Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Traumwelten sind gefährlich – besonders, wenn der Mann, der dein Herz gebrochen hat, der einzige ist, der dich dort hinführt. Kendra Nox, Elitesöldnerin des Gremiums, erhält einen neuen Auftrag. In den Träumen lauert eine neue, unaufhaltsame Bedrohung: Wendigos, die Jagd auf die Traumwandler machen. Ihr Auftrag ist klar – sie muss diese Kreaturen stoppen. Doch der Plan hat einen Haken: Lennox Tristan Fraser, ein mächtiger Traumwandler, fordert ihre Hilfe. Die beiden haben eine gemeinsame Vergangenheit, die Kendra tief verletzt hat. Lennox, der sie einst im Stich ließ, ist nun ihre einzige Unterstützung in den Traumwelten. Obwohl sie ihn nie wieder sehen wollte, bleibt ihr keine Wahl. Nur er kann sie in die Traumwelten führen. Doch je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto mehr bröckeln die Mauern, die sie um ihr Herz gebaut hat. Je tiefer sie in die Traumwelten eindringen, desto klarer wird: Die Wendigos sind nur die Spitze des Eisbergs. Ein dunkler Plan zieht sich durch die Schatten, und selbst das Gremium, ihre Auftraggeber, scheinen nicht mit offenen Karten zu spielen. Wird Kendra in der Lage sein, die Bedrohung aufzuhalten, oder war ihr gesamtes Leben eine Lüge, und alles, was sie kennt, ist nur ein Kartenhaus, das jederzeit droht zusammenzubrechen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 729
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Claudia Rack
Umschlag: © 2025 Copyright by Linda Grießhammer Herzkontur – Buchcover & Mediendesign
Verantwortlich für den Inhalt:
Claudia Rack
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehaltenKein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlegers oder Autors in irgendeiner Form reproduziert werden.
Mit zwölf lernte ich den Umgang mit einem Dolch. Mit vierzehn beherrschte ich den Schwertkampf. Und mit achtzehn gehörte ich zu den Elitesöldnern des Gremiums. Mein Antrieb besteht einzig darin, mir den Stolz und die Anerkennung des Gremiums zu sichern, sodass ich zu den besten Elitesöldnern zähle. Meine Aufgabe ist es, die Welt von den Monstern zu befreien, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Wir arbeiten im Verborgenen und dies ist meine Geschichte.
Glasgow, East End
Der hartnäckige Wind umspielte meine langen Haare und einzelne Strähnen versperrten mir die Sicht auf mein Ziel. Jedes Mal kniff ich die Augen kurz zusammen, sobald eine Haarsträhne sich darin verstecken wollte. Es war ein Reflex. Ich ließ mich nicht davon abbringen, das vertraute grüne Dach der gotischen Kathedrale vor mir zu betrachten. Das letzte Mal als ich davor stand, war vor zwei Jahren gewesen. Ich hoffte, mir blieb eine längere Zeitspanne, bis ich hierher kommen musste. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, mir Mut zuzureden. Ich muss einfach nur durch den Eingang gehen und mich den sechs Gesichtern stellen, die mich herbeigerufen hatten. Die Nachricht, die ich von ihnen erhielt, erreichte mich gestern. Die Dringlichkeit war nicht zu überlesen. Kurz angebunden stand nur ein Satz auf dem Zettel. Einberufung – brich deinen Einsatz ab. Das ungute Gefühl, dass mich seitdem beschlich, konnte ich beim besten Willen nicht abstellen. Nun stand ich hier und rang mit mir. Ich war eine Einzelgängerin und ich hasste nichts so sehr, wie den Umstand, dass man mir befahl, was ich wie zu tun hatte. Doch wenn das Gremium rief, war Gehorsam unabdingbar. Kein Wunder, dass ich übel gelaunt war. Ich nahm einen tiefen Atemzug und straffte meinen Oberkörper, bevor ich meine Füße vorwärts bewegte. Sobald ich vor dem Eingang stand, griff ich zum antiken Türgriff, bestehend aus Gusseisen. Als ich ihn herunterdrückte, ließ sich die schwere Tür öffnen und ich trat ins Innere des Gebäudes ein. Auf dem ersten Blick sah der erste Raum der Kathedrale normal aus. Es gab links und rechts Holzbänke, die in einer Reihe standen und sich bis zum vorderen Teil erstreckten, wo in der Regel ein Priester seinen Gottesdienst abhielt. Meine Schritte führten mich vorwärts, bis ich am Altar ankam und nach rechts abbog. In der hinteren Ecke befand sich eine Tür, die ich ansteuerte. Für die Menschen, die hier zum Gottesdienst einkehrten, fiel sie nicht auf. Oder sie nahmen mit Sicherheit an, dass diese Tür zu den hinteren Räumen des Pfarrers und seiner Mitarbeiter gehörte. Ich wusste es besser. Sobald ich den nächsten Raum betrat, wurde ich von der darin herrschenden Dunkelheit erdrückt. Wandfackeln an der Mauerwand spendeten ein wenig Licht, genauso wie eines der Oberfenster auf der rechten Seite. Doch der Raum war so weitläufig, sodass es eindeutig mehr Licht benötigte, um alles genau erkennen zu können. Ich überquerte den langen dunklen Gang und sah mich nicht um. Den Blick starr nach vorn gerichtet, donnerte mein Herz immer unruhiger in meiner Brust. Die nächste Doppeltür, die aus massivem dunklen Holz bestand, war die letzte Station, die mich von meinem Ziel trennte. Ich zögerte nicht und öffnete die Tür, sobald ich sie erreichte. Als ich eintrat, stach mir sofort die Empore ins Auge, die einen Halbkreis in diesem Saal bildete. Sechs Stühle standen hinter der Empore und jeder einzelne von ihnen war besetzt. Die Köpfe der drei Frauen und der drei Männer, die auf den Stühlen saßen, schossen in die Höhe. Sechs Augenpaare fixierten mich. Ihre ernsten Mienen wirkten geheimnisvoll und ich konnte bestätigen, dass jede Einzelne dieser Personen genau das war. Ich wusste bis heute kaum etwas über sie. Dennoch hatten sie das letzte Wort. Das Gremium. Die Einberufung sprachen sie aus. Und wenn sie das taten, obwohl man noch in einem Einsatz war, war es definitiv dringend. Ich schritt nach vorn, bis ich meinen Kopf ein wenig anheben musste, um sie ansehen zu können. Das Gremium war äußerlich unterschiedlich, doch eines hatten sie alle gemeinsam. Jeder von ihnen trug eine silberne Kette mit demselben Anhänger. Das Symbol des Gremiums, ein unikursales Hexagramm. Ich trug dieses Symbol ebenfalls an mir, nicht in Form einer Halskette. Mein unikursales Hexagramm versteckte sich in meinem Nacken, in Form eines Brandmales. Jedes Mitglied des Gremiums trug so ein Brandmal. Doch nur die Elitesöldner, so wie ich, trugen zusätzlich noch ein Tattoo in Form einer Halbsichel. Die Söldner durften die Positionen des Brandmales und des Tattoos am Körper bestimmen. Ich hatte für die Halbsichel mein rechtes inneres Handgelenk gewählt. Ich achtete darauf, dass es nicht allzu groß wurde. Ich war nicht sonderlich erpicht darauf, dass Fremde es sofort in Augenschein nahmen und mir dumme Fragen zur Bedeutung stellten. Letztendlich ging es bei der Bedeutung um die Ernte. Für uns Elitesöldner bezog es sich auf die Jagd auf Monster und übernatürliche Wesen. Wer dieses Symbol trug, hatte sich als Elitesöldner einen Namen gemacht. Ich richtete meinen Blick auf den Mann, der in der Mitte thronte, und nickte ihm leicht zu. Die Hände hinter meinem Rücken verschränkt, stand ich breitbeinig da und wartete darauf, was mir die Mitglieder des Gremiums zu sagen hatten. Leander sah mich mit seinen hellblauen Augen an. Seine breiten Schultern stachen deutlich hervor. Er war muskulös und trug ein schwarzes Hemd. Die oberen Knöpfe standen offen, sodass ich einen Blick auf seine gebräunte Haut darunter erhaschen konnte. Sein Alter konnte ich nicht ansatzweise einschätzen. Das ging mir bei den Mitgliedern des Gremiums mit allen so. Hinzu kam, dass ich bis heute nicht wusste, was genau sie darstellten. Es wurde unter den Söldnern viel gemunkelt, ob einiges davon der Wahrheit entsprach, war mir unbekannt.
»Kendra Nox«, hallte seine tiefe Stimme durch die Halle. Er erwiderte mein Nicken nur kurz und ließ meinen Namen absichtlich nachklingen. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mich dadurch besser fühlte. Anmerken ließ ich mir das nicht. Ich streckte meinen Kopf in die Höhe und stand weiterhin stolz da.
