Die Lichtstein-Saga 1: Aquilas - Nadine Erdmann - E-Book

Die Lichtstein-Saga 1: Aquilas E-Book

Nadine Erdmann

5,0

Beschreibung

Die Welt der Menschen ist nicht die einzige. Verborgen hinter mächtigen Grenzen existiert die Schattenwelt, das Reich der Dämonen. Ahnungslos wächst die junge Liv in der Menschenwelt auf. Doch sie ist weit mehr, als sie ahnt. Als sie eines Tages die Barriere zwischen den Welten durchschreitet, wird sie mit der Kraft des Engelslichts konfrontiert – und ihrer Bestimmung. Die Zeit drängt, denn die Grenze zum Reich der Finsternis droht zu fallen. Der Auftaktroman zur großen Lichtstein-Saga von Nadine Erdmann.

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Table of Contents

Die Lichtstein-Saga 1

Die Auserwählten

Erste Schritte

Zwischen den Welten

Dreizehn Jahre zuvor …

Aquilas

Die Heilige Grotte

Nachwort

Impressum

Die Lichtstein-Saga 1

»Aquilas«

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Prolog

 

Die Kerzen flackerten. Selbst die Flammen in den Öllampen zitterten unruhig.

Das Licht spürte die Schatten.

Er lächelte.

Mit Bedacht ließ er die Kanüle der gläsernen Spritze ins halbflüssige Glas der Spiegelscherbe eindringen, presste vorsichtig den Kolben hinunter und ließ die Schwärze ins Material sickern.

Ein Hauch von Finsternis.

Sein Hauch von Finsternis.

Augenblicklich ließ die Kälte der Schwärze das Spiegelglas erhärten. Dunkle Wirbel tobten wild in der Scherbe – wütend, das eine Gefängnis nur gegen ein anderes eingetauscht zu haben.

Voller Genugtuung betrachtete er das finstere Treiben auf seinem Labortisch.

Wieder ein Stück fürs Ganze.

Besser und mächtiger als beim letzten Mal.

Sein Werk war fast vollendet. Viel fehlte nicht mehr. Und er würde sicherstellen, dass ihn dieses Mal niemand aufhalten konnte – weder die Garde noch die lächerlichen Cays.

Seine Experimente liefen zu perfekt. Seine Fortschritte waren zu beeindruckend. Nichts konnte seinem Triumph jetzt noch im Wege stehen.

Zufrieden legte er die Spritze zur Seite und genoss das zornige Wüten in der kleinen Scherbe.

Eines war gewiss: Alle würden eine böse Überraschung erleben. Sowohl Schatten als auch Licht.

TEIL 1

Die Auserwählten

Die Flamme in ihrer Hand zitterte. Ein kleiner Kreis aus Licht. Das war alles, was sie vor der Finsternis schützte.

Hinter ihr gähnte ein rabenschwarzer Abgrund. Nur noch zwei Schritte und sie würde hinabstürzen in bodenlose Dunkelheit.

Vor ihr tobte ein Sturm aus Schwärze. Wellen aus Finsternis brandeten gegen ihren kleinen Lichtkreis, drohten ihn zu verschlingen. Wieder flackerte die Flamme in ihrer Hand.

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Ihr Herz hämmerte viel zu schnell. Sie wusste, dass sie nur sicher war, solange sie im Licht blieb, doch die Dunkelheit drang immer heftiger auf sie ein. Schwarze Nebelfäden lösten sich aus der Finsternis und griffen wie dünne, klauenartige Finger nach ihr.

Erschrocken wich sie zurück.

Spürte die Kälte, fühlte das Böse.

Die Flamme flackerte noch unruhiger. Die Fadenfinger kamen immer näher!

Verzweifelt wich sie noch einen Schritt zurück.

Der Abgrund!

Sie strauchelte, verlor den Halt, stürzte in eisige Finsternis –

 

Keuchend fuhr Liv aus dem Schlaf – und sank erleichtert zurück, als sie sich wohlbehalten auf der Wohnzimmercouch und nicht zerschmettert am Boden eines finsteren Abgrunds wiederfand.

Shit!

Mit zittrigen Händen fuhr sie sich übers Gesicht und versuchte, die wirren Traumbilder zu vertreiben.

Okay, tief durchatmen.

Alles ist gut …

Aber war es das wirklich?

Dieser verdammte Traum quälte sie in letzter Zeit immer häufiger.

Was zum Teufel sollte das? Wollte ihr verkorkstes Unterbewusstsein ihr damit irgendetwas sagen? Wenn ja, dann wäre ihr eine etwas verständlichere Botschaft bedeutend lieber gewesen.

Ächzend setzte sie sich auf. Im Fernsehen lief die gefühlt siebenundachtzigste Staffel irgendeiner Castingshow und ein aufgedonnertes Möchtegern-Popsternchen mit reichlich wenig Stimme räkelte sich stöhnend in einer schrillen Bühnendeko herum, als hätte sie Wadenkrämpfe der übleren Sorte. Liv angelte nach der Fernbedienung und zappte weiter, um diese Qual nicht länger mit ansehen zu müssen.

Die Wohnungstür wurde geöffnet und die Stimme ihrer Mutter drang zu ihr herüber.

»– ausprobieren? Ich denke, das würde gut passen.«

»Fantastische Idee! Das wird ein ganz neues Flair!«

Liv stöhnte.

Echt jetzt?

Erst acht Stunden Schule mit Nachmittagssport bei drückender Hitze, dann Einkaufen, Tütenschleppen, völlig überfüllter stickiger Bus, ihr neuer Lieblingsalbtraum und jetzt auch noch Lissie?! Das Leben legte heute anscheinend einen ganz besonders schlechten Humor an den Tag.

»Ich koche uns erst mal einen schönen Kräutertee«, verkündete ihre Mutter und ein Schlüssel fiel geräuschvoll in die kleine Schale auf der Dielenkommode. »Rafael hat mir eine ganz wunderbare Mischung zusammengestellt. Ich – Moment, warte mal.« Stirnrunzelnd trat Karin ins Wohnzimmer, als sie den Fernseher dudeln hörte. »Ach, du bist hier?«

Liv seufzte. »Ja, Mama. Ich wohne jetzt hier. Hast du das mal wieder verdrängt?«

Obwohl sie mittlerweile seit fast vier Monaten bei ihrer Mutter lebte, schien diese immer wieder überrascht zu sein, Liv in ihrer Wohnung vorzufinden.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Karin leicht entrüstet. »Ich dachte nur, dass du an einem Freitagabend etwas Besseres vorhast, als hier in der Wohnung herumzuhängen. Warum triffst du dich nicht mit ein paar deiner neuen Freunde?«

Welche neuen Freunde?

Doch Liv sparte sich eine Antwort, die unweigerlich zu einer bösen Diskussion über die verschiedenen Egotrips ihrer Eltern geführt hätte.

»Deine Mutter hat völlig recht!«

Die fürchterlich fröhliche Stimme, die sich jetzt ungefragt ins Gespräch einmischte, sorgte dafür, dass Liv sich fest auf die Unterlippe beißen musste, um nicht doch eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Sie gehörte Lissie – eigentlich Elisabeth, doch das klang natürlich viel zu altbacken – der besten Freundin ihrer Mutter. Nach der Trennung von Livs Vater hatte Lissie Karin vor einem halben Jahr überredet, von Hamburg nach Berlin zu ziehen, um gemeinsam einen hippen Secondhandladen zu eröffnen. Lissie war Mitte vierzig, führte sich auf wie Anfang zwanzig und schien sich für eine Art Reinkarnation aus der Hippiezeit zu halten.

Während Karin in die Küche ging, um Teewasser aufzusetzen, trat Lissie ins Wohnzimmer. Ein helles Klingeln ertönte bei jedem ihrer Schritte und Liv sah, dass sie sich ein bunt geflochtenes Band mit mehreren Silberglöckchen um ihr Fußgelenk gebunden hatte. Dazu trug sie ein weites Batikkleid in allen möglichen – und unmöglichen – Schattierungen, die das lila Färbemittel hergegeben hatte, und ihre schwarzen Rastalocken waren zu einem Turm aufgebaut, der von etwas, das aussah wie chinesische Essstäbchen, mehr oder weniger in Form gehalten wurde.

