Ciudad Juárez - Kathrin Zeiske - E-Book

Ciudad Juárez E-Book

Kathrin Zeiske

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Beschreibung

Ciudad Juárez ist eine Stadt, die man vor allem aus Netflix-Serien über Narcos kennt oder die in skandalträchtigen Pressemeldungen auftaucht: die meisten Frauenmorde Mexikos – eine der gefährlichsten Städte der Welt, von Drogenkartellen und Banden umkämpft – extreme Klimabedingungen mitten in der Wüste – Schichtarbeit zu Hungerlöhnen in Weltmarktfabriken – Migrant*innen an der Mauer zu den USA … Doch wie lebt es sich in dieser 1,5-Millionen-Stadt tatsächlich? Und warum finden Menschen Ciudad Juárez trotz allem lebenswert? Kathrin Zeiske, die als freie Journalistin große Teile des Jahres in der mexikanischen Grenzmetropole verbringt, führt uns an unterschiedlichste Schauplätze der Stadt und macht mit ihren fesselnden Beschreibungen Protagonist*innen greifbar und Begebenheiten nachvollziehbar. Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen dieser Grenzstadt in der Wüste, hören Erzählungen von Menschen, die in den marginalisierten Vierteln leben – im Schatten der Mauer zu den USA –, begegnen Jugendlichen, die Menschen klandestin über die Grenze bringen, Frauen, die in Montagefabriken unsere Autositze fertigen, und Männern, die Bandenkriege im Gefängnis überlebt haben. Und wir lernen Aktivist*innen kennen, die unverdrossen Gerechtigkeit einfordern und versuchen, das Leben in der Stadt lebenswerter zu gestalten, Perspektiven abseits der Ausbeutung im Weltmarkt zu schaffen und eine kollektive Erinnerung zu erwirken.

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Seitenzahl: 252

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Kathrin Zeiske ist in Bonn geboren und hat dort Politikwissenschaften und praktischen Antifaschismus studiert. Sie lebt und arbeitet zwischen Deutschland und Ciudad Juárez. Von dort berichtet sie als freie Journalistin und organisiert politische Austauschreisen in die Stadt. In ihrer Freizeit versucht sie sich als Wrestlingstar.

Kathrin Zeiske

Ciudad Juárez

Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Kathrin Zeiske:

Ciudad Juárez

1. Auflage, Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, Juni 2023

ISBN 978-3-95405-159-5

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

unter Verwendung eines Fotos von © Carolina Rosas Heimpel

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort: »Denn wir sind keine Zombies«von Leobardo Alvarado

Einleitung

1Im Schatten der MauerVon Militarisierung, Migration und Schleusertum

Das Geschäft läuft

Die Helfer:innen der verlorenen Migrant:innen

Vorübergehend zu Hause

Im Wartesaal

2Dein Autositz aus Ciudad JuárezFamilienleben zwischen Fabrikschichten

Arm trotz Arbeit

»Wann bezahlen Sie dich denn, Mama?«

Arbeitsrechte erstreiten

Alter in der »Stadt der Arbeit«

5Und es hört nie aufDrei Jahrzehnte Frauenmorde

Alltag in der Stadt der Frauenmorde

Die Stadt der toten Töchter

Mythen und Morde

Gegen den Frauenhass

Nicht länger Opfer sein

6Ein Trauma, das bleibtLeben zwischen den Fronten in Besatzung und Drogenkrieg

»Der Teufel ist von der Kette gelassen«

Koks für die Welt, der Tod bleibt hier

Wo die Bosse tanzen

Mama und das Militär

7Das Virus bringt alles zum StehenCoronazeit

Die Pandemie beginnt

»Unsere Leben zählen nicht«

Flucht zu Coronazeiten

Eine Mauer namens Title 42

8BorderlandsStadtalltag und Grenzleben

Auf der falschen Seite

Eine Grenze ist eine Grenze ist eine Grenze

Leichtfüßig durch die Stadt

NachwortWir sind Juarlín – ein Austausch zwischen Ciudad Juárez und Berlinvon Carlos Murillo

Danksagung

Quellen

Anmerkungen

Für meine Eltern,

bei denen ich umgeben von

Wänden voller Bücher aufwuchs.

Vorwort »Denn wir sind keine Zombies«

von Leobardo Alvarado, Journalist, Theaterschauspieler und Aktivist aus Ciudad Juárez

Das Werk von Kathrin Zeiske besteht aus Eindrücken und Referenzen, die das Geschehen an der Grenze festhalten. Sie hört genau hin und bringt zu Papier, was um sie herum geschieht. Es ist nicht schwer, der Karte zu folgen, die sie mit den einzelnen Teilen ihres Buches zeichnet. Wer das Geschriebene durchliest, wird kein Problem haben, den ausgelegten Fährten zu folgen, wenn sie oder er vielleicht eines Tages einmal selbst nach Ciudad Juárez kommt. Befürchtungen und Hoffnungen fließen in das schriftliche Abbild einer Realität ein, die für die Autorin auch nach einem Jahrzehnt der Aufenthalte in der angeblich oder tatsächlich »gefährlichsten Stadt der Welt« immer noch Erwartungen weckt.

