CyberWorld 5.0: Burning London - Nadine Erdmann - E-Book

CyberWorld 5.0: Burning London E-Book

Nadine Erdmann

4,6

Beschreibung

Nach den dramatischen Ereignissen in Yonderwood hoffen Jemma, Jamie, Zack und ihre Freunde eigentlich bloß auf Ruhe, die Rückkehr in den Alltag und einen coolen Ausflug nach CyberLondon, der neuen Simulationswelt in der CyberWorld. Doch was als netter Abend in der CyberCity geplant war, wird schon bald zu einem tödlichen Wettlauf gegen die Zeit, denn Terroristen kapern die Stadt – und sie kennen kein Erbarmen … Dies ist der fünfte Band der CyberWorld-Reihe. Teil 1: Mind Ripper Teil 2: House of Nightmares Teil 3: Evil Intentions Teil 4: The Secreet Of Yonderwood

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Sammlungen



Table of Contents

Burning London

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Nachwort

Impressum

CyberWorld 5.0

 

Burning London

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

»Gott sei Dank, er ist nicht pink.« Jamie deutete zum Marble Arch, dem imposanten Torbogen, der am Nordostende des Hyde Parks zur Oxford Street führte. Der helle Marmor sah aus wie immer und schien majestätisch die letzten Strahlen der fahlen Februarsonne einfangen zu wollen.

Zack lachte. »Hatte ich auch nicht erwartet.«

Er fasste Jamies Hand fester, als der mit dem Fuß gegen eine Unebenheit auf dem ausgetretenen Asphalt stieß. Sein linkes Bein wurde langsam müde und es war nicht das erste Mal, dass Jamie ins Stolpern geriet.

»Wie wäre es mal wieder mit einer kleinen Pause?« Zack sah sich kurz um und wies auf eine Parkbank, die gerade von einer japanischen Touristenfamilie verlassen wurde. »Jem und Will scheinen eh noch nicht hier zu sein.«

»Pause klingt super.« Dankbar ließ Jamie sich auf die Bank sinken. Zack setzte sich zu ihm und lehnte Jamies Krücken gegen die Sitzfläche.

»Hey, du hast es geschafft. Einmal um die Serpentine und Long Water und dann quer durch den Park bis hierher. Respekt!« Stolz lag in Zacks Stimme und er spielte liebevoll mit einer hellen Haarsträhne, die unter Jamies Beanie hervorguckte.

Jamie lächelte erschöpft, aber glücklich. »Ja, ziemlich cool.« Er zog sein Smartphone aus der Jackentasche und sah auf die Uhr. »Auch wenn ich dafür fast sechs Stunden und acht Pausen gebraucht hab. Und nur einen winzigen Teil der Strecke ohne die blöden Krücken gelaufen bin.«

Zack bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Hatten wir nicht ausgemacht, dass unser netter Samstagsausflug kein Hochleistungssport werden sollte?« Er zog Jamie die Mütze über die Augen. »Außerdem haben wir über eine Stunde im Café gesessen, um uns bei dieser Schweinekälte wieder aufzuwärmen.« Zack schlug den Kragen seines Anoraks hoch. Jetzt, da die Sonne unterging, wurde es noch kühler und für die Nacht war sogar heftiger Schneefall vorhergesagt. »Die musst du also noch abziehen, wenn du unseren Ausflug unbedingt mit einem Zeitplan versehen willst.«

Jamie rückte seine Mütze wieder zurecht und grinste. »Schon gut, bin ja schon still.«

»Das würde ich dir auch schwer raten. Ich fand den Tag heute nämlich verdammt schön und hätte nichts dagegen, so was jetzt öfter zu machen – allerdings nur, wenn du keine Jagd nach Bestzeiten pro gelaufener Meile daraus machst.«

Jamie stahl sich einen Kuss. »Ich fand den Tag auch verdammt schön und ich will auf jeden Fall noch eine ganze Menge mehr davon. Und nein, ich werde unsere Ausflüge nicht als blöde Trainingseinheiten sehen.« Er schob die Ärmel von Anorak und Pullover zurück und zeigte seine Handgelenke. »Hier: Kein Armband, das Schritte und Meilen gezählt hat – wie ich es versprochen hab.«

Zack lächelte und schob seinen eigenen Ärmel hoch.

Ruckartig setzte Jamie sich auf. »Was …?« Völlig perplex starrte er auf den Fitness-Tracker, den Zack am rechten Handgelenk trug. »Aber – du wolltest doch nicht, dass ich …«

Zack schüttelte grinsend den Kopf, als er sah, wie verdattert Jamie aus der Wäsche guckte. »Süßer, ich hab überhaupt nichts dagegen, wenn du deine Schritte und unsere gelaufenen Meilen zählen willst. Ich wollte nur nicht, dass du alle paar Minuten auf ein blödes Display guckst, um nachzusehen, wie viele Schritte du schon geschafft hast. Ich wollte, dass du den Ausflug einfach nur genießt, ohne dir irgendeinen Druck zu machen. Wenn wir zwei zusammen losziehen, will ich, dass es in erster Linie um uns beide geht und dass der Tag uns gehört und nicht irgendwelchen neuen Streckenrekorden. Aber ich weiß auch, wie wichtig es dir ist, zu sehen, was du geschafft hast. Deshalb hab ich dein Armband umgetan.«

In Jamies Hals steckte plötzlich ein dicker Kloß. »Das … ist total lieb … Du bist echt unglaublich.«

Und dann dauerte es eine ganze Weile, bis er Zack wieder Luft holen ließ. Als ihre Lippen sich voneinander lösten, fasste er nach Zacks Handgelenk, um auf das Display der Fitnessuhr zu sehen, doch Zack zog seine Hand zurück und schob seinen Jackenärmel wieder über das Armband.

»Noch nicht. Du bekommst es erst, wenn wir zu Hause sind.«

»Ernsthaft? Du willst mich jetzt echt zappeln lassen? Ich nehm alles zurück! Du bist weder lieb noch unglaublich, sondern bloß voll fies!« Mit gespielter Empörung stupste Jamie seinem Freund in die Seite.

»Hey, Vorsicht! Ich bin endlich wieder okay, da willst du mich doch nicht gleich wieder zurück ins Krankenhaus boxen, oder?«

Auch wenn er wusste, dass Zack nur Spaß gemacht hatte, hörte Jamie sofort auf, ihn zu piesacken. »Sag so was nicht. Das ist nicht witzig.« Er schmiegte sich an ihn, legte vorsichtig seine Hand auf Zacks Bauch und versuchte tapfer, keine schlimmen Erinnerungen zuzulassen.

Auf den Tag genau vor sieben Wochen war Zack mit zwei schweren Stichwunden ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem Russell Grant mit einem Messer auf ihn losgegangen war. Fast fünf Stunden hatten die Ärzte um Zacks Leben kämpfen müssen und es hatte sechs Wochen gedauert, bis er sich endgültig von den schweren Verletzungen erholt hatte. Erst Anfang der Woche hatten die Ärzte ihm das heiß ersehnte »Alles okay« gegeben und er durfte – unter der Voraussetzung, dass er es langsam angehen ließ – wieder Basketball spielen, am Schulsport teilnehmen und Dinge heben, die schwerer als fünf Kilo waren.

Zack zog Jamie an sich und gab ihm einen Kuss auf die hellblaue Beanie. Jamie tat sich schwer, mit den Geschehnissen abzuschließen. Die Albträume, in denen er wieder und wieder mit ansehen musste, wie Notarzt und Sanitäter um Zacks Leben kämpften, quälten ihn zwar mittlerweile seltener, aber immer noch oft genug. Und auch für einen scherzhafteren Umgang mit der ganzen Sache war er noch nicht bereit.