»Du bist jung, Livi! Geh aus, geh auf Partys! Entdecke die Stadt und lern neue Leute kennen! Himmel, wenn ich daran denke, was ich mit fast achtzehn alles angestellt habe …« Sie bedachte Liv mit einem vielsagenden Zwinkern.

Die verdrehte bloß die Augen und war unendlich dankbar, dass Lissie die Anekdoten aus ihrer Jugendzeit für sich behielt.

Was Liv selbst anging: Sie war keine Partymaus, sondern Stubenhockerin aus Leidenschaft und verkrümelte sich lieber mit einem guten Buch in ihr Zimmer, statt zig neue Leute kennenzulernen. Das brachte erfahrungsgemäß nur die beiden großen Ms mit sich und auf die konnte sie gut verzichten.

»Du solltest wirklich mehr aus dir machen.« Lissie ließ sich neben sie auf die Couch sinken und musterte sie kritisch. »Niemand muss nur Durchschnitt sein, Liebes! Ein paar freche Strähnchen zum Beispiel. Die würden deinen straßenköterblonden Haaren echten Pepp bringen.«

Pepp?!

War das auch so ein Überbleibsel aus der Hippiezeit?

»Oder ich könnte dir Cornrows mit ein paar bunten Perlen flechten. Niemand muss langweilig aussehen. Jeder kann ein bisschen auffallen!«

Nur mit Mühe unterdrückte Liv ein genervtes Stöhnen.

Wer sagte denn bitte, dass sie auffallen wollte? Himmel, sie war froh, wenn man sie in Ruhe ließ!

Außerdem fand sie es reichlich schräg, dass ausgerechnet eine Frau in Jesuslatschen und Altkleidern ihr Beautytipps geben wollte. Doch um des lieben Friedens willen hielt sie den Mund und schluckte alle bösen Kommentare hinunter. Wenn sie einen Streit anfing, bedeutete das nur Stress mit ihrer Mutter, die sich automatisch auf Lissies Seite schlagen würde, und dann hätte sie ein unentspanntes Wochenende vor sich. Darauf hatte sie keine Lust. Als Lissie jedoch mit einem widerlich gönnerhaften Lächeln ihre lila lackierten Fingernägel in Livs Haare graben wollte, um ein paar Frisuren auszuprobieren, fand Liv, dass alles seine Grenzen hatte, und ihre waren exakt jetzt erreicht. Sie tauchte unter Lissies Händen weg und sprang von der Couch auf.

»Ich glaube, ich geh jetzt mal auf mein Zimmer. Ihr wollt hier doch sicher gleich wieder irgendwelche Schnittmuster auslegen oder sonst was wahnsinnig Kreatives machen, oder?«

Ihre Mutter erschien mit einem Tablett, auf dem sie Teekanne, Tassen und einen Teller mit Vollkornkeksen balancierte.

»Wir wollen ein paar Duftöle mischen«, antwortete Lissie. »Du weiß schon, unseren eigenen, unverwechselbaren Sommerduft kreieren. Du kannst uns gerne helfen, schließlich möchten wir ja auch die Jugend mit unseren Kreationen ansprechen.«

Alles, nur das nicht.

Sie musste definitiv hier raus.

»Sorry, aber davon bekomme ich Kopfschmerzen.«

»Dann hast du wahrscheinlich einfach nur noch nicht deinen inneren Seelenduft gefunden.«

»Ich hab auch ehrlich gesagt nicht vor, danach zu suchen. Ich verschwinde lieber.«

»Ja, das wird das Beste sein«, meinte ihre Mutter, während sie Tassen, Teller und Teekanne auf dem Tisch verteilte.

Zwei Tassen.

Liv presste die Lippen aufeinander. Ihre Mutter hatte sie ohnehin nicht eingeplant.

»Hier würdest du uns eh nur stören.«

Augenrollend schüttelte Liv den Kopf.

Mann, die Egotrips ihrer Eltern nervten echt gewaltig!

»Tut mir leid, dass ich existiere!«, knurrte sie leise und stapfte Richtung Diele.

»Hast du etwas gesagt, Schatz?«

»Nein«, seufzte sie resignierend. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Vielleicht gehen Lissie und ich später noch aus. Wundere dich also nicht, wenn du allein bist.«

»Okay.«

Allein war sie so oder so.

Sie ging in ihr Zimmer, das eigentlich das Nähzimmer ihrer Mutter war, kickte die Tür hinter sich zu und lehnte sich müde dagegen. Vor dem Fenster ihres Hochhauses hatten sich dunkle Wolkenungetüme am Himmel zusammengebraut und brachten Livs düstere Stimmung so ungemein treffend auf den Punkt.

Sie kramte Smartphone und Kopfhörer aus ihrer Schultasche und warf sich aufs Bett. Einen Augenblick später dröhnten rockige Beats in ihren Ohren und sie starrte hinaus auf die imposanten Gewitterwolken. Wetterleuchten flackerte über den Himmel und warf eigenwilliges Zwielicht in den Raum.

Was war plötzlich los mit ihr?

Es war ja nun wirklich nichts Neues, dass sie sich allein und fehl am Platz fühlte. Warum fühlte es sich dieses Mal also so … so heftig an? Weil es zum ersten Mal ihre Eltern waren, die sie allein ließen? Bis vor einem halben Jahr war das Verhältnis zu den beiden eigentlich ganz in Ordnung gewesen. Jetzt fragte sie sich immer häufiger, ob Mutter Natur nicht recht gehabt hatte, als sie beschloss, dass die zwei keine Kinder bekommen sollten.

Sie biss sich auf die Unterlippe, als ihr prompt das schlechte Gewissen in den Magen stach.

Dieser Gedanke war beschissen unfair.

Ihre Eltern hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie adoptiert war, und siebzehn Jahre lang hatten sie mehr oder weniger alles für ihre Tochter gegeben. Vielleicht musste Liv ihnen nun also ihre eigenen Leben zugestehen. Ihr Vater war glücklich mit seiner neuen Freundin – so glücklich, dass die beiden Turteltauben ihr nahegelegt hatten, zu ihrer Mutter zu ziehen, weil sie einfach mehr Zeit und Raum für sich und ihre Zweisamkeit brauchten. Und ihre Mutter wollte sich mit ihrem neuen Laden selbstverwirklichen, weil es ihr nicht mehr reichte, nur Hausfrau und Mutter einer fast erwachsenen Tochter zu sein.

Konnte Liv ihr das übel nehmen?

In knapp drei Monaten wurde sie achtzehn und in elf hatte sie hoffentlich ihr Abi in der Tasche. Dann würde sie studieren gehen und selbst ein neues Leben anfangen. Vielleicht war es da nur normal, dass Eltern anfingen, wieder an sich zu denken.

Sie seufzte.

Auch wenn sie sich Mühe gab, Verständnis zu haben, fühlte sie sich trotzdem traurig und leer, und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, wanderten ihre Gedanken unweigerlich zu der einen bohrenden Frage, die ihr in letzter Zeit viel zu oft auf der Seele brannte: Wie wäre es ihr bei ihren leiblichen Eltern ergangen?

Liv wusste gar nichts über sie. Sie war nur ein paar Tage alt gewesen, als sie in einer Babyklappe abgegeben worden war. Völlig anonym, ohne die geringsten Anhaltspunkte, wer ihre Eltern waren oder warum man sie weggegeben hatte. Lediglich einen Zettel mit ihrem Namen hatte man bei ihr gefunden: Livia.

Vielleicht kam diese nagende Leere in ihrem Inneren daher.

Vielleicht lag es gar nicht so sehr am Umzug und der neuen Schule, dass sie sich im Moment ständig so fühlte, als würde sie nirgendwo mehr richtig dazugehören.

Wieder seufzte sie.