Kathrin Zeiske lernte Juárez in einer Gemengelage sozialer Kämpfe und Spannungen kennen, das Ergebnis einer langen Geschichte der Auseinandersetzungen um die Stadt. Als ich sie zum ersten Mal sah, erkundete sie mitten im Sommer diese Stadt. Wir befinden uns in der Wüste und Juárez ist ein Ort, an dem man besser mit dem Auto unterwegs ist. Wer ohne Auto an einen Ort gelangen muss, zu dem keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren, ist gezwungen, sich auf schmalen Bürgersteigen ohne Baumschatten in der sengenden Hitze von über 40 Grad Celsius fortzubewegen; einer durchaus üblichen Temperatur in dieser Stadt. An diesem Tag war Kathrins Haut rot, enchilada, wie man hier in Chihuahua, Mexiko, sagt.

Sie trug Cowboystiefel mit Schlangenlederimitat, die sie noch immer besitzt. Mit 1,80 Meter, blonden Haaren und einem Piercing vom Ohr zur Nase fiel sie sogar hier an der Grenze zu den Vereinigten Staaten noch auf. Als sie abreiste, rechnete ich nicht damit, sie wiederzusehen. Es kommt oft vor, dass ausländische Journalist:innen der Stadt einen Blitzbesuch abstatten. Doch Kathrin teilte nicht nur gemeinsame Freundschaften, sondern auch gesellschaftliche Visionen. Einige Jahre später kehrte sie zurück und verbringt seitdem mehrere Monate im Jahr in Ciudad Juárez.

Dies ist ein Mehrwert, den es in diesem Werk zu finden und aufmerksam zu lesen gilt. In der Stadt gibt es seit Jahren erzündte Diskussionen und die Autorin bewegt sich in diesem Umfeld ständiger Kritik an denen, die Ciudad Juárez als Referenz nehmen. Doch ihre Perspektive ist nicht eindimensional. Ihre Quellen sind vielfältig und schließen jene Stadtbewohner:innen mit ein, die fernab dieser Diskussionen stehen und deren Alltagsrealität anderen dominanten Logiken folgen.

In dieser Stadt hat sich der Begriff Femizid schon vor langer Zeit als Ablehnung des Ausdrucks »tote Frauen von Juárez« etabliert, der keine Täter benennen mag. Ebensowenig ergötzt man sich in dieser nächsten Nachbarschaft an der sogenannten Narco-Kultur, die in anderen Teilen der Welt genüßlich und gewaltfrei vom Sofa aus bei Netflix konsumiert wird. In diesem Rahmen werden auch Ausdrücke wie »intellektueller Extraktivismus« oder die Behauptung, dass »Kartelle nicht existieren«, zu diskursiven Spannungen, wenn über Ciudad Juárez gesprochen wird.

Intellektueller Extraktivismus tritt auf, wenn jemand für ein paar Tage von außerhalb kommt und lokales Wissen extrahiert, um es in der internationalen Arena zu präsentieren. Ob durch Kunst oder Journalismus, zum Nutzen von Verlagshäusern und Einzelnen und zum Schaden der Stadt und derer, die wir sie bewohnen. Im Großen und Ganzen geht es darum, wie sich der Kapitalismus das Wesen eines Ortes aufgrund seiner kulturellen Besonderheiten und sozialen Probleme aneignet und die Definitionsmacht erlangt. Wenn andererseits darauf hingewiesen wird, dass die Kartelle nicht existieren (Oswaldo Zavala, 2018), dann, weil angenommen wird, dass das offizielle Narrativ dem Drogenhandel ein imaginiertes Gesicht gibt, und es sind unter anderem die Medien, die dieses reproduzieren.

Angenommen wird, dass diejenigen, die von außen kommen, wenig Zeit und Interesse haben, zu verstehen, was hier wirklich in seiner gesamten Komplexität passiert. Hinter Kathrins Arbeit steckt jedoch ein Wissen, das auf der Erfahrung vieler Jahre basiert. Ihre Sichtweise auf Ciudad Juárez ist weit entfernt von dem, was im Mainstream verschiedener Plattformen generiert wurde: eine Art apokalyptische Vision der Stadt. Manchmal erscheint es uns, dass der Rest der Welt glaubt, wir wären Zombies. Zweifellos eine völlig falsche Vorstellung, denn dies ist eine Stadt mit anderthalb Millionen Einwohner:innen, die nicht auf wandelnde Tote reduziert werden können.

Eine weitere Besonderheit an diesem Buch ist auch, dass die Autorin in ihrem Schreiben über Ciudad Juárez auf ihre Erfahrungen aus Mittelamerika zurückgreifen kann. Denn vormals lebte sie in Chiapas, im Süden Mexikos, wo sie lange Zeit in einer Migrant:innenherberge tätig war. Der Transfer ihres schöpferischen Fokus an die Nordgrenze, lässt sie zu einer Person werden, die Wissen über den Süden und den Norden vereint und daraus auf neue Erkenntnisse verweisen kann. Dies zeigt sich besonders beim großen Thema der Flucht und Migration durch Mexiko Richtung USA.

Kathrin Zeiskes Perspektive ist nicht nur eine journalistische, sondern auch eine aktivistische. Ihre langen Aufenthalte in der Stadt sind die Hauptquelle der Informationen, die sie in Medien jenseits des Atlanktiks einfließen läßt. Widersprüche hat sie dabei selbst verinnerlicht. Als Antifaschistin, die Wrestlingstar werden will. Als Radfahrerin in einer amerikanisierten Autostadt. Sie, die ihre Privilegien kennt und sie anderen zur Verfügung zu stellen sucht. Wenn sie sich bemüht, die Stimme einzubeziehen, die über Ciudad Juárez unterschiedliche Realitäten, historische Fakten oder sogar Mythen sprechen, geschieht dies fernab der Banalität, eine Gesellschaft als einen gewalttätigen Corpus zu bezeichnen, in dem das Leben keine Rolle spielt.