»Du bist der Einberufung gefolgt«, sprach Leander weiter. »Wir dachten, du würdest dich weigern.« Sein tadelnder Blick nahm mich von oben bis unten in Augenschein. Als sein Mundwinkel kurz zuckte, hätte ich schwören können, dass er meinen Aufzug missbilligte. Ich trug einen meiner liebsten Lederanzüge. Pechschwarz, eng anliegend und auf der Brust prangte das Symbol des Gremiums. Hatten sie angenommen, ich würde in einem Kleid vor ihnen erscheinen? Nonsens! Das war nicht mein Stil. Außerdem war der Anzug bestens dafür geeignet, meine Waffen zu transportieren. An meiner rechten Hüfte prangte mein Silberdolch. Auf der linken Seite trug ich meine Waffe. Mein allseits geliebtes Schwert hatte ich in meiner Bleibe belassen. Normalerweise trug ich es im Schwerthalter an meinem Rücken. Meine Füße steckten in schweren schwarzen Boots. Als ich bemerkte, dass seine Musterung von mir abgeschlossen war und seine Augenbraue nach oben schnellte, gestattete ich mir, die anderen näher zu betrachten. An der rechten Seite von Leander saß Racquel. Sie war dunkelhäutig, hatte schwarze lange Haare, die sie überwiegend in Flechtfrisuren zur Schau stellte. Ihre braunen Augen wirkten sanft und beruhigend. Doch ich wusste, dass der Schein trügen konnte. Links von ihm saß Pearl. Sie war eine Schönheit mit ihren langen blonden Haaren und den stechenden blauen Augen. Sie bevorzugte Hochsteckfrisuren, um ihre Haare zu bändigen. Die dritte Frau des Gremiums saß links außen. Yasmin hatte rote lange Locken, die sie meist offen trug. Ihre braunen Augen wirkten wissbegierig. Die anderen beiden Stühle wurden von Cyrus und Navid besetzt. Cyrus war der größte unter den männlichen Mitgliedern. Mit ein Meter zweiundneunzig überragte er die anderen. Seine schlanke Statur hatte er sicher seiner Körpergröße zu verdanken. Ich kannte ihn nur mit dieser strengen Miene, die er gefühlt niemals ablegte. Er hatte dunkle Augen, die einen durchdringend anschauen konnten, bis man den Blick senkte, nur um seinem Blick ausweichen zu können. Seine Haare waren schulterlang und schwarz. Navid war aus meiner Sicht der Sympathischste von ihnen. Er hatte dunkelblonde kurze Haare, braune Augen und eine Narbe zierte seine linke Gesichtshälfte. Die Ausstrahlung dieser sechs Personen war beeindruckend. Ich kannte bei Weitem nicht alle ihre Hintergründe oder Geheimnisse. Aus meiner Sicht war das vielleicht besser so.
»Wir haben dich einberufen, da es Zeit wird, dass wir uns einem Problem stellen.« Leander verschränkte die Hände auf dem Tisch vor sich ineinander und beugte sich weiter vor. »In letzter Zeit kam es vermehrt zu Angriffen, die uns beunruhigen. Es geht um ein Wesen, welches sich ausschließlich auf Träume konzentriert. Wir können unsere Augen nicht mehr davor verschließen, denn die Menschen beginnen in Panik auszubrechen oder nach den Verursachern zu suchen. Bisher sind die Vorkommnisse nicht über Glasgow hinaus aufgetreten. Aber wir sind der Überzeugung, dass dies nur eine Frage der Zeit ist.«
Die anderen Mitglieder nickten zustimmend. Ich hatte aufgehorcht, als es um die Menschen und ihre Träume ging. Das war ein Thema, was wir zwingend vermeiden wollten. Niemand sollte von uns oder unserer Arbeit erfahren. Nur so war gewährleistet, dass das Gleichgewicht zwischen dem Übernatürlichen und den Menschen bestehen blieb. Doch wenn es ein Wesen gab, dass Jagd auf die Menschen machte, war das beunruhigend. Ich überlegte fieberhaft, um welches Wesen es sich handeln könnte. Ich hatte bisher nichts von solchen Übergriffen gehört, doch das musste nichts heißen. Das Gremium war Meister darin, Spuren zu verwischen. Meine Neugier war geweckt. Ob das gut war oder nicht, lasse ich mal so stehen.
»Diese Wesen dringen in die Träume der Menschen ein. Sie nisten sich wie ein Parasit in die Köpfe der Menschen ein und verursachen Chaos. Im Endeffekt infizieren sie das Hirn und hinterlassen eine Spur, die von Wahnsinn geprägt ist. Der Mensch hält dies nicht lange durch und droht durchzudrehen. Im schlimmsten Fall greifen sie andere Menschen an. Doch sie töten diese Menschen nicht nur, sondern sie ernähren sich von ihnen.« Leander spannte sich sichtlich an, als er mir die Erklärung lieferte.
Ich hörte ihm aufmerksam zu und zweifelte. Gab es so ein Wesen? Ich hörte zum ersten Mal davon. Vielleicht handelte es sich einfach nur um Menschen, die ihren Verstand verloren und zu solchen Taten griffen. Woher wussten sie, dass es ein übernatürliches Wesen war? Leander muss meine Zweifel bemerkt haben, denn er lächelte mich wissend an. Ich drückte den Rücken durch und verkniff mir einen Kommentar.
»Ich dachte mir, dass du es hinterfragen würdest, Kendra. Ich gebe dir recht, es ist ungewöhnlich und wir hatten bisher mit nichts Vergleichbarem zu tun. Nach langer Überlegung sind wir auf eine Erklärung gestoßen. Du wirst sie nur aus Legenden kennen oder vom Hörensagen.«
»Du solltest unvoreingenommen sein und deine Zweifel beiseiteschieben«, sagte Racquel, die mich genau beobachtete. Bei ihr kam es mir immer so vor, als ob sie empathische Fähigkeiten besaß. Ihre gerade getätigte Äußerung bestätigte meinen Verdacht.
»Wir reden von Wendigos«, schaltete sich Cyrus ein. »Es ist die einzige logische Schlussfolgerung.«
Mein Blick richtete sich auf Cyrus. Ich räusperte mich, bevor ich den Mund aufmachte. »Wendigos? Ernsthaft? Das ist eure Erklärung dafür?«, fragte ich zweifelnd. »Das sind Märchen oder Geistergeschichten, die uralt sind. Niemand hat bisher einen echten Wendigo zu Gesicht bekommen. Seid ihr sicher?« Ich verschwieg absichtlich, dass ich nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie zum Teufel ich einen Wendigo aufhalten sollte. Ich konnte schlecht in Träume spazieren und Jagd auf ihn machen. Nonsens! Ich hatte so ziemlich alles Übernatürliche gesehen und dagegen gekämpft, wenn das erforderlich war, aber ein Wendigo war etwas anderes.
Navid lachte leise und erntete damit einen tadelnden Blick von Cyrus, sodass er sofort eine ernste Miene aufsetzte. Seine braunen Augen funkelten weiterhin belustigt über meine Reaktion.
»Wir sind sicher, Kendra. Wir haben uns einen der Tatorte angesehen und alles weist auf Wendigos hin.« Leander blieb standhaft und ließ sich von meinen Zweifeln nicht besinnen. Es hätte mich gewundert, wenn ich zu ihm durchdringen würde. Ich runzelte die Stirn, sah kurz zu Boden, bevor ich ihn direkt ansah. »Also schön, Wendigos. Nehmen wir an, ich stimme euch zu. Wieso bin ich hier? Ich bin keine Traumwandlerin. Ich kann nicht in die Träume von Menschen eindringen und der Spur eines Wendigos folgen.«
Cyrus grinste süffisant und sah kurz zu Leander. Sein Blick wirkte so, als ob er sagen wollte »habe ich es dir nicht gesagt«. Auf mich wirkte es zusätzlich so, als ob er mich nicht für fähig hielt, diese Aufgabe zu erfüllen. Das wurmte mich. Ich presste den Mund wütend zusammen und unterdrückte einen passenden Kommentar. Die Worte von Pearl bestätigten meine Vermutung, dass das längst nicht das Schlimmste an dieser Einberufung war.
»Das wissen wir, Kendra. Aus diesem Grund haben wir uns Unterstützung geholt. Oder besser gesagt für dich. Es ist uns bewusst, dass du eher allein vorgehst, aber dieses eine Mal müssen wir darauf bestehen, dass du mit jemanden zusammen arbeitest.«
Ich riss die Augen auf und öffnete geschockt den Mund, um ihn direkt wieder zu schließen. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Nonsens! Niemals! Nicht mit mir! Ich schüttelte den Kopf und konnte mein freches Grinsen nicht aufhalten, obwohl ich wusste, dass es sie verärgern würde. »Auf keinen Fall! Ich will keinen Partner an meiner Seite haben, wenn ich in den Kampf ziehe. Das habe ich euch von Anfang an gesagt, als ich in eure Dienste eingetreten bin. Sucht euch dafür einen anderen Deppen!«, spie ich ihr entgegen.
