Eine Frau in den besten Jahren - Marie Louise Fischer - E-Book

Eine Frau in den besten Jahren E-Book

Marie Louise Fischer

4,7

Beschreibung

In ihrer Ehe an der Seite eines der größten Privatbankiers hat Sylvia Holl nur die schönen Seiten des Lebens kennengelernt, alle Entscheidungen hat er ihr abgenommen. Der plötzliche Tod ihres Mannes ändert alles. Sie ist jetzt Alleinerbin, ist aber auch allein auf sich gestellt. Ihre beiden Kinder lehnen sich gegen sie auf, Roman Miller, der enge Mitarbeiter ihres Mannes, versucht, mit Intrigen an die Bank zu kommen. Und da ist Peter Graf Schwarzenberg, dessen Pläne die verunsicherte Sylvia nicht erkennt. Als Miller ermordet wird, spitzen sich die Dinge weiter zu. Der Mordverdacht richtet sich jetzt auch auf Sylvia. Schafft sie es, sich aus dieser Situation zu befreien und ihr Glück zu finden?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Eine Frau in den besten Jahren

Roman

SAGA Egmont

Eine Frau in den besten Jahren

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1963 by BachVerlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718711

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Sylvia Holl erwachte jäh. Aber noch in der Sekunde des Zusichkommens sah sie den Traum der vergangenen Nacht klar vor sich – dann schlug sie die Augen auf, und alles verschwand. Die Sonne schien warm und hell durch die goldfarbenen Seidenvorhänge.

Aus dem Bad, das ihren Schlafraum mit dem ihres Mannes verband, ertönte das Brausen der Dusche, das sie, wie jeden Morgen, geweckt hatte. Sylvia Holl brauchte nur die Augen zu schließen, um Georg Holl vor sich zu sehen, wie er Bäche heißen und eiskalten Wassers auf seinen massigen weißen Körper herabprasseln ließ, das nasse Haar im Gesicht, prustend wie ein Seehund. Dann wurden die Hähne zugedreht, sie hörte das Tappen nasser Füße auf den Fliesen und dann – nichts mehr. Georg Holl hatte sich in sein Ankleidezimmer zurückgezogen.

Sylvia wußte, daß sie jetzt und in diesem Moment aufstehen mußte, wenn sie mit ihrem Mann frühstücken wollte. Sie tat es nicht. Schon seit langem nicht mehr.

Sie hörte, wie Valentin, ihr Sohn, sein Auto aus der Garage fuhr. Er ließ, sinnlos und völlig überflüssig, den Motor aufheulen – wahrscheinlich nur, um seiner Freude Ausdruck zu geben. Vielleicht aber war dieses Aufheulen auch Zorn? Protest?

Sylvia wußte es nicht. Es hatte gar keinen Zweck, darüber nachzugrübeln, sie würde es nie ergründen. Valentin und seine Schwester waren ihr entglitten – trotz aller Liebe, die sie für die beiden empfand. Sie hatten sich von ihr gelöst, unmerklich, aber unaufhaltsam. Sie waren im vorigen Monat achtzehn Jahre alt geworden, erwachsener, als sie es selbst in diesem Alter gewesen war, obwohl sie damals schon mit Georg Holl verheiratet gewesen war. Barbara und Valentin, so grundverschieden, und doch in einem einig – sie brauchten die Mutter nicht mehr.

Den Vater vielleicht. Denn er war es schließlich, der sie mit Geld versorgte, in dessen Macht es stand, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen oder zu versagen; aber sie, Sylvia, die Mutter – was hatte sie ihnen denn wirklich zu geben? Sie konnte sich ja selbst nicht helfen. Sie war seit neunzehn Jahren verheiratet, glücklich verheiratet, und dennoch glaubte sie manchmal und in letzter Zeit immer häufiger, daß sie sich losreißen müsse, davonlaufen, gleichgültig wohin, nur weit, weit weg, wenn sie nicht ersticken wollte.

Gleichzeitig aber begriff sie, daß es unmöglich war – nicht, weil Georg sie liebte, weil sie ihn und die Kinder nicht im Stich lassen durfte, sondern einfach deswegen, weil sie nicht mehr die Kraft dazu aufbringen würde. Sie fühlte sich so schwach, erschöpft, ausgelaugt, daß sie manchmal sogar am hellen Tag der Wunsch befiel, sich in eine dunkle Ecke zurückzuziehen und zu weinen – einfach zu weinen, ohne Grund. Das Gefühl, daß das Leben ihr unter den Händen zerronnen war, erfüllte sie mit Bitterkeit und Trauer.

Auch jetzt, während sie in ihren seidenen Kissen lag, die Augen zum Schutz gegen den andrängenden Tag wieder fest geschlossen, grübelte sie darüber nach, was sie falsch gemacht hatte. Und wieder gelang es ihr nicht, den Fehler zu finden. Vielleicht hatte damals alles angefangen, als sie Georg Holl geheiratet hatte – aber sie hatte ihn doch geliebt. Er war wie eine Offenbarung in ihr Leben getreten, und in all den Jahren ihrer Ehe hatte es nie jemanden gegeben, der ihr auch nur annähernd soviel hätte bedeuten können wie Georg. Ja, sie liebte ihn auch heute noch!