Im Gegenteil: In diesem Buch werden Themen wie Drogenhandel, Migration, Montageindustrie, Militarisierung, Femizid und die Auswirkungen der Pandemie an der Grenze zu den USA in aller Komplexität beleuchtet. Genauso wie Kathrin Zeiske es selbst im Bezug auf Ciudad Juárez auf den Punkt bringt: »Eine Stadt, die mir hinter allen Klischees und Gewissheiten immer wieder völlig Unerwartetes auftischt«.

Ciudad Juárez, Leobardo Alvarado

Einleitung

Wie lebt es sich in der gefährlichsten Stadt der Welt?

Wenn ich morgens die Augen aufmache, höre ich Schafe blöken. Als ich zum ersten Mal darauf aufmerksam wurde, dachte ich, ich spinne. Ich befinde mich mitten in einer 1.5 Millionen Einwohner:innen zählenden Industriemetropole. In einem Ballungsgebiet von fast 3 Millionen Menschen, durch das sich die militarisierteste Grenze der Welt zieht. Ciudad Juárez, Mexiko, bekannt für Kartellgewalt und Frauenmorde. Ein menschenfressender Moloch mitten in der Wüste mit Blick auf auf die USA.

Doch da sind sie, die Schafe, mit ihrem freundlichen Blöken am Morgen, zwischen Tankstellen, Shopping Malls, Industrieparks, Geschäftsmeilen und Wohnvierteln. Sie müssen in der kleinen Sackgasse hinter unserer Straße wohnen, wo es noch ein paar alte Grundstücke mit Farmhäusern gibt. Zu Gesicht bekommen habe ich sie noch nie, aber sie stehen für mich sinnbildlich für eine Stadt, die mir hinter allen Klischees und Gewissheiten immer wieder völlig Unerwartetes auftischt.

Die Monate, die ich mittlerweile im Jahr hier verbringe, langweile ich mich keine einzige Minute. Vieles mutet so notorisch wie in einer bekannten Netflix-Serie an. Dumpfe Schusswechsel bei einsetzender Dunkelheit, prekäre Wohnviertel am Hang, durch die sich staubige Pisten ziehen, Polizeistreifen mit Vermummten, die an aufgebockten Maschinengewehren auf der Ladefläche stehen, Suchplakate verschwundener Mädchen, frisch angeklebt an der Bushaltestelle.

Doch hinter den düsteren Szenarien gibt es auch ein Alltagsleben. Ich fahre Fahrrad, zumeist gemütlich durch die Wohnviertel, aber auch mal wagemutig am Rande sechsspuriger Verbindungsstraßen. Am Sonntag schlendern wir als Kleinfamilie durch die Marktstraßen im Zentrum, die brechend voll von Menschen sind und von selbstkonstruierten und nicht selten fahrbaren Straßenstände, die Essen, Heilkräuter, Erfrischungsgetränke, Kleidung und Gebrauchsgegenstände feilbieten; frisch aus der Pfanne oder mit geraspeltem Eis, billig produziert oder gebraucht gekauft im Luftlinie nur einen Kilometer entfernten Nachbarland und Konsumgiganten USA.

Aber was Ciudad Juárez tatsächlich so lebenswert macht und was jede meiner Freund:innen in Gesprächen und jede:r mir bislang Unbekannte in Interviews nach kurzem Überlegen mit dem Brustton der Überzeugung anbringt – das ist die Herzlichkeit seiner Bewohner:innen. Wie in jedem deklarierten oder nicht deklarierten Kriegsgebiet, so auch in dieser einer der gefährlichsten Städte der Welt leben Menschen ihr Leben und versuchen sich nicht von Gewalt und widrigen Umständen einschüchtern zu lassen.

So viel Gewalterfahrung, harter Wettbewerb und Überlebenskampf es auch an diesem Industriestandort und Drogenumschlagsplatz unter einer sengenden Wüstensonne gibt, so gibt es auch so etwas wie ein kollektives Zusammengehörigkeitsgefühl. Nach Ciudad Juárez reist mensch mit großen Träumen und dem unbedingten Willen, sie Realität werden zu lassen. Und die große Mehrheit der Menschen in diesem Boomtown ist eines Tages zugezogen, um von Null anzufangen. So gibt es ein gemeinsames Erfahrungsmoment, trotz unterschiedlichster Herkunftsorte, Zugänge zu Ressourcen, Lebensrealitäten. Und die Gemeinsamkeit hier durchzuhalten, obwohl es so viele auf den ersten Blick schönere und unkompliziertere Domizile geben könnte.

