Damals war ich siebzehn - Marie Louise Fischer - E-Book

Damals war ich siebzehn E-Book

Marie Louise Fischer

4,9

Beschreibung

Magdalene Rott ist gegen Kriegsende aus dem Osten geflohen. Unglaublich weit liegen diese Ereignisse zurück. Magdalena hat ihrem Mann, den sie nach dem Krieg im Westen geheiratet hat, verschwiegen, dass sie vor ihrer Ehe bereits einen Sohn gehabt hat, den sie auf der Flucht aus dem Osten aus den Augen verlor und zurücklassen musste. Nun heiratet ihre siebzehnjährige Tochter gegen den Willen der verzweifelten Mutter einen jungen Mann, in dem Magdalene ihren verschollenen Sohn zu erkennen glaubt. Hat Evelyn Rott tatsächlich ihren Halbbruder geheiratet? Ihre Mutter müsste jetzt die Wahrheit bekennen, aber welche Konsequenzen, welches Leid würde sie damit heraufbeschwören?!Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Damals war ich siebzehn

Roman

SAGA Egmont

Damals war ich siebzehn

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718452

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

»Meine Damen und Herren, wir landen in wenigen Minuten auf dem Flughafen Köln-Wahn«, ertönte die klare musikalische Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher, »bitte anschnallen und das Rauchen einstellen!«

Magdalene Rott hörte nichts. Ihr war, als ob Nebel auf sie zuströmte und sie zu ersticken drohte. Erst als ihre Tochter sie sanft berührte, zuckte sie zusammen und fand in die Wirklichkeit zurück.

»Aber, Mama«, sagte Evelyn, »hörst du denn nicht? Wir müssen uns anschnallen!« Sie beugte sich über die Mutter und bemühte sich, ihr beim Anlegen der Gurte behilflich zu sein. Dabei warf sie einen Blick aus dem niedrigen Fenster und sah den Nebel. »Hast du etwa Angst, Mama?« fragte sie in dem nachsichtigen und leicht amüsierten Ton, den junge Mädchen ihren Eltern gegenüber gern anwenden.

»Ja«, sagte Magdalene Rott, »ja, ich fürchte mich.«

»Wovor denn? Glaubst du im Ernst, wir werden abstürzen? Der Pilot wird versuchen, ob er hier landen kann. Und wenn nicht, fliegt er weiter. Das Schlimmste, das uns passieren kann, ist, dass er uns in Frankfurt oder Düsseldorf absetzt.«

Eine der Stewardessen kam zu den Plätzen der beiden Damen, bot mit strahlendem Lächeln Bonbons auf einem Tablett an. »Uns kann nichts passieren, nicht wahr?« fragte Evelyn vertrauensvoll.

»Gewiss nicht«, versicherte die Stewardess, und ihr Lächeln wurde noch strahlender. Aber in diesem Augenblick merkten es alle. Die Maschine, die in den letzten Minuten in einem großen Bogen tiefer und tiefer gekreist war, richtete die Nase wieder hoch und stieg auf.

»Meine Damen und Herren, wir haben leider noch keine Landeerlaubnis!« Die Stimme der Stewardess klang genauso klar und musikalisch wie immer. »Bitte gedulden Sie sich ein wenig. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Wir werden durch Radar völlig sicher auf die Rollbahn dirigiert.«

»Na, siehst du, Mama!« Evelyn lachte, aber es klang nicht mehr ganz so unbekümmert. »Das wäre ja noch schöner! Den ganzen weiten Flug von Bombay her ist nichts passiert, und nun zum Schluss …«

Oberst Rott, der auf dem Fensterplatz vor seiner Frau und seiner Tochter saß, drehte sich um und fragte: »Na, wie fühlt ihr euch?«

»Danke, gut«, behauptete Evelyn rasch.

»Das kann nämlich noch eine ganze Weile dauern.« Der Oberst wandte sich wieder nach vorne.

Die Maschine hielt ihre Höhe und kreiste über dem Nebelfeld. »Ich freue mich riesig auf Deutschland«, sagte Evelyn. »Ein komisches Gefühl, seine Heimat gar nicht zu kennen.«

»Mach dir nur keine Illusionen«, mahnte die Mutter.

»Ich versteh’ dich nicht«, sagte Evelyn, »überall, wo wir gewesen sind – in Nairobi, in Tokio oder in Bombay –, alle Europäerinnen haben bloß immer von ihrer Heimat geschwärmt. Nur du …«

Sie brach ab, denn wieder ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher:

»Achtung! Achtung! Wir landen in wenigen Minuten!«

Nachdem Evelyn sekundenlang geschwiegen hatte, wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu. »Oder hängt das vielleicht mit deiner indischen Sterndeuterei zusammen? Hast du dir wieder mal von dem alten Singh Ree einen Bären aufbinden lassen? Papa hat ganz Recht, wenn er sagt …«

Magdalene Rott hob den Kopf und erklärte mit unerwarteter Heftigkeit: »Sei still, Evelyn! Bitte, sei still! Du weißt, dass ich über dieses Thema keine Späße liebe!«

Evelyn hatte eine patzige Antwort schon auf der Zunge, doch dann sagte sie: »Okay, Mama, reg dich nur nicht auf!« Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück, presste die schmalen, schön geschwungenen Lippen zusammen. Aber Magdalene Rott merkte es gar nicht. Sie starrte auf die Nebeldecke hinunter, die näher und näher zu kommen schien und brauchte alle Kraft, um ihrer Beklemmung Herr zu werden.

