Courage - Katharina Stemberger - E-Book

Courage E-Book

Katharina Stemberger

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Beschreibung

Courage heißt, mit dem Herzen handeln. Das geht aber nicht alleine, dafür muss man in Beziehung treten: Am besten mit jemandem, der zeigt, wie man aufsteht und – wenn es notwendig ist – widerspricht. Wie man seine Stimme erhebt und nicht immer mitmacht, nicht immer mitlacht. Auch wenn es unbequem ist. Dafür braucht es Vorbilder: in der Familie, im Freundeskreis, in der Öffentlichkeit. Katharina Stemberger hatte diese Vorbilder und wurde schon sehr früh selbst ein couragierter Mensch – ohne dabei jemals die Selbstironie zu verlieren. In ihrem ersten Buch erzählt sie, warum Haltung und Meinung so wichtig sind. Was sie geprägt hat, wofür sie steht, was sie aufregt und was ihr egal ist. Ermutigend, witzig, und warmherzig!

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Seitenzahl: 104

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Für meinen Vater

Inhalt

Mut fassen

Prinzessinnen müssen nichts tun, weil sie schön sind

Väter und Helden

Es sind die vielen, die einen Unterschied machen

„Lies doch mal Adorno!“

„Mutti, wo ist Kolumbien?“

Angst, Freiheit, Vertrauen

In dieser Nacht waren wir Hunderte – Budapest 2015

Hinschauen

Sei ein Mensch und meine es

„Okay, und was mach’ ma jetzt?“

Orden des Teelöffels

Heute nicht

Anna*:

Ich bin nicht

so laut wie du.

Katharina:

Ich bin laut?

Anna:

Ja.

Katharina:

Ich bin

nicht laut.

Anna:

Doch, sicher.

Jemand muss

laut sein.

* Anna ist die einundzwanzigjährige Tochter von Katharina Stemberger. Die kleinen Dialoge sind während des Schreibens an diesem Buch entstanden. Danke, Anna!

Die Zeit steht still. Als ob der Sekundenzeiger der großen Uhr an der Wand, aus dem Konzept gebracht, erschreckt den Atem angehalten hätte.

Ich blicke ihm in die Augen. Auffallend blau, denke ich mir, als ob ich bis zu dem Moment nie wirklich hingeschaut hätte. Stahlblau. Nicht angenehm, starr und im nächsten Moment überrascht.

Wir sind beide überrascht, nur Augenblicke hintereinander, zuerst ich und dann er.

Ich zittere am ganzen Körper, die Füße in den obligatorischen Filzpatschen fest am Boden. Die Ledersohlen, die vom täglichen Über-die-Gänge-Flitzen speckig und rutschig geworden sind, haben sich in Saugnäpfe verwandelt. Von den Knien aufwärts vibriere ich, aber diese Basis scheint unverrückbar, hält mich am Platz, damit ich nicht vielleicht doch noch wegrenne.

Etwas in mir ist außer sich und gleichzeitig ganz nah an mir dran.

„Hör auf damit, hör auf, hör sofort damit auf!“

Die ersten Worte fast leise, mehr gefaucht als gehaucht, aber mit jeder Wiederholung lauter, trittfester.

Ich wurde in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Während ich das schreibe, stelle ich fest, dass diese Tatsache einem Mädchen, das Mitte der 1970er-Jahre in die zweite Klasse Volksschule ging, vollkommen egal war. Was mein Leben viel mehr beeinflusste, war der Umstand, dass sich meine Eltern früh getrennt hatten und ich ab meinem zweiten Lebensjahr von meinem Stiefvater und meiner Mutter erzogen wurde. Damals war eine Patchworkfamilie noch relativ exotisch. Meine Mutter hatte den Namen meines Stiefvaters angenommen und ich und meine beiden Schwestern behielten den Namen unseres Vaters.

Diese scheinbare Kleinigkeit – dass meine Mutter nicht den gleichen Familiennamen hatte wie ich – machte mich damals in der Schule und im Freundeskreis zu einer Kuriosität. Ganz besonders wenn man im 14. Wiener Gemeindebezirk, knapp an der Grenze zum noblen 13., in einem kleinen Biedermeierhäuschen aufwuchs.