Doch es gibt Orte und Begegnungen, die lassen sich in der Sterilität und Ordnung anderer Städte nicht so leicht finden und machen Ciudad Juárez lebens- und liebenswert, obwohl die Stadt in der Außenperspektive betrachtet so abstoßend wirkt. Die Grenzmetropole ist von ihren Ausmaßen her gigantisch. Breite Autotrassen, zementiert oder unbefestigt, große Industriegebiete und unendliche Wohnviertel mit ebenerdigen winzigen Häusern, alles in einer Zementwüste ohne viele Bäume. Staub und Sand auf allen Straßen und auch in allen Häusern. Im Zentrum der Stadt und in bestimmten Vierteln haben Militarisierung und der sogenannte »Drogenkrieg« zu einem Exodus geführt. Angehörige der oberen Schichten sind mit US-Visum ins benachbarte El Paso mit einstelliger Mordrate gezogen, Angehörige der unteren Schichten zurück in ihre Herkunftsorte in südlichen mexikanischen Bundesstaaten und auf dem Land. So stehen in gewissen Gegenden ganze Straßenzüge leer und sind dem Verfall preisgegeben. Mein Lebensgefährte ist als Wrestlingstar beruflicher Vielflieger. Wenn er beim Landeanflug auf Ciudad Juárez aufwacht und aus dem Fenster schaut, erinnert ihn das stets an eine Zukunftsvision nach einer apokalyptischen Katastrophe.

Beide lieben wir diese Stadt. Er, der hier geboren ist und als ganz normal aufwachsender Mittelschichtsjunge so viele Gewalterlebnisse schildern kann, von Morddrohungen, Mordversuchen, Verfolgungsjagden, Entführungen, dass ich als ich ihn kennenlernte, zweifelte, ob er vor mir, der im beschaulichen Bonn am Rhein groß gewordenen Kartoffeldeutschen, einfach nur angeben wollte. Ich liebe diese Stadt als Zugezogene. Öffentliche Jamsessions in abrissreifen Häusern, bis die Polizei zum dritten Mal vorbeifährt, Sonnenuntergänge auf einem Aussichtspunkt vor den Toren der Stadt, die Pärchen und Familien von der Ladefläche des Pickups aus geniessen, Wochenenden in winzigen unbedachten Wrestlingarenen, die so alt sind, dass weißhaarige Besucher:innen aus der Nachbarschaft schon als Kinder hingegangen sind, Feierabendbiere in den spektakulär schönen Sanddünen südlich der Stadt, eingerahmt von einem Panorama aus steinzeitlichen Felsmalereien und gleich daneben Wärmekraftwerk, Zementfabrik und dem Hochsicherheitsgefängnis, von dem aus El Chapo in die USA ausgeliefert wurde, Grillabende in sommerheißen Hinterhöfen mit Familie, Freund:innen und allen, die noch mitgebracht werden, die willkommende Gemeinschaft derer, die an eiskalten Frühlingssonntagmorgen in der Bergkette über der Stadt joggen, wandern, klettern oder Mountainbike fahren, Sightseeingfahrten durch die Palastanlagen der sonst hermetisch abgeriegelten Reichenviertel, als diese wegen Sicherheitsmassnahmen anlässlich des Papstbesuchs aufgemacht werden, prähispanische Schwitzhüttenrituale zur Heilung von Industriekrankheiten in einem Viertel hinter dem Flughafen, zufällige Gespräche mit Menschen, die von Begegnungen in der goldenen Geschichte des Las Vegas seiner Epoche berichten können und noch wissen, wo Che Guevara zu Mittag gegessen hat, wer Jim Morrison das Dope verkaufte und Marylin Monroe scheiden ließ, Studierende mit Dinosauriergummiköpfen, die Schlagzeug unter einer Brücke spielen, ein Capt’n-Sparrow-Imitator auf Stelzen an der Ampel, der Prediger, der mit fleckiger Tunika und filzigem Jesusbart eben jenen imitiert und jeden Tag den gleichen Platz in der Fußgänger:innenzone abschreitet und die Bibel zitiert. Als eben jener mich zu grüßen begann, die gleichermaßen bizarr wirkende große Blonde auf dem roten Chopperfahrrad, wusste ich: ich gehöre dazu.

Trotzdem bleibt für mich immer die Frage im Raum stehen, ist es politisch korrekt, dass ich über diese Stadt schreibe? Ich, die ich nicht von hier bin, auch wenn im Grunde genommen niemand von hier ist und die juarenses erwiesenermaßen »dort zur Welt kommen, wo zum Teufel es ihnen eben einfällt«, so Juan Gabriel, schwule Schlagerdiva und der berühmteste Sohn der Stadt – aber eben auch in Michoacán, Morelia, geboren. Aber es gibt eine bekannte und berechtigte Kritik am »intellektuellen Extraktivismus« in Ciudad Juárez aus den Zeiten als Journalist:innen aus aller Welt anreisten, um die schnelle Story über Tod, Leid und Gewalt zu machen. Und natürlich stellt sich auch allgemein die Frage, ob ich das Recht habe, über andere zu schreiben und ein Bild von einer Stadt viele Tausende Kilometer weiter weg zu prägen. Ich weiß es nach all den Jahren bis heute nicht. Ich hoffe aber, ich kann denen eine Stimme geben, die Unerhörtes zu erzählen, aber keine Zuhörer:innen haben; denen, die Ungaubliches er- oder überleben und selbst nicht wissen, sollen sie darüber lachen, weinen, es verschweigen oder herausschreien; denen, die Unglaubliches leisten und dafür wenig Anerkennung erhalten; denen, die so engagierte und kluge Menschen sind, dass ich mich immer wieder freue, dass sie nur eben um die Ecke wohnen. Ein paar von ihnen habe ich über die Jahre immer wieder aufgesucht, um sie zu bestimmten Themen zu befragen und sie tauchen dementsprechend auch im Buch mehrmals auf. Die im Buch mit *Sternchen markierten Namen wurden geändert, um die Anonymität von Personen zu gewährleisten, die sich in Situationen von Flucht, Verfolgung oder im Umfeld organisierter Kriminalität bewegen.