Es ist alles schon so lange her, versuchte sie sich einzureden, so unendlich lange her, als ob es in einem anderen Leben gewesen wäre. Vergiss es! Du musst es endlich vergessen!

Aber ihr Wille versagte vor der dumpfen Angst, die ihr das Herz zusammenzog.

Dann schämte sie sich plötzlich ihrer eigenen Kleinmütigkeit. Sie sah auf den schlanken, starken Nacken ihres Mannes, das üppige grau melierte Haar, spürte wieder, wie sehr sie ihn liebte – ihn und ihre Tochter.

Niemals würden die Schatten der Vergangenheit die Kraft haben, dieses Glück zu verdunkeln, dieses Glück, das so wirklich und so nah war, dass sie es berühren konnte.

Sie beugte sich vor, legte ihre eiskalte Hand an die Wange ihres Mannes, fühlte erlöst, wie seine Wärme auf sie überging.

In diesem Augenblick berührte das Fahrgestell des Flugzeuges die Rollbahn.

Seit über einer halben Stunde schon stand die Journalistin Helga Gärtner am Buffet des Flughafens Köln-Wahn. Sie trank eine Tasse Espresso, rauchte eine Zigarette und musterte unverhohlen, was um sie herum vorging.

Es würde sehr merkwürdig sein, Magdalene nach all den Jahren wiederzusehen.

Dann kam die Ansage aus dem Lautsprecher. »Die für elf Uhr fünfundvierzig gemeldete Maschine der Lufthansa LH 063 ist soeben verspätet gelandet. Ich wiederhole …«

Helga Gärtner beeilte sich, ihren Kaffee zu bezahlen, drückte ihre Zigarette aus und eilte zum Luftsteig 3.

Die Propeller der LH 063 waren schon zum Stillstand gekommen. Jetzt schoben zwei Männer vom Bodenpersonal die Gangway an die Tür. Eine Stewardess öffnete von innen, blieb beim Ausgang stehen und ließ die Fluggäste aussteigen.

Helga Gärtner strengte ihre Augen an. Plötzlich überkamen sie Zweifel, ob sie die Freundin überhaupt noch erkennen würde. Immerhin war es fast achtzehn Jahre her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten – damals, als sie nach ihrer Flucht aus Ostpreußen eine erbärmliche Unterkunft in Lübeck gefunden hatten. Achtzehn Jahre waren eine lange Zeit, in der sich ein Mensch sehr verändern konnte. Besonders eine Frau.

Unwillkürlich suchte Helga Gärtner ihr eigenes Bild in der spiegelnden Fensterscheibe.

Dann, als sie wieder hochblickte, sah sie Magdalene. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie sie unter Tausenden erkannt hätte. Magdalenes Haar war immer noch sehr schön, ihr Gang immer noch elastisch, mit jener leichten Zaghaftigkeit, die ihn so anmutig machte. Sie trug ein kremfarbenes Kostüm – ein wenig zu leicht für den rheinischen Vorfrühling –, ihre Haut wirkte empfindlich zart und zeigte kaum Spuren der vielen in den Tropen verbrachten Jahre.

Das junge Mädchen zu ihrer Rechten musste wohl ihre Tochter sein, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Der Herr mit dem schmalen, ein wenig scharfen Gesicht zu ihrer Linken war zweifellos ihr Gatte. Oberst Herbert Rott, zuletzt Militärattaché in Bombay, jetzt zur Verwendung im Verteidigungsministerium heimgekehrt.

Die drei überquerten mit den übrigen Passagieren, geführt von einer adretten Lufthansa-Stewardess, das Rollfeld. Schon waren sie so nahe, dass Helga Gärtner jeden Augenblick erwartete, von Magdalene erkannt zu werden.

Da geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte.

Ein breitschultriger Herr in Zivil und ein junger Mann in blaugrauer Fliegeruniform – die Journalistin erkannte an den Rangabzeichen, dass er Unteroffizier war – kamen aus einem anderen Luftsteig und gingen geradewegs auf die Familie Rott zu. Begrüßung zwischen dem Herrn in Zivil und Oberst Rott und seinen Damen, in die der junge Mann in Uniform nicht einbezogen wurde.

Blitzschnell begriff Helga Gärtner, dass Oberst Rott durch einen Kollegen vom Verteidigungsministerium abgeholt worden war. Sie drängte sich nach rückwärts durch die Halle zur Gepäckausgabe hin.

Fast gleichzeitig mit ihr traf die kleine Gruppe vom Rollfeld ein, die beiden Herren ins Gespräch vertieft, Mutter und Tochter hinter ihnen, der junge Unteroffizier als Letzter. Er hatte das Handgepäck übernommen.

Helga Gärtner eilte auf die Freundin zu. »Magda!« rief sie. »Magda!«

Magdalene Rott blieb unvermittelt stehen. Sie starrte die Journalistin mit einem so verstörten Ausdruck an, als ob sie einen Geist und nicht eine sportlich gekleidete, lebhafte Dame vor sich sähe.