Es wäre schön zu wissen, wo sie herkam. Aber eine Babyklappe war nun mal anonym. Da gab es keine Möglichkeiten für Nachforschungen.

Niedergeschlagen boxte sie sich ihr Kopfkissen zurecht.

Vermutlich sollte sie einfach dankbar sein, dass sie dort gelandet war und nicht irgendwo im Müll. In den Medien gab es schließlich genug schreckliche Berichte darüber, wie Eltern ihre ungewollten Kinder entsorgten.

Liv schluckte hart und fand sich selbst erbärmlich, weil sie sich so runterziehen ließ.

Dann hör auf, so viel herumzugrübeln!

Leichter gesagt als getan.

Sie atmete tief durch und spürte ein vertrautes Kribbeln in ihrer rechten Hand. Sie hielt sie hoch ins Zwielicht und betrachtete das Mal auf ihrer Handfläche. Ein blassroter Kreis, etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze, mit vier Strahlen. Es sah ein bisschen so aus wie ein Kompass. Oder wie eine Sonne, der ein paar Strahlen fehlten.

Genauso wie Liv etwas fehlte.

Sacht strich sie mit einem Finger über das Zeichen. Es fühlte sich gut an. Richtig. Auch wenn die Sonne unvollständig war. Sie funktionierte trotzdem. Machte sie ruhiger, wenn sie wütend oder aufgebracht war. Oder tröstete, wenn sie sich traurig und allein fühlte. Sie gehörte zu ihr, auch wenn Liv nicht wusste, warum. Niemand wusste das.

Ihre Adoptiveltern hatten ihr erzählt, dass man sie damals, nach ihrem Fund in der Babyklappe, eingehend im Krankenhaus untersucht hatte, doch außer diesem seltsamen Mal in ihrer Hand hatte man nichts Ungewöhnliches feststellen können. Auch das Mal selbst war genau überprüft worden und schließlich konnten die Ärzte nicht anders, als es als eine kuriose Laune der Natur abzutun.

Liv zeichnete die Strahlen in ihrer Handfläche mit dem Finger nach und ergänzte noch ein paar weitere. So wie sie es immer getan hatte, als sie noch klein gewesen war. Mit rotem Filzstift hatte sie aus ihrem Mal eine komplette Sonne gemacht, denn genauso fühlte es sich an. Warm und gut. Besonders, wenn andere gemein zu ihr gewesen waren, wenn sie herausgefunden hatten, dass sie adoptiert war. Kinder konnten verdammt grausam sein, wenn jemand anders war und aus irgendeinem Grund nicht der Norm entsprach. Selbst viele Erwachsene hatten Liv merkwürdig angesehen, wenn ihre Sprösslinge ihnen von dem adoptierten Mädchen mit dem komischen Zeichen in der Hand erzählt hatten. Deshalb hatte sie ihre Sonne irgendwann einfach für sich behalten.

Stattdessen waren Bücher ihre besten Freunde geworden. Und Comics mit Superhelden, die geheime Kräfte hatten. Als Kind war sie jahrelang felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie auch eine Superheldin werden würde, wenn sie groß war. Schließlich hatte ihre Sonne ja auch geheime Kräfte: Wenn es ihr schlecht ging und sie traurig war, half sie immer, dass sie sich wieder besser fühlte. Und wenn sie endlich groß wäre, würden die Superkräfte ihrer Sonne auch für andere traurige Menschen reichen. Dann konnte sie ihnen helfen und sie wieder glücklich machen und dafür hätten die Menschen Liv dann endlich gemocht und gern gehabt.

Liv lächelte und ballte ihre Sonnenhand zur Faust. Sie liebte ihr jüngeres Ich für seine Naivität und Gutgläubigkeit. Und für seine Herzenswärme. Mittlerweile war sie zwar nicht zur Menschen hassenden Einsiedlerin geworden, aber die Realität hatte sie eingeholt und sie verschwendete keine Energie mehr darauf, gemocht zu werden. Ihr reichte es, wenn man sie in Frieden ließ.

In ihrer neuen Schule wusste kein Mensch von ihrem Mal. Auch nicht, dass sie adoptiert war. Es interessierte auch keinen. Im letzten Schuljahr vor dem Abi kannten sich ihre Mitschüler alle seit Jahren und keine der Cliquen hatte Interesse an einem Neuzugang. Doch das war okay. Jedenfalls deutlich besser als die beiden großen Ms an ihrer alten Schule: Mitleid und Mobbing. Eigentlich lief also trotz der Egotrips ihrer Eltern im Moment alles recht gut.

Warum fühlte sie sich dann trotzdem ständig mies? Und was sollte dieser ätzende Albtraum, der sie in letzter Zeit immer häufiger aus dem Schlaf riss?

Sie schloss die Augen.

Und warum fühlte sie sich immer wieder so verdammt alleine? Eigentlich war sie doch froh, wenn man sie in Ruhe ließ.

Wieder kribbelte es in ihrer Hand und Liv presste sie auf ihr Herz.

Das half. Immer.

Sie genoss das vertraute Gefühl von Wärme und Geborgenheit, das sie durchströmte, und atmete tief durch.

Nichts denken.

Einfach nur sein.

Superheldin wollte sie schon lange nicht mehr werden. An manchen Tagen reichten die geheimen Kräfte ihrer Sonne gerade so für sie selbst. Aber dafür konnte Liv sich hundertprozentig auf sie verlassen. Sie kuschelte sich in ihre Kissen, wählte eine ruhige Playlist und ließ sich von der Musik in den Schlaf lullen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Sie war noch im Halbschlaf, trotzdem merkte sie, dass etwas falsch war.

Ein eigenartiges Rauschen drang zu ihr.

Rauschen?!

Schlagartig hellwach, fuhr sie aus dem Schlaf und riss die Augen auf.

»Was zum …?«

Völlig perplex blickte sie sich um.

Das hier war nicht ihr Zimmer.

Statt in ihrem eigenen Bett lag sie in einem riesigen altertümlichen Holzbett in einem Raum, der aussah, als würde er in eine mittelalterliche Burg gehören. Die Wände bestanden aus großen grauen Steinblöcken, neben einer Tür aus rauem Holz hingen zwei Halterungen mit dicken Kerzen und auf einer klobigen Kommode standen ein Kerzenleuchter und eine Vase mit Sommerblumen. Darüber hing ein runder Spiegel mit schnörkeligem Rahmen. Auf den steinernen Bodenplatten lagen zwei bunte Flickenteppiche und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und einer Öllampe vervollständigte das schlichte Mobiliar.

Ungläubig rieb Liv sich über die Augen.

Was war das jetzt? Albtraum 2.0 – The Next Variation?

Dieser Traum hier schien zwar – vorerst?! – besser zu sein als der Horrortraum über diese fürchterliche Finsternis, die ständig nach ihr greifen wollte. Trotzdem raste ihr Herz wie verrückt.

Was, wenn es kein Traum war?

Sie fühlte sich nicht so, als würde sie noch schlafen.

Doch das tat sie in ihrem Horrortraum auch nie.

Probehalber kniff sie sich in den Arm. Es tat weh – aber war das wirklich ein Beweis dafür, dass man nicht träumte?

Sie schlug die Decke zurück und sah, dass sie noch dieselben Jeans und das T-Shirt trug, in denen sie gestern Abend auf ihrem Bett eingeschlafen war.

Gestern?

Shit, wer sagte denn, dass es erst gestern gewesen war?

Was zum Teufel war hier los?

Wo verdammt war sie?

Sie strampelte die Bettdecke endgültig fort und wollte zum Fenster. Es bestand aus buntem Bleiglas wie in einer Kirche und stand weit offen. Das seltsame Rauschen kam von dort.

Gerade als sie aufspringen wollte, ertönte ein piepsiges Stimmchen.

»Oh wie schön! Du bist endlich wach!«

Erschrocken plumpste Liv zurück in die Kissen und sah sich hektisch um. Hier war niemand außer ihr. Sie war völlig alleine in diesem komischen Zimmer. Wo kam die Stimme her?

