Da stirbst du nicht dran - Henk Blanken - E-Book

Da stirbst du nicht dran E-Book

Henk Blanken

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Beschreibung

"Parkinson gibt mir mehr, als es mir nimmt", sagt der Journalist Henk Blanken. Stundenlang im Garten sitzen und die Wolken am Himmel beobachten zum Beispiel, dafür hatte er vor der Diagnose keine Zeit. Als viel beachteter Journalist stand er immer unter Strom. Jetzt stolpert er, zittert, hat seine Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle, wird vergesslich. Das zwingt zur Langsamkeit. Als er von der Diagnose erfährt, ist seine erste Reaktion: "Das ist aber eine gute Geschichte. " Diese, seine Geschichte hat er meisterhaft aufgeschrieben. Selten hat ein Parkinsonkranker so packend seine eigene Erkrankung protokolliert. Es geht um das Annehmen des körperlichen und - noch beängstigender ? des geistigen Verfalls, aber auch um die Frage, wie lange ein Leben lebenswert ist.

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Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Henk Blanken

Da stirbst du nicht dran

Was Parkinson mir gibt

Übersetzt aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Patmos Verlag

Inhalt

Prolog

Pasta nera

Da stirbst du nicht dran

Pistolenfinger

Dieses intensive Schauen

Große Dinge

Niemals still/Carels Kopf

Wo willst du, dass ich beginne?

Alles ist anders

Bart, Hund, Kopf, Schwan

Ein Mann mit einem Hut

Irgendwo muss Gott auf einer Leiter stehen

Lasst mich erzählen

Auch das ist zu schaffen

Du bist im Nu auf der anderen Seite

Das ist mein Leib

Dieser Kerl mit all diesen Armen

Was machst du dann?

Nachweise

Anmerkungen

Für Sandra

Die Kunst der Fuge V

Es irrt, fließt in eins, fällt entzwei, versinkt

und wiederholt sich, als ob immer wieder etwas

gesucht werden muss, gefunden, verloren, gesucht,

als ob immer wieder etwas muss, etwas sein muss,

bevor es vergeht und danach.

Rutger Kopland1

Prolog

Wo willst du, dass ich beginne?

An jenem Samstagmittag, als mir mein Vater gegenübersaß, dürr und mager, vorgebeugt und ruhelos, als könnte er jeden Moment aufbrechen?

Das liegt ein halbes Leben zurück.

Mein Vater hatte seinen Wintermantel anbehalten. Sein blassbrauner Cordhut, der Hut, der ihn kleiner wirken ließ, als er war, lag auf dem Tisch. Er rauchte eine filterlose Caballero und verstreute Asche auf meinem abgewetzten Parkett. Ich stand auf, um Kaffee aufzusetzen und ihm ein Brot zu schmieren. Ich tat alles, nur um mir seine Klagen nicht anhören zu müssen: dass sein Körper anfange, ihn im Stich zu lassen, dass er sich krank fühle.

»Deine Mutter kauft keinen Schnaps mehr«, sagte er. Sein tägliches Gläschen jungen Genever.

Ach, Papa.

Kurz nach seiner Frühpensionierung war mein Vater vergesslich geworden. Ein bisschen mürrisch, störrisch und widerspenstig. Nachts machte er schon mal ins Bett.

Er fiel in sich zusammen und wusste nicht, wie ihm geschah.

Der alte Mann hieß Hidde. Er war der Erste, der mich an meinen Vater erinnerte.

An einem windigen Frühlingstag setzt sich seine Frau, eine gepflegte Dame in einem malvenfarbenen Kostüm, beim Mittagsimbiss in der Poliklinik neben ihn, mir schräg gegenüber. Sie gießt fettarme Milch in ein Glas, das sie ihrem Mann behutsam hinschiebt. »Gleich«, sagt Hiddes Frau, »gleich nach dem Essen holen sie ihn zum zweiten Teil seiner Untersuchung ab.« Sie spricht über ihren Mann, als säße Hidde nicht mit am Tisch. Als ob er nicht da wäre.

Hiddes Hände umfassen das Glas. Er sieht mich verwundert an: Warum nur sagt seine Frau so etwas zu einem Fremden?

Hidde hebt das Glas. Und lässt es wieder sinken.

»Ich kenne diese Männer nicht«, sagt er, gerade noch hörbar.

Wen meint er wohl? Welche Männer? Die Ärzte? Den Pfleger, der ihm kurz zuvor, auf dem Weg zu unserem Mittagsimbiss, in den Rollstuhl geholfen hat?

Hidde zieht seine schmalen Schultern hoch. Er trägt ein gelb-orange kariertes Holzfällerhemd aus grobem Flanell, das zwar zu ihm, nicht aber zu seiner Frau zu passen scheint.

Die Männer, setzt er noch einmal an, die Männer kämen seit einer Woche einfach so zu ihm herein. Er habe keine Ahnung, wer sie seien.

Seine Frau fällt ihm ins Wort. Sie wohne, sagt sie, mit Hidde am Rand eines Dorfes, nicht weit entfernt von meinem eigenen Dorf. Alte, tief liegende Weiden tauchen vor meinem inneren Auge auf, eine kurvige Landstraße, Wallhecken, blühende Büsche, ein Bauernhof, vor dem ein uralter, mit Vogeldreck zugeschissener Volvo auf dem Schotterweg steht. Ich habe nicht den Eindruck, dass Hiddes Frau etwas zu erklären versucht. Eher wirkt es, als ob sie sich entschuldigen würde.