Ich soll ein sehr fröhliches Kind gewesen sein, freundlich, plaudrig. Als jüngstes von drei Mädchen kam ich in eine Familie, in der alle Mitglieder scheinbar schon ihre Plätze bezogen hatten und – aus meiner Perspektive – sehr mit sich beschäftigt waren. Meine beiden Schwestern, vier und sieben Jahre älter, hatten ihre eigenen Interessen und Freundeskreise, meine Mutter verfolgte neben Kindererziehung und Haushalt intensiv ihre Ausbildung zur Sängerin, mein Stiefvater verdiente sein Geld als zweiter Hornist bei den Wiener Symphonikern und verbrachte viel Zeit in seiner Kompositionsklause im 18. Bezirk.

Mein leiblicher Vater hatte bereits eine neue Familie gegründet und war für mich wie eine Legende. Man sprach nicht über ihn, ich sah ihn kaum, er war mir fremd, nicht greifbar. Das blieb lange so.

Der Schultag hatte begonnen wie jeder andere. Meine Volksschule war ein funkelnagelneuer Siebzigerjahre-Bau. Funktional, blaue Fassade, mit fast leuchtend blauen Querelementen. Nicht wahnsinnig schön, aber modern. Innen roch es nach Zukunft, Fortschritt, Chancen für alle. Hell, viele Fenster, überall geflieste, graue Böden. Heimelig ist anders.

Meine Volksschullehrerin, eine begnadete Pädagogin, eine Respektsperson, die jedes Kind förderte, schaffte es, mit viel Empathie auf die verschiedenen Charaktere einzugehen. Jeder und jede wurde gesehen.

Wir hatten Kinder aus Jugoslawien und ein türkisches Kind im Klassenverband. Das war was Besonderes damals. Irgendwie wurde uns vermittelt, dass es unser aller Aufgabe sei sicherzustellen, dass sie schnell Anschluss fänden. Ihre Besonderheit wurde uns zum Ansporn. Ohne das damals so zu nennen, wurden wir Integrationsspezialisten und -spezialistinnen. Dazu gehörte auch, sie bei ihren Familien zu besuchen. Das tat ich und verstand sofort viel besser, was das Problem dieser Kinder war.

In diesem bunten Haufen war auch er, ich nenne ihn Franz. Er war der typische Halbstarke: laut, lockerer Spruch, frech, manchmal fast charmant, aber eben nur fast. Blonde Haare, blaue Augen, groß für sein Alter und kräftig. Er wohnte mit seiner Familie im nahen Gemeindebau und er strahlte ein Versprechen aus: „Wenn ihr euch mir anschließt, dann seid ihr sicher. Außerdem habe ich Dinge gesehen und gehört, von denen ihr keine Ahnung habt. Verbotene Dinge.“ Das war natürlich anziehend. Und auch wieder nicht.

Franz hatte eine kleine Schar ergebener Anhänger, nur Buben. Sie alle waren kleiner und schwächer. Sie echoten seine viel zu lauten Sprüche, mit denen er in den Pausen und nach der Schule um sich warf, wie die Wände einer Kathedrale. Ich beobachtete diese Truppe über Wochen und ich fand sie eher lächerlich und anstrengend – damit war ich nicht allein. Vermutlich war fehlende Aufmerksamkeit der Grund, weshalb sie ihr Betätigungsfeld erweiterten.

Unterhalb der Schule, die auf einer kleinen Anhöhe stand, gab es einen schmalen Weg unter Bäumen, dunkel und ein wenig einsam, besonders während der Wintermonate. Jeden Tag musste ich da durch, weil es die schnellste Möglichkeit war, die nächste Gasse zu erreichen. Es war ein Abschneider, der, obwohl ich mir das nie eingestanden habe, ein wenig Mut brauchte.