Wurde sie etwa überwacht?

»Wer sind Sie?« Sie war froh, dass sich ihre Stimme nicht so panisch anhörte, wie sie sich gerade fühlte. »Und wo sind Sie? Wo bin ich hier?«

Von der äußeren Fensterbank schwirrte etwas Glitzerndes, Funkelndes herein und landete neben ihr auf der zerwühlten Bettdecke. Völlig verdattert blieb Liv der Mund offen stehen.

»Hallo. Ich bin Philomena. Aber alle nennen mich nur Phily.« Das kleine Wesen griff den Saum seines hellblauen Trägerkleidchens und machte einen anmutigen Knicks.

»Du – du bist eine …«

»Fee. Aus dem Auenwald. Der liegt in der Nähe der Bergwacht der Zwerge. Aber jetzt lebe ich hier im Kloster. Ari hat mich gefunden und gesund gepflegt. Im Frühjahr gab es einen schrecklichen Sturm und ich wollte es noch nach Hause schaffen, aber dann hat mich ein Zweig erwischt und einen meiner Flügel verletzt und ich bin abgestürzt. War ganz schlimm. Ich hatte tiefe Wunden. Und ganz viele meiner Knochen waren gebrochen.«

Liv konnte das kleine Wesen nur ungläubig anstarren und bemühte sich redlich, seinem Redeschwall zu folgen. Phily war kaum größer als ein Kugelschreiber und sehr zierlich. Sie hatte silbern schimmerndes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, große blaue Augen und eine winzige Himmelfahrtsnase. Sie trug nichts außer ihrem kurzen Kleid und aus ihrem Rücken ragte ein wunderschönes Flügelpaar, das Ähnlichkeit mit Libellenflügeln hatte. Hauchfein und transparent glitzerten sie im Sonnenlicht und schillerten in allen Regenbogenfarben. Die kleine Fee hatte bekümmert ausgesehen, während sie von ihrem Unfall erzählte, doch jetzt lächelte sie wieder, schwang sich vom Bett in die Luft und flog ein paar Saltos.

»Aber Ari hat mich wieder gesund gemacht. Mia hat ihm gezeigt, wie das geht. Er lernt das Heilen noch. Aber er kann es schon ziemlich gut. Siehst du?« Sie flog einen weiteren Salto. »Jetzt ist alles wieder gut.«

Liv musste lächeln. Dieser Traum hier war definitiv um Längen besser als der von der unheimlichen Finsternis. Sie mochte Phily und streckte ihr ihre Hand hin, um die kleine Fee darauf landen zu lassen. Sie wog nicht mehr als ein Päckchen Taschentücher.

»Es ist toll, dass es dir wieder gut geht.«

»Ja, nicht wahr?« Phily nickte strahlend und setzte sich im Schneidersitz auf Livs Handfläche. »Aber weißt du, was noch viel toller ist? Dass du jetzt hier bist! Die Letzte der vier Cays ist endlich nach Hause zurückgekehrt. Wir haben uns schon alle so sehr auf dich gefreut!«

Liv runzelte die Stirn. »Die Letzte der vier Cays? Was heißt das? Und wieso nach Hause zurückgekehrt? Wo sind wir denn hier?«

Phily sprang auf, schwang sich erneut in die Luft und sauste einmal durch den Raum. »Na, du bist hier in Burgedal! Und du bist eine der vier Auserwählten des Engels.« Sie machte einen Sturzflug und landete wieder auf Livs Hand. »Da, du hast sein Zeichen!« Sie tippte mit ihrem Fuß auf den blassroten Kreis mit den vier Strahlen, den Liv auf ihrer Handfläche trug.

Ooookaaay …

Anscheinend versuchte ihr Unterbewusstsein in diesem Traum eine Art Antwort auf die Frage zu finden, wo sie herkam und wer sie wirklich war – und das hier war jetzt das Ergebnis: die Auserwählte eines Engels, die in irgendeinem Kloster wohnte.

Vielleicht ein bisschen schräg, aber es hätte eindeutig schlimmer kommen können.

»Du musst mit den anderen die Lichtsteine holen und das Engelslicht neu bestärken, damit die Grenzen zum Schattenreich bestehen bleiben und keine Monster aus der Finsternis kommen können.« Phily verbarg ihr Gesicht in den Händen, als würde sie sich fürchten.

Monster aus der Finsternis …

Etwas kribbelte ungut in Livs Nacken und sie sah sich nervös um. Würde sie jetzt gleich wieder mit dem Rücken an diesem fürchterlichen Abgrund stehen, während boshafte Kälte auf sie zukroch, die mit schwarzen Nebelfäden nach ihr greifen wollte?

Es klopfte an der Tür und sie zuckte so heftig zusammen, dass Phily auf ihrer Hand einen Satz in die Höhe machte.

Die kleine Fee erhob sich in die Lüfte und bevor Liv etwas sagen konnte, rief sie: »Komm nur herein, sie ist schon wach!«

Die Tür wurde geöffnet und ein hagerer Mann in einer Mönchskutte trat ein. Er musste um die sechzig sein, hatte kurzes graues Haar und Falten zeichneten sein Gesicht. Doch die wasserblauen Augen blitzten hellwach. Er lächelte Liv freundlich entgegen, musterte sie einen Moment lang aufmerksam und wandte sich dann mit hochgezogener Augenbraue Phily zu.

»Ich dachte, wir hatten ausgemacht, dass du Livia in Ruhe lässt und mir Bescheid gibst, sobald sie wach ist. Ich wollte als Erster mit ihr reden.«

Zerknirscht zog Phily den Kopf zwischen die Schultern. »Ja, schon … Aber sie ist ganz anders als Noah!«

»Trotzdem wollte ich nicht, dass du sie erschreckst.«

Voller Bestürzung sah die kleine Fee zu Liv. »Hab ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht!«

Liv schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie zögernd. »Du hast mich nicht erschreckt.« Stirnrunzelnd sah sie zu dem alten Mann.

Ich bin wirklich wach?!

Unauffällig kniff sie sich noch einmal in den Arm. Es tat wieder weh. War das also wirklich ein Beweis dafür, dass sie nicht schlief und träumte? Aber das hier konnte nicht real sein. Wie denn? Sie war hier an einem völlig fremden Ort und durch dieses Zimmer schwirrte eine Fee! Das konnte unmöglich real sein.

Oder … hatten ihre Mutter und Lissie im Wohnzimmer womöglich einen ganz, ganz üblen Seelenduft zusammengepanscht? War sie vielleicht gerade total auf Droge und halluzinierte das alles hier?!

Der Mönch schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Ich vermute, du bist im Moment ziemlich verwirrt.« Er wies auf den roten Fleck auf ihrem Arm, dort, wo sie sich gekniffen hatte. »Aber ich kann dir versichern, du träumst nicht. Und du hast auch kein Fieber und halluzinierst.«

Livs Herz setzte einen Moment aus, nur um dafür gleich darauf doppelt so heftig zu schlagen.

Der alte Mann nahm sich einen Stuhl und setzte sich vor ihr Bett, während Phily sich auf dem Nachttisch niederließ, sichtlich erleichtert, dass niemand böse auf sie war.

»Mein Name ist Ignatius und du befindest dich hier im Kloster von Burgedal.«

Das Kloster und Burgedal hatte Phily schon erwähnt, doch das sagte Liv rein gar nichts. »Was bedeutet das? Wie bin ich hierhergekommen? Und warum?«

»Wir haben dich zu uns geholt.«

Scheiße, was? Wie … zu uns geholt?!

Das hörte sich nicht gut an. Das hörte sich an wie – gestorben?!

»Bin ich – tot?«

Beruhigend schüttelte der alte Mann den Kopf. »Nein, du bist nicht tot. Aber du hast die Welt, die du bisher kanntest, verlassen.«

Liv verstand nicht mal mehr Bahnhof und das musste sich wohl auch auf ihrem Gesicht gezeigt haben, denn Ignatius sprach weiter.