Sie hatte keinen Grund, irgend etwas zu bereuen. Georg hatte sie nie vernachlässigt, nie betrogen – jedenfalls hatte sie nie etwas davon erfahren. Sie selbst hatte nie in ihrer Liebe zu ihm geschwankt. Sie hatte versucht, ihm eine gute Frau zu sein, den Kindern eine gute Mutter. Sie hatte alles getan, was in ihren Kräften stand – und was war daraus geworden?

Sie wollte sich gerade aufrichten, um nach dem Mädchen zu klingeln und den Tag zu beginnen, als sie hörte, wie die Schlafzimmertür sachte geöffnet wurde. Sie wußte sofort, daß es nur ihr Mann sein konnte, und ehe sie sich noch Rechenschaft ablegen konnte über das, was sie tat, hatte sie sich schon entspannt, lag ganz ruhig, die Augen geschlossen.

Sie spürte mehr, als daß sie es hörte, wie er näher kam, denn der dicke Teppich schluckte seine Schritte. Eine kribbelnde Nervosität durchschauerte ihren Körper, von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Sie erwartete jeden Augenblick, daß er sich über sie beugen würde, wußte, daß sie dann ihre Rolle aufgeben müßte.

Aber nichts dergleichen geschah. Beinahe hätte sie erleichtert aufgeatmet, als sie begriff, was er jetzt tat – er hatte ihren kleinen Terminkalender von ihrem Nachttisch genommen und trug etwas ein. Sie hörte das Geräusch, das der weiche Bleistift auf dem Papier machte, hörte, wie er den ledergebundenen Kalender wieder zurücklegte – und eine ganze Weile Stille, bis die Tür fast unhörbar ins Schloß gezogen wurde. Sylvia war wieder allein.

Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Augen aufzuschlagen wagte. Sie griff zu dem Notizblock auf ihrem Nachttisch, sah, daß er eingetragen hatte: 9 Uhr 30 – Frau Hensel anrufen! – 5 Uhr Gartenarbeit war durchgestrichen, statt dessen stand dort jetzt: Verabredung mit Frau Hensel im Carlton!

Ganz unten auf die Seite hatte Georg Holl mit seiner kräftigen eckigen Handschrift gekritzelt: Valentin kommt heute mittag später nach Hause. Habe ihn in die Bank bestellt. Muß mit ihm reden. – Mach dir einen schönen Tag. Georg.

Sie lächelte, während ihr die Tränen in die Augen schossen. So war das also! Georg hatte gar nicht mit ihr sprechen, er hatte ihr nur seine Anordnungen erteilen wollen – dies hast du zu tun und dies zu lassen. Eine Antwort von ihr war gänzlich überflüssig. Eine Sekunde schoß ihr der verwegene Plan durch den Kopf, Frau Hensel, die ihr im übrigen nicht das geringste bedeutete, nicht anzurufen, und nicht mit ihr im Carlton Tee zu trinken – dann vielleicht würde Georg auf sie aufmerksam werden, dann würde er begreifen müssen, daß sie keine Puppe war, sondern ein lebender Mensch mit eigenen Wünschen und eigenem Denken.

Es dunkelte bereits, als Georg Holl am Abend seinen Besitz am Herzogpark betrat. Hubert Berger, der Fahrer, hatte die rückwärtige Tür der schwarzen Limousine geöffnet, Betty, das Stubenmädchen, kam aus der Haustür, nahm ihm Hut, Mantel, Regenschirm und Aktentasche ab.

»Danke«, sagte Georg Holl, »das Köfferchen trage ich selbst.« Es war ein kleiner, eckiger Koffer von beträchtlichem Gewicht. »Wo ist die gnädige Frau?«

»Auf der Terrasse.«

Ein gepflasterter Weg führte um das Haus herum. Er hatte Sehnsucht nach Sylvia. Mit wenigen Schritten hätte er bei ihr sein können, aber er versagte es sich. Er trat ins Haus, schritt die stählerne Treppe hinauf, die lichtdurchlässig und formschön, ein kleines zweckbedingtes Kunstwerk, mitten in der Halle stand. Oben, in seinem Badezimmer, wusch er sich unter fließendem Wasser gründlich die Hände, bürstete sich vor dem Spiegel das immer noch volle, eisengraue Haar, trat in das Ankleidezimmer und wechselte sein dunkles Jackett gegen eine helle Jacke aus Homespun. Dann stieg er die Treppe wieder hinunter, trat in den Raum hinter der Halle, deren gläserne Wand zum Garten jetzt an dem warmen Sommerabend noch versenkt war.

Er sah Sylvia, deren schlanke Silhouette im weißen Kleid sich hell gegen das nächtliche Dunkel des Gartens abhob. Das Feuer, das im offenen Kamin aus unpoliertem Marmor brannte, zauberte rötliche Lichter in ihr nußbraunes Haar.

Sie hatte ihn kommen hören, schwang sich mit jener anmutigen Damenhaftigkeit, die er so sehr an ihr liebte, aus dem korbgeflochtenen Schaukelstuhl, kam auf ihn zu, nahm seinen Kuß entgegen.