Plötzlich packte sie Evelyn unter dem Arm und lief fast, das junge Mädchen mit sich zerrend, hinter den Herren her.

Aber Helga Gärtner gab so leicht nicht auf, sie setzte sich in Trab. »Magda«, rief sie, »bleib doch stehen – kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin Helga Gärtner! Du musst dich doch noch erinnern! Ostpreußen – Königsberg …«

Magdalene war so unvermittelt stehen geblieben, dass Evelyn gegen sie prallte, wobei ihr die Handtasche entfiel. Der Unteroffizier bückte sich sofort danach. »Ach Helga«, sagte Magdalene rasch, »entschuldige, aber ich …« Ihre geisterhafte Blässe wich flammender Röte.

Helga Gärtner lachte unbefangen. »Natürlich, du konntest ja nicht damit rechnen, mich hier zu treffen! Ich hoffe bloß, du hast keinen Schock gekriegt!«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Magdalene mühsam, »nur mir ist nicht ganz gut, der Flug, weißt du – der plötzliche Klimawechsel …«

»Ja, das ist auch schon allerhand«, warf Evelyn ein, »wenn man bedenkt, gestern früh waren wir noch in Indien …«

Helga Gärtner streckte ihr die Hand hin. »Sie sind Magdalenes Tochter, nicht wahr?«

»Ja, ich bin Evelyn.« Ihr Händedruck war kräftig.

»Es war nett, dich wiederzusehen«, sagte Magdalene Rott mit einem verkrampften Lächeln, »aber wirklich – ich muss jetzt …« Sie machte eine Bewegung zu den Herren hin, die bei der Gepäckausgabe standen.

»Ach, Unsinn!« sagte Helga Gärtner in dem leicht befehlshaberischen Ton, den sie sich als Junggesellin angewöhnt hatte. »Bis die eure Sachen zusammen haben, dauert es noch eine ganze Weile.«

»Aber ich möchte doch …«

»Die Gepäckstücke zählen kann ich genauso gut wie du, Mama«, erbot sich Evelyn, »du hast deiner Freundin bestimmt eine Menge zu erzählen.«

»Ein kluges Kind« sagte die Journalistin, »komm, gehen wir in die Kantine und trinken einen Kognak zusammen, Magda.«

»Aber mein Mann liebt es nicht, wenn ich ihn warten lasse.«

»Ach, lass ihn doch ruhig allein fahren. Ich seh’s von hier aus, dass die Herren eine Menge zu fachsimpeln haben. Ich bringe dich nachher mit meinem Wagen nach Bonn.«

»Wir wohnen in Godesberg«, sagte Evelyn, »Hotel Adler!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »So long, Mama!« Sie nickte der Journalistin abschiednehmend zu.

Helga Gärtner sah ihr nach, wie sie graziös davonschritt. Das schulterlange blonde Haar war sehr gepflegt.

»Ein feenhaftes Kind«, sagte sie, »auf die wirst du noch sehr aufpassen müssen. Wie alt ist sie eigentlich?«

»Siebzehn.«

»Ein gefährliches Alter.« Sie schob ihren Arm unter Magdalenes Ellbogen, führte sie mit sich. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!«

»Ich auch«, sagte Magdalene Rott, aber sie fühlte sich wie ein Tier in der Falle.

Helga Gärtner und Magdalene Rott hatten einen Tisch in einer der hintersten Ecken des Flughafenrestaurants gefunden. Die meisten Gäste saßen ganz vorn an den Fenstern.

Für Magdalene Rott hatte die Situation etwas Unwirkliches, so, als ob sie alles, was jetzt geschah, schon einmal erlebt hatte. Sie sah die alte Freundin an und wusste genau, was gleich geschehen würde. Es wunderte sie nicht im Geringsten, dass es tatsächlich eintraf.

»Die Bedienung ist grauenhaft«, sagte Helga Gärtner ungeduldig, »warte mal einen Augenblick. Ich geh’ zum Buffet und hol’ uns was. Du siehst aus, als ob du eine Stärkung dringend nötig hättest.« Sie klemmte sich die flache elegante Kollegtasche unter den Arm und ging zur Theke.

Beinahe hätte Magdalene einem Impuls nachgegeben und wäre geflohen. Sie hatte sich schon halb erhoben, als ihr das Sinnlose dieses Versuches bewusst wurde.

Resigniert ließ sie sich wieder sinken.

Helga Gärtner hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit ihr zu sprechen, und sie würde nicht locker lassen, bis sie ihren Vorsatz durchgeführt hatte.

Helga Gärtner brachte ein kleines Tablett mit zwei Gläsern Kognak und einer Zigarettenschachtel. Ihr fröhliches Lächeln irritierte Magdalene Rott mehr als alles andere.

»Na, wie habe ich das gemacht?« Helga drückte ihr ein Glas in die Hand. »Kipp ihn ’runter, er wird dir gut tun!«

Gehorsam tat Magdalene, was von ihr erwartet wurde. Helga Gärtner schob ihr auch den anderen Kognak hin. Aber diesmal raffte Magdalene sich zum Widerstand auf.