»Lass es mich dir erklären.« Er atmete tief durch. »Du weißt, dass du adoptiert worden bist?«

Sie nickte.

»Gut. Dann werde ich dir jetzt die Geschichte deiner wahren Herkunft und deiner Heimat erzählen.«

Liv fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, doch Ignatius ließ ihr keine Zeit, ihr Gefühlschaos zu sortieren.

»Wie gesagt, wir sind hier im Kloster von Burgedal. Burgedal ist die größte Stadt von Interria, einer Welt jenseits der Welt, die bisher dein Zuhause war. Interria ist eine Grenzwelt, eine Art Pufferzone zwischen deiner alten Welt und dem Schattenreich, der Welt der Dämonen. Wir in Interria sorgen dafür, dass die Welt der Menschen vor der Finsternis der Schattenwelt geschützt ist.«

»Das hab ich ihr schon erzählt!« Aufgeregt hüpfte Phily in die Höhe. »Also so ein bisschen.«

Seufzend sah Ignatius von der quirligen Fee zu Liv.

Die konnte ihren Blick nur ungläubig zwischen den beiden hin und her wandern lassen.

Grenzwelt und Schattenreich?

Ernsthaft?!

»Interria wurde vor mehr als zweitausend Jahren von Cayaniel, dem Engel des Lichts, erschaffen«, fuhr Ignatius fort. »Licht ist unsere Macht und unsere Waffe, um den Kreaturen der Schattenwelt Einhalt zu gebieten. Die Legende besagt, dass Cayaniel damals vier Menschen auswählte, denen er Caya, die Macht des Lichts, in die Hand legte. Sie waren gezeichnet mit Cayas Mal in ihrer rechten Hand.«

»Das hab ich ihr auch schon erzählt!«, piepste Phily wieder eifrig dazwischen.

Liv konnte weiter nur entgeistert zwischen den beiden hin und her schauen. Ganz ehrlich: Das hier war einfach viel zu abgefahren, um kein Traum zu sein.

»Öffne deine Hand, Livia«, sagte Ignatius sanft.

Zögernd tat Liv wie ihr geheißen und sofort begann ihre Handfläche zu kribbeln – stärker und fröhlicher als jemals zuvor. Ungläubig fuhr sie mit dem Finger über ihre Sonne und blickte zurück zu Ignatius.

Der lächelte. »Du bist eine Cay, eine Auserwählte des Engels des Lichts.« Dann seufzte er und der Ausdruck in seinem Gesicht wirkte mit einem Mal deutlich ernster. »Das bedeutet, dass eine große Verantwortung auf deinen Schultern lastet, denn es liegt an dir, ob die Welt, die fast achtzehn Jahre lang dein Zuhause war, auch weiterhin vor den Kreaturen der Dunkelheit bewahrt werden kann.«

Irgendwas in ihrem Inneren fühlte sich plötzlich ganz merkwürdig an. So, als wäre etwas geöffnet oder aufgeweckt worden.

Das hier war kein irrer Drogentrip.

Sie schlief auch nicht und träumte.

Das hier war echt.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich dessen auf einmal so sicher war, aber in ihrem Inneren war es plötzlich eine genauso unumstößliche Wahrheit wie die Tatsache, dass Wasser nass war, Feuer heiß und Eis kalt.

Das Problem war nur, das bloße Wissen, dass sie nicht träumte, machte es kein bisschen leichter, diese bizarre Wirklichkeit zu begreifen.

Schattenwelten und ein Engel des Lichts?!

Und sie war seine Auserwählte, die die Welt vor irgendwelchen Dämonen bewahren sollte?

Das klang wie eins der unzähligen Fantasybücher, die sie in ihrem Leben verschlungen hatte.

Nicht, dass sie die nicht cool gefunden hätte.

Und hatte sie als Kind nicht davon geträumt, Superheldin zu werden und mit ihrer Sonne für das Gute zu kämpfen? Hatte sie sich nicht immer gewünscht, zu wissen, wer sie war und wo sie hingehörte? Das hier war es dann jetzt also? Die Antwort auf ihre Fragen? Die Erfüllung ihrer Wünsche?

Shit.

Careful what you wish for … Aus welchem Song war diese Zeile? Sie passte jedenfalls gerade wie die berühmte Faust aufs Auge.

Phily und der alte Mann musterten sie. Anscheinend warteten sie ab, wie sie auf diesen ganzen Wahnsinn reagieren würde.

Aber wie zum Teufel sollte sie denn reagieren?

Sie hatte keine Ahnung!

Aufspringen?

Rumschreien?

Panik schieben?

Mann, sie wusste gerade nicht mal, was sie denken sollte!

Luft! Sie brauchte dringend frische Luft!

Sie sprang vom Bett auf und stürzte ans Fenster.

Einatmen.

Ganz tief.

Sie krallte ihre Finger in den Fensterrahmen und hoffte so auf ein bisschen Halt.

Ausatmen.

Einatmen. Ausatmen.

Ein. Aus.

Unter ihrem Fenster befand sich ein Gemüsegarten, der mit einer hohen Mauer eingefasst war. Dahinter lagen Häuser, die aus den gleichen grauen Steinblöcken gebaut waren wie dieses seltsame Kloster, und die gesamte Siedlung lag am Fuße eines mächtigen Gebirges. Hohe, schneebedeckte Bergkuppen ragten in den strahlendblauen Morgenhimmel. Ein Fluss schlängelte sich ins Tal und drehte rauschend das Rad einer Mühle. Menschen in altertümlicher Kleidung arbeiteten im Garten und auf Feldern im Tal jenseits der Siedlungsmauern.

Liv fuhr sich über die Augen.

»Ich glaube, du bist es, der sie erschreckt hat«, hörte sie hinter sich im Zimmer Phily mit leicht vorwurfsvollem Tonfall in ihrem Stimmchen zu Ignatius sagen. »Als ich mit ihr geredet hab, war sie ganz fröhlich!«

»Phily, warum fliegst du nicht schon mal runter in die Küche? Es gibt gleich Frühstück und Sunny freut sich sicher, dich zu sehen.«

»Aber hier ist es gerade viel spannender!«

Seufzend gab Ignatius nach und wandte sich wieder Liv zu. »Ich kann verstehen, dass du aufgewühlt bist, Livia«, sagte er sacht. »Aber tief in deinem Inneren kannst du fühlen, dass ich dir die Wahrheit sage, stimmt’s?«

Ja, verdammt …

Sie schwieg trotzdem. Sprechen ging gerade einfach nicht. Sie starrte nur weiter aus dem Fenster, während sich ihre Finger in das Holz des Rahmens krallten.

Ignatius schien das als stumme Zustimmung zu werten und sprach weiter. »Die Legende besagt, dass Cayaniel diese Welt hier schuf, um die Welt der Menschen vor dem Bösen zu beschützen. Doch der Engel betraute nicht allein die Menschen mit dieser Aufgabe. Andere Wesen helfen uns. Viele Völker, die sich in der Welt der Menschen nicht wohlfühlten, fanden hier in Interria ein neues Zuhause. Dazu gehören unter anderem die Zwerge, Elfen, Drachen, Nymphen und Sylphen.«

»Und die Feen!«, warf Phily empört ein. »Du kannst doch nicht die Feen vergessen!«

»Habe ich nicht. Aber dass es dich gibt, weiß Livia doch schon.«

»Oh. Stimmt.« Sofort hellte Philys Stimmung sich wieder auf. »Bin ich dann das erste Nicht-Mensch-Wesen, das sie je getroffen hat?«

»Exakt.«

»Oh wow!« Liv hörte, wie Phily begeistert durchs Zimmer schwirrte. »Das ist so, sooo toll!«

In hilfloser Kapitulation schüttelte Liv den Kopf. Sie hörte hier einer Diskussion mit einer Fee zu. Mit einer Fee! Da sollte sie sich über so was wie Zwerge, Elfen, Drachen und Nymphen eigentlich auch nicht mehr wundern, oder?

Beinahe hätte sie hysterisch aufgelacht.

Und was zum Teufel sind Sylphen?!