»Du kommst spät«, sagte sie ohne Vorwurf, »sicher hast du schon gegessen.«

»Ja. Mit Bowery. In den Vier Jahreszeiten. Hätte dich gerne dabei gehabt, aber ich weiß, daß du auf dergleichen halbgeschäftliche Angelegenheiten sehr wenig Wert legst.«

»Wenn du es gewünscht hättest.«

»Ich weiß. Es sollte auch kein Vorwurf sein.« Er streckte sich auf eine der weich gepolsterten Liegen aus. »Was hast du heute erlebt?«

Sie hatte diese Frage erwartet und begann sofort zu berichten: Friseur, Eröffnung der Picasso-Ausstellung, Sonnenbad, Golf, eine Stunde im Carlton Tea Room mit Frau Hensel.

»Ich hoffe, du warst nett zu ihr«, sagte Georg Holl. »Ihr Mann ist sehr wichtig für mich, du solltest diese Beziehungen pflegen. Wo sind die Kinder jetzt?«

»Beide auf ihren Zimmern. Barbara hat für die Schule zu arbeiten, und Valentin war ganz zerschmettert. Er ist heute überhaupt nicht aus dem Haus gegangen.«

»Ich weiß, es war ein harter Schlag für ihn, daß ich ihm den Führerschein abnehmen mußte. Ich hoffe, es wird ihm eine Lehre sein.« Georg Holl wechselte das Thema. »Hast du übrigens schon über den zehnten August nachgedacht?«

»Nein«, sagte sie erstaunt, »oder doch … am zehnten August hat die Bank Jubiläum.«

»Dreißig Jahre … eine lange Zeit. Ich denke, da müßte man etwas starten. Am Jubiläumstag selbst wird natürlich allerlei los sein, offizielle Ehrungen und dergleichen. Ich rechne übrigens mit dem Bundesverdienstkreuz. Aber Fräulein Angermann hat für mich im Kalender nachgesehen, der Zwölfte ist ein Samstag. Das wäre genau der richtige Tag für eine Party. Nicht hier in der Stadt, das wäre zu langweilig, aber draußen auf dem Sonnenhof. Natürlich nicht zu viele Gäste … sagen wir fünfzig, nicht viel mehr. Ich überlasse die Auswahl dir. Du wirst ja langsam gelernt haben, welche Leute wichtig sind. Ich habe übrigens schon heute bei der Agentur Berber zwanzig gute Leute zur Bedienung bestellt. Natürlich brauchen wir auch Detektive. Zwei wird wahrscheinlich die Stadt hinbeordern. Mindestens zwei werden wir selbst engagieren müssen. Was das Essen betrifft, so habe ich ebensfalls bereits alles geregelt.«

Er steckte einen Apfelschnitz in den Mund, sagte kauend: »Ich stelle mir das großartig vor. Der alte Park vom Sonnenhof festlich illuminiert. An einem Feuer im Freien, du weißt schon, in der windgeschützten Ecke im Hof, wird ein ganzer Ochse … vielmehr leicht übertrieben … sagen wir, ein Kalb gebraten.«

Er nahm einen Schluck Milch, sah sie an. »Sag mal, Sylvia, was machst du denn für ein Gesicht? Gefällt dir meine Idee etwa nicht?«

»Du stellst mich wieder einmal vor vollendete Tatsachen.«

»Sicher tu ich das. Was ist denn dabei? Es muß etwas geschehen, das weiß ich genau. Ist es ein Verbrechen, wenn ich dir die Entscheidung und die nötigen Vorbereitungen abnehme?«

»Sicher nicht«, sagte sie hilflos und ohne Hoffnung, ihm ihre Gefühle verständlich zu machen, »nur …«

»Keine Angst, Sylvia, du brauchst dich mit der ganzen Geschichte überhaupt nicht zu befassen. Du hast nur eine Aufgabe: dazusein und schön zu sein.«

Am letzten Schultag kam Barbara mittags sehr aufgekratzt nach Hause. »Mama«, rief sie, kaum daß sie den Fuß auf die Schwelle des Wohnraums gesetzt hatte, »kann ich heute nachmittag deinen Wagen haben?«

»Natürlich, Liebling.«

»Warum seufzt du so schwer?«

Sylvia zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, bevor sie sprach. »Ich habe dir etwas nicht sehr Angenehmes zu sagen, Liebling. Und ich fürchte mich vor deinen … nun eben … ziemlich heftigen Reaktionen.«

»Etwas Unangenehmes?«

»Na, gar so schlimm ist es auch nicht.« Sylvia ließ sich auf ihren Lieblingsplatz, den Schaukelstuhl, sinken. »Vater hat deinen Graf Schwarzenbach von der Gästeliste gestrichen.«

»Pit? Was hat er denn gegen ihn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber irgendeine Erklärung muß er dir doch gegeben haben.«

Sylvia lehnte sich zurück und betrachtete ihre aufgeregte Tochter mit liebevoller Nachsicht. »Nein, er muß nicht, und er hat nicht. Seit wann wäre Vater verpflichtet, uns Erklärungen für seine Entscheidungen abzugeben? Das letzte Wort in diesem Haus hat doch immer er. Sprich mit ihm, wenn du glaubst, daß du im Recht bist.«