»Nein, danke. Ich habe genug.«

Helga Gärtner gab sofort nach. »Na schön, dann trink’ ich ihn selber!« Sie ritzte die Zigarettenschachtel mit dem spitzgefeilten, gelbrot lackierten Daumennagel auf, schob sie über den Tisch. »Bitte, bediene dich.«

»Danke. Ich rauche nicht.«

Helga Gärtner nahm einen Schluck von ihrem Kognak, zündete sich eine Zigarette an, sagte lächelnd: »Du enttäuschst mich, Magda.«

»Wieso? Ich verstehe nicht …«

»Na, deshalb brauchst du doch nicht gleich zusammenzuzucken wie ein erschrecktes Kaninchen. Ich hatte bloß gedacht, du würdest dich wundern, dass ich plötzlich auftauche, und du würdest Hunderte von Fragen stellen.«

Magdalene Rott zwang sich, der anderen in die Augen zu blicken. »Wozu? Wenn du dich nicht ganz und gar verändert hast, wirst du mir alles von selbst erzählen.«

Helga Gärtner lachte unbekümmert. »Stimmt. Ich brenne sogar darauf.« Sie strich sich mit der Hand durch die braunen, kurz geschnittenen Locken. »Aber ganz ehrlich, findest du, dass ich mich sehr verändert habe?«

Magdalene Rott zögerte. »Du siehst gut aus.«

»Aber?«

»Kein Aber. Nur – bitte, sei mir nicht böse –, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie du früher ausgesehen hast. Wahrscheinlich werde ich alt. Ich fürchte, ich habe überhaupt vieles von früher vergessen.«

»Das ist durchaus kein Zeichen der Verkalkung«, sagte die Journalistin immer noch lächelnd, »im Gegenteil. Man vergisst nur, was man vergessen will.«

Magdalene Rott fuhr auf. »Was soll das heißen?«

»Genau das, was ich gesagt habe. Wieso regt dich das auf? Ich glaube, du wirst wenige Menschen in Deutschland finden, die sich heute noch gern an die Kriegs- und Nachkriegszeit erinnern.«

»Und ist das so falsch?«

»Ja.«

Magdalene Rott schwieg. Ihre Hände fuhren nervös über die Kunststoffplatte des Tisches, fegten unsichtbare Krümel zusammen.

»Natürlich ist das Ansichtssache«, fügte Helga Gärtner hinzu, bemüht, die Spannung zwischen ihnen zu mildern. »Aber um deine unausgesprochenen Fragen zu beantworten …« Sie lächelte schon wieder. »Ich bin damals, als wir uns trennten, nach Hamburg gegangen. Nach Kriegsende habe ich begonnen zu studieren. Mühsam, wie es damals eben so war. Dann hatte ich Gelegenheit, in eine neu gegründete Redaktion einzutreten. So bin ich Journalistin geworden.« Sie zuckte die Schultern. »Und das bin ich immer noch. Bonner Korrespondentin. In dieser Eigenschaft erfuhr ich auch, dass dein Mann sich ins Verteidigungsministerium hat versetzen lassen – warum eigentlich?«

»Wegen Evelyn. Sie ist sehr zart. Das Klima in Bombay bekam ihr nicht.«

»Ach, wirklich? Dabei sieht sie ganz famos aus.«

»Ich weiß. Aber ihr Herz ist nicht ganz in Ordnung. Sie hat uns schon immer Sorgen gemacht, gesundheitliche Sorgen, meine ich. Und der Arzt riet uns dringend zu einem Klimawechsel.«

Es knackte im Lautsprecher, und eine Dame der Lufthansa verkündete: »Achtung! Achtung! Die LH 061 der Lufthansa startet nach Frankfurt. Passagiere nach Rom, Kairo, Kalkutta bitte zum Luftsteig eins.«

Die meisten Gäste erhoben sich, rafften Gepäckstücke zusammen, drängten zum Ausgang.

Magdalene Rott warf einen nervösen Blick auf die Wanduhr. »Tut mir Leid, Helga, aber ich muss jetzt auch gehen. Vielleicht sehen wir uns ein andermal.« Sie stand auf.

Auch die Journalistin erhob sich. »Ganz bestimmt.« Sie sah erstaunt auf die Hand, die Magdalene Rott ihr reichte. »Aber du willst dich doch nicht schon verabschieden? Natürlich bringe ich dich ins Hotel.«

»Das ist doch nicht nötig. Ich kann mir genauso gut ein Taxi nehmen.«

»Unsinn. Außerdem – unterwegs haben wir dann ja noch Gelegenheit, miteinander zu plaudern. Komisch, ich wollte dich so vieles fragen, aber wenn man sich dann gegenübersitzt, ist auf einmal alles weg.«

Sie gingen durch die Halle.

Draußen umfing sie eine unangenehme feuchte Kühle. Magdalene schauderte in ihrem leichten Kostüm. Helga Gärtner merkte es, ergriff ihren Arm. »Verdammt frisch, was? Warte nur, bis wir im Auto sitzen. Ich werde die Heizung anstellen.« Dann, als sie schon den Parkplatz betreten hatten, fragte sie unvermittelt: »Sag mal, wo hast du eigentlich den kleinen Udo untergebracht?« Sie verbesserte sich sofort. »Klein ist gut, der muss doch inzwischen auch schon zwanzig Jahre alt sein, nicht wahr?«

Seit fast einer Stunde hatte sie auf diese Frage gewartet, aber jetzt, da sie ihr gestellt wurde, fiel ihr keine Antwort ein. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie heftig und wusste doch in derselben Sekunde, dass sie so nicht davonkommen würde.