Vorsichtig nimmt Hidde einen Schluck von seiner Milch. Er will nicht kleckern. Und dann erzählt er doch, dass diese Männer manchmal sogar zu zehnt plötzlich in ihrem Wohnzimmer oder oben auf dem Treppenabsatz stehen. »Das sind üble Typen.« Was sie dort, zwischen seinen Möbeln, treiben und ob sie mit ihm reden oder ihm nur schweigend im Weg stehen, erzählt Hidde nicht.

Mit großen Augen starrt er mich an.

»Sie sind doch echt«, sagt er.

Hidde mag wohl zehn oder fünfzehn Jahre älter sein als ich. Fünfundsechzig, siebzig vielleicht. Ein gebeugter Mann mit einem wüsten und flusigen grauen Bart. Das Haar auf seinem Kopf wächst so spärlich, dass sich Kämmen nicht mehr zu lohnen scheint. Hidde ist in seinem karierten Hemd, einer Jeans und ausgelatschten Sandalen ins Krankenhaus gekommen. Er ist ziemlich schlecht zu Fuß. Doch als ihn der Pfleger, ein kräftiger, sanftmütiger Mann aus dem Norden, in einem Rollstuhl zum Mittagsimbiss fahren wollte, meuterte er. Ein Rollstuhl? Er schien sich zu genieren.

»Es ist schnell gegangen«, sagt seine Frau. Acht Jahre ist Hidde schon krank, aber erst seit drei Wochen sieht er Leute im Haus, die nicht da sind. Wie oft sie sich auch neben ihren Mann aufs Sofa setzt und ihm versichert, dass sie gegangen seien, dass sie sie hinausgelassen oder weggeschickt habe, so wie man den Zeugen Jehovas oder einem Gerichtsvollzieher die Tür weist, und dass er keine Angst zu haben brauche – Hidde sieht sie noch immer.

Das ist grausam und ironisch, denn Hidde sieht eigentlich immer weniger.

»Auch seine Augen sind schnell schlechter geworden«, sagt Hiddes Frau. Nebenbei erzählt sie dann, dass es Hiddes Hund, ein zwölfjähriger Mischling, auch hat.

Was kann ich dazu nun noch sagen?

Dass Hidde meinem Vater gleicht?

Mein Vater war ein großer, kerzengerader und drahtiger Mann. Von Beruf Beamter: »Schreiber erster Klasse« bei einer staatlichen Behörde, die die Mietpreise von Sozialwohnungen kontrollierte. Ein Mann, der fünf Tage in der Woche um sieben Uhr morgens mit einem Becher Pickwick-Tee und einem Teller Haferbrei oder einer zuckerbestreuten Schnitte frühstückte und um Viertel vor acht an den Spielfeldern des Fußballvereins entlang zum Bahnhof ging, Butterbrotdose und BIC-Kugelschreiber in seiner ansonsten leeren Aktentasche aus braunem Leder. Dort stieg er in den Regionalzug. Gegen fünf nahm er den Zug zurück, um dann gegen halb sechs zu Hause in seinem Stuhl am Fenster die Kartoffeln zu schälen – seltsam, dass mir aus tausenden von Gerüchen gerade dieser Erdgeruch, der Geruch von feuchtem Lehm und Wurzelfäule, in Erinnerung geblieben ist.

Mit Schreiben hatte die Arbeit meines Vaters wenig zu tun. Im Büro trug er tagtäglich Zahlen in die hellblauen schmalen Kästchen doppelter Foliobögen ein. Ich erinnere mich an seine Schrift, die regelmäßigen Schwünge, die sich alle gleich weit nach vorne lehnten, die Briefe, die er gelegentlich samstagmorgens am Küchentisch schrieb, seine zierliche Unterschrift. Als ich in einem Alter war, in dem ich glaubte, eine eigene Handschrift haben zu müssen, übte ich sie so lange, bis sie seiner vollkommen glich, wobei ich sein kapitales »A« etwas kläglich durch die beiden parallelen Striche des »H« ersetzte.

Ich habe nicht einen einzigen Brief von ihm. Nicht einmal einen Zettel.

Wenn ich von meinen Eltern mal eine Ansichtskarte bekam, verschickt von einem Urlaubsdomizil irgendwo im Rhein-Mosel-Gebiet, war sie von meiner Mutter geschrieben worden.

Als der letzte seiner älteren Brüder gestorben war, mit weit über achtzig, und er nur noch einen jüngeren Bruder überleben konnte, sagte mein Vater, nun sei er an der Reihe. Außer an einer leichten Form der Alzheimererkrankung, wenn es überhaupt schon eine war, litt er unter einer lebenslangen Hypochondrie. Dennoch verstand ich, was er meinte.

Ich nehme mir eine Scheibe Vollkornbrot, kämpfe mit der Plastikvakuumverpackung des Käses, pfriemele sie auf, klappe die Schnitte zusammen und drücke meine Zähne hinein. Schon eine ganze Weile esse ich nicht mehr mit Messer und Gabel, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ein Beefsteak schmeckt mir nicht mehr so gut, wenn mir das Schneiden nicht gelingt. Pasta schnipple ich klein und esse sie mit dem Löffel. Mit diesem Verlust an äußerem Anstand lässt sich leben. Auf eine merkwürdige Weise ist der langsame Verfall faszinierend, hat das Abtakeln mehr mit Euphorie zu tun, als man erwarten würde: Das eine ist der Preis, den wir für das andere bezahlen. Wer sein Leben auskosten will, muss auch entschlossen sein, die Entwürdigung zu durchleben.

Hidde versucht, die harte Margarine aufs Brot zu schmieren. Das frische Vollkornbrot verklumpt und verklebt. Er belegt das Ganze mit einer Scheibe Kümmelkäse und setzt auf gut Glück sein Messer an.