Zack seufzte innerlich und streichelte über Jamies Arm. Er hatte keine Ahnung, ob er selbst besser damit umgegangen wäre, wenn die Ereignisse an Silvester anders gewesen wären und er jetzt schreckliche Bilder von Jamie im Kopf hätte haben müssen. Die Erinnerungen an Jamie, wie er nach dem Autounfall fast zwei Wochen lang bleich und leblos im Koma gelegen hatte, waren schließlich auch etwas, das er lieber tief in die Vergangenheit verbannte. Vermutlich brauchte Jamie also auch einfach nur Zeit, bis die Bilder in seinem Kopf endlich verblassten.

»Hey, da seid ihr ja schon!«

Die Stimme ließ Zack und Jamie aufsehen.

In der zunehmenden Dämmerung wurden Hyde Park und Marble Arch hübsch beleuchtet und viele Touristen posierten für Fotos und Videos vor dem eindrucksvollen Torbogen. Dick eingemummelt in Wintermantel, Mütze, Schal und Handschuhe, schlängelte Jemma sich durch die Touristen auf Zack und Jamie zu. In einer Hand hielt sie ein Papptablett mit vier Bechern, mit der anderen zog sie Will hinter sich her, der drei pralle Einkaufstüten schleppte.

»Wartet ihr schon lange?« Sie setzte sich neben ihren Zwilling und reichte ihm eins der Getränke.

»Nein, erst ein paar Minuten.« Jamie roch am Becher, der sich herrlich warm in seinen kalten Fingern anfühlte. »Heißer Kakao?«

»Yep.« Jemma reichte Zack ebenfalls einen. »Wir dachten, ihr seid bei dieser Schweinekälte bestimmt total durchgefroren, wenn ihr den ganzen Tag im Park unterwegs wart.«

Zack seufzte begeistert. »Danke. Du bist ein Engel.«

Mit einem herzzerreißenden Ächzen ließ Will sich neben ihm auf die Bank fallen. »Das sagst du nur, weil du nicht seit heute Vormittag mit ihr und Charlie durch gefühlt hundert Läden im Großraum London ziehen musstest, um irgendwelche Schnäppchen abzugrasen und für Charlie ein Outfit für heute Abend zu finden.« Stöhnend streckte er seine Beine aus. »Ich hab echt keine Ahnung, wo Mädchen diese Energie hernehmen. Oder wie Charlie heute noch einen Abend im Club durchstehen will, ohne dass ihr die Füße abfallen.«

Jemma gab ihm seinen Kakao. »Charlie ist auf purem Adrenalin, weil sie sich schon seit Wochen wie verrückt auf den Gig von Rebecca Mills freut. Also keine Sorge, sie schafft das schon. Und da Ned keinen Schmerz empfinden kann, müssen wir uns um seine Füße auch keine Sorgen machen.«

Will schnaubte. »Nee, aber ich wette, er braucht heute die doppelte Dosis seiner Nährstoffe, um diesen Tag zu kompensieren.« Er grinste mitleidlos. »Aber das hat mein Brüderchen sich ja selbst eingebrockt.« Er sah zu Zack und Jamie. »Es wäre allerdings echt nett gewesen, wenn ihr beiden uns vorgewarnt hättet, auf was wir uns einlassen, wenn wir mit Jem und Charlie Klamotten shoppen gehen.«

Zack lachte. »Die Tatsache, dass weder Jamie noch ich bisher jemals so irre waren, mitzugehen, wenn die beiden zusammen losziehen, war euch nicht Warnung genug?«

Jemma beugte sich vor, boxte erst Zack gegen den Oberschenkel und fuchtelte dann mit ihrem Zeigefinger in Wills Richtung. »Jetzt tu bloß nicht so, als hättest du keinen Spaß gehabt! In den letzten Laden hätten wir schließlich gar nicht mehr reingehen müssen. Ich brauchte überhaupt keine neue Unterwäsche.«

Will grinste eindeutig zweideutig. »Aber ich brauchte eine Belohnung! Die hab ich mir nach dem Shoppingmarathon heute nämlich mehr als verdient.«

Jamie verzog das Gesicht, als wäre sein Kakao mit saurer Milch gemacht worden. »Okaaay – Themenwechsel! Wie lief es mit Ned? Hat ihn jemand blöd angequatscht?«

Nach ihren Erlebnissen mit den Ashbournes in Yonderwood war Ned – nicht ganz freiwillig – zu Beginn des Jahres mit der Tatsache an die Öffentlichkeit gegangen, dass er den Kampf gegen den Krebs verloren hatte und deshalb in einem der neuen Biokörper lebte, die von seinem Vater entwickelt worden waren. In den ersten Wochen nach dieser Enthüllung hatte es deswegen mächtig viel Wirbel gegeben, besonders in der Schule. Die Liongate Academy war von Reportern und Paparazzi belagert worden, die nach dem ersten und einzigen Interview, das Ned und sein Vater gegeben hatten, auf ein weiteres Statement oder zumindest ein paar Bilder hofften. Letztere ließen sich nicht verhindern, aber da die immer gleichen Schnappschüsse von Ned auf dem Schulhof ohne Statements, Interviews oder andere spektakuläre Storys bald langweilig wurden, hatte das Interesse der Boulevardpresse in den letzten beiden Wochen zum Glück deutlich nachgelassen und sie widmete sich wieder Prominenten, die mehr zu bieten hatten.

Ganz ähnlich lief es mit ihren Mitschülern. In den ersten Tagen nach den Weihnachtsferien hatte es jede Menge neugierige Blicke, Fragen und etliche – mal mehr, mal weniger geistreiche – Kommentare gegeben, doch nach und nach war das Interesse an Ned wieder abgeflaut und mit dem Verschwinden der Reporter vor den Schultoren war schließlich auch der Alltag zurückgekehrt. Natürlich gab es hin und wieder immer noch Getuschel hinter vorgehaltenen Händen und auch den ein oder anderen blöden Spruch musste Ned über sich ergehen lassen, doch insgesamt war sein Coming-out deutlich glimpflicher abgelaufen, als alle zu hoffen gewagt hatten, und die gefürchteten Anfeindungen von Gegnern der Biokörper oder Mobbing durch Mitschüler waren bisher ausgeblieben.

»Nein, keiner hat ihn blöd angemacht.« Jemma sah zu Will. »Oder hab ich irgendwas nicht mitbekommen?«

Will schüttelte den Kopf. »Es gab den ein oder anderen Blick, weil ein paar Leute uns erkannt haben, aber angequatscht hat uns keiner. Und ich glaube, es hat auch niemand Fotos gemacht.«

»Cool.« Zufrieden nippte Jamie an seinem Kakao und wärmte seine kalten Hände.

Jemma lehnte sich auf der Bank zurück und eine Weile sahen die vier dem Treiben auf dem Platz um Marble Arch zu.

»Mir gefällt er in Weiß definitiv besser als in Pink«, meinte Jemma schließlich und spielte am Deckel ihres Kakaobechers herum. »Habt ihr schon von R.A.T.s’ neuer Ankündigung gehört?«, fragte sie dann Richtung Zack und Jamie.