»Du wirst lachen«, sagte Barbara aufgebracht, »ja, das werde ich auch tun, und zwar sofort. Ich verzichte auf das Mittagessen, mir ist der Appetit vergangen!«

Barbara trat hocherhobenen Kopfes, ohne die Spur eines verbindlichen Lächelns, in den Arbeitsraum des Bankiers und sagte statt jeder Begrüßung: »Was hast du gegen Pit Schwarzenbach, Vater? Ich will es wissen!«

»Hast du deiner Mutter zugesetzt, ihn auf die Gästeliste zu setzen?«

»Ja.«

»Das ändert die Dinge erheblich … nicht zum Guten, Barbara.«

Das junge Mädchen, dessen Augen so grau waren wie die ihres Vaters, dachte nicht daran, den Blick zu senken. »Möchtest du so freundlich sein, mir das zu erklären?«

»Ich hätte es getan, auch ohne daß du mich darum bittest.« Georg Holl nahm im Sessel hinter seinem Schreibtisch Platz, ohne seine Tochter aufzufordern, sich ebenfalls zu setzen. »Ich habe Erkundigungen über diesen Grafen eingezogen. Sie sind nicht günstig ausgefallen.«

»Was du schon günstig nennst!« Sie errötete unter Seinem Blick, sagte plötzlich kleinlaut: »Entschuldige, bitte, Papa.«

»Seit wann kennst du ihn?«

»Och, eigentlich schon immer.«

»Ich möchte eine exakte Antwort haben.«

»Er war im Tennisklub, schon bevor Valentin und ich eintraten. Aber wir haben nie besonders auf ihn geachtet. Erst jetzt im Frühjahr haben wir uns ein bißchen angefreundet. Er hat einen fabelhaften Aufschlag, Vater. Und dann, er hat Rennen gefahren, richtige große Rennen. Er ist ungeheuer interessant, du solltest ihn bloß kennenlernen. Und er sieht gut aus.«

»Ich weiß. Dennoch erwarte ich von dir, daß du den Verkehr mit ihm abbrichst. Das gleiche gilt auch für Valentin, aber dem werde ich es noch persönlich sagen.«

»Abbrichst! Wie stellst du dir das vor? Sollen wir etwa aus dem Klub austreten?!«

»Versuch nicht, mir das Wort im Mund umzudrehen. Ich habe nichts dagegen, wenn du ihn höflich begrüßt. Auch nicht, wenn du hie und da eine Partie mit ihm spielst, aber mehr auch nicht. Dieser Bursche ist kein Umgang für dich, Barbara. Er hat einen denkbar schlechten Ruf!«

»Nun sag mir bloß um Himmels willen, was du unter einem schlechten Ruf verstehst?«

»Es gab da eine reiche Amerikanerin …«

Barbara lachte. »Shirley Hamond? Wegen der regst du dich auf? Aber das war doch eine ganz harmlose Geschichte. Pit hat sie mir haarklein erzählt. Sie war vernarrt in ihn. Kannst du ihm das etwa zum Vorwurf machen?«

»Nein. Aber er hat Geschenke von ihr angenommen, er hat ein ganzes Jahr auf ihre Kosten gelebt. Um ganz offen zu sprechen … er hat sich aushalten lassen. Bitte, frag mich jetzt nicht nach Einzelheiten, ich rede nicht gern mit einem, wie ich hoffe, gut erzogenen jungen Mädchen über solche Dinge.«

Barbaras graue Augen hatten sich verdunkelt. »Das habe ich nicht gewußt«, sagte sie leise.

»Ich glaube dir. Du weißt sicher einiges nicht. Die Geschichte passierte vor drei Jahren, als du noch … nun, andere Interessen hattest. Dieser Graf ist damals als Playboy durch die ganze Presse gezogen worden. Der ständige Begleiter Shirley Hamonds – eine peinliche Geschichte. Und das war nicht das letzte Mal, daß die Schreiber der Klatschspalten sich für ihn interessierten. Er ist seitdem noch sehr häufig erwähnt worden. Und immer im Zusammenhang mit einer anderen mehr oder weniger anrüchigen Dame.« Georg Holl erhob sich, trat auf Barbara zu, packte sie bei den Schultern. »Bist du heute mit ihm verabredet?«

»Ja, Vater.«

»Du wirst nicht hingehen, ich will es nicht. Du fliegst morgen und bleibst ein paar Wochen fort. Das ist sehr gut so.«

»Aber – warum soll ich denn nicht wenigstens noch einmal mit ihm reden?«

»Weil du ihm nicht gewachsen bist. Glaub mir, Barbara, es ist für einen Mann sehr leicht, einem Mädchen etwas vorzumachen. Gefühle, die nicht echt sind, Versprechungen, die nicht ernst gemeint sind. Man muß nur skrupellos genug dazu sein. Und das ist dieser junge Herr. Nun weine nicht, Kleines, du wirst diesen Hallodri im Handumdrehen vergessen haben.« Er legte ihr die Hand unters Kinn, sah sie besorgt an. »Es ist doch nichts Ernstes?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Na also. Ich will nicht, daß mein kleines Mädchen unglücklich wird. Es wäre schrecklich für mich, in den Klatschspalten zu lesen: anwesend waren Barbara Holl, einzige Tochter und so weiter mit ihrem ständigen Begleiter. Verstehst du, daß ich das nicht will?«

»Ja, Vater.«

»Dann ist es ja gut. Ich werde jetzt Mutter anrufen, damit sie dich abholt. Ich gebe euch einen hübschen runden Scheck, damit ihr Einkäufe machen könnt. Es fehlt dir doch sicher noch allerhand für Genf, nicht wahr? Siehst du, das habe ich mir gedacht. Wenn ihr mich nicht hättet.«

Der 10. August wurde zu einem Tag voller offizieller und inoffizieller Ehrungen für den Bankier Georg Holl.