»Mach ich nicht mehr«, sage ich. »Mit Messer und Gabel.«

Es scheint, als würde Hidde mich nicht hören, nicht sehen oder nicht verstehen.

Ich kann mir leicht ausmalen, wie es weitergehen wird, wie sein Verstand ihn im Stich lassen wird, wie ängstlich, verwirrt und beschämt er sein wird. Und im nächsten Moment sehe ich Hidde in meinem Elternhaus stehen, oben an der schmalen Treppe mit dem meergrünen Belag. Ich höre, wie mein Vater aus einem der Schlafzimmer meiner Mutter, glaube ich, etwas zuruft – obwohl ich sicher bin, dass ich schon seit Jahren vollkommen vergessen habe, wie seine Stimme klang, ob sie harsch oder brüchig war, irgendeine Färbung hatte oder nicht. Hab dich nicht so, denke ich. Er ist schon fast dreißig Jahre tot.

Hidde müht sich mit seinem Butterbrot und mit seinen Tischmanieren ab. Schneiden funktioniert nicht. Die Kruste ist zu hart, das Brot zu weich, die Margarine ist noch halb gefroren.

Dann legt Hiddes Frau die Hand auf seine rechte Hand. Nur zu, scheint sie zu sagen, mach es doch so wie dieser Herr hier.

Wie läuft es ab, denke ich dann. Was will ich noch, demnächst, wenn mich meine Frau sauber machen muss, wenn sie mein Brot schmiert, das Fleisch in kleine Stücke schneidet, die Weißweinflasche versteckt und ermutigend auf mich einredet?

Nur zu. Versuch es nur.

Es kann noch Jahre dauern. Aber wo wird es enden?

Will ich irgendwann auch vergessen, dass ich alles vergessen habe?

Pasta nera

In Venedig hat das Stolpern begonnen.

Aber wo Daniel an diesem Abend war?

Wollten wir vielleicht in dem Café auf dem Campingplatz noch ein Glas Wein trinken? Oder fanden wir, dass es so doch ganz schön gewesen war? Genug getan, genug gesehen, genug besprochen.

Als ich meinen Sohn ein Jahr später danach frage, erzählt er, wir seien jeden Tag mit der Fähre von Fusina nach San Marco übergesetzt. Das weiß ich natürlich noch. »Der Platz stand unter Wasser«, sagt er. Das stimmt auch. Wir mussten über schmale Planken balancieren, um zum Kai zu gelangen.

Wie naiv wir waren. Drei Tage waren wir durch Venedig gelaufen und hatten immer wieder Stapel grober unbearbeiteter Gerüstbohlen herumliegen gesehen, ohne zu kapieren, wozu sie dienen sollten.

Was Daniel sonst noch weiß?

Dass es schwarze Pasta gab. Frische, in Tintenfischtinte getränkte Spaghetti. Und dass wir uns auf der letzten Caféterrasse unserer Reise in eine hitzige Diskussion über die Musik einer Fadosängerin verstrickten, die ich zwar erträglich fand, er aber nicht. Dieses Café – ich suche es über Google Earth – lag auf dem Campo Santo Stefano, einem lang gestreckten, gepflasterten Platz zwischen abblätternden Fassaden in allen möglichen Pastelltönen, ein paar Gehminuten westlich von San Marco. Wir tranken dort Weißwein.

Daniel sagt, dass er alles noch weiß.

»Erst eine Flasche. Dann noch eine.«

»Hast du die Fotos noch, die du dort geschossen hast«, frage ich, während mir – denn eine Erinnerung weckt die nächste, wie Akkorde auf einem Klavier – einfällt, wie Daniel zuvor an jenem Sonntag wie ein schlanker, kurz geschorener Gott vor mir herspazierte, über den breiten Kai mit Blick auf den Lido, und sich über das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Carabinieri und den Gruppen flinker afrikanischer Straßenhändler mit ihren Teppichen voller verdächtig billiger Ray-Ban-Brillen amüsierte.

»Ich glaub schon.«

»Such sie mal.«

»Bin schon dabei.«

Er stöbert kurz in seinem Smartphone. Das Display ist schon seit Langem kaputt, aber der Speicher funktioniert noch.

»Sorry«, sagt er dann. »Ich muss sie gelöscht haben. Hatte mehr als zweitausend Fotos. Musste ein bisschen aufräumen.«

Als Daniel felsenfest behauptet, dass er zumindest alles noch wisse, dass er die Route unserer Spaziergänge durch die Gässchen von Venedig, über Fischmärkte und Plätze, an Palästen und Museen entlang, über Brücken und Kais mühelos rekonstruieren könne, kommen mehr Erinnerungen zurück. Anscheinend habe ich weniger vergessen, als ich dachte.

Ein langes Wochenende im Oktober. Hin freitagmorgens ab Bremen; zurück montags. Aber flogen wir mit Ryan Air oder einem anderen Billigflieger? Von einem Flughafen in der Nähe von Venedig fuhren wir mit dem Stadtbus in Schlangenlinien durch die staubigen Straßen von Mestre, und dann über eine kilometerlange, palmengesäumte vierspurige Straße an Firmengeländen, heruntergekommenen Bürogebäuden, baufälligen Schuppen und Relikten der Chemieindustrie vorbei.

Wir nähern uns Fusina. Fallen Daniel die Straßenhuren an der Bushaltestelle auf, die üppigen dunkelhäutigen Frauen, rote Lackstiefel, die bis über die Knie reichen, bauchfreie Tops, Brüste als Handelsware? Er ist neunzehn. Ich stelle ihm keine Fragen.