»Nope. Was haben sie denn diesmal vor? Wollen sie die Themse neongrün färben? Oder aus der Tower Bridge einen Regenbogen machen?« Zack grinste. »So ein Statement fänd ich sogar mal cool. Und es würde endlich mal Sinn machen.«

Jamie schnaubte. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ausgerechnet die Ratten von R.A.T.s sich für LGBT starkmachen würden.«

Rage Against Technology, kurz R.A.T.s, war eine Gruppe militanter Technikgegner, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, der Menschheit mit gewagten Aktionen vor Augen zu führen, wie abhängig sie sich in ihrem Leben von der Technik gemacht hatten. In den letzten vier Jahren waren etliche mutwillig herbeigeführte Ausfälle von Strom-, Telefon- und Mobilfunknetzen auf ihr Konto gegangen. Ebenso ein großer Hackerangriff auf den Flughafen von London Heathrow, der nicht nur den Flugverkehr für drei Stunden komplett lahmgelegt, sondern auch den damaligen Kopf der Gruppe ins Gefängnis gebracht hatte. Danach war es still um R.A.T.s geworden, bis Anfang des Jahres UrbanityNeXt mit ihrer ersten CyberCity ans Netz gegangen war. Die Vorstellung, künftig alle großen Weltmetropolen eins zu eins in der CyberWorld betreten und so nicht nur berühmte Sehenswürdigkeiten, sondern auch Museen, Galerien, Konzerte und Events ohne großen Reiseaufwand besuchen zu können, hatte für sehr kontroverse Reaktionen gesorgt. Viele CyberWeltler fanden die Möglichkeit fantastisch, durch die Weltstädte zu schlendern und international an Veranstaltungen teilnehmen zu können, ohne kostbare Urlaubstage nehmen und teure Flüge und Hotels bezahlen zu müssen. Die Tourismusindustrie dagegen rebellierte und sah tausende Arbeitsplätze in Gefahr sowie wirtschaftliche Einbußen in Millionenhöhe auf sich zukommen.

Auch für R.A.T.s schien die Eröffnung von CyberLondon, der ersten CyberCity, Grund genug, wieder in Erscheinung zu treten. Gleich in der Eröffnungswoche hatten sie dafür gesorgt, dass man sich wieder an sie erinnerte, indem sie die Löwenstatuen des virtuellen Trafalgar Squares umgefärbt hatten: Statt des üblichen Bronzeschwarz trugen sie jetzt ihr naturfarbenes Fellkleid. Falls R.A.T.s damit allerdings Unzufriedenheit oder Empörung bei den Besuchern von CyberLondon hatte hervorrufen wollen, war der Schuss nach hinten losgegangen, denn die meisten sahen die Sache als großen Gag oder gar als originelle Werbeidee und selbst die Betreiber reagierten gelassen und nahmen es mit Humor.

Eine Woche später erlebten die Besucher von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett einen ziemlichen Schock, als die Wachspuppen plötzlich lebendig wurden und begannen, im Gebäude herumzuspazieren. Doch auch das nahmen Besucher und Betreiber mit Humor und es lockte nur noch mehr neugierige CyberWeltler ins virtuelle London.

Als nächste Aktion kaperten R.A.T.s die bunte LED-Wand am Piccadilly Circus. Die zeigte auf einmal keine Werbespots mehr, sondern Softpornoszenen, was zum ersten Mal für geteilte Reaktionen sorgte. Zwar waren die meisten CyberCity-Besucher über sechzehn Jahre alt und Schulklassen, die Museen oder Galerien besuchten, konnten sich direkt in die Ausstellungsorte einwählen, ohne dass die Kleinen am Piccadilly womöglich Dinge zu sehen bekamen, die noch nicht für ihre Augen bestimmt waren. Doch auch bei vielen erwachsenen Besuchern trafen die freizügigen Filmchen auf nicht ganz so viel Gegenliebe und zum ersten Mal wurden Stimmen laut, die UrbanityNeXt aufforderten, etwas gegen die Hacks der R.A.T.s zu unternehmen.

Diese Forderungen wurden noch um einiges lauter, als bei der nächsten Aktion der Aktivisten plötzlich alle Ein- und Ausgänge der Museen und Galerien wie von Geisterhand zugemauert waren, sodass die Besucher die Gebäude nur verlassen konnten, indem sie sich per Armschelle an einen anderen Ort der CyberCity teleportieren ließen oder sich komplett aus CyberLondon ausloggten. UrbanityNeXt versprach, dass man an dem Problem arbeiten und alle Fehler, die R.A.T.s ins Programm gebracht hatten, ausmerzen würde. Bisher schienen sie dabei allerdings noch keinen Erfolg gehabt zu haben. Alle Hacks existierten weiterhin in der Cyberstadt und seit Anfang der Woche erstrahlte Marble Arch jetzt zusätzlich noch in schrillem Pink.

Jemma hob die Schultern. »Was genau die Ratten vorhaben, verraten sie ja vorher nie. Es gab nur eine Ankündigung, dass heute Abend um neun Uhr etwas so Gewaltiges in CyberLondon stattfinden wird, dass es alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen und für mächtig viel Gerede sorgen soll.«

»Wow, klingt ja wahnsinnig geheimnisvoll«, meinte Jamie nur mäßig beeindruckt. »Woher wisst ihr davon?«

»Im PizzaShack lief CityRadio. Da haben sie davon berichtet. Und auf der Internetseite von R.A.T.s steht die Ankündigung auch.«

Zack runzelte die Stirn. »Ich verstehe echt nicht, was diese Chaoten sich davon versprechen. Angeblich finden sie die CyberWorld schlecht, gefährlich, wirtschaftlich bedenklich, moralisch höchst verwerflich und weiß der Himmel was sonst noch. Sollten sie dann nicht eigentlich eher Aktionen planen, die die Leute dazu bringen, die C-World nicht mehr zu betreten, statt irgendwelchen Murks in CyberLondon einzubauen, den sich jeder ansehen will? Vor allem, wenn sie jetzt auch noch mächtig geheimnisvolle Ankündigungen für etwas ganz Großes machen, was die Leute dann ja nur noch neugieriger machen wird. Ist das nicht irgendwie ziemlich kontraproduktiv?«

»Das sind halt einfach Idioten, die sich wichtigmachen wollen«, schnaubte Jamie. »Klar sind wir heute alle ziemlich abhängig von der Technik. Na und? Dafür ist das Leben aber auch viel einfacher geworden und die Menschen leben deutlich länger. Soll das etwa schlimm sein? Ich wette, die Typen von R.A.T.s mögen auch heiße Duschen und Waschmaschinen und kochen sich ihr Teewasser nicht über offenem Feuer. Und wenn sie Stromnetze oder Flughäfen mit irgendwelchen Computerviren lahmlegen oder jetzt in der C-World herummurksen, dann benutzen sie dafür ja auch die Technik. Also sind sie eigentlich ziemliche Heuchler. Wenn es ihnen nur darum ginge, ohne moderne Technik klarzukommen, dann könnten sie sich irgendwo ein Stück Land kaufen, wie im Mittelalter leben und mit ein paar selbstgemalten Handzetteln Leute ansprechen, um sie von ihrem Lebensstil zu überzeugen. Dagegen hätte sicher kein Mensch was. Jeder so, wie er mag. Aber das tun sie ja nicht. Sie beschädigen Gemeingut, stiften Chaos und Unruhe und wollen sich bloß wichtigmachen.«

»Hatte dein Dad eigentlich auch schon mal Stress mit denen?«, fragte Zack an Will gewandt.