Die Cour der Gratulanten dauerte, obwohl er mit jedem nicht mehr als einen kurzen Händedruck wechseln konnte, volle zwei Stunden. Glückwunschadressen trafen aus aller Welt ein. Das erwartete Große Bundesverdienstkreuz wurde ihm vom Regierungspräsidenten persönlich überreicht. Es war ein Tag unerhörten Glanzes, Triumph eines kühnen und schaffensreichen Lebens. Georg Holl hatte den Gipfel des Erfolges erreicht.

Georg Holl war klug, aber nicht ohne Eitelkeit. Er freute sich über die Ehrungen, die ihm zuteil wurden, empfing sie mit einer gewissen Genugtuung.

Dennoch spürte Sylvia, die den langen ermüdenden Tag, schöner denn je, an seiner Seite durchstand, daß er sich nicht ganz wohl fühlte. »Was ist mit dir?« fragte sie. »Du bist blaß.«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Hat nichts zu bedeuten. Zuviel des Vergnügens bekommt mir anscheinend nicht.«

Tatsächlich war er beunruhigt. Sein linker Oberarm schmerzte ihn, und er hatte einmal in einer medizinischen Zeitschrift gelesen, daß dies eine Ausstrahlung vom Herzen her sei, ein bedenkliches Zeichen und eine Warnung. Er versuchte, sich seine Sorgen auszureden, und rief Professor Bertram an, der ihn vor einem halben Jahr auf Herz und Nieren untersucht hatte, machte einen Termin mit ihm für den Vormittag des Vierzehnten aus. Er befürchtete, daß der Professor ihm strenge Maßnahmen vorschreiben würde, und er wollte sich, trotz aller uneingestandener Ängste, das Fest auf Gut Sonnenhof nicht verderben lassen. Er schob einen Teil seiner Beschwerden auf den Föhn, der seit nahezu sechs Wochen ununterbrochen über dem Alpenvorland herrschte.

Georg Holl und seine Frau empfingen ihre Gäste mitten auf dem grünen Rasen. Sylvia, in einem sehr raffiniert geschnittenen Kleid aus weißem Brokat, das ihre schmalen Fesseln freigab, sah atemberaubend aus. Um ihren Hals, in ihren Ohren, an ihrer Hand funkelten Rubine und Brillanten.

Die Band intonierte, bevor das Zeichen zum Tanz gegeben war, einen angenehm gemäßigten Jazz. Barbara, sehr reizend in einem jugendlichen hellblauen Kleid mit ganz weitem Rock, und Valentin, in weißer Smokingjacke, zogen sich mit den anderen jungen Leuten in einen Winkel zurück, um ungestört von der älteren Generation nach Herzenslust plaudern und albern zu können.

Dann, als die Auffahrt der Wagen ihr Ende genommen hatte, schlug Georg Holl höchstpersönlich auf einen hell klingenden Gong – unter allgemeiner Anteilnahme schlug er den Spund in das Bierfaß. Als er sich wieder aufrichtete, war er hochrot im Gesicht, aber er nahm lächelnd den Beifall entgegen, den seine Gäste ihm spendierten. In den nächsten zehn Minuten waren die Diener nur noch damit beschäftigt, Krüge voll Bier einzuschenken und zu verteilen.

Dann hob Georg Holl sein Glas und sagte mit lauter, kraftvoller Stimme: »Freunde! Zum …«

Seine Stimme brach ab, er fuhr mit der Hand zum Herzen, seine Augen verdrehten sich, er stürzte rückwärts zu Boden, sein Körper schlug mit einem dumpfen Aufprall auf den Rasen.

Sylvia kniete sich an seine Seite, ohne darauf zu achten, daß ihr weißes Kleid in eine Lache von verschüttetem Bier geriet. »Georg«, sagte sie, atemlos vor Entsetzen, »Georg, bitte …«

Irgend jemand hatte die Band darauf aufmerksam gemacht, daß etwas Furchtbares geschehen war. Die Musik brach ab. Es wurde sehr still.