Auf dem Campingplatz checken wir ein. Wir werfen unsere Taschen in die Campinghütte. Danach spazieren wir an einem Bauernhof mit einem halb eingestürzten Ziegeldach vorbei zur Hafenmole mit Blick über die Lagune. Wir nehmen die erste Fähre. Sie kreuzt die von Lichtmasten gesäumte Fahrrinne für Hochseeschiffe und folgt im Zickzack dem tonnenmarkierten Weg ins Zentrum von Venedig, wo wir am Kai aussteigen, die obligatorischen Fotos voneinander knipsen und loslaufen.

Will ich Daniel die Stadt zeigen? Oder habe ich schon beschlossen, dass er entscheiden soll, wohin wir gehen?

Ich brauche ihm nicht zu imponieren – er ist nicht so leicht zu beeindrucken. Ich belästige ihn nicht mit dem, was ich sehr wohl noch weiß. Dass ich vor dreißig Jahren auch durch diese Stadt gegangen bin. Kaum älter als er heute. Einen Kopf kleiner als er mit seinen 1,94, in einem himmelblauen T-Shirt und einer blassen Levis, die so schmutzig war, dass der Dreck von ihr abblätterte. Ein Lederriemchen um den Hals. Stoppelhaare, von Sonne und Salzwasser weiß gebleicht, genauso kurz geschoren wie Daniels heute.

Ich war fünf Wochen auf einer griechischen Insel gewesen. Mit Axel.

Daniel weiß, wer Axel ist: ein Jugendfreund, den ich schon seit Jahren nicht mehr treffe. »Hörst du manchmal noch was von ihm?«, fragt Daniel hin und wieder mal. Anfangs habe ich versucht, ihm zu erklären, was passiert war. Daniel wurde dann immer stocksauer, seine Gesichtszüge erstarrten, sein Blick verfinsterte sich. Für Axel brachte er keinerlei Verständnis auf, er weigerte sich, es zu verstehen.

Vielleicht ist es schon Samstag, als wir uns entscheiden, einen Teller Pasta zu essen, im Schatten eines kleinen Bogengangs, irgendwo an einem Kanal, an dem ab und zu ein Bootshändler anlegt. So wie er dasitzt, gleicht Daniel – die Ähnlichkeit überfällt mich öfter – Axel wie ein Ei dem anderen. Nicht in seinen Gesichtszügen oder seinem Knochenbau, sondern in der Intonation seiner Stimme, der trägen Haltung seines schlaksigen Körpers, seinem Augenaufschlag, in der Art, wie er seinen Kopf schief hält, wenn er zuhört, der Bravour, der Großspurigkeit, dem Anflug überheblicher Ironie.

Aus dem Lokal kommt ein Kellner, der vor zwei Touristen an einem Tisch neben uns Teller mit Pasta abstellt. Schwarze Pasta. Daniel schnappt sich die Karte, sucht die Pasta nera darin und verkündet feierlich, dass er diese schwarze Pasta probieren wolle. Er, der Mann von Welt.

»Ich weiß nicht«, sage ich zögernd.

Die Tintenfischpasta erinnert mich an diese griechische Insel, an die grünblaue Bucht direkt hinter dem Fischerdorf, und an Axel – Axel, der immer alles noch wusste, Buchtitel, Zitate, Basketballergebnisse. Axel könnte mir heute noch sagen, was wir damals aßen und in welchem Straßencafé, wo wir Strandlatschen und Halfzware Tabak fanden, wie viel Cent die Drachme wert war, aus welcher Hafenstadt die vier dänischen Mädchen stammten, mit denen wir tagelang am Strand lagen, neben wem wir mittags unter den Pinien einnickten und mit wem wir abends faden, harzigen Retsina tranken. Axel könnte noch ihre Namen nennen, so wie er auch noch wüsste, wann der Bus in die Hauptstadt auf der anderen Seite der Insel fuhr. Axel wüsste noch, ob die schmutzigschwarze Tinte auf der Pasta mir damals wirklich so schlecht bekommen ist, wie ich mich zu erinnern glaube.

Daniel grinst. »Mach dich mal locker, Alter.«

Ich sage nichts. Er bestellt. »Weinchen dazu?«, fragt er.

»Wie spät ist es?«

»Schon fast Mittag.« Purer lebenssprühender Übermut. »Mach dich mal locker, Alter. Ich zahle.«

Am Sonntagnachmittag dann, dem dritten Tag, verbringen wir Stunden auf dem langen, schmalen, an einem Rand noch sonnigen Platz bei der Kirche San Stefano. Eigentlich sollten wir hineingehen, um uns in der Sakristei die Tintorettos anzuschauen, doch bisher sind wir an allen Museen vorbeigegangen. Die Schlangen zu lang, die Zeit zu kurz. Auch weiter ziellos herumzulaufen, eifrig und gehetzt, als ob wir irgendwo hin wollten, hat keinen Sinn. Wir einigen uns also darauf, in einem Café etwas zu trinken.

Wahrscheinlich erklärt mir Daniel, dass er doch noch einmal zu Harry’s Bar zurückmüsse, um mit einem Glas sündhaft teurem Whisky auf berühmte Schriftsteller anzustoßen. Daniel hat sich eingelesen. An diesem Sonntag waren wir bereits drei Mal immer wieder durch andere Gässchen um die Piazza San Marco herumgeschlendert, um einen Blick in Harry’s Bar zu werfen. Hemingway hatte hier ebenso an seinem Whisky genippt wie Chaplin, Hitchcock, Capote.