»Na, erlaube mal! Du willst mir doch nicht etwa vormachen, du hättest sogar vergessen, dass du einen Sohn hast?«

»Ich bitte dich, sei still!« sagte Magdalene Rott verzweifelt.

Der Parkwächter kam. Helga Gärtner drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, schloss ihren roten Karmann auf, setzte sich ans Steuer und öffnete die Tür zur anderen Seite.

Magdalene Rott nahm neben ihr Platz.

Erst als das Auto das Parkgelände des Flughafens verlassen und die Zubringerstraße erreicht hatte, griff Helga Gärtner das Thema wieder auf. »Also los, ’raus mit der Sprache!« sagte sie burschikos. »Was ist aus dem Jungen geworden? Mir kannst du es anvertrauen. Du weißt ja, mit mir kann man Pferde stehlen.«

»Nichts«, sagte Magdalene Rott verstört, »gar nichts!«

Die Journalistin warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Was heißt denn das schon wieder?«

»Er ist – ich meine …« Magdalene Rott presste die Hände zusammen. »Ich habe ihn nicht wiedergefunden.«

»Ach«, sagte Helga Gärtner in verändertem Ton. »Das tut mir aber Leid.«

»Du weißt doch, dass ich ihn damals in Königsberg in dem großen Durcheinander verloren habe …«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen, da war ich ja dabei. Und seitdem hast du nie wieder etwas von ihm gehört?«

»Nein.«

»Aber das Kind kann doch nicht spurlos verschwunden sein. Bestimmt ist es von anderen Leuten mit in den Westen genommen worden.«

»Ich weiß es nicht.«

Helga Gärtner trat unwillkürlich auf die Bremse. »Soll das heißen, du hast gar nicht mehr nach ihm gesucht?«

»Helga, bitte versuch mich zu verstehen. Ich habe damals, noch kurz vor Kriegsende, Herbert kennen gelernt. Er hat so viel für mich getan. Und bei ihm war es etwas Ernstes, von Anfang an …«

»Du hast ihm nichts von deinem Kind gesagt?«

»Doch, natürlich. Wo denkst du hin?«

»Jetzt lügst du«, sagte Helga richtig, nahm den Fuß wieder von der Bremse und gab Gas. »Du hast ihm deine Vergangenheit verschwiegen. Warum hast du das getan?«

»Weil ich Angst hatte – Angst, ihn zu verlieren.«

Helga Gärtner schwieg, starrte mit gerunzelter Stirn geradeaus, als ob der lebhafte Verkehr ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nähme.

»Tut mir Leid«, sagte sie endlich, »wenn ich das gewusst hätte … Es muss tatsächlich ein Schock für dich gewesen sein, mich wiederzusehen. Verdammt, ich möchte nicht in deiner Haut stecken.«

2

Unteroffizier Hans Hilgert stand in der komfortabel eingerichteten Empfangshalle des Hotels »Adler« in Godesberg und wartete. Er hätte sich gern eine Zigarette angezündet, aber er wollte es nicht gerade jetzt, da Evelyn Rott jeden Augenblick wieder herunterkommen würde. Sie hatte von der ersten Sekunde an einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Endlich sah er sie die breite Treppe herabeilen, mit leichtem, anmutigem Schritt. Ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn erkannte.

Er ging ihr rasch entgegen.

Sie hatte sich ein wenig zurechtgemacht, das blonde schimmernde Haar geordnet, die Lippen mit einem hellen Stift nachgezogen. Sie erschien ihm noch schöner als zuvor.

»Alles in Ordnung«, sagte sie lächelnd, »die Zimmer sind tadellos. Ich habe sogar nachgeprüft, ob Wasser aus den Hähnen kommt. Das gewöhnt man sich an, wenn man mal im Orient gelebt hat.«

»Dann kann ich also nichts mehr für Sie tun?« fragte er mit deutlichem Bedauern.

»Seien Sie froh darüber. Mama sagt immer, ich gehöre zu dem Typ, der die Leute auszunutzen versteht.«

»Es muss schön sein, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen«, sagte er ernsthaft.

Sie sah zu ihm auf – er war einen guten Kopf größer als sie –, las die unverhohlene Bewunderung in seinen klaren braunen Augen und errötete zu ihrem eigenen Ärger. »Na ja, Sie haben heute schon eine ganze Menge für mich getan«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Also, ich danke Ihnen.«

Er hielt ihre Hand fest. »Sie wissen, dass ich das nicht gemeint habe.«

»Was denn?« Sie machte keine Anstalten, ihre Hand zurückzuziehen.

»Soll ich es wirklich sagen?«

»Nein, lieber nicht«, antwortete sie rasch.

»Schade«, sagte er und ließ ihre Hand los.