Alle leben sie in derselben Stadt und die hat irgendetwas ganz Besonderes, das schwer zu beschreiben und noch schwerer zu definieren ist und sich nur aus einem großen Puzzle aus Menschen und Situation zusammensetzen läßt, die gerade hier an dieser harschen Grenze zusammenkommen, die mir oft wie ein Brennglas globaler Dynamiken erscheint. Hier vor Ort sprechen viele davon, dass Juárez »ein Laboratorium« für sämtliche Schweinereien ist, die irgendjemand gerne ausprobieren würde: von Militarisierung bis Montageindustrie. Andererseits stranden hier immer wieder Menschen unter den unterschiedlichsten Lebensumständen und mit verschiedensten Vorhaben. Es gibt unzählige urbane Legenden, wer alles mal in dieser Stadt war. Manche von ihnen lassen sich schwer belegen. Oftmals gibt es nur Zeitzeug:innen, die es anderen weitererzählt haben, wem sie Mitte des 20. Jahrhunderts in Ciudad Juárez begegnet sind. Vielfach lassen sich keine Dokumente finden, aber hartnäckig viele Geschichten und Einzelheiten. Offen bleibt, ob die juarenses also gute Geschichtenerzähler:innen sind oder einfach viel zu erzählen haben.

›Watcha‹, wie es im spanglish, im Slang der bilingualen Grenzbewohner:innen heißt: ›Schau mal‹, hier geht’s los…

1Im Schatten der Mauer: Von Militarisierung, Migration und Schleusertum

Jenseits des Tortillavorhangs

Ciudad Juárez und El Paso trennt die hochmilitarisierte Grenze zwischen Mexiko und den USA. Die beiden Städte, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet jedoch eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsamer Alltag.

Es gibt sie wirklich. Und an diesem Abend, als wir auf dem Weg von El Paso zurück nach Ciudad Juárez waren, wurden sie sichtbar. Es waren fünf schwarzgekleidete Gestalten, die aus dem betoneingefassten Kanal des Río Bravo kamen und geduckt in Richtung Ufer, Richtung USA liefen. Vom höchsten Punkt der Grenzbrücke kann man durch den Maschendraht auf die Hügellandschaft rund um El Paso blicken. Dorthin, wo ein Stern aus Lichtern von den Felsen her nach Mexiko herüberleuchtet. Dutzende von Menschen versuchen täglich hier, im urbanen Ballungsgebiet, oder aber weiter draußen, in der Wüste, die angeblich militarisierteste Grenze der Welt zu überqueren. Klandestin und auf der Suche nach einem besseren Leben, dem nie verblassenden American Dream folgend. Dort, wo die fünf Menschen wohl durch ein Loch im ersten Grenzzaun schlüpften, waren sie nur wenige Meter von einem der weiß-olivfarbenen Jeeps der U.S. Border Patrol entfernt. Doch Fahrer und Beifahrer saßen mit dem Rücken zu ihnen und sahen sie nicht.

»Sin Frontera« – ›ohne Grenze‹ oder ›grenzenlos‹ hat jemand auf den Übergang der Güterzüge in die USA gesprüht. Während Waren jeden Tag reibungslos über Trailer und Zugschienen ins Nachbarland von Mexiko gebracht werden, ist die US-Grenze für Menschen ein schwer zu überwindendendes Hindernis. (Foto: Carolina Rosas Heimpel)

»Der Zaun dient nur dazu, diese Leute zu verlangsamen; stoppen kann er sie nicht«, gibt U.S. Border Patrol-Officer George Gómez freimütig zu, als wir am Tag darauf auf die andere Seite der Grenze zurückkehren, um das Border Patrol Museum zu besuchen. In einer Betonfestung weit außerhalb von El Paso birgt das privat geführte Museum schnittige Sportwagen, Quads und Hubschrauber der Grenzpolizei aus vergangenen Jahrzehnten neben Filmplakaten von ›Hans, dem Grenzschutzhund‹ sowie selbstgebauten Segelflugzeugen, Schuhen, deren Sohlen Kuhhufe im Wüstensand imitieren, und meterlangen Strickleitern. Die Mexikaner:innen »probierten einfach alles aus«, um in die USA zu gelangen, berichtet der Presse- und Öffentlichkeitschef der U.S. Border Patrol im Sektor El Paso. »Auch an besonderen Tagen wie an Weihnachten oder während der Superbowl versuchen viele über die Grenze zu gelangen, denn sie glauben, dass diese dann weniger bewacht ist.« El Paso ist die Wiege der im Jahr 1924 gegründeten Border Patrol. Die US-amerikanischen Bürger, die mit eigenem Pferd und Gewehr patroullierten, sollten an der Passierbarkeit der imaginären Grenzlinie zwischen Grasbüscheln und Sand auf lange Zeit nichts ändern. Die Abschottung begann erst in den achtziger Jahren und wurde mit dem 11. September 2011 zur nationalen Aufgabe erklärt.