Innerhalb von Sekunden lief Pearls Gesicht rot an. Ihre Körperhaltung versteifte sich bei meinem Ausbruch und sie musste an sich halten, um nicht auf mein Niveau einzusteigen. Das war mir so was von egal. Ein Partner hielt mich nur unnötig auf. Außerdem vertraute ich niemanden, außer mir.
»Ich bin mir sicher, dass du deinen kleinen Ausbruch bereust«, sagte Cyrus missbilligend und schnalzte mit der Zunge.
Ich warf einen kurzen Blick auf Pearl, die mich mit ihren blauen Augen erdolchte. Ihre Gunst hatte ich verloren. Zumindest für den Augenblick. Innerlich seufzte ich gequält auf. Ich war sprachlos und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Eine Entschuldigung? Nonsens! Ich würde mich nicht für meine Worte entschuldigen. Es war meine Meinung.
»Also schön, am besten beruhigen wir uns erst einmal, in Ordnung?«, sagte Navid und sah seine Mitstreiter eindringlich an. Sein Blick richtete sich auf mich und er lächelte freundlich, als er zu mir sprach. »Kendra, es ist dein gutes Recht, diesen Auftrag abzulehnen, wenn du das möchtest. Ich appelliere an deinen Verstand und dein Können. Deine langjährige Erfahrung und dein Ehrgeiz sind jetzt gefragt. Da sollte der Umstand, dass du lieber allein arbeitest, außen vor sein, meinst du nicht?«
Gott, konnte Navid immer schon so manipulierend daher reden? Dann auch noch seine melodiöse Stimme, die hypnotisierend wirkte. Ich schluckte und nickte ihm zu. Doch sie durften nicht von mir verlangen, dass ich mit Worten zustimmte. Das war einfach zu viel. Ich spürte, dass egal, was ich sagen würde, nichts daran ändern würde. Die Entscheidung stand längst fest, sonst hätten sie nicht nach mir gerufen und sich direkt an einen der anderen Elitesöldner gewandt. Trotzdem fragte ich mich, wieso ausgerechnet ich? Navid sah mich wissend an. Sein Blick schwenkte zu Leander, der darauf hin das Wort ergriff.
»Anfangs hatten wir an jemand anderen gedacht, das geben wir zu, Kendra. In letzter Zeit vermehren sich diese Angriffe nicht nur gegenüber der Menschen. Wie es aussieht, sind auch die Traumwandler betroffen. Und das ist weitaus verheerender. Einer von ihnen ist den Wendigos auf der Spur und er hat ausdrücklich nach dir verlangt.« Seine hellblauen Augen richteten sich auf einen Punkt hinter mir. Ich war längst hellhörig geworden, als er davon sprach, dass jemand nach mir verlangte. Meine Neugier siegte und ich drehte mich halb um, um seinem Blick zu folgen. Zuerst konnte ich nicht viel erkennen, bis das vertraute Geräusch eines Feuerzeuges erklang und die Stichflamme die dunkle Ecke für einen Sekundenbruchteil erhellte. Ich riss die Augen auf, als ich ihn erkannte. Alles in mir sträubte sich dagegen. Er zog an seiner Zigarette, sodass das Endstück aufglühte. Sein belustigter Blick lag auf mir und sein höhnisches Grinsen untermalte seine Reaktion nur noch. Diese Augen konnte ich nicht vergessen. Ich wusste sofort, von wem die Sprache war. Sie waren außergewöhnlich und strahlten in einem grün-grauen Farbton. Immer schon hatte ich gedacht, dass seine Augen mystisch aussahen. Doch das hatte ich niemals laut erwähnt. Als er mir zur Begrüßung zunickte, versteifte ich mich. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, ein Bein angewinkelt, sodass er seinen Fuß als Stütze nehmen konnte. Ich schluckte, als mir bewusst wurde, wer mein Partner bei diesem Auftrag sein sollte. Niemand anderer als Lennox Tristan Fraser. Ein viel zu attraktiver, gut gebauter Traumwandler. Sein Oberkörper war übersät mit Tattoos, die sich bis zu seinem Hals erstreckten. Ich konnte in diesem Augenblick nicht viel von ihnen erkennen, da er eine schwarze Lederjacke trug. Aus meinen Erinnerungen wusste ich genau von ihnen. Ich hatte vermutet, dass ich ihn niemals wiedersehen würde. Der Schock, dass dem nicht so war, saß tief. Als mir bewusst wurde, dass er ausdrücklich nach mir verlangt haben musste, runzelte ich skeptisch die Stirn. Was sollte der Mist? Was bezweckte Lennox damit? Ich wandte mich wütend von ihm ab und starrte Leander fassungslos an. Die Hände zu Fäusten geballt, musste ich an mich halten, um nicht aus dem Saal zu stürmen. Mein giftiger Blick richtete sich direkt auf Leander. »Ist das euer letztes Wort?«, spie ich aus.
Leander betrachtete mich mitfühlend und ich glaubte, einen Seufzer von ihm zu hören. »Das ist es. Du wirst mit Lennox an diesem Auftrag zusammen arbeiten, Kendra. Er ist der einzige Traumwandler, der als Söldner tätig ist. Er ist zwar nicht direkt uns unterstellt, aber er kennt sich bestens mit Wendigos aus. Er kann dir helfen, mit diesen Wesen fertig zu werden. Nimm seine Hilfe an, das ist mein Rat an dich!«
Ich quälte mich zu einem stummen Nicken und wirbelte auf dem Absatz herum. Als ich den Rückweg antrat und ich an Lennox vorbei musste, bemerkte ich seinen wissenden Blick und sein überhebliches Grinsen. Ich reckte den Kopf empor und würdigte ihn keines weiteren Blickes.
Sobald ich aus der Kathedrale heraus war, inhalierte ich die frische Luft. Als ob mich das Schicksal verhöhnen wollte, sah ich sein Motorrad. Es stand am Straßenrand. War es mir vorhin nicht aufgefallen oder war Lennox später aufgetaucht? Ich konnte es immer noch nicht glauben. Zum ersten Mal, seitdem ich als Elitesöldnerin des Gremiums arbeitete, gefiel mir ein Auftrag nicht. Ich war immer stolz darauf gewesen, eine der erfahrensten Kämpferinnen von ihnen zu sein. Doch Lennox war ein spezielles Thema. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich ihn ständig an meiner Seite aushalten sollte. Ich setzte mich in Bewegung und steuerte meinen Wagen an, den ich zwei Straßen weiter geparkt hatte. Als mein schwarzes Baby zum Vorschein kam, lächelte ich erfreut. Meine Corvette war mein ganzer Stolz. Ich besaß sie seit mehr als zehn Jahren und sie hatte mir stets gute Dienste geleistet. Sie war loyal, schnell und nahm mich so, wie ich bin. Das wusste ich zu schätzen. Natürlich ist mir bewusst, dass es sich nur um ein Auto handelte. Aber mein Baby war für mich mehr als das. Uns verband eine lange Zeit miteinander und viele gefährliche Einsätze. Ohne sie hätte ich das eine oder andere Mal nicht gesiegt oder wäre den Feinden in die Hände gefallen. Also ja, sie war mir wichtig. Von daher ließ ich niemand anderen ans Steuer. Als ich einstieg und mich hinters Steuer setzte, fuhr ich mit den Händen zärtlich um das Lederlenkrad. »Na Baby, hast du mich vermisst?« Was würde ich darum geben, wenn sie mit mir sprechen könnte? Ich schüttelte den Kopf und startete den Motor. Sobald die Vibration durch meinen Autositz fuhr, schloss ich genüsslich die Augen und genoss den Moment. Das klang wie Musik in meinen Ohren. Das Kribbeln auf meiner Haut berauschte mich. Herrlich! Ich öffnete die Augen und schaltete in den Rückwärtsgang, um auszuparken. Ich warf einen letzten Blick auf die Kathedrale im Rückspiegel und beschleunigte das Tempo. Die neugierigen Blicke von Passanten, die sich nach meinem Auto umdrehten, ignorierte ich. Als ich an der ersten Ampel ankam und diese auf Rot umschaltete, bremste ich scharf ab. Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad und wurde ungeduldig. Aus dem Seitenwinkel bemerkte ich eine Bewegung, sodass ich nach rechts sah. Niemand anderer als Lennox hielt neben meinem Baby an und drehte den Kopf zu mir. Sein schwarzer Helm verdeckte seinen Kopf, seine Augen starrten mich an. Ich kniff die Augen zusammen und umschloss das Lenkrad mit den Händen fester. Ich hätte schwören können, dass er ein breites Grinsen aufsetzte. Mein Blick folgte seiner Handbewegung, als er etwas Gas gab und der Motor seines Motorrades aufheulte. Es war klar, was er damit ausdrücken wollte. Es war eine Herausforderung, die er aussprach. Sein Ernst? Mein Baby würde ihn mit links schaffen, dachte ich so bei mir. Ich nahm die Herausforderung an und tippte das Gaspedal nur leicht an. Der Motor meiner Corvette heulte auf und ich setzte ein breites Lächeln auf. Als die Ampel auf Grün schaltete, hielt mich nichts mehr auf. Ich trat das Gaspedal durch und preschte nach vorn über die Kreuzung. Ich überholte Lennox haushoch, aber im Rückspiel konnte ich erkennen, dass er nachsetzte. Ich schaltete in einen höheren Gang und beschleunigte, dicht gefolgt von Lennox und seinem Motorrad. Ich lachte laut und behielt ihn im Rückspiegel im Auge. Zum Glück war vor uns keine weitere Ampel in Sicht, sodass ich gut aufholen konnte. Glaubte er, dass er es mit meinem Baby aufnehmen konnte? Nonsens! Ich sah mich als Siegerin dieses Rennens. Ich wurde übermütig und übersah einen Fußgänger, der gerade vor mir die Straße überquerte. Im letzten Moment stieg ich voll auf die Bremsen und mein Baby kam abrupt zum Stehen, sodass ich durch die Bremswirkung nach vorn gedrückt wurde. Ich fluchte laut, obwohl der Passant mich nicht hören konnte. Er sah nur kurz zu mir, schüttelte den Kopf und schlenderte seelenruhig weiter. Ich zischte wütend. In diesem Augenblick hielt Lennox neben meinem Wagen an. Sein Visier vom Helm ging hoch und er hob seine rechte Hand. Er zeigte mir mit einem frechen Zwinkern den Mittelfinger, bevor er Gas gab und mich überholte. Ich konnte nicht losfahren, da der Passant vor mir immer noch im Schneckentempo vorwärtslief. Ich fluchte und boxte mit der flachen Hand auf mein Lenkrad. »Mist!«, zischte ich wütend. Ich verfolgte mit den Augen den Passanten, als ob ich ihn einzig mit meinem Blick auffordern konnte, sich zu beeilen. Es waren wenige Sekunden, mir kam es viel zu lange vor. Lennox war vor mir nicht mehr zu sehen. Er hatte die Situation schadenfroh ausgenutzt. Dieser Mistkerl! Gut, ich musste gestehen, dass ich es genauso gehandhabt hätte. Trotzdem wurmte es mich, dass er den Sieg durch diesen Patzer erlangen würde. Endlich war der Passant vor mir verschwunden und ich nahm die Verfolgung von Lennox auf. Nach einigen Metern sah ich ihn vor mir und grinste. In der Annahme, dass er weiterfuhr, überraschte Lennox mich, indem er rechts abbog und auf einen Imbiss zusteuerte. Ich grübelte, ob ich ihm nachsetzen sollte oder nicht. Ich könnte weiterfahren und mich nicht darum scheren. Herrgott ja, ich war versucht, genau das zu tun. Doch mein Pflichtgefühl drang mich regelrecht, ihm zu folgen. Ich seufzte und parkte meine Corvette direkt neben seinem Motorrad auf dem Parkplatz. Lennox hatte den Helm in der Zwischenzeit abgenommen und ihn auf dem Sitz abgestellt. Er lehnte mit dem Hintern an seinem Motorrad, die Arme vor der Brust verschränkt und die Füße übereinandergeschlagen. Lässig stand er da und wartete geduldig auf meine Ankunft. Jetzt, wo er nicht mehr in der dunklen Ecke der Kathedrale stand, konnte ich sehen, dass er eine Jeans trug und unter seiner Lederjacke ein weißes Shirt. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich mich durchringen konnte, auszusteigen. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen sollte. Die Begegnung mit ihm war mir unangenehm. Von meiner Nervosität ganz zu schweigen. Lennox hatte immer eine seltsame Wirkung auf mich ausgeübt. Doch ich musste mich nur daran erinnern, wie wir das letzte Mal auseinandergegangen waren und schon kroch die Wut in mir hervor. Ich schüttelte den Kopf und gab mir einen Ruck. »Lass dich einfach nicht von ihm provozieren«, sagte ich zu mir, als ich ausstieg und die Corvette umrundete. Absichtlich hielt ich etwas mehr Abstand zu ihm. Im Nachhinein konnte ich nicht sagen, weshalb das so war. Vielleicht fühlte ich mich dadurch sicherer. Keine Ahnung. Lennox sah mich direkt an und lächelte belustigt. Ich wagte es nicht, ihm direkt in die Augen zu schauen. Wenn ich das tun würde, bekäme ich kein vernünftiges Wort zustande. Ich tat so, als ob ich die Gegend genauer in Augenschein nahm. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen an meinem Hintern, nur damit sie etwas zu tun hatten. »Was tun wir hier?«, fragte ich gelangweilt.
»Ich habe Hunger. Also dachte ich mir, es ist Zeit für einen kleinen Snack«, antwortete er sofort.
Ich richtete meine Augen auf sein Gesicht. Er wollte jetzt ernsthaft einen Happen essen gehen? Mit mir? Das war so ungewöhnlich, dass ich auflachen musste. Mein Blick fiel auf sein schwarzes kurzes Haar, dass leicht gewellt war. Der Helm hatte es ein wenig durcheinandergebracht, sodass ihm eine Strähne in die Stirn fiel. Ich tadelte mich, als ich daran dachte, dass es ihm stand. Schnell wandte ich den Blick ab und sah mir den Imbiss genauer an. Durch die Fenster konnte ich erkennen, dass wenig Besuch herrschte. Lennox stieß sich von seinem Motorrad ab, griff nach seinem Helm und steuerte die Eingangstür an. Er riss die Tür auf und sah mich abwartend an. Ganz Gentleman hielt er mir die Tür auf. Als ich mich nicht rührte und ihn verständnislos ansah, sah er kurz zu Boden, bevor er mich direkt ansah. »Ich beiße nicht«, meinte er grinsend.
»Pfff«,kam es aus meinem Mund, bevor ich zielstrebig und mit erhobenem Kopf auf ihn zuging. Absichtlich achtete ich darauf, nicht mit ihm in Berührung zu kommen, sobald ich an ihm vorbeiging. Das Innere des Imbisses wirkte gemütlich und der typische Geruch von Fast Food drang mir in die Nase. Ich blieb stehen und sah nach rechts und links, um einen Platz auszuwählen. Zu spät bemerkte ich, dass Lennox aufrückte und direkt hinter mir stehen blieb. Viel zu nahe für meine Verhältnisse. Sein warmer Atem kitzelte in meinem Nacken. Ich bekam Gänsehaut und versteifte mich augenblicklich. Mein Herz pumpte gefühlt doppelt so schnell in meiner Brust. Als er sich noch weiter vorbeugte, bis sein Mund an meinem Ohr lag, zwang ich mich, ruhig zu bleiben.
»Deine Entscheidung«, sprach er in mein Ohr.
Alles in mir kribbelte und der Schauer, der mich überfuhr, machte mich sprachlos. Ich hatte vergessen, was für eine Wirkung seine Nähe auf mich hatte. Das war nicht gut. Seine Worte schienen von etwas anderem zu sprechen als die blöde Platzauswahl. Doch ich ging nicht darauf ein und nickte, bevor ich mich direkt nach links wandte und die erste Sitzecke an einem der Fenster wählte. Ich ließ mich auf der weinroten Lederbank nieder und beobachtete ihn dabei, wie er mir gegenüber Platz nahm. Lennox zog die Lederjacke aus und entblößte damit seine muskulösen Oberarme. Sofort sprangen mir noch mehr seiner Tattoos ins Auge. Ich schluckte und riss mich von seinem verführerischen Anblick los. Machte er das mit Absicht? Du meine Güte, wo dachte ich hin? Ich musste zwingend damit aufhören. Die ganze Situation überforderte mich dermaßen, sodass ich einfach nur noch verschwinden wollte. Die Worte des Gremiums kamen mir in den Sinn und zwangen mich, sitzen zu bleiben. Ich hatte keine andere Wahl. Ich war froh, als die Kellnerin an unseren Tisch kam und ihren Notizblock zückte.
»Was darf es sein?«, fragte sie monoton.
»Ich nehme einen doppelten Burger mit extra Käse und ein Bier« ,antwortete Lennox direkt.