Nach der Schule wurden die Kinder entweder abgeholt oder machten sich allein auf den Heimweg. Franz und die Seinen prahlten damit, dass sie nicht nach Hause müssten, dass sie tun könnten, was sie wollten, sie hingen vor der Schule herum und begannen damit, Jüngere, Schwächere, Brillenträgerinnen, Sommersprossenbesitzer, rundliche Geschöpfe und solche mit fast nichts auf den Rippen zu beschimpfen, ihnen ein Bein zu stellen, dabei zuzuschauen, wie sie sich wieder aufrappelten, und dabei vor Vergnügen zu johlen. Obwohl ich aus dieser „seltsamen Familie“ stammte, traf mich sein Spott nie direkt, aber es war klar, dass wir uns nicht mochten. Einen Tag vor dem bewussten Tag hatte ich in der Schule den mir verhassten Handarbeitskoffer vergessen und lief noch einmal zurück. Ich hastete fluchend den schmalen Weg entlang, trat aus den Bäumen, die den Weg säumten, heraus und wurde Zeugin der letzten Momente einer offenbar unhübschen Szene. Ein zarter, kleiner Bub raffte weinend seine Schultasche und sein Turnsackerl zusammen, fummelte sich schniefend die Brille auf die Nase und lief gebückt in meine Richtung. Ich fragte, was passiert sei, er drückte sich wimmernd an mir vorbei, sagte nichts, aber er roch nach Scham und Angst. Als ich den Blick wieder hob, sah ich noch, wie die Bande rund um Franz mit lautem Geheul davonsprang.

Ich versuche mich zu erinnern, welcher Wochentag es war, ich glaube, ein Dienstag. Ja, da hatte ich immer Handarbeiten. Klebrige Finger, die versuchten zu sticken oder die Wolle in einen Topflappen oder, noch schlimmer, einen Klorollenüberzug zu verwandeln. Dienstag.

Der nächste Schultag begann wie jeder andere. Nicht ganz: In der ersten Pause war der Vorfall, den ich beobachtet hatte, Gesprächsthema unter den Kindern. Der kleine Bub von gestern war auch da, seine Brille an einem Bügel mit Klebeband provisorisch repariert. Alle wussten, was passiert war.

In der großen Pause, als die Bande auf das Opfer des vorherigen Tages traf, schaukelte sich die Situation auf. Im Nu hatte sich ein Wassergraben aufgetan. Auf der einen Seite Franz mit seiner Gefolgschaft und auf der anderen Seite der Bub und einige andere Kinder, Brillenkinder, Sommersprossenkinder, rundliche Kinder, ausländische Kinder, ganz dünne und blasse Kinder. Ich, das Kind aus der komischen Familie, war auch dabei. Aggression lag in der Luft, Beleidigungen flogen, Franz hatte seinen großen Auftritt: Wortreich erzählte er allen, wie erbärmlich und feig sich der kleine Bub gestern davongestohlen hätte. Ein Gruppe von Mädchen, die gerade dabei waren, die Choreografie von John Travolta aus Grease zu üben – links hoch, rechts hoch, drehen und zurück hoch –, hübsche Geschöpfe mit Kleidern und Lipgloss, kam interessiert dazu. Manche kicherten, manche hatten einen vollkommen unbeteiligten Gesichtsausdruck, kauten übertrieben auf Kaugummis herum, taten so, als ob sie das nichts anginge oder sie gar nicht da wären. Der kleine Bub, eingefroren in seiner Scham.

Nirgends ein Erwachsener, der diesem Spuk ein Ende machten könnte. Wir waren auf uns allein gestellt. Ich wusste, dass Franz im Fall des Falles zuschlagen konnte, und das kräftig. Ich hatte Angst. Bis auf die durchaus auch körperlich ausgetragenen Auseinandersetzungen mit meiner Schwester Julia kannte ich Schmerz jenseits von Unfällen und Krankheit nicht. Ich war ein Mädchen, das gehörte nicht zum Programm. Ich war einen Kopf kleiner als Franz. Da es zu keiner Gegenwehr des Opfers kam und auch sonst keiner was sagte, sah es so aus, also ob Franz die Eskalation weitertreiben würde, zumindest mit Fußtritten oder Anspucken. Um seine Macht zu untermauern.

Ich musste etwas tun!

Jetzt!

„Hör auf damit, hör auf, hör auf, hör sofort damit auf!“

Die Zeit steht still. Ich bin ganz nah bei ihm, fast intim. Ich zucke nicht. Erwarte einen Schlag. Durch meinen Kopf rasen Gedanken. Werde ich zurückschlagen? Kann ich das? Wo muss ich ihn treffen? Wird Blut fließen? Wann ist es vorbei? Wird es sehr wehtun?

Er schaut mich an wie eine Außerirdische. Hier ist was falsch. So funktioniert das System nicht. Das ist ein Regelbruch. Du bist ein Mädchen. Du kannst nicht mein Gegner sein. Das geht so nicht.

Die Pausenglocke läutete. Etwas hatte sich verändert. Ich hatte etwas verloren, aber auch etwas gewonnen.