Im Jahr 2004 wurde die Anzahl der Grenzschützer:innen im Rahmen der Geheimdienstreform und des Terrorism Prevention Act verdoppelt und beläuft sich heute auf 21.000 Personen; 1.300 von ihnen sind Frauen. Rund 80 Prozent der Beamten und Beamtinnen sind an der US-Grenze eingesetzt. Die meisten sind mexikanischstämmig, alle anderen müssen einen Sprachtest absolvieren, um besser auf Absprachen der Festgenommenen reagieren zu können. Im El-Paso-Sektor sichern knapp 300 Grenzpolizist:innen Landwege und Flussläufe. »In entlegenen Gebieten nimmt es bis zu vier Tage in Anspruch, Personen festzunehmen, die illegal die Grenze überqueren«, berichtet Gómez aus dem Arbeitsalltag. Im städtischen Raum geschehe dies innerhalb von Sekunden oder Minuten. 30 bis 40 Festnahmen führten sie pro Tag durch.

Die Militarisierung der Grenze der USA hat die Zahl der Toten bei immer riskanteren Grenzübertritten in die Höhe geschraubt, während die Illegalisierung von Migrant:innen diese den mexikanischen Drogenkartellen in die Arme treibt, die das Schleusen als lukrativen Geschäftszweig entdeckt und mittlerweile die Kontrolle der gesamten US-Grenze unter sich aufgeteilt haben. Viele Migrant:innen werden entführt oder verdursten in der Wüste. Doch einige Menschen sterben auch ganz direkt durch die Schüsse der U.S. Border Patrol, so auch in El Paso. Wie 2010, als ein 15-Jähriger sich angeblich mit Steinen gegen eine Kontrolle wehrte. Und im Jahr 2003, als Grenzpolizist:innen den unbewaffneten Patricio Peraza in vermeintlicher Notwehr direkt vor der Migrant:innenherberge Annunciation House erschossen. »Doch das Klima hat sich zum Positiven verändert«, bemerkt Caya Simmons, die dort heute als Freiwillige arbeitet. »Es gibt unzählige Menschen ohne Papiere in El Paso. Die Mehrheit der Stadtbewohner:innen sind Chicanos, sie leben erst seit wenigen Generationen auf dieser Seite der Grenze.« Als katholische humanitäre Organisation hätte das Haus ein hohes Ansehen bei ihnen. »Auch die Migrationsbehörde respektiert heute unser Haus und die Zusammenarbeit mit den Behörden ist gut.«

Das Annunciation House erscheint wie eine kleine Bastion gegen die US-amerikanische Grenzpolitik. Unweit von Downtown El Paso steht der keilförmige Backsteinbau inmitten sich kreuzender Verkehrswege. Von innen gleicht die Migrant:innenherberge einer Villa Kunterbunt, in freundlichem Mint, Limette und Lila sind die Wände gestrichen; Batikvorhänge zieren die Fensterfronten. »Humanitäre Hilfe ist niemals ein Verbrechen«, steht auf einem Plakat. Die temporären Bewohner und Bewohnerinnen aus Mexiko und Mittelamerika werden wertschätzend Gäste genannt; sie helfen in der Küche und bei Reparaturen. Die Schutzheilige Mexikos, die Jungfrau von Guadalupe, bewacht den Treppenaufgang zu den Schlafräumen, während der Keller, ein Labyrinth aus Hygieneartikeln, Kleidung, Schuhen, Rucksäcken und Schulheften, alles birgt, was die Gäste des Hauses während ihres Aufenthaltes brauchen könnten.

Adriana* grüßt alle Besucher:innen freundlich. Die junge alleinerziehende Mutter ist mit ihren drei Kindern in einem der privaten Familienräume untergebracht. Sie kommt aus dem Bundesstaat Durango. In den USA sucht sie kein besseres Leben, sondern das reine Überleben. Die Anwesenheit des Sinaloa-Kartells in ihrer Gemeinde stellte dieses täglich in Frage. Wie für sie ist in den vergangenen Jahren für viele Geflüchtete aus Mexiko die Grenze eine Sicherheit versprechende Trennlinie zu Straflosigkeit, Repression und Chaos geworden. Dennoch ist diese Sicherheit trügerisch. In Ciudad Juárez ließ sich der sogenannte Drogenkrieg nie in die Landesgrenzen verweisen. Offensichtlich wurde dies, wenn Kugeln der nahezu alltäglichen Schusswechsel in der mexikanischen Stadt über die Grenze flogen und Studierende und Lehrende auf dem Campus der Universität von Texas in El Paso bedrohen.

Weniger offensichtlich, aber von großer politischer Tragweite zeigte sich der scheinbar unkontrollierte Grenzverkehr der Aztecas, einer juarensischen Bande, die zum Killerkommando des Juárez-Kartells wurde. In den 1990er Jahren hatte dieses Kartell strategisch von der Grenzstadt aus den Kokainhandel aus Kolumbien über Mexiko in die USA auf der Mitte des Kontinents beherrscht. Auch nach dem vermeintlichen Tod seines Bosses Amado Carillo im Jahre 1997, dem spätestens durch die gleichnamige Netflix-Serie bekannten Señor de los Cielos, blieb es eines der macht- und umsatzstärksten Kartelle Mexikos. Als Ciudad Juárez 2008 vom mexikanischen Militär besetzt wurde, um diese lokal verankerten Drogenhandelsstrukturen zugunsten des regierungsnahen Sinaloa-Kartells zu zerschlagen, sollen die Aztecas als bewaffneter Arm des Kartells vor allem von El Paso aus operiert haben. Zum Morden fuhren seine Angehörigen tagsüber nach Ciudad Juárez, um abends unbemerkt in die US-amerikanische Grenzstadt zurückzukehren. Während auf mexikanischer Seite in Ciudad Juárez zu Hochzeiten der Gewalt jährlich über 3.000 Menschen starben, waren in El Paso durchschnittlich drei Mordopfer im Jahr zu beklagen.