Auf dem Campo Santo Stefano zanken wir uns über Popmusik, Talentshows im Fernsehen und Fußballprofis, die in ihren alten Tagen in eine der schwächeren südeuropäischen Ligen ausgewichen sind. Ich finde das nicht so tragisch, aber Daniel hat das Talent zu verachten und ist im richtigen Alter, das ohne Wenn und Aber zu tun.

An mehr kann ich mich heute, ein Jahr danach, nicht erinnern.

Als ich zu schreiben beginne, kommen doch wieder Bruchstücke zurück, verrückterweise in chronologischer Reihenfolge, als ob ich das Ganze früher schon einmal festgehalten hätte, wie eine halb erdachte Erzählung, ein Logbuch vergessener Augenblicke. Die Prostituierten, die Pasta nera, Harry’s Bar, Tintoretto. Von anderen Fragmenten – wie sehr Daniel manchmal Axel gleicht – wage ich nicht mehr mit Gewissheit zu behaupten, dass ich sie, zu dieser Zeit und dort in Venedig, richtig verorte; sie könnten sich aus dem Zusammenhang gelöst haben. Mein stockendes Gedächtnis hat sie wahrscheinlich auf andere Weise wieder zusammengefügt, als wären sie Steine eines Mäuerchens auf einer sonnenversengten Insel, das mit der Zeit zerbröckelt und in anderer Zusammensetzung wieder aufgebaut wird.

Nach der ersten Flasche Wein, einem Chardonnay vermutlich, trocken, weiß und kühl, haben wir uns eine zweite bringen lassen, bestätigt Daniel mit einem kleinen Lächeln, auch weil er weiß, wie es an diesem Sonntag weiterging. »Dass ich noch alles weiß und du fast nichts, ist nicht so erstaunlich«, sagt er. »An meine ersten acht oder neun Jahre erinnere ich mich auch nicht. Ich habe nicht viel mehr als zehn Jahre Erinnerungen. Deine Festplatte ist viel voller.« Du bist ein alter Mann, meint er.

»Weißt du noch, an welchem Tag wir auf diesem Platz in der Sonne saßen und gepichelt haben?«

»Das war am dritten Tag«, sagt er. »Am Sonntag also.«

»Und das Datum?«

»Keine Ahnung. Oktober.«

»Zehnter Oktober. Ich habe es nachgesehen.«

Er kapiert, worauf ich hinauswill. Zehn-zehn-zehn. Ein Datum, dass man sich merken muss.

Das Stolpern begann in Venedig. Soweit ich es nachverfolgen kann, soweit ich mich erinnern kann, hat mir meine Motorik an diesem Sonntag zum ersten Mal ein Bein gestellt. Es gab noch andere Symptome, vor allem mein brackiges Gedächtnis, das eigenartige Phänomen, dass mir manchmal ein Romantitel nicht einfallen wollte oder – viel beschämender – der Name eines Kollegen, mit dem ich schon Jahre zusammenarbeitete. Ich entschuldigte mich dann mit der Bemerkung, dass er mir gleich, in fünf Minuten, nein wirklich, es lag mir auf der Zunge, doch wieder einfallen würde.

Dass ich immer weniger Gerüche wahrnahm, hätte ein weiteres Signal sein können.

Ich glaube, Daniel hat an diesem letzten Nachmittag noch nach einem Parfüm gesucht. Als Souvenir. Vage erinnere ich mich, dass er schließlich eine überteuerte venezianische Karnevalsmaske für seine Mutter gekauft hat. Es kann auch sein, dass wir sie erst an jenem Montagmorgen entdeckt haben, zu einem angemesseneren Preis in einem etwas weniger überlaufenen Gässchen, als wir, auf unserem Weg zum Flughafen, zum letzten Mal von San Marco zum Bahnhof gingen.

Sonntagabends sind wir mit der Fähre nach Fusina zurückgekehrt. Vielleicht färbte sich der Himmel hinter dem Campingplatz purpurrot. Wir müssen an Deck gestanden haben. In Pullovern. Wahrscheinlich habe ich wieder nach der Tonnenmarkierung geschaut und an die Untiefen in der Bucht und das Versinken Venedigs gedacht. Ich glaube, an der tiefen Fahrrinne mussten wir kurz auf ein vorbeifahrendes Containerschiff warten.

»Trinken wir noch was?«

Wir sind in unserer Campinghütte. Über der Tür brennt eine nackte Glühbirne. Auf den zwei schäbigen Betten liegt unser Gepäck: ein paar T-Shirts, eine Regenjacke, die wir nicht gebraucht haben. Daniels schwarze Slim-Fit-Jeans.

»Erst mal pinkeln.«

»Dann sehe ich dich gleich im Café, Alter.«

Daniel biegt nach links ab, ich geh nach rechts, zum zentralen Toilettentrakt, hundert Meter entfernt. Meine Blase ist voll. Der Campingplatz ist wie ausgestorben, es geht auf den Herbst zu und für Zeltcamper ist es nachts schon zu kühl; wir haben nur wenige Touristen mit einem Schlafplatz in einer der Campinghütten gesehen. Im Halbdunkel beschließe ich, ein Stück des Wegs abzukürzen.

Ich zwänge mich durch eine Hecke aus dornigem Gestrüpp, sehe nicht, wohin ich gehe, und stolpere, als ich in einen Graben trete. Mein linker Knöchel knickt um. Mühsam komme ich hoch, desorientiert und fluchend vor Schmerz – wo war dieses verdammte Pissoir noch mal? – und beginne zu humpeln, hinkend, schwankend, wie ein Mann, der zu viel getrunken hat.