»In deiner alten Welt kennst du Wesen wie Phily nur aus Sagen und Geschichten«, sagte Ignatius. »Doch in den meisten Sagen und Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit. In deiner Welt funktionierte das Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Wesen nicht und die verschiedenen Völker hätten sich vermutlich gegenseitig ausgelöscht, wenn der Engel des Lichts nicht eine wichtige Aufgabe für sie gefunden hätte. Cayaniel wusste, dass allen Wesen eine große Gefahr durch das Schattenreich drohte, daher schuf er Interria als Zwischenreich und wir alle wurden zu den Hütern des Lichts. Um das zu besiegeln und unsere Völker zu vereinen, formte Cayaniel vier Steine aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Diese Steine gab er vier verschiedenen Völkern. Die Zwerge bekamen den Erdstein, die Drachen den Feuerstein. Als Wasserwesen erhielten die Nymphen den Stein des Wassers und die Sylphen als Windgestalten den Stein des Windes. Jedes Volk erhielt den Auftrag, seinen Stein als kostbarsten Schatz zu verstecken und vor allen Gefahren zu bewahren.«

Liv atmete tief durch.

Das hier war kein Traum und auch kein Drogentrip.

Das hier war echt.

Das freudige Kribbeln der Sonne in ihrer Hand ließ daran keinen Zweifel. Und je eher sie das akzeptierte und bereit war, sich darauf einzulassen, desto eher hatte sie sicher auch eine Chance, das alles zu begreifen.

Entschlossen löste sie ihre verkrampften Finger vom Fensterrahmen und drehte sich wieder zu Ignatius und Phily um. »Wenn jedes Volk seinen Auftrag bekam, was ist dann die Aufgabe der Menschen?«

»Wir hüten hier im Kloster Cayas Zeichen mit dem Engelslicht.« Der alte Mann schien erfreut, dass sie sich ihm wieder zugewandt hatte und Fragen stellte. »Es ist eine Art Wandbild in der Form des Mals, das du in deiner Hand trägst. Am Ende der Strahlen befinden sich Vertiefungen, in die man die vier Lichtsteine einsetzen kann. Geschieht dies, fließen die Energien von Feuer, Wasser, Erde und Wind in der Mitte zusammen und erzeugen das Engelslicht, das das Lebenselixier dieser Welt ist und die dunklen Mächte des Schattenreiches zurückhält.«

Liv runzelte die Stirn. »Haben Sie nicht gerade gesagt, dass Cayaniel den vier Völkern auftrug, sie sollen ihre Steine gut verstecken? Wie können sie dann in diesem Wandbild stecken und das Engelslicht erzeugen?«

»Das Engelslicht ist mit keinem Licht zu vergleichen, das du kennst. Caya kann die Macht der Elemente in sich aufsaugen und speichern. Vergleiche es mit einer Art Batterie aus deiner alten Welt. Das Licht im Wandbild leuchtet auch ohne die Steine. Es kann Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte ohne seine Lichtsteine auskommen, je nachdem wie stark die Finsternis aus dem Schattenreich versucht, Interria einzunehmen.«

»Und wenn das Licht erlischt?«

»Nein, nein, nein!« Phily verbarg ihr Gesicht wieder in ihren Händen und schüttelte vehement den Kopf. »Das darf nicht passieren! Das darf auf gar keinen Fall passieren!«

Ignatius stimmte ihr mit einem ernsten Nicken zu. »Da hat sie recht. Wenn das Engelslicht erlischt, würden die Kreaturen der Dunkelheit über Interria herfallen und es würde sicher auch nicht lange dauern, bis sie in die Alte Welt, deine bisherige Heimat, vordringen und diese einnehmen.«

»Warum lässt man diese Lichtsteine dann nicht einfach immer in diesem Wandbild, damit das Licht auf keinen Fall ausgehen kann?«

»Das funktioniert leider nicht. Die Steine brauchen ihre Elemente, um Caya Energie spenden zu können, deshalb müssen sie bei ihren Völkern gelagert und wieder aufgeladen werden. So sind sie – wenn die Zeit gekommen ist und das Engelslicht erneuert werden muss – voller Kraft und Energie ihres Elements. Sie leuchten, wenn man sie in das Wandbild einsetzt, und laden so das Engelslicht auf. Wenn das Licht der Steine schwächer wird und erlischt, ist der Prozess abgeschlossen. Caya erstrahlt mit neuer Macht, die Grenzen zum Reich der Schattenwelt sind gesichert und die Lichtsteine kehren zurück zu ihren Völkern, um neue Energie aufzunehmen.«

»Okay.« Livs Schädel pochte mittlerweile von all den Informationen, trotzdem versuchte sie tapfer, alles zu verstehen und richtig einzuordnen. »Aber was hat das alles mit mir zu tun? Warum bin ich hier?«

»Du bist eine Cay, Livia, eine Auserwählte Cayaniels. Du trägst das Zeichen des Engels und damit hältst du das Licht in deiner Hand.« Ignatius klang jetzt fast ein wenig ehrfürchtig.

»Ja, das hab ich kapiert, aber was verdammt bedeutet das denn?«, fragte sie ungeduldig.

»Du wirst dich in den nächsten Wochen zu deinem Volk aufmachen und deinen Elementarstein holen, um das Engelslicht neu zu bestärken.«

Ihr Blick sagte wohl alles, denn Ignatius setzte zu einer ausführlicheren Erklärung an. »Seit einigen Jahren gibt es hier in Interria Menschen, die ein Bündnis mit der Schattenwelt eingehen wollen. Sie sind machthungrig und wollen nicht nur die Herrschaft über Interria, sondern auch die über die Alte Welt. Dafür lassen sie sich mit Kreaturen der Finsternis ein. Das Engelslicht hält sie noch zurück, doch seine Energie wird immer schwächer, deshalb muss es durch die Lichtsteine erneuert werden.« Er seufzte und sah sie mitfühlend an. »Vor knapp achtzehn Jahren brachte deine Mutter dich hier im Kloster zur Welt. Wir sahen Cayas Mal in deiner Hand und wussten, du bist die Letzte der vier. In den zwei Jahren vor deiner Geburt waren bereits drei andere Kinder mit dem Zeichen des Lichts geboren worden. Cayaniel hatte erneut gewählt. Doch hier war es für euch nicht sicher. Die Gefahr war zu groß, dass die Verräter, die sich mit den Mächten der Finsternis einlassen wollen, euch etwas antun könnten.«

Er schwieg einen Moment und wirkte plötzlich noch älter als zuvor. »Der Entschluss, den wir fassten, fiel all euren Eltern schwer.« Seine Stimme klang bitter und müde, als er fortfuhr. »Wir beschlossen, euch in der Alten Welt zu verstecken. Ihr solltet dort bei Pflegefamilien aufwachsen und so lange sicher sein, bis ihr alt genug wärt, um eure Aufgabe zu erfüllen.« Ignatius atmete tief durch. »Ihr seid noch immer sehr jung und ich wünschte, wir könnten euch noch mehr Zeit geben, doch die Bedrohung aus dem Reich der Schatten wird immer größer und wir können nicht länger warten. Das Engelslicht muss erneuert werden. Nur so können wir die Mächte der Finsternis in Schach halten und sowohl Interria als auch die Alte Welt beschützen.«

Liv fühlte sich auf einmal ganz zittrig, als ihr klar wurde, dass sie hier gerade die Antwort auf die Frage bekommen hatte, die ihr in letzter Zeit so sehr auf der Seele brannte.

»Das heißt, meine Eltern – meine leiblichen Eltern …« Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd. »Sie – sie sind hier?«

Tiefe Trauer lag in Ignatius’ Augen, als er bedauernd den Kopf schüttelte. »Nein. Es tut mir unendlich leid. Sie starben in einem Kampf für das Licht nur wenige Monate nach deiner Geburt.«

Der Stich in ihrem Herzen war grausam und verwandelte das Brennen in ihrer Seele in eisigen Schmerz. Ihre Knie zitterten und ihr wurde schwindelig. Unsicher tappte sie die paar Schritte zum Bett zurück und ließ sich auf die Kante sinken.