Noch vor zehn Jahren war das Sirenenheulen der Ambulanzen und Polizeiautos in Juárez vom Dach des Annunciation House zu hören. Kurioserweise beobachteten genau ein Jahrhundert zuvor die gleichermaßen in Frieden lebenden Bewohner:innen El Pasos von den Häuserdächern aus, die Schlachten der mexikanischen Revolution. Wie damals stieg die Zahl der von der anderen Seite der Grenze Flüchtenden dramatisch an. »In den US-amerikanischen Abschiebegefängnissen vermischen sich Migrant:innen und Geflüchtete«, erklärt die Freiwillige Caya Simmons. Doch ein Asylverfahren dauert Jahre und es ist schwierig für Mexikaner:innen, Asyl zu bekommen, da die US-amerikanische und die mexikanische Regierung auf militärischer und sicherheitspolitischer Ebene eng zusammenarbeiten. »Wenn unsere Gäste ankommen, befragen wir sie, um ihre Situation zu begreifen und ihnen bestmöglich weiterhelfen zu können. Wir wollen ihnen Mut machen, in den USA ein neues Leben anzufangen.« Auf dem Dach des Annunciation House flattert die bunte Wäsche der Bewohner:innen im Wind. Im Westen der Stadt zeichnet sich der schroffe Hügelkamm Christo Rey ab. Dort, wo viele von ihnen die Grenze überquert haben. Unterhalb des Christo Rey, im juarensischen Außenbezirk Anapra, wohnen die Menschen in unmittelbarer Nähe zum Grenzzaun. Es ist eines der ärmsten Viertel von Ciudad Juárez und viele Bewohner:innen verdienen sich hier ihr Geld als Schleuser:innen. Auch für die mexikanischen Polkarhythmen, die aus den Häusern erklingen und die US-amerikanische Seite mitbeschallen, stellt der hohe Maschendrahtzaun kein Hindernis dar. Der Zaun ist für eine sportliche Person durchaus überwindbar, doch die Patrouillenwagen der Border Patrol erscheinen schnell und im Wüstensand fast lautlos, sobald sich jemand auf mexikanischer Seite dem Zaun nähert.

Weiter innerhalb der Stadt steht der martialische ›Tortilla Curtain‹, eine kompakte Wand aus 6,4 Meter in den Himmel ragenden und 1,8 Meter in den Boden versenkten rostbraunen Panzerplatten, Recyclingprodukten aus den Golf-Kriegen. Im Jahr 2008 wurde er auf einem guten Drittel der insgesamt 3.145 Kilometer umfassenden mexikanisch-US-amerikanischen Grenze errichtet. Schwarze Käfer krabbeln vor ihm durch die karge und doch bezaubernd schöne Wüstenlandschaft. Eine mexikanische Familie macht auf ihrem Tagesausflug am Zaun halt. Die grauhaarige Großmutter erzählt uns, dass noch vor ein paar Jahrzehnten Menschen den Grenzfluss Río Bravo unweit des Zentrums von Juárez und El Paso auf Flößen überquerten.

Ein Schild warnt im Zentrum von Ciudad Juárez klandestine Grenzgänger:innen davor durch den Río Bravo zu schwimmen. Im Hintergrund liegt eine riesige US-amerikanische Flagge vor der Mauer. Die Protestaktion eines Künstlers gegen die repressive Grenzpolitik. (Foto: Carolina Rosas Heimpel)

Ihr Schwiegersohn hält seine beiden Kinder an der Hand. Er berichtet, dass er als Assistent an der Universität von Juárez arbeitet. Er hat kein Visum für die USA und war noch nie auf der anderen Seite des Zauns. Seine Kinder aber sind dort geboren. Seine Frau zog die Privatkliniken jenseits der Grenze den öffentlichen Krankenhäusern Mexikos vor. Sein Chef an der Universität sei in den Jahren der Gewalt auf die andere Seite nach El Paso gezogen. Dessen Kinder wohnten wiederum bei seiner ehemaligen Frau in Ciudad Juárez. Menschliches Verwirrspiel an einer Grenze, die trennt und verbindet. »El Paso und Ciudad Juárez gehören unweigerlich zusammen«, konstatiert der Fotograf Julián Cardona, ein berühmter Chronist der mexikanischen Grenzstadt. »Die eine Stadt kann nicht ohne die andere.« Die Kleinstadt El Paso del Norte wurde mit dem Ende des US-amerikanisch-mexikanischen Kriegs 1848 zweigeteilt, ein Krieg, der die Nordstaaten Mexikos in den Süden der Vereinigten Staaten verwandelte. 1888 wurde der mexikanische Teil nach dem reformorientierten Präsidenten Benito Juárez umbenannt. Von der Schnellstraße Camino Real, die oberhalb von Juárez staubige Viertel vom Nichts der Wüste trennt, schweift Cardonas Blick auf die beiden Städte im Tal, die sich als eine große Siedlungsfläche bis zum Horizont erstrecken. Der Grenzstreifen falle von hier oben kaum auf, bemerkt er. Aus den großflächigen Wohnhäusern und Industrieanlagen ragen lediglich die Hochhäuser von Downtown El Paso heraus und das »X«: ein überdimensionales, leuchtendes, rotes X, das sogenannte Denkmal der Mexikanität, das die juarensische Stadtregierung für einen satten Millionenbetrag direkt am Grenzzaun errichtet hat. Wenn auf dem Messegelände unter dem »X« Live-Konzerte, Kirmes, Rodeo- und Wrestlingveranstaltungen stattfinden, schallt der Sound bis nach El Paso hinüber.