Als ich etwas später – wie viel später? – an die dünne Aluminiumtür klopfe, öffnet Daniel.

»Ich bin zurückgegangen. Wo bist du denn abgeblieben?«

»Gefallen. In eine Rinne.«

»Alles noch heil, Alter?«

»Mein Knöchel. Und glaubst du, dass ich in deine schwarze Hose reinpasse?«

Da stirbst du nicht dran

»Was denkst du, sind es linke oder rechte Füße?«

Sandra versteht nicht, wovon ich rede.

»Diese Füße«, sage ich, auf eine Reihe nackter, direkt über dem Knöchel amputierter Füße zeigend. Sie stehen entlang der Glaswand, auf der Hälfte des langen Ganges. Auf jedem der braunen Füße ruht ein rotlederner Diplomatenkoffer. »Ob sie wohl alle gleich sind? Oder gerade nicht? Und denkst du, dass es Paare sind?«

Sandra zieht mich mit sich, sie zerrt an meinem Ärmel. »Nun komm schon.«

Fast lautlos fährt ein Elektro-Golfmobil an uns vorbei; auf der Rückbank, mit dem Rücken zum Pfleger, sitzt ein alter Mann, der sich mit beiden Händen an seinen Gehstock klammert. Als sie vorüber sind, sehe ich den Gärtner draußen, auf der anderen Seite des Glases. Er hackt die harte, trockene Erde in den Beeten zwischen den gebogenen Bändern aus rostbraunem Baustahl auf.

Hinter den Aufzügen müssen wir nach links. Ich melde mich an einem Schalter. Wir warten. Sandra blättert in einer Wohnzeitschrift. Ich bin in Gedanken noch bei diesen Füßen. Welche Schuhgröße haben sie wohl?

Dann werden wir aufgerufen.

Kurz darauf stellt mir eine junge Assistenzärztin endlos viele Fragen. In einem kleinen Raum der Poliklinik, aus dem Lamellen das scharfe, sommerliche Sonnenlicht fernhalten, sitzt sie mir gegenüber, eine Frau so jung wie meine Tochter, mit einem Klemmbrett auf den Knien, einen Stift in ihrer kleinen rechten Hand. Zeile für Zeile arbeitet sie die Frageliste ab. Was habe ich für Probleme? Haben sie an einer Körperseite angefangen oder beidseitig, rechts und links? Habe ich damit schon lange Schwierigkeiten? Habe ich Schmerzen? Welche Medikamente nehme ich ein? Bin ich manchmal deprimiert? Welcher Arbeit gehe ich nach?

Ich kann in ihrer Anamnese kein System erkennen. Zweifelsohne gibt es ein System, so wie sich offenbar auch hinter dem Fragenskript einer Telefonhotline eine Logik verbirgt:

Was haben Sie für Probleme?

Haben Sie den Stecker eingestöpselt?

Leuchtet nur das linke Lämpchen?

Ich frage mich, ob sie die Bedeutung dieser Füße kennt.

»Welcher Arbeit gehen Sie nach?«, fragt die Assistenzärztin noch einmal.

»Ich bin Journalist«, antworte ich.

Ich stolpere immer öfter. Auf dem Weg zum Markt stolpere ich über einen niedrigen Bordstein oder schief stehende Steinplatten, als ob ich am helllichten Tag – obwohl in Wirklichkeit stocknüchtern – aus einer Kneipe torkelte. Ich stolpere über meine Worte, wenn ich mich an meinem Speichel verschlucke. Und ich stolpere über die Buchstaben auf der Tastatur meines Laptops; wenn ich schreibe, bleibt mein linker Zeigefinger am »a« oder am »s« hängen, sodass »ich sage« immer wieder zu »ich ssssaaaage« verkommt oder zu einer anderen unentwirrbaren Buchstabenkombination, weil ich mit links auch schon mal neben das »a« und »s« oder das »g« greife.

Meine linke Hand ist widerspenstig. Sie zittert manchmal. Eigentlich tut diese Hand das schon monatelang, vielleicht schon seit Neujahr. Trink mal ein bisschen weniger Kaffee, riet mir der Physiotherapeut, den ich wegen eines bohrenden Schmerzes im unteren Rücken aufgesucht hatte. Er behandelte mich mit Dry Needling. Das half gegen diese Schmerzen. Ich setzte mich selbst auf eine Ration von zwei oder drei Tassen Kaffee beim Frühstück. Den Rest des Tages ignorierte ich den Automaten in der Zeitungsredaktion. Das Zittern der linken Hand ließ nicht nach.

Mein Gang wurde eckiger. Dass ich mich so linkisch bewegte, wurde mir erst bewusst, als ich an einem Sonntag mit Nina ein Stündchen über ein jahrhundertealtes Landgut am Rand unseres Dorfes spazierte. Wir redeten über unsere Arbeit, meine Tochter und ich, über das Schreiben und den Journalismus, über eine ihrer Erzählungen, mit der sie nicht richtig vorankam, eine märchenhafte Geschichte über einen wortkargen Bauern und ein Mädchen. Eines Morgens, ganz in der Frühe, schauen der Bauer und das Mädchen an einem Zaun über einen nebligen Polder. Das Mädchen fragt, was hinter diesem Nebel liege. »Wenn du dort hingehst«, sagt der Bauer, »sind dort Häuser. Schaust du zurück, dann ist dies hier verschwunden. Ich verschwinde. Mein Haus und dein Haus, deine Eltern, der Stall und mein Hund. Alles ist fort.«

Ich weiß noch, wie wir durch den Wald aus Eichen und Buchen gingen, an dem Landhaus einer adligen Familie vorbei, an den Äckern und dem Entenfang, an den Holunder- und Ilex-Sträuchern, an Parzellen sumpfigen Weidelands entlang und an dampfenden Pferden in hohem Gras. »Das ist eine sehr schöne und ruhige Geschichte«, sagte ich, »aber ich möchte wissen, was sich genau zwischen diesem Bauern und diesem Mädchen abspielt. Wie kommt es, dass sie so früh am Morgen an diesem Zaun stehen? Was haben sie da zu suchen? Wo sind ihre Eltern? Was ist da los?«

»Schwing doch mal mit den Armen«, sagte meine Tochter damals.

