kühl: »Ich weise die mir von Ihnen gegen Ihren Kommandierenden Herrn General, den General der Infanterie von Beneckendorff und von Hindenburg, unterbereitete Beschwerde zurück. Gez. Wilhelm I.R.«

Ein gewisser Trost bleibt: Stani erfährt, dass auch sein Vorgesetzter, der ihn beleidigte, von Hindenburg mit fünf Tagen Stubenarrest bestraft wurde. Der absolviert allerdings die Strafe, indem er sich »krank« meldet.

Schwamm drüber. Für Stani hielt das Leben weitere Überraschungen bereit. Höchst unerfreuliche.

Vater Stani: Unschuldig zum Tode verurteilt

1912 nimmt er, inzwischen Mitte dreißig, endgültig Abschied vom aktiven Militärdienst. Eine neue Versetzung, die ihm nicht passt, weitere Ehrenhändel, Stürze mit schweren Kopfverletzungen bei der Rennreiterei – all dies verleidet Stani, der einst mit Leidenschaft und Stolz dem Offiziersberuf nachging, ein Verbleiben. Hinzu kommt, dass er, inzwischen siebenunddreißig, im selben Jahr die 21-jährige Asta Brasch heiratet. Zwölf Monate später kommt Sohn Hubertus, mein älterer Bruder, zur Welt, und zwar in Saint-Jean-sur-Mere, an der Côte d’Azur. Dort wird er auch am 7. Mai 1914 getauft. Pate ist kein Geringerer als Seine Königliche Hoheit Heinrich von Oranien, Prinz der Niederlande. Zur Erinnerung schenkt er meinem Vater einen weißen Saphir aus seinem Degen. Daraus lässt Stani einen in Gold gefassten Siegelring herstellen, den ich noch heute bei feierlichen Anlässen trage.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst erhält Vater Angebote von großen deutschen Industriefirmen, auf dem Balkan als Lobbyist tätig zu werden – darunter für den Kruppkonzern. Während einer mehrmonatigen Balkanreise ist er zum Beispiel bemüht, Aufträge für Artilleriemunition in Montenegro, für den Ausbau von Häfen in Bulgarien und für eine Lieferung von Lastkraftwagen an Griechenland einzufahren. Sein adliger Name öffnet ihm Türen, in Sofia wird er von König Ferdinand empfangen. Stani sieht sich schon als Millionär.

Aber noch ehe abgesprochene Vereinbarungen unterschriftsreif sind, geschlossene Verträge realisiert werden und die Millionen fließen, bricht der Erste Weltkrieg aus: Deutschland erklärt am 1. August 1914 Russland den Krieg, zwei Tage später Frankreich, das wiederum mit England verbündet ist. Deutsche Truppen marschieren völkerrechtswidrig durch Belgien, um von dort aus den »Erbfeind« Frankreich anzugreifen.

Auslöser des großen Schlamassels ist die vorangegangene Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, und seiner Frau in Sarajewo durch einen serbischen Studenten. Der Vielvölkerstaat wird in seinen Grundfesten erschüttert. Da Serbien, das dem Habsburger Reich angehört, gerade auf seine Unabhängigkeit drängt und dabei von Russland unterstützt wird, setzt ein Dominoeffekt ein. Bündnisverpflichtungen treten in Kraft, ein kriegerischer Flächenbrand breitet sich aus. In Deutschland wird am 1. August 1914 Mobilmachung angeordnet.