Sie waren beide tödlich verlegen, wussten sich nichts Rechtes zu sagen und hatten doch den gleichen Wunsch – dieses Beisammensein so lange wie möglich hinzuziehen.

»Was ist schade?« fragte sie, obwohl sie ihn gut verstanden hatte.

»Dass wir uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen werden.«

»Das glaube ich nicht. Man begegnet sich doch immer irgendwo. Beim Tennis oder auf dem Golfplatz.«

Er lächelte. »Wir sind hier nicht in Bombay.«

»Wird hier etwa nicht Tennis gespielt?«

»Doch. Und auch Golf. Aber ich bin nicht dabei. Ich bin nur, na ja, eben ein Unteroffizier. Ich verkehre nicht in Ihren Kreisen.«

»Also ist es doch wie in Bombay«, sagte sie und schob die Unterlippe ein wenig vor, was ihr das Aussehen eines schmollenden Kindes gab.

»Wahrscheinlich ist es auf der ganzen Welt so«, sagte er. »Entweder muss man einen Namen haben oder einen Titel oder einfach genügend Geld, um dazuzugehören.«

»Ich finde, es kommt einzig und allein auf den Menschen an«, sagte sie impulsiv.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ja. Sie brauchen mich nicht so belustigt anzusehen. Ich weiß sehr gut, was ich sage. Und auch, was ich will.«

»Ich glaube es Ihnen sofort.« Seine kräftigen dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Macht es Ihnen eigentlich Spaß, mich zu quälen? Sie wissen genau, wie gern ich Sie wiedersehen würde.«

Sie legte ihre Hand auf den Ärmel seiner Uniformjacke und lächelte zu ihm auf. »Nicht bevor ich weiß – wie, wo und wann!«

»Ist das Ihr Ernst?«

Sie rümpfte ein wenig die Nase. »Erwarten Sie, dass ich als Dame noch deutlicher werde?«

»Evelyn!«

Ihre Augen wurden ganz ernst. »Halten Sie es mir niemals vor, bitte, niemals! Aber ich hätte es nicht ertragen, wenn wir so auseinander gegangen wären.«

»Warum? Ich bin nur ein einfacher Unteroffizier, den man zu Ihrer Betreuung abkommandiert hat, weil Ihr Herr Vater keine Zeit hatte. Und Sie? Jeder, der Sie sieht, muss Sie doch lieben.« Evelyn schüttelte den Kopf. »Sie irren sich. Zugegeben, ich habe immer genügend Verehrer. Aber das ist es nicht, was ich suche.«

Sie lächelte schon wieder, vertrauensvoll und ganz gelöst.

Für Magdalene Rott wurden die ersten Wochen in der Bundesrepublik ein einziger Wirbel von Empfängen, Partys, Bridge nachmittagen, gesellschaftlichen Ereignissen aller Art. Man stürzte sich geradezu auf Oberst Rott und seine Familie, um ihnen das Einleben in der alten Heimat leicht zu machen, und Oberst Rott bat seine Frau und Evelyn, alle wichtigen Kontakte gut zu pflegen.

Magdalene tat, was von ihr erwartet wurde. Sie lächelte, plauderte, hörte Komplimente, sagte Schmeicheleien, zog sich mehrmals am Tag um, machte sich mit äußerster Sorgfalt zurecht – möglichst dezent, um die anderen Damen nicht zu verärgern, aber immer noch blendend genug, um den Herren angenehm aufzufallen. Aber die Angst, die sie fast betäubte, ließ nicht einen Augenblick nach.

Die wenigen Minuten der Besinnung, die ihr vergönnt waren, verbrachte sie oft damit, dass sie auf das Horoskop starrte, eine komplizierte indische Tuschzeichnung, die ihr Singh Ree vor ihrer Abreise überreicht hatte. Sie folgte den einzelnen Linien mit dem Finger, betrachtete den schwarzen Punkt, in dem sie alle zusammenfielen.

Sie schloss die Augen, um nicht mehr sehen zu müssen. Aber es gab kein Entrinnen. Sie glaubte körperlich zu spüren, wie die Katastrophe, die sie zwanzig Jahre lang vor sich hergeschoben hatte, näher und näher auf sie zukam.

Magdalene Rott vergrub, ohne es selber zu merken, die scharfgefeilten Nägel in den Handflächen.

Wenn sie nur gewusst hätte, ob Helga Gärtner einen günstigen Einfluss auf ihr Schicksal hatte oder einen schlechten! Sie war so verständnisvoll gewesen. Sie hatte versprochen, zu schweigen. Aber konnte man ihr trauen?

Magdalene Rott presste die Faust vor den Mund. Schon während ihres Gesprächs mit der alten Freundin hatte sie gewusst, dass sie alles falsch gemacht hatte. Sie hatte sich völlig in Helgas Hand gegeben. Sie konnte sie vernichen, ins Unglück stürzen, zugrunde richten mit einem einzigen Satz, einer einzigen boshaften Bemerkung.

Nein, Helga Gärtner war keine Erpresserin!