Will zuckte mit den Schultern. »Sicher. Es gibt immer mal wieder böse Briefe, manche auch mit irgendwelchen Drohungen, aber bisher war noch nie etwas Ernstes darunter. Solche Post kommt aber nicht nur von R.A.T.s, sondern auch von zig anderen Spinnern. Aber darum kümmert sich die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit bei VanguardArts. Im Moment regen sich die Fanatiker allerdings weniger über die CyberWorld als viel mehr über die Biokörper auf. Da gibt es viele, die Dad vorwerfen, in die Natur einzugreifen, Gott zu spielen und ein absolutes Teufelswerk erschaffen zu haben.«

Jamie schnaubte mit einem nicht sonderlich subtilen Anflug von Zynismus. »Klar. Bis einer von denen dann plötzlich unheilbar krank wird und nur noch ein paar Monate zu leben hat. Ich wette, dann ändern sie ganz flott ihre Meinung und sind dem bösen Teufelswerk gegenüber plötzlich doch ganz aufgeschlossen. Genauso aufgeschlossen, wie R.A.T.s gegenüber der Technik sind, wenn es darum geht, in CyberLondon Chaos zu veranstalten.«

Will trank seinen Kakao aus und warf den Becher zielsicher in den Mülleimer. »Jem und ich wollen heute Abend jedenfalls mal reinsehen, was die Ratten in C-London so Großartiges veranstalten. Außerdem zeigen sie dort im West End den neuen Sherlock & Watson. Habt ihr Lust, mitzukommen? Oder habt ihr schon was anderes vor?«

Zack warf seinen Becher ebenfalls in den Müll. »Nee, haben wir noch nicht. Hört sich aber nach einem coolen Plan an. Was denkst du, wollen wir mitgehen?« Er sah zu Jamie.

Der drückte ihm seinen Kakao in die Hand und nahm seine Krücken. »Auf jeden Fall.« Er stemmte sich von der Parkbank und nickte durch den Bogen von Marble Arch zur U-Bahn-Station auf der anderen Straßenseite. »Lasst uns nach Hause fahren. Es wird langsam echt kalt. Außerdem wartet Max sonst mit dem Abendessen auf uns und wenn wir nicht wollen, dass er die ganze nächste Woche zur Strafe Anti-Lieblingsessen kocht, sollten wir besser nicht zu spät kommen.«

Kapitel 2

 

Im Wohnzimmer der Bennetts war es warm und gemütlich, im Kamin prasselte munter ein Feuer und es roch noch lecker nach der Gemüsepasta, die es zum Abendessen gegeben hatte. Jemma und Will hatten sich in einen der Kaminsessel verzogen und surften eng aneinander geschmiegt zusammen im Internet, der Fernseher brabbelte leise vor sich hin und Max klapperte mit Töpfen und Geschirr, während er in der Küche für Ordnung sorgte. Jamie liebte diese friedliche Zeit nach dem Abendessen. Müde, aber rundum zufrieden kuschelte er sich in seine Ecke auf dem Sofa und spielte mit den verschiedenen Anzeigen seiner Fitnessuhr herum.

Viereinhalb Meilen.

Sieben Komma zwei Kilometer.

Er überschlug die Werte im Kopf. Bei seiner ziemlich kurzen Schrittlänge … mussten das … an die zwanzigtausend Schritte gewesen sein.

Er grinste.

Cool …

Und noch viel cooler war, dass seine Beine nicht wehtaten. Rückenschmerzen hatte er auch nicht. Er war zwar k.o. und seine Beine fühlten sich bleischwer an, aber er war völlig schmerzfrei – und das war nicht nur cool, sondern absolut grandios.

Zack ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen. »Na, zufrieden mit dir?«, fragte er mit einem Nicken in Richtung Fitnessuhr.

»Mächtig zufrieden.« Jamie zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss. »Danke, dass du das Ding umgetan hast.«

»Sehr gern geschehen.« Zack strich ihm durchs Haar und küsste ihn zurück. »Wir müssen übrigens nicht unbedingt mit Jem und Will in die C-World, wenn du jetzt k.o. bist. Wir können auch nach oben gehen, du legst dich hin und wir streamen irgendwas. Es gibt eine neue Folge von Darkest Knights.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nee, so kaputt bin ich nicht. Außerdem will ich wissen, was R.A.T.s so wahnsinnig Spektakuläres in CyberLondon veranstalten wollen. Und den neuen Sherlock & Watson wollen wir doch eh sehen.«

»Ja, du willst ihn unbedingt sehen!« Anzüglich zwickte Zack ihm in die Seite. »Weil du Tobin Galway total heiß findest!«

Jamie lachte empört auf. »Hey, du willst die Knights doch auch bloß gucken, weil du auf Jeremy abfährst!«

Zack grinste. »Oh, bitte. Das wäre der Serie gegenüber aber sehr gemein. Die Story ist echt super.« Wieder zwickte er Jamie. »Aber ich gebe zu, dass Jeremy schon verflixt niedlich ist.«

Schnaubend versuchte Jamie Zacks Hände abzuwehren. »Mach dir keine Hoffnungen. Der Typ, der ihn spielt, ist hetero. Ich hab ihn gegoogelt.«

Zack musste lachen. »Na, dann hast du ja noch mal Glück gehabt!« Er fand eine Lücke in Jamies Abwehr und knuffte ihm in den Magen.

Jamie stöhnte auf und presste schützend eine Hand auf seine Mitte. »Nicht. Nicht in den Bauch.«

Sofort hörte Zack auf, ihn zu piesacken. »Warum? Hast du Magenschmerzen?«

Die Medikamente, die Jamie nehmen musste, um nach seiner Wirbelsäulenverletzung Muskelzuckungen und Krampfanfälle in Schach zu halten, gingen leider mit Nebenwirkungen einher, die ihn immer wieder mit Übelkeit, Appetitlosigkeit und Magenschmerzen kämpfen ließen.

Jamie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaub, ich hab einfach nur zu viel von der Pasta gegessen.«

Zack ließ seine Hand unter Jamies Pullover wandern und strich ihm sacht über den Bauch. »Stimmt, ich war ehrlich gesagt ziemlich beeindruckt, wie viel du heute verdrückt hast«, neckte er.

»Ich hatte halt ausnahmsweise mal richtig Hunger! Und die Pasta war echt lecker.«

»Wow, das sind ja völlig neue Töne von dir.«

Jamie kuschelte sich an ihn. »Das lag bestimmt nur an der vielen frischen Luft.« Zacks warme Hand, die sanft über seinen Bauch streichelte, fühlte sich unfassbar gut an.

»Na, wenn das die Folgen sind, dann sollten wir ab jetzt jedes Wochenende so einen Ausflug planen.«

»Klar. Und in einem Jahr musst du mich dann durch den Park kugeln.«

Zack ließ seine Finger über Jamies Rippen wandern, die viel zu leicht zu ertasten waren, und stupste ihm dann zärtlich in den deutlich zu flachen Bauch. »Ich schätze mal, dafür müsstest du dein Gewicht ungefähr verdreifachen und ich glaube, die Gefahr ist eher gering. Obwohl – witzig wäre es schon.«

Jamie lachte und kniff ihm in den Arm.

Jemma musste schmunzeln, als sie die beiden miteinander kabbeln sah. Sie saß quer über Wills Schoß und ließ ihre Beine über die Armlehne des Sessels in Richtung Feuer baumeln, um ihre Füße zu wärmen. Genau wie Jamie liebte sie die stille Familienzeit nach dem Abendessen und der Abend heute war perfekt.