Katharina:

Erst bin ich grantig. Dann

beschäftige ich mich mit

dem, was mich grantig

macht. Dann sag ich was.

Anna:

Derzeit gibt’s viel. Womit

willst du anfangen?

Katharina:

Wurscht. Es muss

nur um ein bissl

mehr gehen als um

Haferchino.

Draußen regnet es. Gefühlt seit einer Woche. Nebelschwaden im Hochsommer. Dunkle Holzbalken, fast schwarz, es riecht nach Rauch. Irgendwo im Hintergrund Familie. Ich höre sie, spüre ihre Anwesenheit und gleichzeitig sind sie weit weg.

Vor mir kostbares weißes Papier, noch habe ich genug Blätter, aber es darf nicht schiefgehen.

Es beginnt immer mit dem Umriss, einem „U“. Die Farbe heißt „fleischfarben“. Merkwürdig, unangenehm, aber Rosa passt auch nicht. Dann zwei leere Fischformen ohne Schwanz, „hellbraun“, möglichst gleich groß und auf gleicher Höhe. Meistens blaue Iris, „hellblau.“ Meine Mutter hat blaue Augen, aber nicht hellblau. Ich bin unzufrieden mit der Auswahl der Filzstifte. Wie soll das was werden, wenn man immer nur Hell oder Dunkel von einer Farbe hat? Dunkelblau habe ich schon einmal versucht, geht gar nicht. Keine Wimpern, aber Augenbrauen über den Fischen. Klarer Strich, „dunkelbraun“. Nase: zwei Punkte. Jetzt ganz wichtig: rote Lippen, geschwungene Oberlippe in Herzform. „Hellrot“ ist in dem Fall zufriedenstellend.

Ohren erscheinen mir nicht wichtig, viel wichtiger sind die Haare, oft blond, fast immer lang, mit Spangen, Schleifen. Manchmal eine Krone. Schultern, steif abstehende Armen ohne Ellbogengelenke, die in fünf Finger münden. Hände sind schwierig. Von den Achseln führen zwei brustlose Bögen zu einer Wespentaille. Jetzt das Wichtigste: der Rock, üppig, bunt, kostbar. Das Muster heute: Girlanden in allen Farben. „Wenn ich nur Gold hätte“, denke ich. Die Füße muss man zeichnen, irgendwie lästig, so wie Hände und Ohren und Nase. Nun gut, Stiefletten, im 180-Grad-Winkel nach außen gedreht.

Ich betrachte meine heutige Prinzessin, ich habe schon viele gezeichnet. Prinzessinnen sind edel, weil schön. Sie müssen nichts tun, weil sie schön sind. Sie können nichts tun, weil sie schön sind. Alles wird gut.

Unsere Sommerferien verbrachten wir zu großen Teilen in Bregenz und Umgebung, weil mein Stiefvater als Mitglied der Wiener Symphoniker bei den Bregenzer Festspielen im Orchester spielte. Das waren sehr schöne Wochen, zwischen Bergwanderungen (die ich nicht so mochte), Schwimmen im See und später, als wir schon ein bisschen älter waren, den beeindruckenden Opernaufführungen auf der Seebühne.

Aber diese Sommertage wurden oft von langanhaltenden Regengüssen begleitet. Halbe Tage, ganze Tage. Wir konnten nicht raus. Fadesse breitete sich in dem nicht allzu großen Quartier aus wie ein schlechter Geruch. Irgendwann waren die Bücher auch langweilig, es gab keinen Fernsehapparat (auch bei uns zu Hause nicht – eine bewusste Entscheidung meiner Mutter und meines Stiefvaters), also begann ich mehr als in Wien zu zeichnen. Prinzessinnen. Sie waren lieblich, schön, passiv. Diese Perfektion beruhigte mich. Sie schienen kein Leben außerhalb der Zeichnung zu haben, sie hatten es nicht nötig. Ich trug diese Prinzessinnen-Idee als tiefe Überzeugung in mir drin. Ein Erfolgsmodell! Aber das Leben, das ich rund um mich beobachtete, hatte so gar nichts davon. Ich sah keine Edlen, weder Frauen noch Männer, nur auf der Bühne. Ja, dort waren Edle in schönen Kleidern, tolle Haare, sie bewegten sich anmutig, aber den Umstand, dass sie dabei sangen, fand ich irritierend.