Magdalene Rott spürte selbst, dass sie sich in Hirngespinste verrannte. Aber die Angst vor der Mitwisserin blieb. Helga hatte immer gern und viel geredet. Lag die Gefahr nicht nahe, dass sie aus Unbedacht, vielleicht nur im sich wichtig zu machen, alles verriet? Siebenmal, seit Magdalene Rott in Godesberg lebte, hatte die Journalistin angerufen. Aber weil alle Gespräche über den Empfang und die Zentrale gingen, war es ihr leicht gewesen, sich verleugnen zu lassen. Aber wie lange konnte das noch gut gehen?

Magdalene Rott saß, einen Frisiermantel über die Schultern geworfen, vor dem Toilettentisch und betrachtete das verhängnisvolle Horoskop. Aus dem Bad hörte sie ihren Mann, der unbekümmert vor sich hinpfiff, während er sich – zum zweiten Mal an diesem Tag – rasierte. Sie war so sehr in die schwarzen Striche, Kreise und Knotenpunkte vertieft, von denen sie glaubte, dass sie ihr Schicksal bedeuteten, dass sie es fast zu spät gemerkt hätte, wie Oberst Rott das Zimmer betrat. Hastig stopfte sie das Schriftstück in die halb geöffnete Schublade zurück, wandte sich, scheinbar mit konzentrierter Aufmerksamkeit, wieder dem Spiegelbild zu.

Oberst Rott ließ sich nicht anmerken, ob er die Heimlichkeiten seiner Frau bemerkt hatte.

»Na, wie lange brauchst du noch?« fragte er, während er sich die goldenen Manschettenknöpfe in das blütenweiße Smokinghemd zog.

Sie sah ihn hinter sich im Spiegel – sein gut geschnittenes, ein wenig scharfes Gesicht, das die Sonne Indiens gegerbt hatte, die kräftigen, männlichen, zuverlässigen Hände –, und plötzlich überkam sie, nicht zum ersten Mal in ihrer Ehe, der brennende Wunsch, sich auszusprechen, die Last von ihrer Seele zu wälzen.

»Herbert«, sagte sie mühsam.

Er spürte ihre Erregung, blickte auf.

»Was ist?« fragte er erstaunt.

»Ich muss mit dir sprechen.«

Sein Lächeln stand im Gegensatz zu der Besorgnis in seinen Augen.

»Ja?«

Sie rang die schmalen, empfindsamen Hände. »Ich habe solche Angst, dass du böse wirst …«

Er trat mit einem Schritt dicht hinter sie. »Bin ich wirklich so ein Tyrann?«

»Nein, das natürlich nicht. Nur, ich halte es nicht mehr aus!« Er schob seine Hand unter ihren Frisierumhang, streichelte zärtlich ihre Schulter. »Wenn’s weiter nichts ist, Liebes! Meinst du, ich hätte nicht selber längst gemerkt, dass man dir zu viel zumutet? Höchste Zeit, dass ich dich vor all diesen Gesellschaftshyänen schütze. Wir werden ein Programm aufstellen, dass …«

Sein grenzenloses Vertrauen lähmte sie. »Das das wird auch nichts nützen, Herbert«, sagte sie schwach.

»Aber ja doch! Pass mal auf, wenn ich erst mal anfange zu sieben – was glaubst du, wie wenig Leute hier für uns wirklich wichtig sind!«

»Es ist nicht deswegen«, sagte sie, »du verstehst mich ganz falsch. Es ist etwas …« Sie stockte.

»Ja?« sagte er erwartungsvoll.

Sie sah im Spiegel den vertrauensvollen Blick seiner kühlen grauen Augen auf sich gerichtet, und wusste, dass sie es auch diesmal nicht über sich bringen würde, ihn so zu enttäuschen. »Diese Enge«, sagte sie erschöpft, »diese ganze kleinbürgerliche Atmosphäre!«

Er lächelte mit fast väterlicher Nachsicht. »Wenn du an unsere Kreise in Bombay denkst – so groß ist der Unterschied doch gar nicht, jetzt sei mal ehrlich.«

›Aber dort war einfach nicht alles so beengt. Man hockte nicht so aufeinander. Es ist mir entsetzlich, Herbert …« Sie wandte sich zu ihm um, sah flehend zu ihm auf. »Ich halte es einfach nicht mehr aus, Herbert! Kannst du nicht um eine Versetzung einkommen?«

Sein Gesicht verschloss sich. »Unmöglich. Ich habe ja gerade erst hier angefangen.«

»Dann nimm doch Urlaub.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich verdanke meine Berufung ins Verteidigungsministerium doch gerade dem Umstand, dass ein wichtiger Mann in der Abteilung Abwehr ausgefallen ist. Ich kann die Leute nicht einfach im Stich lassen.« Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, fügte er milder hinzu: »Aber vielleicht wird’s im Sommer wahr. Ich habe mir sagen lassen, dass es während der Parlamentsferien in Bonn und Umgebung sehr ruhig sein soll. Sicher können wir dann …«

»Dann ist es zu spät.«

»Was soll das heißen?«

»Bitte, Herbert, lass mich vorübergehend wieder fort. Mich und Evelyn. Vielleicht war der Übergang einfach zu plötzlich. Wir müssen uns erst umgewöhnen.«

Seine Augenbrauen zogen sich wie in unterdrücktem Schmerz zusammen. »Ihr wollt mich also allein lassen?«

»Nur ein paar Monate. Bis wir hier eine Wohnung haben.«

Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Kinn in seine Hand, fragte: »Du weißt, was du da von mir verlangst, Magda?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich – kann nicht anders, Herbert.«

»Ich werde sehr einsam ohne euch sein.«

»Und ich ohne dich«, sagte sie und schmiegte mit einer impulsiven Bewegung ihre Wange in seine Hand. Er küsste sie auf die Stirn. »Du weißt, ich kann dir nichts abschlagen«, sagte er, »ich habe es nie gekonnt.«

»Wie gut du bist!« sagte sie mit ehrlichem Dank.