Will gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Eigentlich hatte er mit seinem Tablet im Internet gesurft, doch Jemma zu beobachten, machte deutlich mehr Spaß. »Du siehst unglaublich süß aus, wenn du so stolz auf ihn bist.«

Jemma lächelte und schmiegte sich an ihn. »Viel wichtiger ist, dass er endlich anfängt, selbst auf sich stolz zu sein.«

Will streichelte ihren Arm entlang und folgte ihrem Blick. »Es war ziemlich cool von Zack, heimlich den Schrittzähler mitzunehmen.«

»Ja, das war es.« Plötzlich musste sie schwer schlucken. Zack war für sie wie ein Bruder, den sie genauso sehr liebte wie Jamie, und obwohl Zack bei Russells Messerattacke mit dem sprichwörtlichen blauen Auge davongekommen war und es ihm mittlerweile endlich wieder gut ging, traf es sie manchmal immer noch wie aus heiterem Himmel, wie leicht sie ihn auch hätte verlieren können.

Wills Tablet summte und meldete eine eingegangene E-Mail. Dankbar für die Ablenkung spähte Jemma auf die elektronische Post und erkannte das Logo seiner Collegebibliothek.

»Arbeit?«

»Ich hab mir Unterlagen für eine Hausarbeit schicken lassen.« Er legte das Tablet weg.

Jemma schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Zu welchen Seminaren gehst du denn jetzt überhaupt noch hin?«

»Nur zu denen mit Anwesenheitspflicht. Zum Glück gibt es die meisten Vorträge aber online und viele Seminare werden als Live-Schaltung angeboten. Das ist immens praktisch.«

»Hm.«

Sie hatten alle geglaubt, dass nach Neds Coming-out Jamie und Charlie diejenigen sein würden, auf die sich die Paparazzi stürzten, doch es war Will gewesen, den sie – in der Hoffnung auf ein Interview mit einem weiteren Mitglied der Dunnington-Familie – belagert hatten. Der Dekan seines Colleges hatte zwar der Campus-Security die Anweisung gegeben, alle Reporter des Geländes zu verweisen, doch Tumult und Aufsehen hatten sich trotzdem nicht verhindern lassen. Die Unruhe war weder beim Lehrpersonal noch bei Wills Kommilitonen besonders gut angekommen, da er unter ihnen ohnehin schon keinen sonderlich guten Stand hatte. Viele neideten ihm, dass er Wirtschaft und Management studierte und sich danach in der äußerst erfolgreichen Firma seines Vaters ins gemachte Nest setzen konnte.

»Was, hm?«, hakte Will nach.

Jemma spielte mit seinen Fingern und sah wieder zu ihm auf. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, das College zu wechseln? Du versuchst jetzt seit einem halben Jahr mit den Leuten dort zurechtzukommen, aber sowohl deine Profs als auch deine tollen Mitstudenten sind immer noch ätzend zu dir. So einen Mist musst du dir doch nicht antun. Es gibt in London noch andere Colleges, die deine Fächer anbieten.«

Er wand seine Hand aus ihrer und wischte sich über die Augen. »Und da schreibe ich mich dann unter falschem Namen ein? Selbst wenn ich das wollte, würde es nicht funktionieren. Dafür gingen in letzter Zeit zu viele Bilder von mir durch die Presse. Ein echter Neustart würde vermutlich nur dann funktionieren, wenn ich aus England wegginge, und das ist mir das blöde Studium nicht wert.«

Er nahm wieder Jemmas Hand und spielte mit dem bunten Glasring an ihrem Finger. Das Ding sah aus wie aus einem Kaugummiautomaten, kam aber aus einem kultigen Secondhandladen in Soho, in dem sie heute fast eine Stunde lang mit Charlie herumgestöbert hatte.

Der Gedanke, Will womöglich nicht mehr in ihrer Nähe zu haben, gefiel Jemma kein bisschen, doch es ging hier um seine Zukunft und da durfte sie nicht egoistisch sein. »Aber das mit uns – das würden wir schon irgendwie hinkriegen, wenn du doch weggehen wollen würdest …«

Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein. London ist mein Zuhause und ich will hier nicht weg. Und was uns beide angeht, will ich nichts irgendwie hinkriegen.« Er zog sie fest an sich. »Du bist mir so viel wichtiger als dieses blöde Studium«, murmelte er in ihr Haar.

Jemma streichelte über seine Rippen. »Aber ich will nicht, dass es dir mies geht, weil diese bescheuerten Leute an deinem College dich ständig blöd anmachen.«

»Der Medienrummel hat ja endlich wieder nachgelassen. Und ich bin mittlerweile echt gut darin, bescheuerte Leute einfach zu ignorieren.« Er seufzte. »Außerdem bin ich mir eh nicht mehr sicher, ob dieses Studium überhaupt was für mich ist. Die meisten Seminare finde ich grottenlangweilig und wenn die ein Vorgeschmack darauf sind, wie es einmal wird, wenn ich Dads Firma übernehme, dann weiß ich nicht, ob ich das wirklich für den Rest meines Lebens machen will.«

Jemma schwieg und strich nur weiter über seine Rippen. Sie hatte schon gemerkt, dass er sich nicht nur wegen seiner Professoren und Kommilitonen mit dem College schwertat. »Vielleicht solltest du dann mal mit deinem Dad reden? Ihm sagen, dass du lieber was anderes machen willst? Wenn du dich durch das Studium durchquälen musst, bringt das doch nichts. Und ich bin mir sicher, er würde nicht wollen, dass du damit unglücklich bist.«

»Nein, das will er sicher nicht«, sagte Will leise, schnaubte aber dann. »Aber bevor ich ihm sage, dass ich mein Studium schmeißen will und vermutlich eher nicht ins Management seiner Firma einsteigen werde, wäre es sicher ganz gut, wenn ich wüsste, was ich stattdessen machen will. Und da hab ich leider noch keinen Plan.« Müde fuhr er sich durch die dunklen Haare. »Ich könnte ihm nur zig weitere Jobs aufzählen, die ich definitiv alle nicht bis zum Ende meines Lebens machen möchte.«

Jemma zeichnete einen kleinen Stern auf seine Brust. »Vielleicht brauchst du einfach erst mal eine Auszeit und etwas Zeit nur für dich?«, meinte sie dann nachdenklich. »In den letzten zwei Jahren hast du deinem Dad fieberhaft bei der Entwicklung der Biokörper geholfen, um Neds Leben zu retten. Das war unglaublich nervenaufreibend und anstrengend und es wäre eigentlich die Zeit gewesen, in der du dir Gedanken um deine eigene Zukunft hättest machen sollen, um herauszufinden, was du willst. Vielleicht hättest du dir die Zeit danach nehmen sollen, als Ned in Sicherheit war. Stattdessen hast du dich sofort darauf gestürzt, deinen Schulabschluss rechtzeitig zum Semesterbeginn hinzukriegen, und dann hast du angefangen, das zu studieren, was am Naheliegendsten war.« Sie reckte sich und gab ihm einen Kuss. »Vielleicht wäre es jetzt einfach mal Zeit, dass du ein bisschen zur Ruhe kommst, um herauszufinden, was du wirklich willst. Daran wäre doch nichts falsch und ich bin mir sicher, dein Dad würde es verstehen.«

»Was ich wirklich will, weiß ich. Und das habe ich auch schon.« Er schlang seine Arme um sie und küsste sie noch einmal. »Und ich lass dich auch nie wieder gehen«, flüsterte er an ihre Lippen.