Vater Stanislaus als Rittmeister bei den »Königs-Ulanen«, 1915

© Privatarchiv des Autors

Stani eilt zu den Fahnen, meldet sich bei den für ihn zuständigen »Königs-Ulanen« in Hannover. Später schreibt er: »Jeder fieberte vor innerer Erregung und Begier, zu den Freunden und Kameraden an die Front eilen zu können. Der unaufhaltsame Siegeszug der deutschen Fahnen in jenen ersten Kriegswochen ließ in jedem von uns die Befürchtung aufkommen, dass wir nicht mehr rechtzeitig eintreffen würden, um auch unsererseits an den stolzen Erfolgen teilnehmen zu können, weil wir damals befürchteten, dass der Krieg schon nach wenigen Wochen zu Ende sein würde.«

Es folgen Fronteinsätze zunächst in Belgien, in der Schlacht von Lille, dann in Russland. Dort erlebt Stani die Härte des Krieges: Ausrüstung und Bewaffnung sind unzureichend, die Kavallerie muss gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner kämpfen. Ist die Stellung nicht mehr zu halten und der Schwadronsführer bittet den Divisionskommandeur per Melder, die eigenen Reihen zurücknehmen zu dürfen, kommt der Befehl: »Die Schwadronen bleiben unter allen Umständen weiter in ihren Stellungen! Und wenn sie dabei bis auf den letzten Mann fallen, so haben sie ihre Pflicht und Schuldigkeit getan.«

Stanis erste Verwundung, eine Splitterverletzung am Fuß, ist noch eine leichte. Die steckt er weg und kehrt bald zurück an die Front. Er wird mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse dekoriert und zum Rittmeister befördert, was bei der Infanterie dem Rang eines Hauptmanns entspricht. Dann erwischt es ihn heftiger – er wird an der Schulter verwundet. Es folgen sechs Monate Aufenthalt in verschiedenen Lazaretten mit vier Operationen.

Im Sommer 1915 hat er das erste Kriegsjahr hinter sich. Doch noch immer wird er im Heimatlazarett von Bad Kissingen behandelt. Er erbittet Urlaub, um in Stuttgart den berühmten Erbauer des ersten Luftschiffs, Graf Zeppelin, zu besuchen. Dieser ist Pate seines kleinen Sohns Hubertus. In Stuttgart angekommen, erfährt er, dass Graf Zeppelin nach Friedrichshafen am Bodensee aufgebrochen ist, wo die Zeppelin-Werft liegt. Also reist er ihm dorthin nach. Es wird für beide Herren ein angenehmes Wiedersehen. Stani erzählt beiläufig, dass er vom Kriegsausbruch ausgerechnet in der gegenüberliegenden Schweiz überrascht wurde, wo noch immer sein zurückgelassenes Hauptgepäck in einem Hotel lagert. Das sei doch jetzt eine günstige Gelegenheit, meint sein Gastgeber, mit einem Schiff zur Schweiz überzusetzen, um das Gepäck abzuholen. Stanis Bedenken, dass er zwar seinen Reisepass bei sich habe, aber keinen militärischen Urlaubsschein für die Schweiz, werden von Graf Zeppelin und dessen Adjutanten zerstreut: »Von hier aus unternehmen alle Tage deutsche Soldaten, die in den umliegenden Lazaretten auf vollständige Genesung warten, Ausflüge in die Schweiz.«

Also bricht Stani am nächsten Tag auf, eine Reise mit fatalen Folgen. Bei schönem Wetter legt das Schiff Richtung Schweiz ab. Kurz darauf beobachtet er an Deck zwei Herren, die dem Kapitän allerlei merkwürdige Fragen stellen, während sie auf das zurückliegende Ufer von Friedrichshafen zeigen. Einer macht sich über die Auskünfte Notizen – zum Beispiel, wo genau die Zeppelin-Werft liegt, welche Angriffe aus der Luft bisher erfolgten, wo sich die Stellungen der Abwehrgeschütze befinden, woher der Stoff für die Bespannung der Luftschiffe stammt. Der Kapitän scheint auf alles eine Antwort zu haben, berichtet arglos, die Seide käme aus Basel, sei allerdings seit Kriegsausbruch Konterbande, also mit Gefahren und Kosten geschmuggelte Ware. Da die für ein Luftschiff benötigte Seide sechsfach aufgetragen wird, werde für jeden Zeppelin zwölftausend Meter Seide gebraucht – insofern sei der Schmuggel dieses kriegswichtigen Materials eine lohnende Sache.