Die Kellnerin schrieb seine Bestellung auf und nickte. Als sie den Kopf hob und mich direkt fragend ansah, bemerkte ich sofort, dass sie Kontaktlinsen trug. Ihre dunklen Augen wirkten dadurch größer, ein typisches Anzeichen. Ihre leicht ergrauten Haare waren zu einem Dutt gebunden und sie trug eine Jeans und ein schwarzes Shirt. Auf ihrer Brust prangte der Name des Imbisses in roter Schrift.
»Mir reicht eine Cola, danke«, bestellte ich für mich. Ich konnte jetzt keinen Bissen herunter bekommen.
»In Ordnung, falls sie doch noch etwas essen möchten, geben sie mir Bescheid«, meinte sie und verließ unseren Tisch.
Ich ließ meinen Blick schweifen und konnte nur zwei besetzte Tische ausmachen. An einem der Tische saßen zwei Männer. An dem anderen saß ein Paar. Aus den Lautsprechern der Musikanlage lief irgendein Popsong, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Ich schwor mir, dass ich, sobald ich in meinen vier Wänden war, etwas Alkoholisches genehmigen würde. Doch da ich noch fahren musste, verzichtete ich momentan darauf. Obwohl mir ein wenig Alkohol guttun würde. Zumindest den strapazierten Nerven.
»Also, du glaubst nicht an Wendigos?«, fragte Lennox.
Ich sah zu ihm. Er lehnte sich zurück, bis sein Rücken mit der Lehne in Berührung kam. Seine rechte Hand lag auf dem Tisch und er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. In seiner linken Hand spielte er mit seinem silbernen Feuerzeug. Er kam mir nervös vor. Das war ungewöhnlich für ihn. Meine Skepsis erwachte. »Ich habe niemals zuvor einen gesehen oder von ihnen gehört, bis auf Legenden. Du etwa?«
Er schmunzelte belustigt und dachte über meine Worte nach. »Mir sind sie nicht unbekannt. Als Traumwandler hat man öfter mit ihnen zutun, als du denkst. Allerdings sind sie bisher nie so vorgegangen. Sie hielten sich eher bedeckt.«
Ich nickte und ließ mir seine Erklärung durch den Kopf gehen. Ich sollte mich schnellstens an den Gedanken gewöhnen, dass es Wendigos gab. Immerhin würde ich gegen sie vorgehen müssen. Ich beugte mich vor und stützte mich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab. »Wie schlimm ist es?«
Lennox spannte sich an und sah mir direkt in die Augen. Genau das, was ich vermeiden wollte, trat ein. Wir verstummten und verloren uns in den Augen des jeweils anderen. Ich wollte es wirklich, ich wollte den Blick abwenden, es gelang mir einfach nicht. Es schien so, als ob er mich mit seinen geheimnisvollen Augen festhielt und mich beeinflusste, damit ich nicht wegsah. Oder täuschte das nur? Bildete ich mir das nur ein? Desto länger der Blickkontakt mit ihm anhielt, desto wärmer wurde mir. Ich schluckte und presste die Beine unter dem Tisch zusammen. Gott, wenn er mich so durchdringend ansah, konnte ich nicht mehr klar denken. Er senkte zuerst den Blick und ließ mich frei. Ich atmete erleichtert durch.
»Schlimm genug, sonst wäre ich nicht hier, Kendra. Sie haben viel zu lange gewartet, wenn du mich fragst. Ich kann nicht sagen, mit wie vielen wir es zu tun haben. Ich bin mir sicher, dass es mittlerweile nicht mehr nur ein Wendigo ist, von dem wir sprechen.«
Das leuchtete mir ein. Das Gremium wirkte angespannt, wenn ich so darüber nachdachte. Außerdem war es mehr als ungewöhnlich, dass sie einen Traumwandler hinzuzogen. Normalerweise vermieden sie es, mit unabhängigen Söldnern zu arbeiten. Erst recht, wenn es um einen Söldner ging, der über besondere Fähigkeiten verfügte. Das war mehr als seltsam. Doch ich behielt diesen Gedanken für mich. Ich würde auf seine Hilfe angewiesen sein. Ich sollte es mir nicht unnötig mit ihm verscherzen. Dieser Auftrag war eine Herausforderung für mich. Ich hatte mich niemals einer Herausforderung widersetzt. Dafür war ich viel zu ehrgeizig und stolz. Bevor ich etwas erwidern konnte, brachte die Kellnerin unsere Bestellung. Wir bedankten uns bei ihr und Lennox griff als Erstes zur Bierflasche, um einen Schluck daraus zu nehmen. Dann ließ er sein Feuerzeug los und griff mit beiden Händen zum Burger, den er zu seinem Mund führte. Er biss hinein und stöhnte genüsslich auf. Ich unterdrückte ein Lächeln und fand es urkomisch, ihn so zu sehen. Ein Traumwandler der Fast Food mochte. Ich aß zwar ab und zu Fast Food, aber ich bevorzugte da eher Pommes oder einen Cheeseburger. Nicht so ein monströses Teil, welches er gerade verschlang. Als ich ihn beobachtete, schossen mir unzählige Fragen durch den Kopf. Doch im Moment hielt ich sie zurück. Ich wollte nicht, dass Lennox erfuhr, dass ich mir Gedanken über seinen Werdegang machte. Seine Anwesenheit reichte mir aus, sodass die Erinnerungen, die ich so lange verschlossen hatte, emporkrochen.
Glasgow, Bezirk Pollokshields – 2011
Als ich in Haggs Castle ankam, war ich elf Jahre alt. Dieser Ort sollte zukünftig mein Zuhause werden. Die Augenpaare, die sich bei meiner Ankunft auf mich richteten, behagten mir nicht. Es waren Kinder in meinem Alter und einige ältere Mädchen und Jungen, die hier lebten. Ich konnte ihre Neugier auf mich in ihren Augen lesen, gepaart mit Missgunst und Neid. Dabei hatte ich noch nicht einen Fuß in die Tür gesetzt. Mit mir kamen fünf weitere Kinder an, alle aus einem angrenzenden Waisenhaus ausgesucht und für würdig empfunden. Wofür genau war mir noch nicht klar. Die Heimleiterin meiner letzten Bleibe sagte mir nur, dass es etwas Besonderes sei, wenn man für die Ausbildung in Haggs Castle ausgewählt wurde. Mich beschlich eher das Gefühl, dass mir eine harte Zeit bevorstand. Als ich auf das große braune Eingangstor sah, wirkte das Anwesen wie eine normale Burg eines Adligen. Die Burg an sich war ein Turmhaus in L-Form. Sobald ich durch das Tor ging, dicht gefolgt von den anderen Neulingen, wurde mir bewusst, dass hier weitaus mehr geschah als anfangs vermutet. Ich landete auf einer Art Vorplatz. Überall, wo ich hinsah, gab es Übungsplätze und einzelne Stationen, die wie ein Parcours wirkten. In einer Ecke standen Schießscharten für das Bogenschießen. Auf der gegenüberliegenden Seite trainierten gerade einige Kinder mit echten Waffen, was mich schockiert innehalten ließ. Der Junge hinter mir bemerkte es zu spät und rempelte mich an, sodass ich nach vorn stolperte.
»Pass doch auf, du blöde Kuh«, schrie er mich an und stieß mich unsanft beiseite, um mich zu überholen. Ich starrte ihm wütend hinterher. Bevor ich etwas erwidern konnte, lenkte mich das Geräusch von klatschenden Händen hinter mir ab. Ich drehte mich um und sah einen breitschultrigen Mann. Er hatte schulterlanges blondes Haar und strahlte Gefahr aus. An seiner Hüfte prangte ein Schwert und er trug einen dunkelbraunen Kampfanzug.
»Legt eine kurze Pause ein«, rief er den anderen zu, die eifrig beim Üben waren. Sofort stoppten sie und drehten sich zu ihm um.
»Heute bekommen wir Zuwachs. Begrüßt unsere Neuankömmlinge und helft ihnen, sich zurechtzufinden. Ich möchte keine Widerworte hören oder irgendwelche Geschichten über Aufnahmerituale. Verstanden?« Seine kräftige Stimme hallte über den Platz und ich zuckte bei dem Wort Aufnahmerituale merklich zusammen. Sofort dachte ich an nur eines: Ich will nicht hier sein.
»Weitermachen!«, brüllte er. Das Klingen der Schwerter, die aufeinandertrafen, setzte ein und niemand interessierte sich länger für uns. Niemand, bis auf den blonden Mann hinter mir, der näher an uns herantrat und jeden von uns mit langem Blick begutachtete. Ich fühlte mich wie ein Objekt, das begutachtet wurde.