»Blödmann.« Sie pikste ihm in den Bauch und spielte dann mit seinen Haaren, die in Stirn und Nacken momentan ein bisschen zu lang waren, ihr deshalb aber nur umso besser gefielen. »Auch wenn das sehr, sehr schmeichelhaft ist, bin ich hier gerade nicht das Thema.«

Es klingelte an der Haustür und alle sahen überrascht auf.

»Max?«, fragte Jamie in Richtung Küche, da ihr Hausroboter sich in die Überwachungskamera über der Haustür einklinken konnte.

»Es ist Staatsanwältin Carrigan. Soll ich sie hereinbitten?«

Jemma wand sich aus Wills Armen und kletterte von seinem Schoß. »Nein, lass nur. Ich mach das schon.«

Jemma mochte die Staatsanwältin. Kate Carrigan war im letzten Herbst ihre geheime Verbündete gewesen, als Raymond Finch, einer der Seniorpartner von Abbott, Barnes & Finch, der Anwaltskanzlei, in der ihr Dad arbeitete, gemeinsame Sache mit Richard Huntley, einem reichen Politiker aus dem House of Lords des britischen Parlaments gemacht hatte. Huntley hatte seinen Sohn, der wegen Vergewaltigung und Mordes an einer Stripperin in Untersuchungshaft gesessen hatte, aus dem Gefängnis holen wollen und dafür Roberts Hilfe erpresst, indem er Jemma und Jamie als Geiseln hatte nehmen lassen. Doch mit der Unterstützung von Edward Dunnington und seinen Biokörpern hatten sie die Verbrecher austricksen können, während Kate Carrigan in ihrer Position als Staatsanwältin alles als stille Zeugin aufgezeichnet hatte. Die Huntleys waren daraufhin ebenso ins Gefängnis gewandert wie Raymond Finch, sodass die Anwaltskanzlei, in der Robert arbeitete, jetzt nur noch Abbott & Barnes hieß.

Auf dem Sofa wandte Zack sich zur Treppe um, die in den ersten Stock hinaufführte. »Robert! Beeil dich! Dein Date ist hier!«

Jemma strafte ihn mit einem bösen Blick, als sie am Sofa vorbei Richtung Haustür lief.

Ihr Dad hatte kein Date. Und sie mochte das fiese Zwicken in ihrem Herzen nicht, bei der Vorstellung, es könnte vielleicht irgendwann doch mal so sein.

Mann!,herrschte sie sich in Gedanken selbst an. Jetzt sei bloß kein Biest! Du magst Ms Carrigan!

Die Staatanwältin hatte ihr und Jamie durch die Aussagen beim Prozess gegen Huntley und Finch geholfen und sie hielt sie über das Verfahren gegen Russell auf dem Laufenden, obwohl sein Fall der schweren Körperverletzung nicht vor ihrem, sondern dem Jugendgericht verhandelt wurde.

Jemma verfluchte Zack innerlich für seinen blöden Kommentar, schüttelte rasch sämtliche unbequemen Vorstellungen ab und lächelte freundlich, als sie die Haustür öffnete. »Hallo, Ms Carrigan.«

»Hallo, Jemma. Tut mir leid, wenn ich störe und hier einfach so reinplatze. Ich hatte mit deinem Vater eigentlich ausgemacht, dass ich ihn auf dem Handy anrufe, wenn ich vor eurem Haus stehe, aber leider geht Robert nicht ran.«

»Kein Problem. Wahrscheinlich hat Dad sein Handy im Arbeitszimmer liegen und den Anruf nicht gehört. Aber er ist bestimmt gleich fertig.« Jemma machte eine einladende Handbewegung ins Haus hinein. »Möchten Sie hier drinnen auf ihn warten? Im Auto ist es bestimmt tierisch kalt.«

»Sehr gerne. Danke.« Carrigan folgte Jemma in den Wohnbereich und grüßte Jamie, Zack und Will, die mittlerweile zusammen auf dem Sofa saßen. »Hallo, Jungs.«

Die drei grüßten zurück und Zack fügte mit einem frechen Grinsen hinzu: »Wow, Sie sehen toll aus. Besonders mit den Schuhen.«

Die Staatsanwältin trug ein langes, dunkelgrünes Samtkleid mit dezentem Silberschmuck, das hervorragend zu ihren kastanienbraunen Haaren passte, die sie elegant hochgesteckt hatte. Ihr schwarzer Wintermantel harmonierte dagegen weniger mit dem Outfit und ein noch viel größerer Stilbruch waren die weißen Sneakers, die unter dem Samtstoff ihres Kleides hervorguckten.

Carrigan blickte auf ihre Füße und lachte. »Ja, die sind der letzte Schrei. Besonders bei Frauen wie mir, die mit hohen Absätzen nicht Auto fahren können. Und die Stola, die eigentlich zu diesem Kleid gehört, sieht zwar wahnsinnig toll aus, aber bei den Temperaturen da draußen lebe ich grundsätzlich nach dem Motto: Wärme vor Schönheit. Also kommt die Stola erst zum Einsatz, wenn ich in Tiverton Hall angekommen bin und die feinen Ladys der juristischen Gesellschaft geschockt in Ohnmacht fallen würden, falls ich dort in einem schnöden Wintermantel aufkreuzen sollte. Obwohl – dann wäre bei dem Ball vielleicht endlich mal was los.« Sie grinste, als würde ihr die Vorstellung durchaus gefallen.

Jemma und die Jungs mussten lachen.

»Wenn Robert ein bisschen mehr Gentleman wäre, hätte er das Fahren übernommen und Ihnen wenigstens die Schuhe ersparen können«, meinte Zack, doch die Staatsanwältin winkte ab.

»Er liegt auf meinem Weg, nicht ich auf seinem. Und er ist schon ein unfassbarer Gentleman, indem er mich begleitet. Nach dem, was im Herbst mit seinem Boss passiert ist, hätte Robert den Juristenball in diesem Jahr vermutlich lieber ausgelassen. Das ganze Gerede über Raymond Finch und seine Kanzlei hat zwar nachgelassen, aber ich fürchte, um die ein oder andere Fragerei wird er heute Abend trotzdem nicht herumkommen.«

Die Tatsache, dass Raymond Finch einen seiner Angestellten sowie dessen Kinder als Geiseln genommen hatte, um so durch einen dreckigen Deal mit Richard Huntley seine Spielschulden loszuwerden, hatte in der juristischen Gesellschaft von London jede Menge Wellen geschlagen, und es war Carrigan anzusehen, dass sich ihre Begeisterung darüber, gleich einen ganzen Abend im Kreis ihrer neugierigen Kollegen verbringen zu müssen, in Grenzen hielt.

Sie sah zur Treppe. »Vielleicht hat er es sich ja doch noch anders überlegt …?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Quatsch. Dad kneift nicht.« Er wandte sich ebenfalls zur Treppe um. »Dad! Komm aus dem Quark!«

Im ersten Stock fiel eine Tür zu, Schritte erklangen auf dem obersten Treppenabsatz und kurz darauf erschien Robert im Wohnzimmer. Er trug einen eleganten schwarzen Anzug mit Fliege, auf Hochglanz polierte Schuhe und zog sich im Gehen seinen besten Mantel über.