»Was meinst du?«

»Du gehst so langsam.«

Ich wusste, dass sie recht hatte. Dass ich meinen linken Arm steif abgewinkelt an meinem Körper hielt, als wäre er in einer Armschlinge fixiert, und meine linke Hand, am liebsten zur Faust geballt, in meine Winterjacke steckte. Wir wanderten durch die herrlichste Landschaft, doch mein Blick heftete sich andauernd auf den staubigen Sandweg direkt vor meinen Füßen.

»Du musst mitschwingen. Dann fällt dir das Gehen leichter.« Nina wurde ungeduldig. »Und jetzt auch die Füße höher heben.«

Was dachte sie, was mit mir los ist, meine Tochter?

»Übertreib’ es ruhig. Nur zu. Schwing!«

Ich habe Monate gebraucht, um in dieser Hirnambulanz zu landen. Meine beiden engsten Kollegen haben mich immer wieder gefragt, warum ich nicht mal zum Hausarzt ginge. Sie sahen, was Nina sah. Den steifen Gang. Diesen starren linken Arm. Mein ausdrucksloses Gesicht. Sie müssen bemerkt haben, dass ich mit ihrem Arbeitstempo an den langen Tagen bei der Zeitung, die mächtig unter Druck stand, nicht mehr mithalten konnte. Sie sahen, wie ich mich damit abquälte, machten mir aber keine Vorwürfe. Sie müssen sich unbehaglich gefühlt haben. Jetzt geh doch endlich mal zum Hausarzt.

Immer wieder habe ich es verschoben. Zu beschäftigt. Zu müde. Zu gehetzt. Bis ich mich schließlich in die Ambulanz der Neurologischen Abteilung überweisen ließ.

Zwei Tage vor diesem Termin im Krankenhaus las Sandra den ersten Entwurf einer Geschichte, an der ich gerade schrieb, eine neue Anfangsszene für einen Roman, an dem ich schon jahrelang arbeitete. Zwei Männer, ein abgehalfterter Journalist und ein superreicher Schachpromoter, stehen im engen vorsintflutlichen Lift des Hotels, in dem sie Zeuge eines Versuchs waren, den Weltrekord in Blindsimultan zu brechen. Der Schachspieler, der alle sechsunddreißig Stellungen im Kopf behalten musste, war mitten in der zweiten Nacht einfach eingenickt. Beim Schreiben hatte ich an Jannes van der Wal gedacht, den Ex-Weltmeister, der dafür bekannt war, an den merkwürdigsten Orten einschlafen zu können. Dass er ein Damespieler und kein Schachspieler war, war mir egal. Es ging mir um einen Satz, um ein Zitat.

Jannes van der Wal ist jung gestorben. Zehn Jahre vor seinem Tod habe ich für die Zeitung ein Gespräch mit ihm geführt. Im Café Drie Gezusters erzählt er, was ihn so stört, an einer misslungenen Partie vielleicht, oder am irdischen Dasein: »Ich kann die andere Seite einfach nicht erreichen.«

»Taugt es etwas?«, fragte ich meine Frau.

»Vielleicht«, antwortete Sandra. Die Liftszene habe jedenfalls Drive.

Dennoch war Sandra an dem medizinischen Begriff hängen geblieben, mit dem ich – nebenbei, wie ich dachte – deutlich machen wollte, dass der Journalist, ein Alkoholiker und Teilzeitjunkie, der sich als Betrüger und Fantast seine Sporen verdient hatte, leicht zitterte und manchmal stolperte. Ich hatte ihm, außer dem zwanghaften Hang zum Fabulieren, einen Tremor verpasst.

Im Internet las Sandra, dass ein Tremor eine ständige Schüttelbewegung von einem oder mehreren Körperteilen ist, die durch eine unwillkürliche Muskelkontraktion verursacht wird. »Ein Tremor ist nicht lebensbedrohlich, aber manche Menschen schämen sich dafür, weil sie alltägliche Verrichtungen weniger gut bewältigen können.«

»Google das selbst doch auch mal«, schlug Sandra mir vorsichtig vor.

Ich tat es an dem Abend vor dem Termin in der neurologischen Abteilung. Ich fand die Symptomliste. Das Zittern. Die Beschreibung, wie beim Gehen ein Arm nicht mehr mitschwingt.

»Du riechst schon seit Jahren fast nichts mehr«, sagte Sandra. Sie glaubte, acht der zehn Symptome wiederzuerkennen.

»Das mühsame Sprechen, bei dem sich zu viel Spucke im Mund sammelt, habe ich in letzter Zeit auch.«

»Das wusste ich nicht«, sagt Sandra.

Neun von zehn.

Zur Verstopfung sagte ich nichts.