»Ich zeige euch jetzt eure Schlafgemächer. Richtet euch ein! Abendessen gibt es im Esszimmer in der untersten Etage. Morgen früh beginnt euer Training. Also ruht euch die Nacht gut aus, bevor es losgeht«, meinte er zu uns und schritt auf eine Tür zu unserer Linken zu. Eifrig folgten wir ihm. Was blieb uns anderes übrig? Das Erdgeschoss bestand insgesamt aus zwei großen Kammern und einer Küche mit Kamin. Einer der großen Räume musste das Esszimmer sein, denn hier reihten sich Holzbänke und Tische in mehreren Reihen. Die andere große Kammer schien eine Art Besprechungssaal zu sein. Ich erkannte beim Vorbeischlendern nur einen großen Schreibtisch, dahinter einen gepolsterten Stuhl und an den Wänden hingen antike Waffen. Es blieb keine Zeit für eine längere Erkundung, denn der blonde Mann vor uns steuerte die Wendeltreppe vor uns an.
»Haggs Castle besteht aus vier Stockwerken«, fing er an zu erklären, als er die Stufen emporstieg. »Das oberste Stockwerk ist für euch tabu. Dort liegen die Privatgemächer eurer Ausbilder. Eure Schlafgemächer befinden sich im Stockwerk direkt darunter. In der Mitte haben wir die Bibliothek und die Schulungsräume für den theoretischen Unterricht. Und in der ersten Etage sind Gemeinschaftsräume, die in eurer Freizeit genutzt werden dürfen. Jedes eurer Zimmer besitzt ein Badezimmer. Es gibt keine Gemeinschaftswaschräume, wie ihr das aus dem Waisenhaus kennt. Jeder von euch ist angehalten für die Sauberkeit eurer Zimmer zu sorgen, das schließt das Beziehen der Betten mit ein«, betonte er. Anscheinend nahmen einige der Schüler dieses Thema nicht so genau. Als wir in der dritten Etage ankamen, der Bereich, wo unsere Gemächer lagen, sah ich am Ende der Treppe nach rechts und nach links. Der Gang war mit einem weinroten Teppich ausgelegt. An den weißen Wänden hingen einzelne Gemälde von Personen, die ich nicht kannte. Sie waren schick gekleidet und ich vermutete, dass sie adlig gewesen sein mussten. Sowohl rechts, als auch links gab es Türen. Bei der fünften Tür auf der rechten Seite hörte ich auf zu zählen. Der Gang war riesig und so weitläufig, dass ich nicht sagen konnte, wie viele Zimmer es waren. Jede Tür sah identisch aus. Unser Führer wandte sich direkt nach links. Nach einigen Schritten und mehreren verschlossenen Türen blieb er stehen und drehte sich zu uns um. »Eure Zimmer sind die letzten fünf Türen auf dieser Seite. Ein Schild mit eurem Namen an der Tür weist euch darauf hin, welches euer Zimmer ist. Geht und richtet euch ein!« Er starrte auf die große Wanduhr, die in der Mitte der Wand hing. »Euch bleiben noch genau zehn Minuten bis zum Abendessen.« Mit diesen Worten nickte er uns zu und ließ uns zurück. Wir fünf sahen uns nur kurz an, bis jeder von ihnen nach seinem Namensschild an der Tür suchte. Ich hatte meins bereits entdeckt. Mein Zimmer war das letzte an der linken Seite. Ich legte die Hand auf den Türgriff, drückte ihn herunter und trat vorsichtig ins Zimmer. Ich sah ein Einzelbett mit einem Holzgestell. Eine graue Matratze lag darauf, auf ihr ein Stapel mit frischer Bettwäsche. Links an der Wand stand ein zweitüriger Schrank. Vor ihm stand mein Koffer, der meine persönlichen Sachen beherbergte. Jemand musste ihn ins Zimmer getragen haben. Geradezu fiel mir eine angelehnte Tür auf, die ich ansteuerte. Ich sah kurz hinein und stellte fest, dass das mein Badezimmer war. Es war klein, spärlich ausgestattet mit einer einfachen Dusche, einem Waschbecken und einer Toilette. Wenigstens hing über dem Waschbecken ein Spiegel. Die Wände bestanden aus grauen Fliesen, es wirkte monoton auf mich. Ich würde mich nicht beschweren. Ich hatte die Gemeinschaftswaschräume im Waisenhaus gehasst. Von daher war ich froh, etwas Privatsphäre genießen zu können. Bevor ich mich auf den Weg zum Essenssaal machen wollte, warf ich einen kurzen Blick in den Kleiderschrank. Anstatt ihn leer vorzufinden, prangte mir eine Uniform entgegen. Sie bestand aus einer dunkelbraunen Stoffhose, einem grauen Hemd und dunklen Stiefeln. Auf dem Hemd prangte ein Symbol in Form von zwei ineinander verschlungenen Schwertern. Mir war aufgefallen, dass die Schüler beim Training dieselbe Uniform trugen. Ich mochte es nicht sonderlich, wenn man mir vorschrieb, was ich anzuziehen hatte. Von daher verzog ich mürrisch den Mund und knallte die Schranktür frustriert zu. Mit Wut im Bauch ging ich zum Abendessen. Ich war nicht erpicht darauf, den anderen erneut zu begegnen. Nicht nach diesen Blicken, die sie mir zugeworfen hatten. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich fügte mich, obwohl alles in mir sich dagegen sträubte. Hunger verspürte ich genauso wenig. Da ich nicht wusste, wann es das nächste Mal etwas zu Essen gab, würde ich einen Bissen zu mir nehmen. Als ich den Essraum betrat, waren sämtliche Tischreihen besetzt. Die anderen vier Jungs, die mit mir angekommen waren, hatten sich in einer Gruppe versammelt und saßen an einer Tischreihe am linken Ende des Raumes. Als ich meinen Blick dorthin begab, sahen sie mich stoisch an. Ich spürte sofort, dass ich nicht willkommen war. Ich war das einzige Mädchen von den Neuankömmlingen. Ich versuchte gar nicht erst, auf ihren Tisch zuzugehen. Ich entschloss mich, Zeit zu schinden, indem ich als Erstes zur Warteschlange an der Essensausgabe ging. Falls ich keinen freien Platz fand oder niemand von den Mitschülern mich bei sich haben wollte, würde ich nach draußen gehen. Ich war es gewohnt allein zu sein und hatte oft unter freiem Himmel gegessen. Es machte mir nichts aus. Die korpulente Frau hinter dem Tresen, die zu mir sprach, bemerkte ich zuerst nicht, da ich so in Gedanken war. Sie hielt eine Kelle in der Hand und öffnete den silbernen Deckel eines Kochtopfes. Qualm und der Duft von Fleisch schlug mir entgegen.
»Hähnchen oder Rind?«, fragte mich die Frau mit der Kochschürze. Ich sah sie irritiert an und wählte das Huhn. Sie ließ die Kelle in den Topf eintauchen und schöpfte eine Kelle von dem Inhalt heraus. Auf einem Teller landete mein Essen. Es roch zwar nach Hühnerfleisch, aber es sah aus wie zusammengewürfelte Hühnerstreifen mit irgendeiner Soße. Dazu gab es ein wenig Reis. Ich rümpfte die Nase und verspürte noch weniger Hunger. Als sie mir den Teller über den Tresen reichte, bedankte ich mich höflich und drehte mich um. Erneut nahm ich die Tischreihen in Augenschein, doch niemand beachtete mich. Ich seufzte leise und wandte mich zum Ausgang. Weit kam ich nicht, denn ein Fuß stellte sich mir in den Weg. Bevor ich reagieren konnte, stolperte ich darüber und fiel der Länge nach auf den Boden. Mein Teller schepperte laut, sobald er auf dem Steinboden auftraf, und das Essen verteilte sich nach allen Seiten. Einiges von dem Hühnerfleisch landete in meinen Haaren und die Soße verteilte sich auf meinem Gesicht. Die Hände auf dem Boden abgestützt, konnte ich den Sturz abfangen. Ich hörte das Gelächter der anderen Schüler und presste die Augen fest zusammen. Als ich mich langsam aufrichtete, prustete der Verursacher neben mir laut los. Ich sah auf den Schuh, dem ich alles zu verdanken hatte und erkannte, dass es zu einer Mitschülerin gehören musste. Ich sah auf und direkt in ihr schadenfrohes Gesicht. Sie hatte blaue Augen, die sie direkt auf mich richtete, und lange blonde Haare. Sie trug einen Zopf und amüsierte sich über meinen Sturz. Das hätte mich nicht gestört. Doch das alle mit in das Lachen einstimmten und sich mit ihr verbündeten, verursachte einen Stich in meinem Herzen. Ich zog mich hoch und funkelte sie böse an. Doch sie ließ sich davon nicht irritieren. Sie reckte das Kinn in die Höhe und schnalzte mit der Zunge. Ich schätzte sie in meinem Alter.