Aber gleichzeitig fühlte sie, dass gerade seine Güte es war, die ihr die Befreiung unmöglich machte.

Zu Magdalenes Überraschung zeigte Evelyn sich gar nicht erfreut, als die Mutter sie in ihre Reisepläne einweihte.

»Aber wieso denn? Warum willst du schon wieder weg? Wir sind ja gerade erst gekommen.«

»Das macht doch nichts«, sagte Magdalene mit gespieltem Gleichmut, »wenn wir wollen, können wir ja noch ein ganzes Leben hier bleiben. Aber gerade jetzt – denk doch mal daran, wie nett es für dich wäre, mal an die Riviera zu kommen. Oder nach Paris. Von mir aus auch nach London. Wir fahren hin, wohin du willst. Du brauchst nur zu bestimmen.«

»Ich will aber nicht«, erklärte Evelyn, »ich bin lange genug in der Weltgeschichte ’rumgeschaukelt. Jetzt will ich hier bleiben.«

»Aber sieh mal, wir müssen doch auf alle Fälle im Hotel bleiben, bis wir eine Wohnung haben. Und da ist es doch ganz egal, ob wir …«

Evelyn fiel ihrer Mutter ins Wort. »Eben, weil es ganz egal ist, möchte ich hier bleiben.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Wenn ich das gewusst hätte …«

»Was dann?«

»… hätte ich mir die Auseinandersetzung mit deinem Vater ersparen können.«

Jetzt lachte Evelyn. »Entsetzlich! Du hast also deine Kräfte sinnlos vergeudet! Aber ich will dir mal was sagen, Mama, warum fährst du nicht einfach allein? Wenn dir so viel daran liegt, meine ich.«

»Sei nicht albern! Du weißt genau, dass das unmöglich ist. Was würde denn das für ein Bild geben?«

»Na, dann kann ich dir auch nicht helfen«, sagte Evelyn ungerührt, klemmte nach einem kurzen prüfenden Blick in den Spiegel ihre Handtasche unter den Arm und wollte das Zimmer verlassen.

Magdalene fuhr hoch. »Was hast du vor?«

»Ein bisschen an die frische Luft, wenn du nichts dagegen hast.«

»Unser Gespräch ist durchaus noch nicht beendet!«

»Aber Mama«, sagte Evelyn mit nachsichtigem Spott, »warum regst du dich denn so auf? Du kennst mich jetzt doch schon seit siebzehn Jahren. Ich habe mir noch niemals etwas einreden lassen, was ich nicht wollte. Warum gibst du es nicht endlich auf?«

Magdalene Rott sah ihre Tochter an, bemerkte zum ersten Mal ihre leuchtenden Augen, den voller gewordenen Mund, die bewusster gewordene Haltung. »Jetzt weiß ich, was mit dir los ist«, sagte sie, »ich muss ja blind gewesen sein – jetzt weiß ich es! Du bist verliebt!«

Evelyn hielt dem Blick ihrer Mutter stand. »Du hast Recht, Mama«, sagte sie, »und jetzt kann ich wohl gehen.«

»Nicht, bevor du mir gesagt hast, wer es ist! Leutnant Pannwitz? Graf Skada? Dieser Bankierssohn …«

»Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen, Mama«, sagte Evelyn lächelnd, »Thomas Fritsch ist es auch nicht. Ein Name würde übrigens nichts besagen. Du musst ihn kennen lernen, Mama – wirklich, wenn du ihn erst richtig kennst, wirst du begreifen, warum ich ihn liebe.«

Magdalene Rott starrte ihre Tochter an, einen ganz fremden, plötzlich sehr erwachsen gewordenen Menschen, den sie nie wirklich gekannt hatte. »Es ist dir also – ernst?«

»Ganz ernst, Mama!« Mit unerwarteter Zärtlichkeit schlang Evelyn beide Arme um den Hals ihrer Mutter. »Ach, wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin …!«

Magdalene Rott fuhr Stunden später mit dem Taxi von einem Empfang des Verteidigungsministers aus Bonn nach Bad Godesberg zurück.

»Ich muss mit dir über Evelyn sprechen«, sagte sie.

»Ja?« fragte er uninteressiert, in Gedanken immer noch bei einem Gespräch, das er mit einem Kollegen von der Abwehr gehabt hatte. »Sie will nicht mit mir fahren.«

Erst jetzt wurde er aufmerksam, wandte sich seiner Frau zu. »Wovon sprichst du eigentlich?«

»Von Evelyn. Sie will in Godesberg bleiben.«

»Ach so. Aber da hat sie ja völlig Recht. Ich freue mich, dass sie den guten Willen hat, hier heimisch zu werden.«