»Tut mir leid«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln in Kates Richtung. »Ich wollte dich nicht warten lassen, aber mir ist ein Schnürsenkel gerissen und ich musste kreativ für Ersatz sorgen.«

Alarmiert hob Kate die Augenbrauen. »Wie sehr kreativ …?«

»Ehm …« Er musterte ihr sportliches Schuhwerk. »Definitiv weit weniger kreativ als du. Ich hab nur umgefädelt, nicht sportlich elegant komplett überinterpretiert.« Er deutete auf ihre Sneakers. »Ein bisschen gewagt, aber dir steht es außerordentlich gut.«

Sie strafte ihn mit einem Augenrollen. »Newsflash an die Männerwelt: Cinderella hat nur gläserne High Heels getragen, weil sie eine Kutsche hatte, die sie zum Ball gebracht hat. Wenn sie vernünftige Schuhe getragen hätte und Auto gefahren wäre, hätte es den ganzen Schlamassel mit dem Prinzen nie gegeben.«

Robert lachte und wollte etwas erwidern, doch die Staatsanwältin schüttelte nur den Kopf. »Nein, mein Lieber, mach jetzt besser von deinem Recht zu schweigen Gebrauch, sonst könnte es passieren, dass du in deinen umgefädelten Hochglanztretern bis Tiverton Hall neben meinem Wagen herjoggen musst.« Sie hakte sich bei ihm unter und wandte sich Richtung Haustür. »Und jetzt sollten wir uns beeilen. Wenn wir uns diesen verdammten Ball schon antun müssen, will ich wenigstens ankommen, bevor Donna Braxton und ihr Gefolge das Buffet komplett geplündert haben.« Sie wandte sich noch einmal um und winkte Jemma und den Jungs zum Abschied zu. »War schön, euch wiederzusehen.«

»Gleichfalls«, gab Jemma zurück.

Robert warf ebenfalls einen Blick in die Runde. »Ich verlass mich darauf, dass das Haus noch steht, wenn ich zurückkomme.«

»Keine Sorge«, grinste Jamie. »Ruf einfach eine halbe Stunde bevor du heimkommst an, dann haben wir genug Zeit, alle Partygäste und die Punkrockband rechtzeitig rauszuschmeißen.«

Robert bedachte seinen Sohn mit einem alles sagenden Blick und einer hochgezogenen Augenbraue. »Und was habt ihr wirklich vor?«, fragte er dann. »Bleibt ihr hier oder geht ihr noch mal raus? Es soll Schnee geben.«

»Wir bleiben hier«, antwortete Jemma. »R.A.T.s haben für neun Uhr irgendeine spektakuläre Aktion in CyberLondon angekündigt und wir wollen gucken, was sie diesmal vorhaben. Danach gehen wir dort im West End ins Kino.«

»Okay, dann sehen wir uns später. Oder morgen. Je nachdem.«

»Yep, bis dann. Habt einen schönen Abend!«

Die Haustür fiel hinter den beiden ins Schloss und Jamies lockere Laune verschwand. Still zog er Zacks Arm um seine Schultern und sah zu Jemma, als sie sich neben Will aufs Sofa hockte. »Denkst du, zwischen den beiden läuft was?«

Da war es wieder – dieses fiese Zwicken in Herz und Seele. Jemma hob die Schultern und schwieg. Will schlang seinen Arm um ihre Mitte und zog sie zu sich.

»Wenn es so wäre, wäre das denn so schlimm?« Zack streichelte über Jamies Arm und sah zu Jemma. »Euer Dad ist so toll, hätte er es da nicht verdient, noch mal jemanden zu finden, mit dem er glücklich ist?«

»Doch, sicher«, murmelte Jamie, aber überzeugt klang es nicht.

»Hey«, sagte Zack sacht. »Wenn aus ihm und Ms Carrigan mehr als Freunde werden, würde das doch nichts an den Gefühlen ändern, die er für eure Mum hatte – und immer noch hat.«

Jamie schluckte hart und nickte stumm.

»Ich würde mich freuen, wenn mein Dad jemand Neues hätte.« Will spielte mit einer Haarsträhne, die Jemma über die Schulter fiel. »Er ist ständig so sehr mit seiner Arbeit und immer neuen Projekten, Aufgaben und Problemen beschäftigt, dass ich es echt gut fände, wenn er jemanden an seiner Seite hätte, der ihn ab und an mal von dem ganzen Stress wegholen und ihn das Leben genießen lassen würde.« Er zog die Nase kraus. »Aber vermutlich ist eine Frau, die ihn so nimmt, wie er ist, und das alles mit ihm gemeinsam durchzieht, ähnlich schwer zu finden wie karierte Maiglöckchen.« Er zupfte an Jemmas Haaren. »Aber Ms Carrigan ist echt cool und falls aus ihr und eurem Dad wirklich mehr als Freunde werden, stimme ich Zack zu: Sie würde mit Sicherheit niemals eure Mum ersetzen.«

Jemma atmete tief durch. Ganz tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Will und Zack recht hatten. Ihr Dad verdiente es, glücklich zu sein. Und ihre Mum hätte sicher niemals von ihm erwartet, dass er nach ihrem Tod nie wieder eine neue Beziehung anfing. Sie seufzte innerlich und kam sich erbärmlich vor, denn dass sie all dies wusste, bedeutete leider nicht, dass sich ihr Herz bei dem Gedanken an eine neue Frau im Leben ihres Dads nicht trotzdem schwer anfühlte … Und es ließ sie ihre Mum mal wieder so sehr vermissen, dass es wehtat.

Sie schaute zu Jamie und sah in seinen Augen, dass er genau das Gleiche fühlte wie sie.

»Hey«, meinte Zack sanft, als er den Blick zwischen den beiden sah. »Wie wär’s, wenn wir uns darüber jetzt erst mal keine Gedanken mehr machen? Es gibt eine neue Folge von Darkest Knights. Die könnten wir gucken, bevor wir nach CyberLondon gehen.« Er sah zu Will. »Hast du eigentlich im Internet noch ein paar Infos dazu gefunden, was genau R.A.T.s dort planen? Oder wo ihre spektakuläre Aktion heute stattfinden soll? London ist schließlich nicht gerade klein.«

Will sprang sofort auf den Themenwechsel an. »Was genau sie planen, haben sie nicht verraten, aber auf ihrer Homepage steht, dass Westminster heute Abend der Hotspot schlechthin sein soll.«

Zack schnaubte. »Na klar. Welcher Ort auch sonst? Wenn schon spektakulär, dann kann man es auch gleich am bekanntesten Wahrzeichen von London tun, was?«

Will zuckte mit den Schultern und nickte. »Vermutlich.«

Zack gab Jamie einen Kuss auf den strubbeligen Haarschopf. »Also, wie sieht’s aus? Erst ein paar dunkle Ritter anschauen und dann nachsehen, was die Ratten mit Big Ben anstellen?«

Jamie sah noch einmal zu Jem, dann nickte er und angelte nach der Fernbedienung. »Klingt gut.«

Kapitel 3

 

Um kurz vor neun loggten sie sich ins Cybernetz ein und hatten als Zielort in C-London eigentlich den Parliament Square wählen wollen, der sich zwischen Westminster Abbey und dem Palace of Westminster befand. Das System teilte ihnen jedoch mit, dass sich dort bereits zu viele CyberCity-Besucher befanden und ihre Avatare an ihrem Wunschort nicht generiert werden konnten. Die Westminster Bridge war ebenfalls bereits überfüllt, daher wählten sie schließlich einen Punkt auf der gegenüberliegenden Themseseite in einer kleinen Grünanlage am Florence Nightingale Museum. Auch hier hatten sich schon etliche Besucher eingefunden, trotzdem ergatterten die vier noch einen Platz an der Steinmauer des Parks mit einem guten Blick zum anderen Flussufer. Dort ragten der weltbekannte Uhrenturm mit Big Ben und die vielen kleineren und größeren Türme vom Palace of Westminster eindrucksvoll angestrahlt in den dunklen Abendhimmel.