Professor Bertram, der einige Schritte entfernt gestanden hatte, trat auf den am Boden Liegenden zu, beugte sich über ihn. Ein Blick in die starren, immer noch offenen Augen sagte ihm genug. Er richtete sich auf, sagte, ohne seine Stimme zu erheben, in das Schweigen hinein: »Meine Damen und Herren, ich fürchte, wir werden diese Geselligkeit abbrechen müssen. Ein plötzliches Unwohlsein unseres Gastgebers. Bitte, ersparen Sie mir alle näheren Erklärungen.«

Sylvia richtete sich auf: »Aber, Professor«, sagte sie, und in ihrer Stimme klang ein gefährlich hysterischer Unterton, »warum tun Sie denn nichts. Untersuchen Sie ihn … geben Sie ihm eine Spritze! Irgend etwas … Sie sind doch sein Arzt!«

Der Professor nahm Sylvias Hände mit festem, fast schmerzhaftem Druck, sagte eindringlich: »Gnädige Frau, Sie müssen jetzt sehr tapfer sein … Georg Holl ist tot.«

Roman Miller, erster Prokurist von Holl & Co., besaß eine Eigentumswohnung in einem modernen Appartementshochhaus in München-Bogenhausen – übrigens in demselben Haus, in dem auch Barbaras Graf wohnte. Aber er kam nicht allzu oft dazu, die Vorteile dieser feudalen Junggesellenwohnung zu genießen; er ging fast jeden Abend aus, und über das Wochenende war er meist verreist.

Diesmal aber war es anders. Ein nicht mehr ganz junges Mädchen mit schräg stehenden, sehr untermalten Augen und einer feuerrot gefärbten Mähne hockte auf der überbreiten Couch und beobachtete unzufrieden, wie Roman Miller sich vor dem Spiegel eine schwarze Krawatte band. Sie hatte sich einen rotseidenen Morgenmantel von ihrem Gastgeber ausgeliehen, dessen Ärmel sie hatte hochkrempeln müssen, weil er ihr viel zu groß war. Regen schlug gegen die große Fensterscheibe, lief in breiten Bächen das Glas hinab.

»Das paßt mir aber gar nicht, daß du mich jetzt einfach sitzenlassen willst«, sagte das rothaarige Mädchen unzufrieden, »gerade heute! Du hast seit Wochen gewußt, daß ich heute abend frei haben würde, du hättest es dir wirklich einrichten können.«

»Eben nicht«, sagte er und riß ungeduldig an seiner Krawatte, »woher konnte ich ahnen, daß Georg Holl tot umfallen würde?«

»Na«, sagte das Mädchen ungerührt und schlug die schlanken Beine übereinander, »gewünscht hast du es ihm ja schon lange.«

Er packte sie bei den Schultern. »Bitte, Tamara, nun sei doch nicht so … bitte nicht! Du weißt, wieviel jetzt für mich auf dem Spiel steht …«

»Nein«, sagte sie, »gerade das begreife ich eben nicht. Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder der alte Holl hat dir einen Anteil an der Firma vermacht …«

»Das hat er bestimmt nicht!«

»… oder er hat dich hereingelegt«, fuhr sie ungerührt fort. »Wie auch immer … ändern kannst du jetzt ganz bestimmt nichts mehr. Es gibt also keinen Grund, verrückt zu spielen.«

»Ich habe Verpflichtungen …«

»Georg Holl gegenüber? Daß ich nicht lache! Hast du vergessen, daß du mir so und so oft erzählt hast, wie er dich aufs Kreuz gelegt hat?«

»Ich habe mir selbst gegenüber Verpflichtungen, Tamara, mir meiner Stellung und der Bank gegenüber. Holl und Co., das bin von nun an ich!«

Sie sah ihn mit einem rätselhaften Blick ihrer schräg geschnittenen Augen an. »Ich fürchte, du bist auf dem besten Weg, größenwahnsinnig zu werden.«

Er ließ sie los, wandte sich ärgerlich ab. »Ach, mit dir kann man ja nicht reden. Nicht mehr Hirn als eine Maus.« Er ging ins Bad, prüfte seine Rasur vor dem Spiegel. Dann strich er sich ein wenig Fixativ auf die Handflächen, rieb es in sein dunkles Haar, das er gleich darauf mit zwei Bürsten zu bearbeiten begann.

Das Telefon klingelte. Tamara wartete ab, ob Roman Miller es hörte. Erst beim zweiten Zeichen ging sie ohne Eile zum Badezimmer: »Telefon, Sweety!«

Eine Sekunde war er verdutzt, dann sagte er: »Ach, das wird der Notar sein. Ich konnte ihn heute früh nicht erreichen und habe gebeten …« Er stürmte zu seinem Schreibtisch.

Es hatte bereits das vierte Mal geklingelt, als er den Hörer abnahm und sich meldete: »Roman Miller! Jawohl, Herr Doktor, ich habe Ihren Anruf erwartet. Ja, es ist wirklich furchtbar. So völlig unerwartet. Nein, die Beerdigung ist erst Dienstag. Über Sonntag war ja keine Verständigung möglich. Dienstag um zehn Uhr in Lauterwies.« Er zog sich einen Sessel heran, setzte sich. »Ich rechne mit einer großen Beteiligung. Warum erst Mittwoch? Nein, meines Erachtens könnte die Testamentseröffnung doch sehr gut Dienstag nachmittag … natürlich, Frau Holl ist sehr angegriffen. Also gut, dann doch Mittwoch. Wann sollen wir also bei Ihnen …«

Roman Miller brach ab, und Tamara sah, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich, während er den Worten des Notars lauschte.