»So einen Tollpatsch können wir hier nicht gebrauchen«, prahlte sie lauthals, sodass es jeder hören konnte. Erneut brach Gelächter um mich herum aus. Ich drückte den Rücken durch, hob den Kopf in die Höhe und würdigte sie keines Blickes mehr, als ich losging. Als ich am Eingang ankam, bemerkte ich einen Jungen, der am Türrahmen lehnte. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte er mich ungeniert an. Ich war von dem Anblick seiner ungewöhnlichen Augen so perplex, dass ich kurz anhielt, und vergaß weiterzugehen. Niemals zuvor hatte ich so eine Augenfarbe bei jemanden gesehen. Sie waren grün-grau und erstrahlten in so einem intensiven Ton, dass er unmöglich ein normaler Junge sein konnte. Perplex schüttelte ich den Kopf. Als unsere Blicke sich begegneten, hätte ich schwören können, dass er Mitleid mit mir hatte. Doch er blieb stehen, sagte keinen Ton und kam mir nicht zu Hilfe. Ich kniff die Augen zusammen, als er lächelte. Vermutlich gefiel ihm meine Reaktion auf ihn. Doch das war mir egal. Er unternahm nichts und stand einfach nur da. Das konnte ich nicht gebrauchen. Er brauchte sich nichts darauf einbilden, dass mich seine Augen durcheinanderbrachten. Ich wandte den Blick sofort von ihm ab und rauschte mit hoch erhobenen Kopf an ihm vorbei. Ich steuerte sofort den Haupteingang an und rannte nach draußen. Dankbar für die frische Luft nahm ich einen tiefen Atemzug und sammelte mich. Meine Ankunft hier verhieß nichts Gutes für meine Zukunft in diesen vier Wänden. Das war mir nach dieser Aktion bewusst. Tapfer hielt ich meine Tränen zurück. Ich durfte keine Schwäche vor ihnen zeigen. Dann bekamen sie genau das, was sie damit anstrebten. Ich hätte keine weitere ruhige Minute mehr vor ihnen, wusste ich. Doch es fiel mir alles andere als leicht. Die Erniedrigung fraß sich in mein Herz und ich speicherte sie tief in meinem Kopf ab. Eines Tages würde ich zurückschlagen. Das nahm ich mir felsenfest vor. Ich hatte einige Waisenhäuser hinter mir und kannte die Spielchen. Es gab immer jemanden, der es auf einen abgesehen hatte. Entweder man ergab sich dem Schicksal und litt weiter. Oder man sammelte Kraft und den Mut, um zurückzuschlagen. Ich war nicht dafür gemacht, es einfach hinzunehmen. Dafür war ich zu stolz. Ich schlenderte zur gegenüberliegenden Mauer, die mir bis knapp zur Hüfte reichte. Sie umzäunte den Vorplatz und lockte mich zu sich. Ich kletterte darauf und setzte mich rittlings darauf. Mit den Fingern fischte ich das Essen aus meinen Haaren und warf es fluchend auf den Boden. Ich wickelte das Ende meines Oberteils um die Hand und wischte mir damit die Soße aus dem Gesicht. Als ich Schritte vernahm, die sich näherten, blickte ich auf. Meine Augen wurden größer, als er direkt auf mich zukam. Skeptisch spannte ich mich an. Sein eindringlicher Blick legte sich auf mich und er stellte sich direkt vor mir breitbeinig auf. Seine Hände verschwanden in seinen Hosentaschen. Als sein Blick auf die Fleischstücke auf dem Boden fiel, lächelte er amüsiert. »Es wird besser werden«, meinte er zu mir und sah mich an.
Ich runzelte die Stirn, bevor ich den Kopf schüttelte. »Nein, das wird es nicht. Wenn du das glaubst, hast du absolut keine Ahnung, wie das sonst abläuft.« Ich wandte den Blick von ihm ab und starrte auf die Umgebung. Weit und breit waren nur Hügel und Bäume zu erkennen. Die Burg lag abseits der Stadt. Auf einer angrenzenden Koppel konnte ich einige Pferde ausmachen, die grasten und sich nicht um uns Menschen scherten.
»Ich kann dir helfen, wenn du das willst«, sagte er zu mir.
Ich sah ihn an und fragte mich, was genau das bedeuten soll. Er bot mir seine Hilfe an? Einfach so? Das glaubte ich weniger. Wie alt mochte er sein? Ich schätzte ihn um mindestens drei oder vier Jahre älter als ich. Wie lange war er hier? Die Fragen in meinem Kopf wurden stetig mehr. »Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es umsonst tun würdest. Oder?« Kratzbürstig warf ich ihm einen Blick entgegen, sodass er breit grinste. Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Dachte ich es mir doch. Es war immer dasselbe. Ich kannte es nicht anders. Von daher war es kein Wunder, dass ich gern unter mich blieb und von den Menschen um mich herum nicht viel hielt. Vertrauen war ein wichtiges Gut. Und das schenkte ich nicht jedem und nicht nach ein paar Minuten. Dafür hatte ich zu viel erlebt, was mich enttäuschte. Als er nichts sagte, konnte ich nicht anders und musste ihn direkt ansehen. Sein Grinsen war verschwunden. Dafür sah er mich mit einem viel zu ernsten Blick an. Ich konnte mich nicht von seinen Augen losreißen und das beunruhigte mich. Er musste es an meiner Körperhaltung bemerkt haben, denn er trat einen Schritt zurück und nickte, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und ohne ein weiteres Wort verschwand.
Glasgow, East End – 2024
Die erste Begegnung mit Lennox holte all die verdrängten Emotionen in mir hervor, die ich normalerweise ausblendete. Die Erinnerungen daran waren präsenter denn je und ich atmete tief durch. Lennox aß seelenruhig weiter und bekam nichts davon mit, dass ich gerade in der Vergangenheit verloren gewesen war. Ich mochte es nicht, wenn mich die Erinnerungen überrannten. Erst recht nicht, wenn ich in Gesellschaft war. Ich hatte diese schwierige Zeit hinter mir und ich hatte nicht vor, sie erneut durchleben zu müssen. Doch die Anwesenheit von Lennox und die Tatsache, dass wir zusammen arbeiten mussten, erschwerten dieses Vorhaben. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mit Lennox nicht einen Großteil meines Lebens verbrachte. Genauer gesagt meine Jugend und Anfangszeit meiner Ausbildung in Haggs Castle. Ich wagte einen Blick zu ihm und fragte mich, ob er öfter daran zurückdachte. Er wirkte absolut unbekümmert auf mich. Das lag daran, dass er in der Zeit in Haggs Castle von vielen Mitschülerinnen angehimmelt wurde. Ein weiteres Problem, worüber ich jetzt ungern nachdenken wollte. Es würde nur neue Bilder in meinem Kopf entstehen lassen und die alten Zeiten aufleben lassen. Ich schüttelte den Kopf und mahnte mich, mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Ich war nicht mehr auf die Gunst der Mitschüler oder Ausbilder angewiesen, redete ich mir ein. Ich kippte den letzten Rest meiner Cola herunter und erhob mich von meinem Platz. Mir entging nicht der fragende Blick von Lennox. Er würgte den Bissen hinunter und wunderte sich über mich. Ich zückte eine meiner Visitenkarten, die ich in der hinteren Hosentasche verstaute, und schmiss sie ihm auf dem Tisch. »Kontaktiere mich, sobald es losgeht«, meinte ich zu ihm, bevor ich den Ausgang ansteuerte. Ich hatte keine Zeit für diesen Mist. Wütend zog ich die Tür auf und stampfte zu meiner Corvette. Ich war gerade im Begriff in mein Auto einzusteigen, als mich sein Rufen aufhielt. Ich hielt inne und seufzte laut.
»Hey!«, rief er und kam mit schnellem Schritt auf mich zu. »Was soll das?« Sein tadelnder Blick strafte mich. Ich umfasste die Wagentür, die einen Spalt offenstand und sah ihn ungehalten an.
»Wartet man normalerweise nicht, bis man aufgegessen hat? Wieso hast du es so eilig?«, fragte er.
»Wir vertrödeln hier unsere Zeit. Wenn du etwas Wichtiges zum Fall zu sagen hast, bin ich ganz Ohr. Ansonsten ruf mich an, sobald du die Spur verfolgst und mich brauchst.« Ich funkelte ihn an und machte Anstalten einzusteigen, doch seine Hand schoss vor und hielt mich auf. Er zerrte mich von dem Wagen weg und knallte die Autotür zu. Er baute sich vor mir auf und sah mich verbittert an. Wütend darüber, dass er es wagte, mich aufzuhalten, starrte ich ihn nicht weniger böse an.
»Ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist, Kendra«, donnerte er los.» Im Grunde ist es mir egal. Aber bekomme es endlich in deinen hübschen Kopf hinein, dass du mich ab sofort an der Backe hast. Du kannst nicht einfach so verschwinden und erwarten, dass ich springe, sobald du das möchtest. Wir sind ab sofort Partner.« Seine Gesichtszüge wirkten hart und unnachgiebig. Er ließ mich nicht aus den Augen und sein Brustkorb hob und senkte sich schwer, als er einen frustrierten Atemzug entweichen ließ.
»Ich habe nicht darum gebeten, einen Partner zu bekommen, wenn ich dich daran erinnern darf«, spie ich ihm erbost entgegen. »Du warst es doch, der beim Gremium nach mir verlangt hat. Und was tun wir? Wir gehen essen«, meine Stimme triefte vor Hohn. »Das ist nicht gerade das, was ich mir darunter vorstelle, dass wir einer Spur folgen oder zusammenarbeiten. Dafür ist mir die Zeit zu schade, sorry.«
Lennox kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt auf mich zu. Er hielt meine Visitenkarte in die Höhe und hielt sie mir direkt vors Gesicht. Ich erkannte das unikursale Hexagramm darauf und darunter meinen Namen mit meiner Telefonnummer. Doch das war es nicht, was mich gerade verunsicherte. Es war die Tatsache, dass er mir viel zu nahe kam. Er baute sich vor mir auf und seine ganze Körperhaltung sprach von seiner Wut auf mich oder mein Verhalten.
»Ich brauche deine verdammte Visitenkarte nicht, Kendra. Glaubst du ernsthaft, ich wüsste nicht, wie ich dich finden kann? Ich bin ein Traumwandler, schon vergessen? Also lass den Mist und behandele mich nicht wie einen dummen Köter, der deine Aufmerksamkeit nicht verdient.«
Ich zuckte bei seinem Ausbruch zusammen und riss die Augen auf. Sprachlos sah ich ihn an. Im nächsten Moment beobachtete ich, wie er meine Visitenkarte demonstrativ auf den Boden warf und zu seinem Motorrad schlenderte. Er stieg auf seine Maschine, setzte den Helm auf und hob das Visier an. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung. »Fahr vor, ich folge dir. Solange wir an dem Fall arbeiten, bleibe ich bei dir. Ich brauche jemanden, der über mich wacht, wenn ich schlafe.« Das Visier klappte herunter und er startete den Motor.
Ich klappte den Mund fassungslos auf und zu. Hatte ich ihn gerade richtig verstanden? Lennox wollte bei mir übernachten? Jede Nacht? Mein Herz blieb in Schockstarre stehen. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu fassen. Zähneknirschend stieg ich in meinen Wagen und ließ den Motor aufheulen. Ich fragte mich, womit ich das verdient hatte. Das durfte einfach nicht wahr sein. Lennox Tristan Fraser wollte bei mir übernachten. Nonsens! Das bedeutete, ich war ihm vierundzwanzig Stunden am Tag ausgesetzt und das so lange, bis wir den Fall gelöst hatten. Kopfschüttelnd schaltete ich in den ersten Gang und zischte an ihm mit meiner Corvette vorbei.
Den ganzen Weg bis zu meiner Wohnung sah ich ihn im Rückspiegel auf seiner Maschine hinter mir. Und ich hätte schwören können, dass seine grün-grauen Augen hinter seinem Helm mich im Rücken erdolchten. Ich führte mein Auto zielsicher durch die Straßen von Glasgow. Es ging auf die Abendstunden zu, als wir unser Ziel endlich erreichten. Es passte mir nicht, dass er meine Wohnung zu Gesicht bekam. Das war mein privates Reich. Niemand zuvor hatte es zu Gesicht bekommen. Es war mir heilig. Ich genoss die Intimsphäre, die ich dort fand und konnte nur dort zur Ruhe kommen. Das war vorbei. Ich wollte ihn eigenhändig erwürgen. Als ich die Tiefgarage erblickte, hielt ich an, ließ das Autofenster herunter und zückte meine Karte. Ich zog sie durch den Schlitz der Säule, sodass sich die Schranke vor mir öffnete. Mit quietschenden Reifen fuhr ich hinein und achtete nicht weiter darauf, ob er noch durch die offene Schranke kam. Er fuhr ein Motorrad verdammt! Er konnte sie umfahren, falls nötig. Ich parkte auf meinem gemieteten Parkplatz, stieg aus dem Wagen und knallte die Tür hinter mir zu. Ich war so wütend. Aus dem Augenwinkel sah ich die Scheinwerfer seines Motorrades, als er auf mich zukam. Er parkte direkt neben meinen Wagen und stieg vom Motorrad. Wieso mussten seine Bewegungen so anziehend auf mich wirken? Er strotzte von Kraft und seine Ausstrahlung konnte man einfach nicht übersehen. Ich umrundete meine Corvette, öffnete den Kofferraum und griff nach meiner Umhängetasche. Als ich sie über meine Schulter legte, verriegelte ich den Wagen und ging zielstrebig zu den Aufzügen auf der rechten Seite. Meine Wohnung lag im obersten Stockwerk. Als ich die Wohnungstür aufsperrte und eintrat, spürte ich ihn im Rücken überdeutlich. Ich konnte ihn nicht ansehen. Meine Wut im Bauch wollte nicht nachlassen. Wenn ich jetzt den Mund aufmachte, würde nichts Gutes dabei herauskommen. Ich presste die Lippen fest aufeinander und ging direkt auf die Küche zu. Ich öffnete einen der unteren Schränke, schnappte mir die Flasche mit dem Tequila und schraubte den Verschluss auf. Mit der anderen Hand griff ich zu einem Schnapsglas, goss es bis zum Rand voll und schluckte den Tequila in einem Zug hinunter. Sofort breitete sich die vertraute Wärme in meinem Inneren aus und ich schloss erleichtert die Augen. Den hatte ich jetzt gebraucht. Jetzt konnte ich mich ihm stellen. Ich drehte mich um und sah Lennox an.
Er hielt seinen Motorradhelm in einer Hand fest und sah sich im geräumigen Wohnzimmer um. Auf der gegenüberliegenden Seite lag das große Fenster. Es reichte bis zum Boden und gab den Blick auf den Balkon und den Fluss frei, den man von hier aus hervorragend sehen konnte. Da ich im Stadtzentrum wohnte, erstreckte sich der River Clyde als hervorragende Panoramaansicht von meinem Wohnzimmerfenster aus. Meine offene Küche grenzte direkt an das Wohnzimmer. Ein Kamin bildete eine weitere Attraktion, zusätzlich zu meiner einladenden Wohnlandschaft, die als Couchgarnitur in der Mitte des Zimmers stand. Der Überzug bestand aus moosgrünen Nappaleder. Einzelne weiße Kissen waren darauf drapiert und luden zum Verweilen ein. Das Holzparkett bildete einen wunderschönen Kontrast zu den Farben. Ein weißer Vorleger vor dem Kamin rundete das Bild ab. Ich sah Lennox dabei zu, wie er das Zimmer auf sich wirken ließ. Eine Augenbraue schoss in die Höhe. Ich wusste, dass es ihn überraschte. Wir waren anderes gewohnt. Da musste ich nur an mein winziges Einzelzimmer in Haggs Castle denken. Die Enge hatte mir immer aufs Gemüt geschlagen. Von daher bevorzugte ich in meiner eigenen Wohnung viel Platz. Meine Wohnung bestand aus zwei weiteren Schlafzimmern, zwei Bädern und einem zusätzlichen Zimmer, welches mir als Büro diente. In den Schlafzimmern standen Einbauschränke, die jeweils eine ganze Wandseite abdeckten. Stolz war ich auf den Ausblick vom Wohnzimmer aus und die Ausstattung der Badezimmer. Sie waren mit schwarzen Fliesen und weißen Armaturen ausgestattet. Hochmodern und schick gab es in einem davon eine großräumige Dusche und in dem anderen eine Eckbadewanne. Ja, man konnte behaupten, dass das hier purer Luxus war. Von daher war ich neugierig auf seine Reaktion. Als er sich vom ersten Eindruck erholt hatte, sah er mich an und pfiff anerkennend durch den Mund. Er nickte beeindruckt, als er sagte: »Verdammt viel Platz für dich allein, aber ziemlich imposant. Der Ausblick vom Fenster aus ist der Wahnsinn. Muss ich mich fragen, womit du noch dein Geld verdienst?« Ein breites Grinsen legte sich um seinen Mund.
Ich schmunzelte und zuckte mit den Schultern. »Ich habe lange anders gelebt, wie du weißt. Wieso sollte ich mir nicht etwas Luxus gönnen?« Ich wartete seine Antwort nicht ab und griff erneut zur Flasche, um mein Glas aufzufüllen.
»Bekomme ich einen?«, fragte er direkt.