»Können Sie mit der rechten Hand kurze drehende Bewegungen machen?«, fragte der Neurologe eine halbe Stunde, nachdem die Assistenzärztin ihr letztes Kreuzchen gesetzt hatte. Der Neurologe ist ein kleiner, studentisch wirkender Mann weit in den Fünfzigern, vielleicht Anfang sechzig. Die ausgefüllte Anamnese muss irgendwo zwischen Patientenakten, Terminzetteln, Büroklammern, Stiften und Schreibblöcken auf seinem Schreibtisch herumliegen, aber als der Arzt mich bittet, eine flatternde Hand nachzumachen, habe ich die Frageliste schon wieder vergessen.

»Mit rechts?«

Er nickt.

Das geht prima – mit rechts. Worauf mich der Neurologe bittet, auch die andere Hand flattern zu lassen.

Das geht nicht.

Siehst du, denke ich. Es stimmt etwas nicht. Ich bilde es mir nicht ein. Ich stelle mich nicht an.

Ob wir anderthalb Stunden warten möchten, fragt der Neurologe. Dann stünde sein Kollege für eine zweite Meinung zur Verfügung. »Das machen wir immer so. Und er ist der Spezialist auf diesem Gebiet.«

Ich schaue Sandra an. Natürlich warten wir.

Anderthalb Stunden später macht der zweite Neurologe im gleichen kleinen Raum die gleichen scheinbar läppischen Tests.

Zittern mit rechts.

Kein Thema.

Mit links.

Hm, … na ja.

»Und bewegen Sie diese Hand nun auch mal so, als würden Sie eine Birne eindrehen.«

Ich ziehe dabei ein dämliches Gesicht. Siehst du, signalisiere ich Sandra. Siehst du nun, dass ich nicht verrückt bin.

»Was denken Sie selbst«, fragt der erste Neurologe.

Was uns am stärksten bedroht, blenden wir aus. Und gegen alles andere versichern wir uns. Immobilien und Haftpflicht. Reise und Rücktritt. Verkehr und Hausrat. Kasko und Einbruch. Auf mein Leben habe ich mit Sandra eine Police abgeschlossen, die einen Teil unserer Hypothek deckt. An etwas anderes habe ich nie denken wollen. So wie ich in diesen ersten sechs Monaten des Jahres keinen Augenblick lang vermutete, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sein könnte, dem mit ein paar Paracetamol, einem weiteren Satz »trockener Nadeln« oder notfalls mit geduldigen Besuchen bei einem Psychologen nicht abzuhelfen wäre.

Als mich mein Hausarzt ohne viel Federlesens zu einem Neurologen überwies, fragte ich nicht, warum er das für nötig hielt. Die Frage – »Was denken Sie selbst?« – kam mir nicht in den Sinn.

Als mich Sandra den Artikel im Internet lesen ließ, erkannte ich augenblicklich die zehn Symptome – einen Schluss zog ich daraus nicht. Schließlich handelte es sich nicht um die medizinische Enzyklopädie, und erst recht nicht um einen Arzt, an dessen Worten nicht zu zweifeln war.

Selbst als die junge Frau auf ihrem Klemmbrett Kreuzchen hinter Fragen machte, aus denen jeder Hypochonder schon längst eine Diagnose konstruiert hätte, selbst als ich meine Hand flattern ließ und diese Birne einzudrehen versuchte, und auch als der zweite Neurologe – »der Spezialist hier« – mich bat, kurz im Sprechzimmer auf und ab zu gehen, vom Schreibtisch zur Tür und zurück, was ich brav und hölzern tat, selbst in diesem allerletzten Moment gestand ich mir das Unvermeidliche nicht ein.

»Was denken Sie selbst?«

Ich schaue Sandra an. Wer sagt es? Du oder ich?

»Wir haben an Parkinson gedacht«, sage ich.

Darauf weise in der Tat alles hin, räumt der Neurologe ein. Er sondiert unsere Reaktion. Was wissen wir schon?

Alles. Nichts.

Von seiner ruhigen, sachlichen Diagnose bleiben die Stichworte hängen. Progressiv. Unheilbar. Und die gute Nachricht:

»Sie sterben nicht daran.«

Was steht uns bevor?

»Sie werden es ruhiger angehen müssen.«

Er könne noch keine Prognose stellen, sagt der Arzt. Bei jedem Patienten verlaufe es anders. Mit der richtigen Medikation könne ich noch jahrelang ein normales Leben führen. Zehn Jahre. Zwanzig Jahre, das komme auch vor, sagt er.

Was danach kommt, spricht der Neurologe nicht gleich an. Uns ist schon klar, dass Parkinsonpatienten auf lange Sicht pflegebedürftig werden; Parkinson ist eine invalidisierende Krankheit. Ich muss an den langen Flur mit den Diplomatenkoffern-auf-Füßen und den Pfleger denken, der den älteren Mann, viel älter, als ich selbst bin, in einer Art Golfmobil zum Ausgang fuhr.

»Da stirbst du nicht dran, aber es geht übel aus.«

Fasse ich es schon jetzt, in diesem Gespräch mit den zwei Neurologen, so zusammen oder hebe ich mir diesen holprigen, ironisch gemeinten Einzeiler für die Telefongespräche mit Freunden und Kollegen und mit meinen drei Schwestern auf? Jeder, werde ich im Laufe des Tages merken, kennt jemanden mit Parkinson. »Meine Nachbarin feierte vor Kurzem ihr zwanzigstes Jubiläum und man sieht es ihr fast nicht an.« Niemand hat es selbst.

Der Neurologe will einen Scan von meinem Gehirn erstellen lassen. »Machen wir immer, um auszuschließen, dass etwas anderes vorliegt.«

Es kann also noch schlimmer kommen, denke ich, aber vorläufig sollten wir mal davon ausgehen, dass ich nur Parkinson habe und keinen Tumor.