»Ich verstehe«, sagte er dann mit gepreßter Stimme. »Ja, ich verstehe vollkommen. Im Trauerhaus oder … Ich werde darüber noch mit Frau Holl sprechen. Ich gebe Ihnen morgen Bescheid.« Er hielt den Hörer immer noch in der Hand, sah mit stumpfen Augen vor sich hin, während der Notar längst eingehängt hatte.

Tamara ließ sich neben ihm in die Knie sinken, sah ihn besorgt an. »Was ist, Sweety? Mach doch nicht so ein Gesicht. Bitte, was ist? Sprich doch!«

Ganz langsam legte er den Hörer auf. »Nichts, was dich überraschen könnte«, sagte er tonlos.

»Ich verstehe nicht …«

»Er hat mich reingelegt. Er hat mich wieder einmal und noch zum Schluß hereingelegt! Georg Holl, der ehrenwerte Mann … pfui Teufel!«

»Hat er dir … nichts vermacht?«

»Wer spricht denn von vermachen! Nicht einmal erwähnt bin ich in seinem Testament. Nicht mit einer Silbe!« Der wilde Zorn, der ihn gepackt hatte, ließ die blaue Ader an seiner Schläfe gefährlich anschwellen.

»Bitte, reg dich doch nicht auf«, sagte Tamara rasch, »es kann doch alles ein Irrtum sein. Das Testament ist ja noch nicht einmal eröffnet!«

»Aber ich bin nicht dabei!« Seine Stimme schlug über. »Ich werde nicht einmal dabeisein. Nur die Familie! Und ich Narr habe mich von dem alten Gauner hinhalten lassen, ich habe an dieses verfluchte Testament geglaubt. Und er?« Roman Miller sprang auf und schüttelte Tamara von sich wie ein lästiges Insekt. »Aber das wird er mir büßen. Die ganze Sippe wird es mir büßen! Diese verfluchten Holls!«

Die Bestattung des Bankiers Georg Holl fand mit großem Pomp statt. Es war ein grauer Tag, aber es regnete nicht mehr. Die Trauergemeinde war so zahlreich, daß der Dorffriedhof nicht allen Raum bot; große Gruppen blieben während der ganzen Feier jenseits der Mauern, flüsterten einander ihre Eindrücke zu und waren wieder still, wenn sie glaubten, Fetzen der Grabreden erhaschen zu können.

Zahlreiche Vertreter des öffentlichen Lebens, aus Industrie, Handwerk und Regierung waren erschienen oder hatten zumindest Kränze geschickt. Die Blumengrüße – riesige Räder aus Lorbeer, Rosen, Lilien und Nelken, mit breiten bunten Schärpen, auf die die Namen der Spender mit prächtigen goldenen Buchstaben geprägt waren – stapelten sich in der Kapelle. Roman Miller sprach am offenen Grab, Oberregierungsrat Schnitzler in Vertretung des Herrn Regierungspräsidenten, und zum Schluß der Pfarrer von Lauterwies, und alle priesen sie den Verstorbenen als einen Ehrenmann.

Sylvia sah und hörte von alldem nichts. Sie stand, sehr schmal in einem schwarzen Schneiderkostüm, am Grab, rechts und links gestützt von ihren Kindern, eine trauernde Witwe, deren Gesicht völlig von einem dichten schwarzen Schleier bedeckt war. Sie stand unbeweglich und schluchzte nicht einmal auf, als der schwere eichene Sarg unter den Klängen eines Trauermarsches in die Tiefe gesenkt wurde.

Erst als ihr der Mesner die kleine Schaufel mit der dunklen Erde in die Hand gab und Barbara ihr zuflüsterte: »Komm, Mama, du mußt es ihm jetzt nachwerfen!« – schien sie zu begreifen. Sie schwankte, ihr Körper wurde geschüttelt, die Erde rieselte zu Boden, und der Mesner mußte ihr die Schaufel noch einmal füllen. Der dumpfe Klang, mit dem die schwere Erde auf das Holz des Sarges traf, hatte etwas Endgültiges.

Nachher reichte sie ihre schmale Hand in dem schwarzen feinen Lederhandschuh jedem, der sie nehmen wollte – und es waren Hunderte, die an dem offenen Grab vorbeidefilierten und ihr Worte des Beileids sagten; Worte, die oft gut gemeint und doch ganz und gar sinnlos waren.

Sie hatte das Gefühl, daß diese Qual nie ein Ende nehmen würde, als der junge Markus Ebinger sich von hinten zwischen sie und ihre Tochter drängte. »Ich bringe dich nach Hause, Sylvia«, flüsterte er, »es ist genug. Jetzt können die Kinder dich vertreten.« Er schob seinen Arm unter ihren Ellbogen, umschloß ihr Handgelenk mit festem Griff und brachte sie zum Friedhofstor.

Er hatte Hubert schon vorher Bescheid gesagt, und dem Chauffeur war es gelungen, den Rover aus der endlosen Reihe parkender Wagen herauszumanövrieren und zu wenden. Er stieg aus, öffnete Frau Sylvia die hintere Tür. Markus Ebinger half ihr in das Auto. Sie beugte sich noch einmal vor, sagte warm: »Danke, Markus … danke! Du bist ein guter Freund.« Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloß.