Sie wusste nicht, warum der Tod ihrer Eltern ihr so nahe ging, schließlich hatte sie sie ja überhaupt nicht gekannt. Aber die plötzliche Leere in ihrem Inneren tat fürchterlich weh und machte sie unendlich traurig.

Ihre Eltern waren tot. Fort. Sie würde sie niemals kennenlernen. Niemals erfahren, wie sie waren. Niemals.

Niemals …

Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und presste die Handballen gegen ihre Augen, die verräterisch zu brennen begonnen hatten.

Etwas streifte die nackte Haut an ihrem Hals – ein sanfter Flügelschlag, als Phily auf ihrer Schulter landete. Liv blickte auf und sah, wie die kleine Fee sie aus ihren großen Augen mitfühlend anschaute.

»Meine Eltern sind auch tot. Sie starben im letzten Winter, weil es viel zu lange viel zu kalt war. Deswegen bin ich auch manchmal sehr traurig.« Phily legte ihre winzige Hand einen Moment lang auf Livs Wange, lächelte tröstend und hüpfte dann wieder in die Luft. »Aber es gibt ganz viele liebe Menschen hier im Kloster. Es wird dir hier ganz bestimmt gefallen!«

Mühsam schluckte Liv gegen den Kloß, der in ihrem Hals immer dicker wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie die Tränen noch zurückhalten konnte, aber sie wollte auf keinen Fall vor Fremden losheulen und versteckte ihr Gesicht wieder in ihren Händen.

Zum Glück schien der alte Mann eine Antenne dafür zu haben, dass sie jetzt allein sein wollte, denn er stand auf und stellte den Stuhl zurück an den Tisch. Dann trat er zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Es tut mir sehr leid, Livia. Es ist sicher nicht leicht, das alles erfahren zu müssen. Phily und ich werden jetzt gehen, damit du Zeit für dich hast, um deine Gedanken zu ordnen. Aber ich versichere dir, Phily hat recht: Du bist hier nicht allein. Viele liebe Menschen warten schon auf dich und freuen sich darauf, dich kennenzulernen.«

Liv versteckte sich noch immer, was garantiert nicht die höflichste Art war, aber sie konnte ihn jetzt einfach nicht ansehen. Doch das schien Ignatius auch gar nicht von ihr zu erwarten.

»Ich schicke dir jemanden, der dir zeigt, wie du dich hier zurechtfindest. Hab keine Angst, wir lassen dich nicht alleine«, versprach er noch einmal. Die Hand strich kurz über ihre Schulter, dann verschwand sie und Liv hörte, wie er aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.

Sie ließ sich zurück aufs Bett sinken und starrte an die Decke. Drückende Traurigkeit lastete auf ihr und sie fühlte sich leer und ausgelaugt und gleichzeitig schien ihr Kopf so voll, dass sie nicht wusste, was sie zuerst denken sollte.

Ihre Sonne – Caya – kribbelte. Liv hob ihre Hand und betrachtete das blassrote Zeichen. Es sah aus wie immer – und bedeutete mit einem Mal doch so viel mehr.

Sie war eine Cay, eine Auserwählte eines Engels. Sie musste zusammen mit drei anderen Cays die Lichtsteine finden, das Engelslicht erneuern und damit das Schattenreich in Schach halten, bevor überall Dämonen einfielen und alles zerstörten.

Oh Mann …

Das klang so völlig absurd.

Durchs Fenster wehte eine Brise Sommerluft herein und Liv schloss die Augen.

Sie hatte keinen Plan, was sie machen sollte.

Sie wusste gerade nicht mal, was sie denken oder fühlen sollte.

Das alles hier war einfach eine Nummer zu bizarr, zu viel, zu groß …

Es klopfte an ihrer Tür.

Na klasse …

Sie setzte sich auf, alles andere als sicher, ob sie schon bereit dazu war, auf die nächsten Bewohner dieser seltsamen neuen Welt zu treffen.

»Herein …«, sagte sie zögerlich.

Die Tür wurde geöffnet und ein dunkler Wuschelkopf lugte ins Zimmer. »Hey. Kann ich reinkommen oder brauchst du noch ein bisschen Zeit für dich, nachdem Ignatius und Phily dich gerade mit deiner wahren Identität geschockt haben?«

Das Mädchen war ungefähr so alt wie sie. Pechschwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht und sah so aus, als hätte sie es erst grob mit einer Heckenschere auf ungefähr zehn Zentimeter Länge gestutzt und danach in eine Steckdose gefasst – wobei Letzteres eher unwahrscheinlich schien, denn Liv wagte zu bezweifeln, dass es hier Steckdosen gab.

»Schon okay, komm rein.«

Erfreut stieß das Mädchen die Tür ganz auf. »Hi. Herzlich willkommen in Interria. Ich bin Zoe und so was wie deine Fremdenführerin. Du wirst mich also so schnell nicht mehr los, es sei denn du sagst es, dann bin ich sofort weg, okay?«

Zoes Gesicht hatte etwas Koboldhaftes – es war schmal, mit einer kleinen spitzen Nase, unzähligen Sommersprossen und dunklen Knopfaugen. Sie war größer als Liv, schlank und sportlich und trug eine enggeschnittene braune Hose aus gegerbtem Leder, ebensolche Stiefel und dazu ein weißes Schnürhemd, dessen Ärmel sie bis über die Ellbogen aufgekrempelt hatte. Sonnengebräunte Arme verrieten, dass sie viel Zeit im Freien verbrachte.

Sie grinste und Liv konnte nicht anders als es zu erwidern.

»Okay.«

»Cool.« Zoe schien ehrlich erfreut und deutete auf die Kommode. »Da sind Handtücher drin und ein paar Secondhandklamotten. Wir mussten deine Größe schätzen, aber irgendwas wird davon schon passen. Wollen wir mal nachsehen?«

Klamotten auszusuchen klang so herrlich normal nach dem ganzen Wahnsinn der letzten halben Stunde, dass Liv sofort vom Bett aufsprang.

»Gerne.«

Sie traten an die Kommode und Zoe zog zwei Handtücher, ein Stück Seife, eine hölzerne Zahnbürste mit beigefarbenen Borsten, einen Kamm – ebenfalls aus Holz –, eine kleine Dose aus Metall und eine Handvoll schmaler Lederbänder aus einer der Schubladen. »Ich zeige dir gleich, wo unser Waschraum ist. Den müssen wir uns leider mit den Jungs teilen, aber keine Sorge. Ich hab die vier schon gut erzogen.« Wieder grinste sie, anscheinend tat sie das gern. »Wenn sie keine Sehnsucht nach Schmerzen verspüren, rühren sie unsere Sachen nicht an und hinterlassen auch kein ekliges Chaos.«

»Gut zu wissen.« Liv hatte eine zweite Schublade aufgezogen und begutachtete ein paar Hosen. Alle waren aus dem gleichen gegerbten Leder wie die, die Zoe trug, und sie hatten auch alle in etwa dieselbe Farbe. Eine war zu lang und zu weit, eine andere zu klein und zu kurz, die dritte lag irgendwo dazwischen und würde hoffentlich passen. Außerdem fand sie ein Schnürhemd, das Zoes recht ähnlich war, und mehrere Paar Stiefel. Sie setzte sich auf die Bettkante, um das erste anzuprobieren. Als Zoe ihr die Schuhe reichte, sah Liv ihre rechte Handfläche.