Jamie zog Zacks Arme um seine Mitte und lehnte sich gegen ihn, während er das wohl bekannteste Wahrzeichen seiner Heimatstadt betrachtete. »Eigentlich echt schade, dass Urbanity ausgerechnet London als erste CyberCity herausgebracht hat. London kennen wir schließlich schon mehr als gut genug – und wir können es uns jeden Tag ansehen.«

»Urbanity hat seinen Sitz in London.« Neben ihm legte Will seinen Arm um Jemma. »Wahrscheinlich haben sie deshalb zuerst London gewählt. Aber weitere Städte sind ja schon angekündigt. New York soll im Sommer online gehen.«

»New York wäre definitiv cool!«

»Wenn du New York sehen willst, sag ich Mum und Dad, dass wir in den Osterferien kommen«, meinte Zack und seine Stimme nahm einen leicht zynischen Unterton an. »Jetzt, wo es mir wieder gut geht, wollen sie mich doch angeblich unbedingt sehen. Aber selbst wenn das mal wieder nur leeres Gelaber ist und sie doch keine Zeit für uns haben, wollen wir uns ja sowieso die Stadt ansehen und brauchen eigentlich nur ihr Gästezimmer.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nee, lass mal. Das ist mir zu anstrengend.«

Zack runzelte die Stirn und zog Jamie noch ein bisschen fester an sich. »Hey, du hast heute viereinhalb Meilen geschafft. Und wir würden ja nicht hinfliegen, um den New-York-Marathon zu laufen. Wir wollen uns nur die Stadt ansehen und das können wir ganz entspannt und mit vielen Pausen machen. Ich bin mir sicher, das kriegst du hin.«

Wieder schüttelte Jamie den Kopf. »Nein, nicht mehrere Tage hintereinander. Das pack ich noch nicht. Aber darum geht es auch gar nicht.«

»Sondern?«

»Ich will nicht eine ganze Woche lang zu deinen Eltern.« Seit er bei ihrem letzten Besuch zufällig mitangehört hatte, wie Trisha und Greg Zack mehr als deutlich nahegelegt hatten, sich mehr Spaß zu gönnen und sich nicht so sehr auf ihn zu fokussieren, hielt sich Jamies Begeisterung für Zacks Eltern in äußerst engen Grenzen. »Sie mögen mich nicht.«

Zack seufzte. »Das stimmt nicht. Natürlich mögen sie dich, sie verstehen nur nicht –«

»– warum du ausgerechnet mit mir zusammen sein willst, wenn du auch zig andere haben könntest, die cooler, hübscher und vor allem nicht so behindert sind wie ich?«

»Jamie –« Zack wollte ihn zu sich umdrehen, doch Jamie hielt sich an der Balustrade fest und schüttelte ihn ab.

»Nein, schon gut. Ich weiß, dass du nicht so denkst. Aber deine Eltern tun es und ich will nicht eine Woche lang mit ihnen unter einem Dach wohnen und ständig das Gefühl haben, dass sie mir nur was vorheucheln, wenn sie nett zu mir sind. Und New York kann ich mir im Sommer auch als CyberCity ansehen. Das reicht mir völlig.«

Zack wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment erklang auf der anderen Themseseite das Glockenspiel vom Elisabeth Tower und Big Ben schlug neun. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Uhrenturm und die altehrwürdigen Gebäude von Westminster, doch auch als der letzte Glockenschlag verklungen war, war noch nichts weiter passiert. Dann plötzlich –

»Herzlich willkommen!« Die Stimme schien von überall zugleich zu kommen. Wie eine gigantische Off-Voice hallte sie über die Cyberstadt hinweg und ließ alle heftig zusammenfahren. »Wir, die Ratten von Rage Against Technology, sagen herzlichen Dank dafür, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Damit werdet ihr uns bei unserer Demonstration äußerst behilflich sein.«

Etwas in Jemmas Magen zog sich unangenehm zusammen. In der Stimme lag etwas Gehässiges und Schadenfrohes, das ihr Unbehagen bereitete. Sie tauschte Blicke mit Will, Zack und Jamie und sah, dass es ihnen ganz ähnlich ging. Auch viele andere CyberCity-Besucher sahen sich irritiert um und tuschelten miteinander.

»Was soll das denn jetzt?«

»Was für eine Demonstration?«

»Heute Nacht«, erklang die Stimme wieder, »werdet ihr alle zu spüren bekommen – und damit der Welt dort draußen zeigen – was die Cybertechnik mit Menschen anstellen kann. Predigten und Warnungen alleine reichten bisher nicht, daher haben wir uns nun entschlossen, Taten sprechen zu lassen. Wir haben die Welt-verlassen-Funktion für CyberLondon außer Kraft gesetzt. Das bedeutet, niemand von euch kann sich aus dem Cybernetz ausloggen und euer Bewusstsein gehört heute Nacht uns.« Ein süffisantes Lachen erklang. »Aber da ihr ja alle die CyberWorld so abgöttisch liebt, findet ihr es bestimmt gar nicht so schlimm, dass ihr die nächsten Stunden hier festsitzen werdet.«

Unruhe breitete sich aus und das Gemurmel klang jetzt nicht mehr nur verwirrt, sondern auch besorgt, als viele vergeblich versuchten, die C-World zu verlassen. Auch Jemma, Jamie, Zack und Will griffen sich an die Schläfen, doch ihre Finger fanden dort nicht wie sonst die unsichtbaren Kontakte, mit denen sie ein Ausloggen einleiten konnten. Jemmas Herz klopfte plötzlich deutlich schneller, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie hatten das Cybernetz gerade erst betreten, dass sie es jetzt nicht wieder verlassen konnten, war erst mal nicht weiter dramatisch. Gefährlich wurde es erst in ein paar Stunden, wenn sie das Zeitlimit überschritten, das als gesundheitlich unbedenklich galt. Doch auch wenn ihnen vorerst keine Gefahr drohte, war es kein gutes Gefühl, von R.A.T.s festgesetzt worden zu sein. Diese Art, CyberLondon zu manipulieren und mit seinen Besuchern herumzuspielen, ging einen entschiedenen Schritt zu weit.

»Aber wir sind keine Unmenschen.« Bisher hatte eine männliche Stimme gesprochen, jetzt sprach plötzlich eine weibliche. »Alle Besucher unter sechzehn dürfen das Netz jetzt verlassen«, sagte sie gönnerhaft und ein schadenfroher Unterton war nicht zu überhören. »Nach dem kleinen – und hoffentlich heilsamen – Schock, den wir euch gerade verpasst haben, sind eure Welt-verlassen-Funktionen wieder freigegeben. Loggt euch jetzt aus und habt ein schönes Leben. Für alle unter sechzehn, die beim Anmelden ein falsches Alter angegeben haben – Pech gehabt. Ihr bleibt hier. Lasst euch das für die Zukunft eine Lehre sein: Ehrlichkeit zahlt sich aus. Falls ihr nach heute Nacht überhaupt noch eine Zukunft habt. Das hängt stark davon ab, ob unsere Forderungen erfüllt werden. Aber darüber solltet ihr euch jetzt erst mal nicht eure Köpfe zerbrechen. Schließlich weiß ja ohnehin noch niemand, was mit Menschen passiert, deren Bewusstsein bis zu acht Stunden im Cyberspace bleibt, denn das wurde bisher noch nie getestet.«

Jemmas Herz stolperte und Wills Gesichtsausdruck wurde immer grimmiger.