Markus Ebinger stand und sah dem langsam davonfahrenden Wagen nach. Auf seinem Gesicht spiegelten sich die widerstrebendsten Gefühle.

Am nächsten Vormittag fuhr Hubert die Familie zum Notar. Frau Sylvia war es so lieber gewesen, als den Testamentsvollstrecker in den Privaträumen ihres Hauses am Herzogpark oder in der Bank zu empfangen.

Dr. Schrupp war ein hagerer, weißhaariger Herr, der wie ein guter Sechziger aussah, obwohl er tatsächlich gleichaltrig mit Georg Holl gewesen war. Er kam Sylvia bis zur Tür seines Büros entgegen, drückte ihr und den Kindern die Hand, führte sie dann zu den drei Sesseln, die seine Sekretärin vor seinen Schreibtisch geschoben hatte. Barbara und Valentin nahmen neben ihrer Mutter Platz.

Der Notar öffnete den dicken amtlich versiegelten Umschlag, nahm den gestempelten Bogen heraus und begann sehr rasch vorzulesen: »Am achtzehnten Oktober neunzehnhundertsechsundfünfzig erschienen vor mit Doktor Leo Schrupp, Notar in München, in meiner Geschäftsstelle München, Maximilianstraße, Herr Georg Wilhelm Holl, Bankier, wohnhaft in München-Bogenhausen, Herzogpark, geboren am achten Juli neunzehnhundertundvierzehn, mir persönlich bekannt. Er erklärte, ein Testament durch mündliche Erklärung errichten zu wollen. Die Zuziehung von Zeugen zu dieser Verhandlung wurde nicht gewünscht und auch nicht veranlaßt. Herr Georg Holl ist nach meiner Überzeugung voll testierfähig. Er erklärte seinen Willen vor mir mündlich und deutlich wie folgt:« Dr. Schrupp warf einen Blick über seine Brille, als wenn er sagen wollte: Jetzt kommt’s.

Frau Sylvia fühlte, wie eine eisige, gänzlich unerklärliche Angst ihr das Herz zusammenkrampfte. Unwillkürlich suchte sie die Hand ihrer Tochter. Aber Barbara merkte es nicht, sie saß ganz starr, alle ihre Sinne waren auf das Testament gerichtet.

Mit klarer, gelassener Stimme las der Notar: »Ich, Georg Holl, setze hiermit zum alleinigen und ausschließlichen Erben meine Ehefrau ein, Sylvia Holl, geborene Sollnhofen, geboren am achtzehnten Januar neunzehnhundertvierundzwanzig …«

Es war Valentin, der den Vortrag unterbrach. »Sagen Sie das noch mal!« platzte er heraus. »Ich höre wohl nicht recht! Alles für Mama? Und wir? Was wird aus uns?«

»Bitte, Valentin …«, murmelte Sylvia, selbst ganz verwirrt.

Der Notar sah den jungen Mann ausdruckslos über seine Brille hinweg an. »Einen Augenblick, Herr Holl. Sie werden es gleich hören. Sie und Ihre Schwester … Ihre genauen Daten und so weiter sind natürlich angeführt, es besteht kein Zweifel … sollen nach dem Tod Ihrer Mutter zu gleichen Teilen erben.«

»Und jetzt?« rief Valentin. »Jetzt bekommen wir also gar nichts? Keinen Pfennig?«

»Halt den Mund!« sagte Barbara kalt. »Bitte, lesen Sie weiter, Herr Notar.«

»An die Stelle eines verstorbenen Kindes treten dessen eheliche Abkömmlinge als Ersatzerben, im übrigen sind die eingesetzten Miterben gegenseitig Ersatzerben.« Wieder hob der Notar den Kopf. »Soll ich das vielleicht mal erklären?«

»Danke, Herr Doktor. Später vielleicht.« Sylvia wunderte sich, daß ihre Stimme ihr gehorchte. »Wie ich bis jetzt verstanden habe, erbe ich allein und die Kinder erst nach meinem Tode zu gleichen Teilen. Ist das richtig?«

»Vollkommen. Natürlich könnten der junge Herr Holl oder seine Schwester auf einen Pflichtteil klagen. Aber das wäre wohl nicht sehr zweckmäßig, weil es in keinem Vergleich zu der tatsächlich ausstehenden Erbschaft stehen würde.«

Valentin Holls bräunliches Gesicht war vor Erregung rot angelaufen. »Das ist ja … Betrug!« preßte er heraus. »Wir … Barbara und ich … sind betrogen. Wer sagt uns denn, ob wir je etwas kriegen? Mutter kann ja alles verschleudern, verschenken.«

»Ja, das kann sie«, sagte der Notar ruhig, »aber Ihr verstorbener Herr Vater hat anscheinend genügend Vertrauen in die gnädige Frau gesetzt, daß das nicht geschehen wird. Allerdings …« Er sah wieder auf das Testament, »… eine Einschränkung hat er gemacht. Ich lese: Sollte sich meine Ehefrau nach meinem Ableben noch einmal verheiraten oder nach mehr als zehn Monaten nach meinem Tode