»Du bist keine der anderen Auserwählten.«

»Nein. Das ging an mir vorüber. Aber Kaelan, mein älterer Bruder, ist einer von euch. Ich bin Novizin in der Garde. Endlich. Völlig bescheuerte Regelung, dass man warten muss, bis man achtzehn ist. Aber egal. Vor vier Wochen durfte ich beitreten und Una hat Wort gehalten und mich als Novizin genommen. Sie ist definitiv eine der Coolsten.«

Die Stiefel waren zu groß und Liv zog sie wieder aus. »Was ist die Garde?«

»Ach so, sorry. Du weißt ja echt noch gar nichts.«

»Danke fürs Noch-mal-unter-die-Nase-reiben«, knurrte Liv mit einem wenig dezenten Anflug von Ironie. »Ist ja nicht so, als würde ich mich nicht ohnehin schon wie ein Alien auf dem falschen Planeten fühlen.«

Mitfühlend knuffte Zoe ihr gegen die Schulter. »Hey, das wird schon alles. Noah hatte auch keinen Plan, als er vor drei Monaten herkam, und er hat sich ziemlich schnell eingelebt.«

Liv stutzte. »Das heißt, ich bleibe jetzt hier? Für immer?!«

Zoe sah sie eigenartig an und nickte zögernd. »Ja, sicher. Interria ist deine Heimat. Hier gehörst du hin.«

Entschieden schüttelte Liv den Kopf. »Aber das geht nicht. Was ist mit meinen Eltern? Die werden mich doch vermissen.«

Okay, ihrem Vater würde vermutlich ewig nicht auffallen, dass sie verschwunden war, und bei ihrer Mutter konnte es sicherlich auch ein paar Tage dauern, bis sie sie vermisste. Aber Egotrips hin oder her: Irgendwann würden die beiden sich fragen, wo sie abgeblieben war.

»Um deine Eltern musst du dir keine Gedanken machen«, beruhigte Zoe sie schnell. »Ich kenne keine Einzelheiten, aber Ignatius, Ben und Mia haben das alles geregelt, als sie dich hergeholt haben. Frag sie, wenn du es genau wissen willst.«

Livs Kopf pochte. »Wussten meine Eltern, wer ich wirklich bin und wo ich herkomme? War die Geschichte mit der Babyklappe nur eine Lüge, die sie mir erzählt haben?«

»Das weiß ich nicht.« Zoe reichte Liv ein weiteres Paar Stiefel zum Anprobieren. »Tut mir leid, ich bin mehr für dein Hier und Jetzt zuständig. Was die Vergangenheit angeht, musst du Ignatius fragen.«

Liv schnaubte hilflos und nahm die Stiefel entgegen. »Weißt du denn, wie ich hierhergekommen bin? Gibt es geheime Portale zwischen den Welten oder so?«

»Ja, genau.«

Liv starrte sie verdattert an. »Das sollte eigentlich ein Scherz sein.«

»Ist aber keiner. Keine Ahnung, wie genau es funktioniert, aber es gibt hier ein paar kluge Köpfe, die sich das Wissen darüber angeeignet haben, wie man Portale zur Alten Welt baut. Sie stellen die Portalsteine her, mit denen hier im Kloster Übergänge geschaffen werden können. So haben Ben und Mia dich letzte Nacht hergeholt.«

»Und ich hab nichts davon gemerkt?«, wunderte Liv sich.

»Ich schätzte mal, Mia wird dich mit einem ihrer Tränke außer Gefecht gesetzt haben. Hat sie bei Noah auch so gemacht.«

Liv atmete tief durch und beschloss, das alles einfach erst mal so hinzunehmen, statt sich zu fragen, wie zweifelhaft sie es fand, dass man ihr im Schlaf anscheinend irgendwelche Tränke eingeflößt hatte. Oder dass es Portale gab. Nach Phily und Engeln und Dämonen, Drachen, Zwergen, Nymphen und all dem anderen, was sie heute schon hatte erfahren müssen, sollte sie ja eigentlich ohnehin nichts mehr wundern.

Mach einfach einen Schritt nach dem anderen, so bekommst du bestimmt am besten Ordnung in dieses ganze Chaos.

»Noah ist also auch ein Cay? So wie dein Bruder und ich?« Die Stiefel waren zu klein und Liv gab sie Zoe zurück.

Die nickte und reichte Liv ein drittes Paar. »Der vierte ist Ari. Du wirst sie alle gleich beim Frühstück kennenlernen. Sie sind echt okay.«

»Und du bist in der Garde?«, erinnerte Liv sich an den Anfang ihres Gesprächs zurück. »Was bedeutet das?«

»Die Garde ist eine Gemeinschaft von Rittern, die für Recht und Ordnung in Burgedal und den dazugehörigen Ländereien sorgen. Wir ziehen Leute zur Rechenschaft, die gegen unsere Regeln und Gesetze verstoßen. Manchmal schlichten wir auch Streitigkeiten, wenn sie aus dem Ruder laufen. Im Rat legen wir Bestrafungen für Verbrechen fest und sorgen für ihre Umsetzung – und natürlich kämpfen wir für Caya, wenn jemand das Engelslicht hier im Kloster bedroht.«

»Klingt nach einem ziemlich coolen Job.«

Zoe lächelte. »Das ist es auch. Mein Dad ist auch in der Garde. Und Ben. Die hätten mich beide auch als Novizin genommen, aber wer will schon Novize bei seinem Dad werden? Und zu Ben zu gehen, wäre genauso komisch gewesen. Er ist Dads bester Freund und wie ein Onkel für mich. Nee, ich wollte zu Una und sie hat mich genommen.«

»Bedeutet Novizin, dass du so was wie ihre Schülerin bist?«

»Ja, genau. Als Novizin bekommst du einen erfahrenen Ritter als Partner, der dich mit auf Patrouille nimmt, dir zeigt, wie man Recht und Ordnung durchsetzt und natürlich trainiert er dich auch. Schwertkampf, Bogenschießen, Selbstverteidigung – halt alles, was man so braucht. Im Kämpfen bin ich aber schon ziemlich gut. Das mache ich schon, seit ich groß genug bin, um Schwert und Bogen halten zu können. Und Dad und Ben haben viel mit mir trainiert.«

»Wow.« Liv kam sich nicht gerade eloquent vor, aber sie wusste einfach nicht, was sie sonst dazu sagen sollte. Ihre Kindheit hatte sie mit Büchern und Comics verbracht. Vielleicht wären Schwert, Bogen und Selbstverteidigung bessere Alternativen gewesen, um sich gegen das Mobbing in ihrer Schule zur Wehr zu setzen.

Das dritte Stiefelpaar passte wie angegossen und sie stand vom Bett auf.

»Duschen?«, fragte Zoe und griff sich Handtücher und den anderen Kram für den Waschraum.

»Sehr gerne.« Liv nahm ihre neuen Klamotten und folgte ihrer Fremdenführerin hinaus auf einen breiten Flur.

»Wow …« Himmel, sie brauchte wirklich dringend ein paar neue Wörter, bevor Zoe sie für leicht beschränkt hielt. Schnell schob sie deshalb noch ein »Wie cool ist das denn?« hinterher.

Ihr Zimmer lag in einer Art Rundgang. An der Wand gegenüber ihrer Tür standen mehrere Fenster offen und ließen Sonne und Sommerluft herein. Liv trat hinüber und sah hinaus. An der gegenüberliegenden Gebäudeseite standen ebenfalls alle Fenster offen und unten lag ein kleiner quadratischer Innenhof, der als Kräutergarten genutzt wurde.

»Der Waschraum ist bloß zwei Türen weiter.« Zoe hatte sich nach links gewandt und lief den Gang hinunter. »Unschätzbarer Vorteil, wenn du nachts mal aufs Klo willst und nicht erst durchs halbe Kloster tappen musst. Und du bist morgens schnell bei den Duschen. Falls du übrigens mal ein Bad nehmen willst, ist das auch kein Problem. Musst du nur Marta sagen, dann lässt sie dir einen Badezuber auf dein Zimmer bringen.«

»Marta?«

»Offiziell ist sie unsere Köchin, aber eigentlich organisiert sie fast alles hier im Kloster. Zusammen mit Ignatius. Er ist so was wie der Kopf und sie die gute Seele. Marta triffst du auch gleich beim Frühstück und du wirst sie lieben, versprochen.« Im Vorbeigehen zeigte Zoe auf Livs Nachbartür. »Das ist mein Zimmer. Dein Nachbar auf der anderen Seite ist Noah. Und das hier ist unser Waschraum.«