»Juárez war immer eine Partystadt für Grenzgänger«, erzählt Cardona. In den Zwanziger Jahren begründete die Prohibition in den USA den Boom der Cabarets und Bars in der mexikanischen »Stadt des Neon«. In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg Ciudad Juárez zum Las Vegas seiner Epoche auf. Auch während des Kalten Kriegs blieb die Stadt ein Ausgehparadies für US-amerikanische Soldaten, die von Fort Bliss in El Paso zum Kampf gegen den Kommunismus in alle Welt ausgeflogen wurden. »Die Leute in Juárez verkauften ihnen alles, von Heroin bis Marihuana. Sie stellten ihre Wohnzimmer für den Rausch zur Verfügung.« Jahrzehntelang galt die Devise: ›Sollen die Gringos doch an dem Zeug verrecken, wir behalten den Gewinn.‹ Mit der Militarisierung von Ciudad Juárez im Jahr 2008 wurde den amerikanischen Soldaten des Truppenstützpunkts verboten, die Grenze zu überqueren. Die Ausgehmeile Avenida Juárez, die direkt auf die Grenzbrücke Santa Fe führt, blieb lange Zeit verwaist. Erst seit diesem Jahr ist in Bars wie dem legendären Kentucky, wo einst der Margarita-Drink erfunden wurde, wieder Englisch zu hören.

Für juarensische Familien mit US-Visum ist und bleibt das Wochenende hingegen Chuco time. ›El Chuco‹ steht für El Paso, ein Ausdruck, dessen Bedeutung auf den einstigen großen binationalen Arbeitgeber Shoe Co(mpany) in der Stadt zurückgeht und der sich auch in der Subkultur der »Pachucos«, der Migrant:innenkids der vierziger Jahre, in der US-amerikanischen Grenzstadt widerspiegelte. Heute jedenfalls wird das Wochenende von mexikanischer Seite aus zum Shopping im US-amerikanischen Konsumparadies genutzt. Ihren maximalen Ausdruck erfährt die Chuco time am Black Friday, wenn Familien aus dem gesamten Bundesstaat Chihuahua anreisen, um am Tag nach Thanksgiving über die Grenze zu fahren und an den unbarmherzigen Auseinandersetzungen an den Wühltischen El Pasos teilzunehmen. Dann stehen die Autoschlangen an den Grenzbrücken fast still. In Ausnahmezeiten wie diesen, aber auch zum ganz alltäglichen Feierabend können Grenzbewohner und -bewohnerinnen dies- und jenseits des Río Bravo die aktuellen Wartezeiten an den verschiedenen Grenzbrücken bequem auf der Internetseite der spanischsprachigen Lokalzeitung El Diario mit Sitz in beiden Städten nachschauen. Für unzählige Familien im Ballungsraum Ciudad Juárez-El Paso sind die familiären Bande so eng, dass Visa, Aufenthaltserlaubnis und sogar Einbürgerung komplizierte, aber doch alltägliche Angelegenheiten sind. In den Zwillingsstädten ist es normal, auf der einen Seite zu leben, auf der anderen zu arbeiten oder zu studieren, auf der einen einkaufen und auf der anderen ins Fitnessstudio oder zum Friseur zu gehen.

Ein Traum für unzählige Menschen aus Mexiko, Mittelamerika und aller Welt, für die die Grenze das bleibt, als was sie von der bedeutenden Chicana-Autorin Gloria Anzaldúa beschrieben wurde: »Eine offene Wunde, wo sich die Dritte Welt an der Ersten stößt«. Währenddessen aber fließe das Blut beider Welten zusammen und forme ein drittes Land, folgerte Anzaldúa: »Borderlands«.

Das Geschäft läuft

In Ciudad Juárez rekrutieren Kartelle Minderjährige, um Drogen in die USA zu schleusen. Jenen ist das Risiko oft nicht bewusst.

Die Häuser werden ärmlicher, die Geschäfte kleiner, im Nordwesten der Stadt. Secondhandkleidung hängt zum Verkauf an den Hauswänden, Wohlstandsmüll aus den USA wird für ein paar Pesos auf dem Bürgersteig feilgeboten. Die Hauptverkehrsstraße Municipio Libre verwandelt sich in eine Serpentinenstrecke, die in die Sierra de Juárez hinaufführt. In die Berge ist ein Schriftzug gemalt, von überall sichtbar: »Lies die Bibel, Juárez, sie sagt die Wahrheit«.

Straßenszene in der mexikanisch geprägten Grenzstadt El Paso, Texas, die Zwillingsstadt von Ciudad Juárez, Chihuahua. (Foto: Carolina Rosas Heimpel)